Kapitel 1: Das Leben ist kein Spielkreis
Lucy
Saarlouis im Mai 2015
»Tymon Nowak wird wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen. Er kommt im Juli frei.«
Diesen Satz hörte ich aus dem Mund meines Herzensbullen Kriminaloberkommissar Frank Kraus am Abend eines turbulenten Frühlingstages. Mit meinen Zwillingsmädchen hatte ich den Tag mehr oder minder erfolgreich gemeistert, und Franks Äußerung löste – nach einem kurzen Moment der Schreckensstarre – einiges in mir aus.
Tymon Nowak, der sich als »Hengst von Hamburg« zu bezeichnen pflegte, war der Mann, an den ich nie wieder hatte denken wollen, und der es definitiv noch nicht verdient hatte, aus der Haft entlassen zu werden. Die Information über seine Haftentlassung bewegte mich endlich dazu, meinen ungeliebten Job im Callcenter Mediaboutique in Saarlouis zu kündigen, nachdem ich die Entscheidung, das zu tun, seit der Geburt der Kinder erfolgreich vor mir hergeschoben hatte. Doch jetzt war es Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen, und ich wollte nicht mehr länger warten.
Wie war es möglich, dass ich Tymon Nowak komplett hatte vergessen können? Darüber dachte ich nach, während ich zwei Tage später den Buggy mit meinen schlafenden Kindern durch die Saarlouiser Mailuft schob.
Diese partielle Vergesslichkeit musste mit meinem Alltag als Zwillingsmama und selbständige Modedesignerin zusammenhängen. Mein Leben war viel zu prall, um mich mit Geistern aus der Vergangenheit zu befassen. Als ich an diesem Morgen also den Wagen durch die Glastür des Callcenters lenkte, bestürmten mich eigenartige Gefühle. Zunächst musste ich beim Anblick des Metallgitters neben dem Eingang daran denken, wie vor gut drei Jahren alles begonnen hatte – mit dem Ruinieren meiner sonnengelben Manolo Blahniks, deren Absätze in eben jenem Gitter hängen geblieben waren. In diesem Moment kam es mir wie ein komplett anderes Leben vor.
Dann, beim Betreten des Aufzugs, rechnete ich fast damit, dass sich vor dem Schließen der Türen eine schmale Hand dazwischenschob, um sie für meine liebe Freundin Ilina nochmals zu öffnen, die dann hereinhuschen und mich mit ihrer kernigen Stimme ansprechen würde – wahrscheinlich mit einem respektlosen Witz über meine wild gewachsenen Haare oder die praktischen Klamotten. Doch das war ja alles Geschichte. »Ilina Kowalska«, das Kittelmädchen und meine wertvolle Verbündete im Kampf gegen das Verbrechen, gab es nicht mehr. Sie hieß ja auch gar nicht Ilina, sondern Leonie, stammte aus Hamburg und war bereits damals in einem Zeugenschutzprogramm gewesen. Mittlerweile lebte sie irgendwo weit weg an einem Ort, den ich nicht kannte, unter einem Namen, den ich nicht kannte.
In regelmäßigen Abständen malte ich mir aus, wie es wäre, wenn wir uns als heimliche Brieffreundinnen schreiben könnten. Ich vermisste sie so sehr! Nach Ilina/Leonie hatte ich meine Kinder benannt, denn sie und ich fühlten uns dank der Erlebnisse mit besagtem Tymon Nowak wie Seelenschwestern. Lange Zeit hatte ich noch Albträume davon, dass ein verstörend schöner Mann maliziös lächelnd Ilina und mich mit gefesselten Händen an einer Art Schleppleine hinter sich herzog. Glücklicherweise waren diese Träume seltener geworden. Bis gestern jedenfalls. Nun lauerten sie wieder im Hintergrund, und Erinnerungssplitter an den besessenen Stalker drohten sich permanent an die Oberfläche meines Bewusstseins zu bohren.
Diese Gedanken schüttelte ich rasch ab, streichelte den Mädchen mit einem wehmütigen Lächeln über die Köpfchen, und dann öffnete sich die Aufzugtür zum wohlbekannten Pling. Davor erwartete mich, wie verabredet, Lena, die vor einem Jahr von meiner Lieblingskollegin zur Schwägerin geworden war. Wir hatten uns darauf geeinigt, unserem Chef gemeinsam unsere Kündigungen zu überreichen.
Meine Schwägerin hatte kurz vor ihrer Trauung bereits ihr Fernstudium in Wirtschaft begonnen, und unser Internethandel L&L – Fashion von Frauen für Frauen ließ ihr einfach keine Zeit mehr für diesen ungeliebten Job in der Mediaboutique. Lena und ich verdienten mittlerweile mit unserer Modelinie mehr als im Callcenter, und so war es nur logisch, dass Lena den Schritt aus Dürris Dunstkreis ebenfalls vollziehen wollte.
»Ei, da seid ihr ja!« Sie begrüßte mich mit einer Umarmung, wie ich sie nur von Lena kannte – zupackend und zugleich auffangend –, bevor sie sich über den Wagen beugte. Sie lächelte zärtlich, anstatt die Kids durch Betatschen der rosigen Wangen aufzuwecken. Wie ein weiblicher Bodyguard hielt sie mir anschließend auf dem Catwalk zwischen den dicht stehenden Schreibtischen des Großraumbüros die Kolleginnen vom Leibe. Wir hatten uns vor diesem Antritt bei Dürrbier nämlich eine Strategie zurechtgelegt, zu der unter anderem gehörte, dass wir erst nach der gemeisterten Herausforderung, uns Dürri zu stellen, den gemütlichen Plausch mit den Kolleginnen suchen wollten.
Die Jalousie hinter der Glastür zum Chefbüro war heruntergelassen. Lena klopfte beherzt an, öffnete, ohne sein »Herein« abzuwarten, und hielt die Tür für mich auf, sodass ich den Wagen vorsichtig hindurchnavigieren konnte. Mit der Zwillingskarosse wirkte das Büro überfüllt.
Dürri richtete sich hektisch in seinem Stuhl auf, wobei er sich mit der einen Hand auf dem Schreibtisch, mit der anderen auf der Armlehne abstützte. Es wirkte, als wäre er eingenickt gewesen und durch das Klopfen und unser Hereinstürmen so erschrocken, dass er vom Stuhl gerutscht war. Ich hörte leises Kichern aus Lenas Richtung und blickte bewusst nicht zu ihr hinüber. Trotzdem fiel es mir beim Blick auf die Mimik unseres baldigen Ex-Chefs nicht leicht, ernst zu bleiben. Er runzelte die Stirn, dann zeichnete sich Erkennen ab, und für eine Sekunde wirkte es geradezu, als wollte er lächeln. Doch dann sackten die Mundwinkel seiner bräunlich-ledrigen Lippen nach unten, was uns allerdings – positiver Nebeneffekt – den Anblick seiner von Zigarillorauch und Kaffee verfärbten Zähne ersparte.
»Frau Schober«, schnarrte er in meine Richtung, dann, eine Spur freundlicher, zu Lena: »Frau Kougelhupf-Schober, womit kann ich dienen?«
Lena hatte mich in den letzten Jahren als beste Verkäuferin des Callcenters sozusagen beerbt. Uns beiden war völlig klar: Er würde ausflippen, sobald ihm dämmerte, dass er sie verlieren würde. Deshalb hatte Lena sich gefreut, als ich ihr am Abend zuvor in unserem Telefongespräch vorgeschlagen hatte, unsere Kündigungen gemeinsam zu überreichen.
»Guten Tag«, grüßte ich ihn also unverbindlich und parkte den Buggy neben der Bürowand. Leonie und Ilina schliefen glücklicherweise noch. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das Sie sehr freuen wird, schätze ich.« Damit zog ich den DIN-A5-Umschlag mit meiner Kündigung aus dem Netz des Wagens und hielt ihn über den Schreibtisch.
Beinahe musste ich lachen, als ich sah, wie ein Lächeln über Dürris Gesicht huschte. Seine kleinen, farblosen Äuglein glitzerten, während er mein Schreiben las. Danach sah er zu mir auf, direkt in mein Gesicht. Das hatte ich im Laufe meines Arbeitslebens hier im Callcenter immer nur dann erlebt, wenn ich einen sehr guten Abschluss getätigt hatte. Nun, das war Vergangenheit, und ich lächelte ihn scheißfreundlich an, als sein Tonfall mir gegenüber in ein begeistertes, raues Falsett wechselte.
»Meine liebe Frau Schober, das sind erfreuliche Neuigkeiten! Wie schön, dass Sie zur Vernunft gekommen sind. Sie haben sicherlich eingesehen, dass es so für uns alle das Beste ist, nicht wahr?«
Ich lächelte, bevor ich ihm in säuselndem Tonfall das sagte, was ihm die Stimmung gleich wieder verhageln würde. Nicht einmal ein Zwinkern erlaubte ich mir, denn jetzt wollte ich es genau mitbekommen, wenn ihm dämmerte, weshalb Lena hier war. Diese hatte, wie besprochen, ihre Kündigung hinter dem Rücken verborgen und zog sie zu meinen nächsten Worten hervor, um sie dem Chef feierlich zu überreichen.
»Aber heute kündige nicht nur ich, sondern meine Schwägerin und Geschäftspartnerin Lena tut das Gleiche.«
»Bitte sehr, Herr Dürrbier«, sagte Lena. »Drei Monate, dann bin ich weg.« Sie grinste.
Sein Gesicht nahm eine eigenartige Farbe an, der Umschlag in seiner Hand bebte. »Das können Sie nicht tun!«, spie er aus.
»Un ob! Dreimonatige Kündigungsfrist. Wenn Sie wolle, könne Sie es drauf ankomme lasse. Aber Sie kenne ja mei Mann, Rechtsanwalt Rouwen Schober, un Ihne ist klar, dass Sie keine Handhabe han.«
Dürri riss den Umschlag auf und überflog den Text, der bis auf wenige Kleinigkeiten wortgleich mit meinem eigenen war, dann warf er ihn von sich und knurrte. Angelegentlich beobachtete ich ihn: ein etwas gebeugter, unsympathischer Mann mit der charmanten Ausstrahlung eines Bernd Stromberg, der, den Kopf vorgereckt, mit hervortretenden Augen wie ein Hund knurrte und die Zähne bleckte. Als wolle man ihm ein Spielzeug vor der Schnauze wegziehen.
Ihm war auf einen Schlag klar, dass er Lena verloren hatte. Wieso ihn ihre Entscheidung überraschte, würde mir allerdings ein Rätsel bleiben. Glaubte der Kerl etwa allen Ernstes, dass seine Untergebenen diesen Job gern machten?
Wie auch immer, in dem Moment, in dem Dürri knurrte, wachten Illi und Leo auf – als hätten sie gespürt, was hier stattfand, oder als wären sie von Ilinas Geist beseelt – und schrien sofort los, und zwar keineswegs unisono wie zu Hause. Nein, sie gellten in zwei verschiedenen Tonlagen, was eine Dissonanz erzeugte, die sogar mir in den Ohren wehtat.
Das Geschrei zeigte Wirkung: Ich zuckte, eine Reaktion aus meinem Rückenmark, als müsste ich sie sofort mit Nahrung versorgen. Lena wandte sich dem Wägelchen zu, um es hektisch zu wiegen, während Dürri den Mund schloss und sich die Hände auf die Ohren presste. Sein Gesicht verwandelte sich in eine schmerzverzerrte Grimasse.
Lena und ich holten Illi und Leo aus dem Wagen, wodurch beide sich wieder beruhigten. Die süßen Frätzchen sahen Dürri an, als wäre er etwas völlig Neues für sie, ein Clown vielleicht oder ein großes Tier, das sie noch nie gesehen hatten. Mit dem weisen Blick der Zweijährigen bestaunten sie ihn, ohne einen Mucks von sich zu geben, und Dürri nahm die Arme wieder herunter. Er war offensichtlich überfordert und hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Also übernahmen Lena und ich die Gesprächsleitung.
»Könnten Sie uns wohl die Tür aufhalten, damit wir hindurch können?«
»Danke, zu freundlich.« Damit verließen wir das Büro. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Last von meinen Schultern gestreift. Nun bedrückte mich nur noch der Gedanke an Tymon Nowak, der bald auf freiem Fuße sein würde.
***
Den Nachmittag verbrachte ich in meinem Nähställchen, das Frank für mich gebaut hatte. Es funktionierte auf die gleiche Art und Weise wie ein Laufställchen für Babys und Kleinkinder, bloß in die andere Richtung: Es hielt die Kinder draußen statt drinnen. Die Bauart war ähnlich; Frank hatte es lediglich größer entworfen, damit meine Nähmaschine, der Zuschneidetisch und mein Stuhl Platz fanden.
Ich saß an besagter Nähmaschine, um meinen neuesten Entwurf, Latzröckchen mit Monsterdesign, zu schneidern, damit ich ihn an den Kindern sehen und entscheiden konnte, ob ich ihn in die nächste Kollektion aufnehmen wollte, während Illi und Leo mit ihrer innig geliebten Holzeisenbahn spielten. Dabei unterhielten sie sich in der Geheimsprache, die sie im Lauf mehrerer Monate entwickelt hatten, und die immer komplexer wurde, soweit ich das beurteilen konnte. Leider verstand ich sie ja nicht, wenn sie Lillisch sprachen, und ich hatte insgeheim den Eindruck, dass das eine bewusste Strategie der beiden war.
Ich kontrollierte ab und zu mit einem Blick durch die Gitterstäbe, ob sie nicht irgendwo hochgeklettert waren, um Feuerzeug oder Blumendünger oder ähnlich gefährliche Sachen zu holen. Das erste der beiden Jeansröckchen hing bereits auf dem Bügel an der Querstange zwischen den Gitterstäben, und das knallorange Monster grinste mich vom Latz mit einem Zahnlückenlächeln an. Das zweite Exemplar war auch fast fertig. Darauf hatte ich das Monster in leuchtendem Gelb appliziert, und es hatte einen leichten Silberblick, genau wie Illi, die Erstgeborene der beiden.
Das Telefon klingelte. Ich hatte es mit in meinen Käfig genommen und erkannte auf dem Display Franks Namen. Mein Herz machte einen kleinen Freudensprung, ich nahm den Fuß vom Pedal und die Hände vom Stoff und ging dran. »Herzensbulle«, flötete ich und musste lachen, als er mit einem Grunzen reagierte. Dann erst realisierte ich, was es vermutlich zu bedeuten hatte, wenn er mich um diese Zeit anrief, und tatsächlich klang seine Stimme etwas gedämpft.
»Liebes, heute wird es wieder später, tut mir leid! Du musst nicht auf mich warten, okay?«
»Ach Mensch, schade. Wann hat das denn ein Ende?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Aber wir machen unseren Urlaub, sobald es geht, ja?«
»Worauf du dich verlassen kannst!«
Enttäuscht legte ich auf. Hoffentlich wäre er zum Schlafengehen zu Hause. Seine Gegenwart half mir nämlich immer beim Einschlafen, vor allem in den angstbehafteten Phasen meines Lebens. Doch den Gedanken brach ich sofort wieder ab, bevor sich ein Name in meinem Kopf formen konnte, den ich dort nicht wollte.
Kapitel 2: Mangiare, pregare, amare
Malin
Piano di Sorrento im Juni 2015
Diese Tage in der fast unerträglichen Sommerhitze Kampaniens waren schwierig für Malin, da die wenigen Stunden, die ihr zum Schreiben ihres Romans blieben, nicht gerade optimale Bedingungen boten. In den Nächten schlief sie nur oberflächlich, denn die Dachgeschosswohnung, in der sie am Rand von Piano di Sorrento wohnte, war schlecht isoliert, und erst die Kühle der frühen Morgenstunden brachte Erleichterung. Doch während sie an den Vormittagen eigentlich zu müde zum Schreiben war, fiel es ihr in der Mittagshitze zunehmend schwer, sich auf ihren Text zu konzentrieren. Zum Glück waren nur noch Feinarbeiten an ihrem fertigen Romanmanuskript zu machen.
Daran dachte sie, als sie an diesem Abend in der Osteria Russo verträumt neben der großen Kühltheke mit den wenigen verbliebenen Foccaccie, Pizzette und fast leeren Affetato-Platten stand und ein paar Kunden freundlich zunickte, die sich verabschiedeten. Es war nicht mal elf Uhr abends, und doch genossen die meisten Gäste bereits ihren Espresso, obwohl die extreme Nachmittagshitze dazu geführt hatte, dass die Menschen ihre Siesta bis in die frühen Abendstunden ausdehnten.
»Buona notte, a domani!« Malin winkte den beiden kleinen Kindern hinterher. Diese deutsche Familie kam seit ihrem ersten Urlaubstag abends zum Essen her. Jedes Mal, wenn Malin den weizenblonden Schopf des Mädchens und die dunklen Locken des Jungen betrachtete, fragte sie sich, wie wohl die Zwillinge von Lucy und Frank aussahen. Sie folgte zwar Lucys Postings auf Facebook und Instagram, aber die Freundin hatte keine Fotos ihrer Kinder eingestellt, nicht einmal von hinten. Obwohl Malin das für eine gute Entscheidung hielt, bedauerte sie, dass sie Klein-Leonie und Klein-Ilina nie zu Gesicht bekam.
Bevor die Familie zur Tür hinaus war, kam das Mädchen noch einmal zurückgelaufen und umfing Malins Beine mit beiden Armen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu ihr hoch. »Tsüss, bis morgen.« Dann war sie weg. Malin wusste, dass die Kleine ein halbes Jahr älter als Lucys Zwillinge war.
An den Tischen im Freien lichteten sich die Reihen ebenfalls. Olivia kam mit einem Tablett leerer Gläser herein und stellte sie hinten auf der Durchreiche zur Küche ab, bevor sie die Finger an ihrer Bistroschürze trockenrieb und sich zu Malin gesellte. »Na, gleich Feierabend? Ich bin froh, wenn ich heute vor Mitternacht ins Bett komme. Morgen besucht uns Lara, sie ist auf der Durchreise von Mailand nach Cefalù. Ihr Freund kommt von dort, und sie wollen die Semesterferien bei seiner Familie verbringen.« Olivias schwarze Augen blitzten vergnügt. Sie war das Paradebeispiel für eine süditalienische Frau: klein und zierlich, mit einer Körperspannung, als wolle sie jeden Moment tanzen. Ihre widerspenstigen Locken hatte sie zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengesteckt. In der Strähne, die ihr in die Stirn fiel, lockerten einige silberne Haare das Dunkel ihres Schopfes auf. Malin musste sich immer, wenn Olivia von ihren erwachsenen Kindern sprach, klarmachen, dass diese Frau Mitte vierzig war.
»Du freust dich bestimmt darauf, sie zu sehen.«
»Und wie! Seit die Kinder studieren, bekomme ich sie viel zu selten zu Gesicht.« Sie reckte das Kinn, schnappte sich das Tablett und huschte zur Tür. »Ich muss raus, da macht mir ein Gast Handzeichen.«
»Malin?«, hörte sie darauf die tiefe Stimme von Alessio. Er stand im Gastraum, den man durch einen bogenförmigen Durchbruch betrat, und hielt das große Portemonnaie in der Hand. Er betrachtete sie mit dem intensiven Blick, den er für sie reserviert hatte. Dabei lächelte er. »Tre Grappe per i Signori e un Limoncello.« Mit der freien Hand deutete er auf den Tisch, an dem er stand. Malin nickte und bestellte bei Zia Marina das Gewünschte, dann brachte sie den Gästen die Getränke. Alessio war bereits zum Nachbartisch weitergegangen, um dort zu kassieren. Er warf Malin einen Seitenblick zu und nickte. Malin wartete ab, was sie für diesen Tisch noch bringen sollte, bevor sie zurück zum Tresen ging, um die Bestellung an Zia Marina weiterzugeben.
»Besuch für dich«, flötete Olivia, als sie erneut mit einem vollen Tablett hereinkam. Hinter ihr trat Ben Richter ein, lässig in zerrissene Jeansbermudas und ein zerknittertes Leinenhemd gekleidet. Seine Haare hoben sich hell von der sonnengebräunten Haut ab. Er wirkte gepflegt, obwohl seine Kleidung arg abgenutzt und ausgebleicht aussah. Malin wusste jedoch, dass er Wert auf Frische legte. Wahrscheinlich hatte er bei seinen Führungen durch Pompeji die Erfahrung gemacht, dass sein Trinkgeld besonders üppig ausfiel, wenn er nach Waschmittel, Duschbad und Aftershave duftete. Er schob die Sonnenbrille in den Haaransatz und lächelte. Das eigenartige Gewitterwolkengrau seiner Augen faszinierte Malin immer noch, auch wenn sich die Wirkung seines Blicks auf sie inzwischen abgeschwächt hatte. Sie winkte ihm zu, bevor sie die Drinks an den Tisch brachte.
»Ciao, Ben«, hörte Malin Alessio den blonden Hünen begrüßen. »Setz dich nach draußen, wir schließen gleich.«
Doch Ben wartete, bis Malin aus dem Speisesaal zurück war und ihr Tablett mit den leeren Gläsern auf der Durchreiche abgestellt hatte.
»Was möchtest du trinken?« Sie schmiegte die Wange kurz an seine und hauchte bacini in die Luft, während er, wie immer, versuchte, die Küsschen auf ihrer Haut zu platzieren. Wäre er nicht Ben, hätte sie darauf pampig reagiert, aber ihm ließ sie es durchgehen. Schließlich wussten beide, woran sie miteinander waren.
»Ein Ichnusa für mich, ich warte draußen. Alessio wird sich ja wohl nicht abhalten lassen, auch zu uns zu kommen.« Er grinste und schlenderte zur Terrasse.
Zwanzig Minuten später hatte Malin das Herrichten der Tische im Speiseraum für den nächsten Tag beendet, legte ihre Servierschürze ab und verabschiedete sich von Zia Marina mit einem Küsschen, bevor diese nach oben in ihre Wohnung stieg. Im Hinausgehen winkte Malin der Putzfrau zu, die die Böden wischte, und betrat die Terrasse aus dunklem Holz, wo Ben sie an einem der Tische sitzend erwartete.
»Buona notte a tutti«, rief Olivia, die aus dem Nebeneingang kam und zu ihrem Roller lief. Sie warf Kusshändchen, stieg auf und brauste davon. Bevor Malin sich hinsetzte und ihr Bier vor sich abstellte, sah sie Alessio aus dem Ristorante heraustreten. Er zog die Tür zu, sperrte aber noch nicht ab.
»Dieser Kerl sieht aus wie ein Nachwuchspate der Camorra, oder?« Feixend deutete Ben mit dem Kinn in Alessios Richtung.
Malin schüttelte mit einem Auflachen den Kopf. »Er ähnelt Lucifer Morningstar.«
»Lucifer wer?« Alessio hatte ihre letzten Worte offenbar gehört, und seine Miene verriet Malin, dass er sich geschmeichelt fühlte. Er setzte sich neben sie und hielt den beiden sein Glas zum Anstoßen hin. »Salute!«
»Lucifer Morningstar«, wiederholte Malin, nachdem sie einen Schluck des kühlen Biers genommen hatte. »Ist eine Amazon-Prime-Serie. Keine Angst, das ist durchaus ein Kompliment.«
Das Lächeln, das sich um Alessios Lippen legte, als er sich leicht in Malins Richtung vorbeugte, glich tatsächlich dem des attraktiven Schauspielers. »Darauf trinke ich.«
Sie stießen an.
»Buona sera a tutti«, erklang eine weitere männliche Stimme. Noch bevor Malin sich umdrehen konnte, legten sich Hände an ihre Oberarme, und erschrocken ruckte sie mit dem Kopf herum. Die Stimme gehörte zu Riccardo, der sich über das Holzgeländer gebeugt hatte. Der Kuss, den er ihr wohl auf die Wange hatte tupfen wollen, landete auf ihren Lippen. Riccardo zögerte die Berührung einen winzigen Moment hinaus, bevor er sich zurückzog. Als Malin sein offenes Lächeln sah, schluckte sie die angepisste Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag.
Alessio hob beide Hände zum Kopf. »Ah, wieder alles voller Deutscher hier! Und sie umschwirren die schwedische Schönheit.« Er stand auf und winkte den Hinzukommenden unter das Holzdach zum Tisch. »Ein Bier für dich, Riccardo, mein deutsch-italienischer Nebenbuhler?«
Malin lachte leicht irritiert zu Alessios Wortwahl und wandte sich Riccardo zu. »Wie kommt es, dass du hier bist? Seid ihr mit der Arbeit in der Gelateria für heute fertig?« Seine Ankunft mit dem Roller hatte sie gar nicht gehört, doch sie sah seine türkisfarbene Vespa auf der anderen Straßenseite vor der Bar Mariniello stehen.
Riccardo begrüßte Ben mit High Five, Alessio legte ihm kurz die Hand auf den Rücken, als er mit dem Bier zurückkam und es vor ihm abstellte.
»Mir hat es für heute gereicht«, antwortete Riccardo. »Und ich hatte Sehnsucht, dich zu sehen. Natürlich freue ich mich auch, euch zu sehen.« Damit prostete er in Bens und Alessios Richtung, bevor er einen tiefen Zug aus dem Glas nahm.
»Wie weit bist du mit deiner Gelateria?«, wollte Alessio wissen. Seine Miene war undurchdringlich.
»Am ersten Sonntag im August öffnen wir die Tore. Bis dahin muss der Eiswagen noch herhalten. Danach wird Carlo den übernehmen, auf ihn kann ich mich verlassen.«
Alessio verzog das Gesicht, sodass Malin sich – nicht zum ersten Mal – fragte, was genau hinter seiner Stirn vor sich ging. Er schien etwas zu verbergen, wovon sie keine Ahnung hatte. Jedoch zweifelte sie, ob die Andeutungen bezüglich der Camorra, die er gelegentlich fallen ließ, ernst gemeint waren oder nur Schau. Es fiel ihr noch immer schwer, ihn einzuschätzen. In seltenen Momenten hatte sie ihn erschöpft gesehen. Dann wirkte er, als hätte er das Visier gesenkt, und sie spürte in ihm Unsicherheit und Einsamkeit. In diesen Momenten fühlte sie sich ihm nahe. Schließlich war sie selbst auch gezwungen, eine Fassade aufrechtzuerhalten. Niemand in diesem Ort kannte sie wirklich. Manchmal war das verdammt hart.
Sie schüttelte die Gedanken ab und legte eine Hand auf die von Riccardo, der sie für die Geste mit einem Lächeln voller Zuneigung bedachte. »Ich wünsche dir Glück, Rick! Ich bin mir sicher, dass deine Gelateria ein Erfolg wird.«
»Na, ich verstehe nicht, wieso du überhaupt die Genehmigung dafür bekommen hast. Du stammst nicht mal aus Napoli. Nicht, dass ich es dir nicht gönne. Das tue ich, veramente.« Alessios Blick jedoch drückte etwas anderes aus.
Riccardo ging sofort in die Defensive. »Ich habe Verwandte hier, du weißt doch, dass ich das Lokal von meinem Zio geerbt habe. Und meine Familie betreibt in Deutschland in der dritten Generation Eiscafés. Ich weiß, was ich tue, das kannst du mir glauben.«
»Hört auf zu streiten, amici, dafür ist der Abend zu schön.« Ben ließ seinen Blick zwischen Alessio und Riccardo hin- und herwandern, dann sah er Malin in die Augen. »Und wir sitzen mit der schönsten Frau in ganz Piano di Sorrento zusammen. Was sage ich? In ganz Kampanien.«
Malin grinste verlegen und verdrehte die Augen.
»È vero!«, stimmte Alessio zu und schenkte ihr abermals einen seiner Glutblicke.
»He!«, stieß Riccardo aus. »Baggert ihr etwa mein Mädchen an?«
»Ich bin niemandes Mädchen«, erklärte Malin und runzelte die Stirn, aber dann lachte sie. Niemand hier meinte ernst, was er sagte. Oder doch?
»Ihm hast du aber einen Kuss auf den Mund gegeben.« Ben schob die Unterlippe vor.
»Ich hab ihn doch nicht …«
»Un bacio sulle labbra, è vero«, bestätigte Alessio Bens Aussage und nickte. »Ich will auch einen!« Er beugte sich vor in dem Versuch, Malin einen Kuss zu stehlen.
Sie schob ihn zur Seite. »Ey, ist gut jetzt, ja?«
Riccardo sah sie mit leicht hochgezogenen Brauen an und schwieg. Malin ließ den Blick zwischen den Männern wandern. Die drei wussten, dass sie nicht an einer festen Beziehung interessiert war, und das Gebalze war nichts als harmloses Geplänkel. Alessio benahm sich allerdings gerade, als ob Malin an Riccardo ein größeres Interesse hätte. Dabei war es lediglich der dialektale Anklang in Riccardos Deutsch – und Italienisch – gewesen, der auf sie eine besonders starke Anziehung ausgeübt hatte. Das konnte keiner der Jungs wissen, da sie von einer »Ilina Kowalska« nichts ahnten, deren beste Freundin in Saarlouis lebte, der Heimatstadt von Riccardo. Malins wahre Identität war niemandem hier bekannt.
»Ich habe eine Idee«, rief Ben aus. »Wir alle machen der roten Malin ein Geschenk, und wer ihr das bringt, was sie sich im Herzen wünscht, den nimmt sie zum Gemahl. Wie im Märchen. Aber viel besser, als Drachen zu töten, oder?« Er zwinkerte ihnen zu und begann, den Mittelfinger seiner rechten Hand zu bearbeiten. Dort trug er einen der beiden Ringe, die eine Art Markenzeichen von ihm waren: Den Daumen der linken und den Mittelfinger der rechten Hand zierte je ein breiter Silberring. Ben drehte an dem Ring, den er anscheinend selbst nachts nicht abzulegen pflegte. Mit einiger Mühe zog er ihn schließlich herunter, und Malin erkannte die Einfurchung in Bens Haut, die der Ring hinterlassen hatte. Sie musste lächeln, weil der helle Streifen dort zeigte, welche Hautfarbe Ben eigentlich hatte. Sie kannte seine Farbe natürlich, weil sie ihn schon hüllenlos gesehen hatte. Diesen Gedanken schob sie rasch weg. Diese Seite ihrer Beziehung gehörte der Vergangenheit an, und Ben hatte es akzeptiert. Hatte sie jedenfalls bis eben geglaubt.
Nun legte er das Schmuckstück auf die flache Hand und hielt es ihr entgegen. Malin griff neugierig nach dem Ring. »Was ist das denn für ein Muster? Das habe ich noch nie bemerkt.«
»Das ist keltisch«, erklärte Ben. »Den Ring habe ich vor vielen Jahren in der Bretagne von einer Frau geschenkt bekommen.«
»Soso, von einer Frau? Und den willst du mir weitergeben? Ts!« Sie lachte und hielt ihn Ben hin, der jedoch nicht danach griff.
»Ja, Angebetete, nimm ihn und erhöre meinen Wunsch, dich zu freien.«
»Pah«, rief Alessio aus, griff nach dem Ring, betrachtete ihn eine Sekunde und reichte ihn dann an Riccardo weiter. »Das ist nur Silber. Der Ring, den ich dir zu Füßen lege, Principessa, wird aus purem Gold sein!«
»Wo ist der, den will ich sehen!« Ben nahm seinen Ring aus Riccardos Händen wieder entgegen.
»Natürlich nicht hier, sondern im Safe. Dort wartet er darauf, von der einzigen Frau getragen zu werden, die seiner würdig ist. Sag ja, Malin, und werde meine vergötterte Frau!«
Malin lachte, es klang in ihren eigenen Ohren aufgesetzt. Sie wurde einfach nicht das Gefühl los, dass bei jedem von ihnen Ernsthaftigkeit hinter dem zur Schau gestellten Spaß lag. Und Riccardo? Unsicher blickte sie schließlich zu ihm.
Er sah sie an, ohne zu lächeln. Ein Schimmer des Straßenlaternenlichts ließ seine Augen bernsteinfarben glänzen. Gegenüber Ben und Alessio wirkte er fast unbeholfen, obwohl sie ihn gut genug kennengelernt hatte, um zu wissen, dass seine Stärke nicht im Extrovertierten lag. Riccardos bodenständige und gutherzige Art erinnerte sie an ihren Großvater Richard Spreulhagen, und es war nur einer der Gründe, weshalb sie ihn sehr mochte.
»Ich habe auch ein Geschenk für dich«, sagte er mit leiser Stimme, die nichtsdestotrotz besser zu verstehen war als das lautstarke Tönen der beiden anderen. »Am Tag der Eröffnung gibt es zum ersten Mal Gelato Malin zu probieren. Ich habe es für dich kreiert.«
»Was für eine wunderschöne Idee! So was hat noch nie jemand für mich gemacht.« Malin griff seine Hand und drückte sie. Wie unbeschwert ihr Leben sein könnte, wenn sie sich vorbehaltlos auf eine neue Liebe einlassen könnte!
»Vero?«, rief Alessio aus. »Wir legen dir Gold und Geschmeide zu Füßen – nun gut, ich tue das, von Ben kam ja nur ein billiger Plastikring –, und du lässt dich von einer Kugel Eis becircen?«
Ben schlug Alessio gegen den Oberarm. »Gib nicht an wie eine Tüte voller Mücken. Du redest ja nur vom Gold, gesehen haben wir noch nix. Mein Ring ist immerhin der einer weisen Frau.« Damit schob er ihn sich über den Finger, wodurch die verletzlich wirkende helle Stelle wieder verdeckt wurde. »Allerdings kann ich dir auch so viel Eis schenken, wie du nur willst, Malin. Lass dich doch nicht von einer so flüchtigen Substanz beeindrucken.«
Malin sah von Ben zu Alessio und Riccardo, schüttelte den Kopf und erhob sich von ihrem Platz. »Freunde«, sagte sie, »das wird mir hier alles zu bunt. Außerdem bin ich müde. Ich gehe heim. Morgen muss ich arbeiten. Ich meine, nicht nur hier, sondern an meinem Manuskript. Gute Nacht, amici!« Sie winkte ihnen zu und entfernte sich rasch aus ihrer Reichweite, denn alle drei waren aufgestanden, um sie zu umarmen. Sie duckte sich und huschte davon, von der Holzterrasse hinunter, dann drehte sie sich nach links und eilte den Bürgersteig hinauf, um den Corso Italia zu überqueren, sobald sie die Piazza Cota hinter sich gelassen hatte. Ein Druckgefühl in ihrem Magen erwachte, das sie in den letzten paar Tagen schon einige Male gespürt hatte. Sie war sich nicht sicher, wie sie auf die Bemerkungen der Jungs reagieren sollte.
Wenn ihr nur jemand einen Rat geben könnte! Das war im Grunde das Schlimmste an ihrem Leben hier im Paradies: dass sie sich mit niemandem aussprechen konnte. Wie sehr fehlte ihr ihre beste Freundin! Ihre Kollegin Olivia konnte ihr nicht helfen, weil Malin sich ihr nicht offenbaren durfte. Sogar ihre vertraulichsten Gespräche mussten auf einer oberflächlichen Ebene bleiben.
Noch während Malin voraneilte, schob sich ein Gedanke in ihrem Kopf nach vorn, den sie bisher nie zugelassen hatte, und der ihr in diesem Moment verlockender erschien als je zuvor: War es wirklich zu gefährlich, an ihre Freundin Lucy zu schreiben? Sie brauchte dringend jemanden, der sie kannte. Sie selbst, nicht Malin Holm.
»Malin, warte«, hörte sie Riccardo auf Deutsch rufen, dann erklangen seine Schritte, und schließlich drehte sie sich zu ihm um. Kurz darauf stand er vor ihr. »Lass dich von uns nicht ärgern. Darf ich dich nach Hause bringen?« Er deutete auf die Vespa vorm Mariniello.
Nach einigem Zögern nickte sie. »Na gut.« Ich muss dir eh noch ein paar Takte sagen.
Nebeneinander kehrten sie um und gingen zurück zum Café. Riccardo nahm auf der Vespa Platz, Malin stieg hinter ihm auf und hielt sich an beiden Seiten des Sitzes fest, als er quer über den Platz wendete. Sie winkte Ben und Alessio zu, die die Geste erwiderten. Vielleicht machte Malin sich zu viele Gedanken, und es war alles harmlos. Ganz bestimmt sogar.
Sie legte den Kopf in den Nacken und genoss die Nachtluft, die ihr Gesicht streichelte. Sie zeigte Riccardo, wo er entlangfahren musste, denn dort oben war er noch nie gewesen.
Als sie das Patrizierhaus, in dem sie wohnte, erreicht hatten, stieg sie ab. »Danke fürs Bringen«, sagte sie und beugte sich vor, um Rick, der seinen Helm in der Hand hielt, zum Abschied ein Küsschen auf die Wange zu geben.
»Warte.« Er griff nach ihrem Ellbogen. »Kommst du zur Eröffnung der Gelateria?«
»Das wird nicht gehen. Wir haben an dem Sonntag eine Hochzeitsfeier. Alessio braucht mich.«
»Komm, nur für eine Stunde …« Er brach ab, vielleicht weil ihm klar wurde, dass allein die Zugfahrt nach Neapel zu lang dauern würde.
»Rick, ich würde gern, aber das klappt nicht. Sei mir nicht böse. Mit der Circumvesuviana brauche ich eine Dreiviertelstunde.«
Er zog die Schultern hoch, dann nahm er ihre Hand und versuchte, sie näher zu sich heranzuziehen. »Malin, wenn es nicht geht, akzeptiere ich das. Bitte versuch es trotzdem, ja?« Er schob den Arm um ihre Taille, doch sie legte beide Hände an seine Brust, um den Abstand wahren zu können.
»Wir müssen reden«, sagte sie. »Oder besser gesagt, muss ich etwas klarstellen. Ich mag dich sehr, das weißt du, nicht?«
Er zog die Hand von ihrem Rücken weg und setzte sich gerade auf. »Du magst mich.« Er blickte nach unten und atmete tief ein und aus, bevor er ihr erneut in die Augen sah. »Malin, bitte sprich nicht weiter, ich weiß, was du mir sagen willst. Vielleicht ist es einfach noch zu früh. Ich bin bereit zu warten. Du hast keinerlei Verpflichtungen mir gegenüber, okay? Ich behalte dich lieber als Freundin, als dich nicht mehr zu sehen. Du bedeutest mir sehr viel.«
Es erleichterte sie, dass er die Worte selbst ausgesprochen hatte. Es war Alessio und Ben gegenüber schon schwer gewesen, die Regeln aufzustellen. Wenn Riccardo das, was er ihr anbot, ernst meinte, war ja alles gut. Sie lächelte. »Ich bin dir sehr dankbar, dass du es so sehen kannst. Ich weiß, wie platt sich das alles anhört, aber wie soll man es sonst in Worte fassen? Ich bin sehr gern deine Freundin, und du bedeutest mir viel.«
Als ein hoffnungsvolles Leuchten über sein Gesicht glitt, fügte sie hinzu: »Wie Ben und Alessio. Ich möchte, dass wir uns aufeinander verlassen können, ja? Kann ich dir vertrauen, so wie den beiden?« Tatsächlich war sie sich an diesem Abend nicht mehr sicher, ob sie den beiden vertrauen konnte. Was wusste sie schon? Aber wenn Riccardo es ihr zusicherte, glaubte sie ihm.
»Ja, das kannst du. Ich bin für dich da, aber ich werde dich nicht mehr bedrängen. Dazu bist du mir einfach zu wichtig.«
Impulsiv umarmte sie ihn. »Ich danke dir. Buona notte, Riccardo!« Sie zog sich zurück und sah ihm noch einmal forschend ins Gesicht.
Er nickte. »Gute Nacht«, murmelte er, zog den Helm auf und fuhr los.
In ihrem Schlafzimmer angekommen riss Malin die Fenster auf, um die Bergluft hereinzulassen. Kaum lag sie im Bett, dachte sie an ihre Freundin. Was für ein Zufall, dass sie hier, an dem Ort, an den sie als Fremde geflüchtet war, ausgerechnet einem Mann aus der kleinen Stadt begegnet war, in der sie ein Jahr gelebt hatte. Mit den Gedanken an Saarlouis stürmten die Erinnerungen an ihre Zeit dort und die gemeinsamen Erlebnisse mit Lucy auf sie ein. Lucy würde verstehen, wie wichtig es war, Malins Aufenthalt geheim zu halten. In ihrem Kopf formulierte sie eine Mail, die sie ihrer Freundin schreiben könnte, und darüber schlief sie endlich ein.