Leseprobe Wer schön sein will, muss sterben

Kapitel 1

»Sind die Ameisenfarmer etwa auch hier?« Ruby blickte vom Parkplatz auf die weitläufige Fläche, wo sich Tische dicht an dicht reihten. Viele boten selbst gemachte Kerzen, Seifen, Konfitüren und Ähnliches an, aber es gab auch Schmuck, Glückwunschkarten und sogar gravierte Nudelhölzer zu kaufen. Es schien, als wenn jeder Bewohner von Paradise einen Stand auf dem Summer Stash Market hatte.

»Die hatten letzte Woche ein Problem mit einem Ameisenbären.« Morgans Gesicht war so ausdruckslos wie eine frisch übertünchte Graffitiwand. Sie drückte Ruby den Picknickkorb in die eine und zwei Klappstühle in die andere Hand. »Geh schon mal voraus. Halt dich rechts, unser Stand ist neben den Holzskulpturen, kannst du nicht verfehlen.«

Ruby bahnte sich den Weg durch den sehr gut besuchten Markt. Die warme Junisonne brannte auf die Festwiese hinab, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. An einem Stand, der überquoll mit Strickwaren, blieb sie mit schmerzenden Armen stehen. Auf dem Tisch lag obenauf ein Pullover, den ihre Schwester im April gestrickt hatte, als Ruby sie zum ersten Mal in dem kleinen Ort in Colorado besucht hatte.

»Neue Frisur? Ich finde, die Locken stehen dir besser.« Eine Frau in ihren Fünfzigern kam um den Tisch herum und nahm Ruby die Stühle ab. »Ein Stuhl hätte gereicht, denn ich hab meinen eigenen mit.«

Ehe Ruby etwas sagen konnte, trat Morgan neben sie, stellte zwei Kartons mit weiteren Strickwaren auf die Erde und breitete die Arme aus. »Alles von den Loop Troopers. Toll, oder?«

»Tut mir leid, ich hab eben glatt gedacht, du wärst Morgan«, entschuldigte sich die Frau bei Ruby. »Mary Collins, eine von Morgans Strickschwestern.«

»Ruby Rock, Morgans einzige Zwillingsschwester.« Ruby schüttelte Marys ausgestreckte Hand.

»Immer gut zu erkennen am strengen Dutt«, kommentierte Morgan Rubys gezwirbelten Haarknoten im Nacken.

»Und am besseren Modegeschmack.« Ruby strich sich über ihr kurzes, schwarz-weiß gepunktetes Sommerkleid und warf einen Blick von ihren Riemchensandalen mit Absatz zu den Birkenstocklatschen, die unter dem langen, bunten Batikrock ihrer Schwester hervorlugten.

Mary schaute zwischen den beiden hin und her. »Wenn die Haare und die Klamotten nicht wären, wärt ihr aber auch echt nicht auseinanderzuhalten.«

»Big Apple! Du schon wieder hier?« Aufgrund Stanleys dröhnender Stimme drehten sich mehrere Menschen zu ihnen um.

Auch wenn Ruby wusste, dass der oft etwas zynische Mittsechziger nur denjenigen Spitznamen verpasste, die er mochte, und sich hinter seiner Kratzbürstigkeit ein hilfsbereiter Mensch versteckte, fiel ihr ein Lächeln schwer. Denn obwohl die Sache in New York mittlerweile schon fast drei Monate her war, empfand sie es immer noch als unangenehm, im Rampenlicht zu stehen.

»Haben sie dir gekündigt?« Stanley blieb vor ihr stehen.

Alan, ihr Chefredakteur, war tatsächlich nicht glücklich gewesen, als Ruby nach ihrer dreiwöchigen Auszeit in Paradise wieder in der Redaktion der New York Gazette aufgetaucht war. Und Ruby selbst musste nach ihrer Rückkehr feststellen, dass ihr geliebtes New York City, das ihr immer so viel Halt gegeben hatte, ihr nach wundervollen Wochen in Paradise ein wenig fremd erschien. Geradezu kalt und unnahbar. Aber das hatte sicherlich nur am miserablen Wetter dort in den letzten Wochen gelegen.

»Ich arbeite den Sommer über von hier aus. Schreiben kann man ja glücklicherweise von überall.« Ruby half Morgan, die Stühle aufzustellen.

»Aber dieses Mal bitte ohne Leiche, okay?« Stanley marschierte davon.

Mary griff sich an die Brust. »Stimmt, du hast ja Grady damals gefunden.« Sie beugte sich hinunter, um weitere Strickwaren aus einem Korb auf den Tisch zu legen.

»Möchte jemand Eistee?« Morgan hielt eine Kanne in die Luft.

Ruby verneinte. Äußerlich waren die Schwestern tatsächlich kaum zu unterscheiden, aber innerlich konnten ihre Abneigungen und Gewohnheiten kaum weiter auseinanderliegen. Morgan trank am liebsten Tee, war nicht nur generell outdoorbegeistert, sondern der Meinung, dass Fenster generell geöffnet sein müssten, und von der Sockenschublade zum Gewürzregal war alles in ihrem Leben durchorganisiert.

Ruby dagegen brauchte am besten einen Latte macchiato, um überhaupt zusammenpassende Socken zu finden, und war in New York allenfalls im Central Park laufen gewesen, ansonsten hatte sie bisher fensterlose, klimatisierte Räume bevorzugt.

Was würde sie jetzt für einen Kaffee geben!

Als wenn Morgan Gedanken lesen könnte, deutete sie mit dem Kopf an das andere Ende des Platzes. »Ryder hat weiter hinten einen Stand, bei den ganzen Fressbuden.«

Ryders Coffeeshop ›The Bond‹ lag schräg gegenüber von Morgans Haus direkt an der Straße zum Eingang des Rocky Mountain National Parks.

Es hatte ein wenig gedauert, bis Ruby dort einen mit New York vergleichbar guten Macchiato serviert bekommen hatte. Aber letztlich war sie nicht nur wegen des Kaffees gern mindestens einmal täglich ins Bond eingekehrt, sondern auch wegen Ryder. Der attraktive Besitzer des Bonds war Ruby sofort ins Auge gefallen. Und er hatte sich im Laufe der Ermittlungen um Gradys Tod als eine echte Stütze erwiesen. Vor allem, weil Morgan sie zunächst in keiner Weise unterstützt, geschweige denn ernst genommen hatte.

»Habt ihr den Schal auch in einem dunkleren Rot? Eher so burgunder?« Eine Frau Anfang vierzig fuhr mit der Hand über einen Schal und sah die Zwillinge fragend an.

Mary ließ ein Paar Strümpfe in den Karton zurückfallen und schoss in die Höhe. »Verschwinde.«

Morgan drängte sich neben Mary. »Das ist alles, was wir derzeit haben. Aber einige unserer Strickmitglieder arbeiten natürlich gern auch auf Bestellung. Un…«

Mary riss der Frau den Schal unter den Händen weg. »Den hab ich gestrickt, und dir strick ich nichts.«

Rubys Neugier war augenblicklich geweckt. Ihre besten Artikel beruhten auf Themen, die polarisierten. Und das zwischen diesen beiden Frauen mehr herrschte als nur ein Streit wegen eines weggenommenen Parkplatzes vorm Supermarkt, war eindeutig.

»Nimm dir einen Tee, und ich übernehm das hier, okay?«, versuchte Morgan ihre Strickschwester zu beschwichtigen.

»Miss C! Nice, ist das alles von Ihnen?« Zwei Teenager waren neben der potenziellen Kundin aufgetaucht und strahlten Mary an.

Marys Lächeln wirkte gezwungen. »Einen Teil der Sachen hab ich gestrickt, die anderen stammen von anderen Loop Troopers.«

Eines der Mädchen setzte sich eine Mütze mit einem regenbogenfarbenen Bommel auf ihre blond gefärbten Haare. Die andere quietschte auf.

»So nice, warte, Bella, ich mach ein Foto.«

Bella posierte mit einem Handzeichen, das wohl gerade in Social-Media-Kreisen angesagt, für Ruby aber völlig neu war.

»Miss C, ist es chill, wenn ich Sie im Post tagge?« Das andere Mädchen trommelte mit ihren quietschgelben Fingernägeln gegen ihre Handyhülle.

Mary verzog das Gesicht. »Ihr solltet wirklich nicht so viele Fotos von euch ins Internet stellen.«

»Ach, Miss C! Wir haben ja nicht Millionen Follower.« Bella zog sich die Mütze wieder vom Kopf.

»Die könntet ihr aber schnell haben«, mischte sich die Frau in das Gespräch ein. »Wenn deine Augenbrauen ein bisschen kräftiger wären, würde das deine schönen Augen stärker zur Geltung bringen.« Sie zog einen Flyer aus ihrer Handtasche und hielt ihn Bella hin. »Ich hab gerade eine Zwanzig-Prozent-Aktion auf Permanent Make-up.«

Mary kam um den Tisch herum, drängte die Mädchen zur Seite und riss der Frau den Flyer aus der Hand. »Ich warne dich, Vivian. Verschwinde endlich!«

»Mary!« Morgan war ihr gefolgt, nahm ihr den Flyer ab und gab ihn Bella. Dann zog sie Mary am Arm zurück hinter den Tisch und drückte sie in einen der Klappstühle.

Bella schaute von dem Flyer hoch. »Miss C, es ist doch nur Make-up. Wir schminken uns doch sonst auch.«

»Und Permanent Make-up macht euch nicht nur attraktiv, sondern ist auch gut für die Umwelt«, ergänzte Vivian. »Überlegt mal, wie viele angebrochene Augenbrauenstifte ihr sparen könnt.«

Ruby fand insgeheim, dass Vivian damit tatsächlich ein gutes Argument hatte.

»Du glaubst, dein Schönheitswahn rettet die Welt?« Marys hochroter Kopf stand ihrem scheinbar hysterischen Anfall in nichts nach. »Wann verschwindest du endlich aus Paradise?«

»Adresse und Öffnungszeiten sind auf dem Flyer. Und die zwanzig Prozent Rabatt gelten auch auf andere Anwendungen.« Vivian lächelte Morgan an. »Wenn die Furie weg ist, schaue ich mir die Sachen später noch mal in Ruhe an.« Nach einem letzten, flüchtigen Blick über das Strickangebot schlenderte sie zum Nachbarstand, und Bella ging mit ihrer Freundin leise tuschelnd in die andere Richtung.

Morgan legte Mary eine Hand auf die Schulter. »Was ist in dich gefahren?«

Mit einem Schlag wich sämtliche Farbe aus Marys Gesicht. »Entschuldige. Ich kann mich einfach nicht beherrschen, wenn ich sie sehe.«

»Wer genau ist sie? Sie hat hier einen Kosmetiksalon?«, wollte Ruby wissen.

»Vivian Burton. Ihr gehört Fresh Face, die Schönheitsklinik am Ortsausgang nach Lyons.« Morgan goss Tee in einen bunten Bambusbecher.

»Die macht Millionen mit der angeborenen Unsicherheit der Frauen«, brauste Mary sofort wieder auf.

Ruby betrachtete sie. Die Mittfünfzigerin wirkte nicht so, als wenn sie Kundin bei Fresh Face oder auch in einem anderen Kosmetiksalon wäre.

»Mary engagiert sich bei Be-you-tiful«, begann Morgan, wurde jedoch sofort von Mary unterbrochen: »Das, was Vivian anbietet, ist das reinste Gift! Ihr habt ja gesehen, wie schnell sich gerade junge Mädchen verunsichern lassen, wenn es um Schönheit und ihren Körper angeht. Und das macht sich Vivian zunutze!«

Morgan drückte Mary den Becher in die Hand und fuhr mit ihrer Erklärung für Ruby fort: »Es gibt hier verschiedene Aktionen an der High School von Be-you-tiful, um Mädchen ein gesundes Selbstbewusstsein zu geben.«

»Sie hingegen hat in der Schule einen Vortrag über Laserbehandlungen bei Akne gehalten und anschließend ihre Flyer verteilt, um die Kinder mit Laser, Botox und anderem Kram zu Supermodels zu machen.« Mary trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Der ist aber stark.«

Ruby unterdrückte ein Schmunzeln. Wenn Morgans Eistee ähnlich wie ihr morgendlicher schwarzer Tee war, handelte es sich vermutlich um ein Gebräu aus Teer mit Zucker. »Überraschend, dass die Schule das zugelassen hat.«

»Der Biolehrer ist ein Trottel. Hat sich vermutlich von Vivian schöne Augen machen lassen.« Mary stellte den Becher auf den Boden. »Anschließend hat eine Schülerin sofort eine Go-Fund-Me-Page für eine Gesichtsbehandlung eingerichtet.«

»Heutzutage hat der Körperwahn wirklich unglaubliche Ausmaße erreicht.« Morgan sortierte die Handschuhe nach Farben. »Und gerade junge Menschen sind natürlich ein einfaches Opfer.«

»Ja, die glauben einfach alles, was sie auf Social Media sehen. Und dann kommt diese Vivian her und bläst ins gleiche Horn!« Mary ballte die Fäuste. »Ich wünschte, sie würde mitsamt ihrer leidigen Klinik einfach wieder aus Paradise verschwinden!«

Kapitel 2

Während Morgan und Mary interessierten Besuchern diverse Strickwaren verkauften, legte Ruby den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Über die Fläche dröhnte die schmissige Musik einer Drei-Mann-Band. Zusammen mit dem Stimmengewirr erinnerte sie dies an Sommertage im Central Park in New York. Was fehlte, waren die unbarmherzigen Gerüche nach Urin, Abfluss und Abgaswolken, die einen jederzeit spontan in New York umwaberten, sowie das unerbittliche Hupen und das Geräusch eines Presslufthammers, was das stetige Verkehrsrauschen regelmäßig übertönte. Sie war immer der Meinung gewesen, sie sei eine absolute Großstadtpflanze. Doch schon nach ihrem ersten Besuch in Paradise hatte sie feststellen müssen, dass frische und saubere Luft sowie gelegentliche Stille auch sehr schön sein konnten.

Ruby öffnete wieder die Augen und suchte nach dem höchsten Gipfel in der Bergkette. Dem Hausberg der kleinen Gemeinde namens Rocky Mountain. Wer auch immer sich den Namen hatte einfallen lassen, war ähnlich kreativ gewesen wie diejenigen, die sich Kansas City in Kansas, Oklahoma City in Oklahoma oder auch New York City in New York ausgedacht hatten.

Sie stand von ihrem Klappstuhl auf. »Ich brauch was zu trinken.«

Morgan zeigte auf ihre Kanne mit dem Eistee. »Fun Fact: Wenn du deinen Kaffee mit grünem Tee ersetzt, verlierst du …«

»… 89 Prozent deiner Lebensfreude«, ergänzte Ruby. »Danke, aber ich bleib lieber bei Kaffee.«

Morgan schmunzelte. »Grüß Ryder von mir.«

Ruby schob sich durch die Besuchermenge an den Ständen vorbei. Gefühlt war ganz Paradise sowie die Bewohner der umliegenden Gemeinden auf dem Areal versammelt. Und wahrscheinlich war das tatsächlich so, denn im Gegensatz zu New York, wo man aufgrund der zahlreichen Angebote manchmal gar nicht wusste, welches Event man zuerst besuchen sollte, gehörte der Summer Stash Market hier vermutlich zu den Highlights des Sommers.

Zu Rubys Enttäuschung stand am Stand des Coffeeshops nur Ryders Mitarbeiterin Elodie, während von dem charmanten Besitzer weit und breit keine Spur war.

Obwohl Ruby Elodie vor zwei Monaten kurzzeitig des Mordes verdächtigt hatte, begrüßte diese sie mit einem freundlichen Lächeln. »Hab schon gehört, dass du wieder im Lande bist.«

»Eure Buschtrommel ist wirklich einzigartig.«

»Stanley war gerade da.« Elodie griff nach einem Pappbecher. »Einen Walter Spezial?«

»Den kannst du hier machen? Ich hatte nur mit einem schnöden schwarzen Kaffee mit Milch gerechnet.«

Elodie zeigte stolz auf einen Kaffeevollautomaten, der hinter ihr auf einem Tisch stand und an ein Stromaggregat sowie einen Wasserkanister angeschlossen war. »Seit du weg bist, hat sich der Walter Spezial zu einem Verkaufsschlager entwickelt. Die Kunden würden ihn vermissen, wenn wir ihn heute nicht anbieten würden.«

Nachdem Ruby bei ihrem ersten Besuch in Paradise lange darum gekämpft hatte, von Ryder ihren geliebten Latte macchiato mit Hafermilch, Agavensirup und Zimt serviert zu bekommen, freute es sie, dass diese Kaffeespezialität, die ihren Namen dem selbst ernannten Kaffeekenner Walter zu verdanken hatte, offenbar so gut bei den hiesigen Bewohnern angekommen war.

Während Elodie ihr den Kaffee zubereitete, sah Ruby sich um. »Ist Ryder auch hier?«

Elodie schüttelte den Kopf. »Der hält im Bond die Stellung und kommt erst später.«

Die Enttäuschung legte sich wie eine kratzige Decke über Ruby. Was totaler Quatsch war, denn sie hatte ihn seit zwei Monaten nicht mehr gesehen, geschweige denn sonstigen Kontakt gehabt, da kam es jetzt auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht an. Vor allem, da sie ja nun den ganzen Sommer hier verbringen würde und ihn jeden Tag sehen könnte, wenn sie wollte.

Elodie hielt ihr den Pappbecher hin, doch bevor Ruby danach greifen konnte, schlangen sich kräftige Arme um ihre Hüften und zogen sie fest an sich. Sie erkannte das herbe Aftershave, bevor Cash in ihr Ohr raunte: »Ich wusste doch, dein Navi würde dich zu mir zurückführen.«

Wider Willen musste Ruby grinsen. Bei ihrem ersten Date mit Cash, auf das sie sich aus rein journalistischer Neugier eingelassen hatte, hatte ihr Navi sie auf einen verlassenen Feldweg gelotst, wo sie letztlich mit Morgans Auto liegen geblieben war.

Sie löste sich von ihm, nahm Elodie den Kaffee aus der Hand und sagte mit monotoner Stimme: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

Cash griff sich ans Herz. »Ich verliere gegen getrocknete Bohnen im Wasser?«

»Kaffee redet nicht, jammert nicht, macht einfach seinen Job. Was man von euch Männern nicht behaupten kann.« Sie trank einen Schluck und lächelte ihn gespielt selig an.

Elodie prustete los.

»Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab dich vermisst.« Cash nahm Blickkontakt mit Elodie auf und deutete auf Rubys Becher. »Kannst du mir auch so einen machen?« An Ruby gewandt sagte er: »Brauchst du eine Bleibe? Deine Augen würden super zu meiner neuen Bettwäsche passen.«

»Ooooh«, kam es von Elodie.

»Mach ihm besser einen Eiskaffee«, versuchte Ruby die Hitze zu überspielen, die in ihre Wangen stieg.

»Ach, Cash«, erklang eine Stimme hinter ihr, »du solltest dir mal neue Sprüche zulegen.« Vivian war neben Ruby aufgetaucht und hatte sich so nah an sie gestellt, dass Ruby zur Seite trat. Auch wenn sie es als New Yorkerin gewohnt war, mit anderen zusammengepfercht in der U-Bahn zu stehen, war ihr diese Nähe unangenehm.

Und gab es eigentlich irgendeine attraktive Frau im Umkreis von hundert Kilometern, die Cash nicht persönlich kannte? Mit seiner kräftigen und durchtrainierten Statur, mit der er in New York ohne Probleme vor einem Nachtklub hätte stehen können, entsprach er eigentlich nicht Rubys Beuteschema. Doch sie musste zugeben, dass er trotz seiner Muskelpakete und seiner Anmachsprüche eine gewisse Anziehungskraft hatte – und es sie deshalb ein wenig wurmte, dass Cash seinen Charme offenbar auch bei anderen Frauen spielen ließ.

Cash warf Vivian ein breites Lächeln zu. »Warum sollte ich was ändern, solang es funktioniert?«

Während Vivian bei Elodie einen Kaffee bestellte und Cash in ein Gespräch verwickelte, betrachtete Ruby die Fresh-Face-Chefin.

Vivians Gesicht zeichnete sich durch klare, definierte Züge aus. Ihre großen Augen wurden von feinen, schwungvollen Augenbrauen umrahmt, ihre Nase war schnurgerade und ihre Lippen gut proportioniert. Ruby zweifelte daran, dass auch nur irgendwas an dieser Frau natürlichen Ursprungs war, alles wirkte zu perfekt. Ihre gesamte Erscheinung war selbstbewusst, markant und elegant – ein Bild, das Ruby selbst auch täglich versuchte zu verkörpern.

»… Wenn du mir einen kleinen Raum zur Verfügung stellst, könnte ich auch Behandlungen direkt vor Ort anbieten und deine Gäste müssten noch nicht mal das Hotel verlassen.« Vivian öffnete ihre große Umhängetasche und zog einen Stapel Flyer heraus. »Leg sie doch einfach mal aus, und wir schauen, was passiert.«

»Zwei Kaffee, schwarz, bitte«, rief ein Mann Elodie zu und bahnte sich den Weg an zwei Frauen vorbei, die mit ihren Kinderwagen direkt zwischen den Ständen stehen geblieben waren und sich unterhielten.

Vivian fuhr herum und stöhnte. Der Hüne mit zahlreichen Tätowierungen an beiden Armen und einem beachtlichen Bart blieb vor ihr stehen. »Was hast du da?«

Bevor er jedoch nach ihren Flyern greifen konnte, gab Vivian diese an Cash weiter. Sie bezahlte bei Elodie ihren Kaffee und nahm den Becher entgegen. Mit der anderen Hand deutete sie Cash einen Hörer an. »Lass uns telefonieren.« Sie warf einen abschätzigen Blick auf den tätowierten Mann und quiekte auf. »Du warst das!«

Irritiert sah dieser sie an. »Was?«

Sie deutete mit ihrer freien Hand auf sein weißes T-Shirt, auf dem ein stilistischer Bogenschütze aufgedruckt war. »Die Farbe! Du hast die Parolen an meine Wand gesprüht! Dafür krieg ich dich dran, Travis!«

Der Mann namens Travis schaute an sich hinunter.

»Da!«, kreischte Vivian und deutete auf einen kleinen roten Fleck oberhalb des Saums. »Der ist von der Sprühfarbe, gib’s zu!«

»Bist du bescheuert?« Travis rieb über die Stelle. »Ich war derjenige, der dir geholfen hat, den Scheiß zu übermalen.«

»Ich wusste doch, ich kann dir nicht trauen. Zieh das aus, das ist ein Beweismittel! Damit wanderst du zurück in den Knast.« Vivian zerrte an Travis’ Shirt, der daraufhin grob ihren Arm packte.

Cashs Kiefermuskeln versteiften sich, er trat einen Schritt auf die beiden zu. Travis schien überrascht von seinem Näherkommen zu sein, jedenfalls lockerte er seinen Griff, und Vivian riss sich los.

»Wo willst du hin?« Travis’ Augen blitzten.

Eine Frau war hinter ihn getreten. »Lass dich nicht von ihr provozieren, Bärchen.«

Vivian schnaubte. »Wenn hier einer wen provoziert, dann allenfalls Bärchen«, sie zog den Kosenamen in die Länge, »mich.«

Was für ein Wespennest tat sich hier gerade vor Rubys Augen auf? War Vivian die Ex von Travis? Das würde die klare Abneigung der anderen Frau ihr gegenüber erklären. Parolen an Wände sprühen war jedenfalls eine interessante Aufarbeitung für eine schiefgelaufene Beziehung.

Cash schob sich zwischen die beiden Fronten. »Jetzt mal alle tief durchatmen.«

»Misch dich nicht in Dinge ein, die du nicht verstehst«, warnte Travis ihn.

»Leg dich nicht mit Muskeln an, von denen du nichts verstehst.« Cash spannte einen Bizeps an.

»Hier, Abigail.« Elodie winkte die Frau an Travis’ Seite zu sich und drückte ihr zwei Kaffee in die Hand. »Ruby möchte Bogenschießen lernen.«

Verwundert sah Ruby Elodie an, die ihr einen eindringlichen Blick zuwarf. »Äh, ja. Ich wollte mir das schon immer mal aus der Nähe ansehen«, stotterte sie.

Abigail blickte sie an. »Ruby? Die, die im Frühjahr diesen Mord aufgeklärt hat?«

»Ja, schuldig.« Ruby nippte an ihrem Kaffee und überlegte, ihr Handy aus der Tasche zu ziehen und einen wichtigen Anruf vorzutäuschen, um dieser Situation zu entkommen.

Abigail stupste Travis mit ihrem Ellenbogen an. »Das ist diese Reporterin von der New York Gazette. Die, die neulich hier den toten Skitrainer gefunden hat.«

Elodies weiterhin eindringlicher Blick ruhte auf Ruby. Und obwohl sie bezweifelte, dass Alan einen Artikel über einen Bogenschießverein in Colorado veröffentlichen würde, gab sie sich alle Mühe, Abigail gegenüber interessiert auszusehen.

Vivian drehte sich zu ihr. »Du solltest unbedingt in mein Spa kommen! Ich hab die neusten Anwen…«

»Glaubst du wirklich, dass irgendeine scheißreiche New Yorkerin quer durchs Land reisen und in dieses Kaff kommen würde, um sich von dir den Hintern aufspritzen zu lassen?«, unterbrach Travis sie.

»Ist zumindest wahrscheinlicher, als dass jemand außerhalb von Paradise an deiner Robin-Hood-Anlage für Arme interessiert wäre!«, gab Vivian sofort zurück.

»Die Anlage könnte so viel größer und schöner sein, wenn dein Spritztempel verschwinden würde«, mischte Abigail sich ein.

»Meine Schönheitsklinik war zuerst da!«

Bevor Cash erneut dazwischen gehen konnte, trat Ruby vor und strahlte zwischen den beiden hin und her. »Heute Bogenschießen, und in der Woche komme ich dann mal in die Klinik, okay?« Sie ging direkt auf Travis und Abigail zu, sodass diese von Vivian zurückweichen mussten.

»Erst verliere ich gegen Kaffee und jetzt gegen fliegende Pfeile?«, beschwerte sich Cash halbherzig.

Ruby schmunzelte. »Ist nicht dein Tag.«

Cash zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Dienstag. Abendessen. Sechs Uhr. Du weißt, wo.« Dann wandte er sich mit einem charmanten Lächeln an Vivian, und Ruby hörte ihn im Weggehen noch sagen: »Und was machen wir zwei Hübschen jetzt?«

Kapitel 3

Abigail war vor einem Stand stehen geblieben, nahm ein Blatt Papier vom Tisch und drückte es Ruby in die Hand. »Hier sind Öffnungszeiten, Anfahrt und so drin. Für den Artikel.«

»Arrowsmith?« Ruby überflog den schlechten Ausdruck, der nichts im Vergleich zu Vivians Hochglanzflyer war.

Travis grinste. »Smith ist mein Nachname und bin schon seit Jahren Fan von Aerosmith.«

So eine pfiffige Wortspielerei hätte Ruby dem Hell’s-Angel-Verschnitt gar nicht zugetraut. »Ihr habt ja auch richtig was zum Schießen aufgebaut.«

»Wir wollten das bei uns auf dem Gelände machen, aber der Gemeinderat hat dagegen gestimmt.« Abigail deutete in den Wald hinter den drei aufgestellten Zielscheiben. »Dahinter ist unsere Anlage, maximal zwei Minuten von hier.«

»Alles nur, weil Vivian sich eingemischt hat«, brummte Travis neben ihr.

»Sitzt Vivian auch im Gemeinderat?« Ruby strich mit den Fingern über einen der Bögen, die neben dem Tisch auf einem Gestell eingehängt waren.

»Ne. Aber als sie davon gehört hat, dass wir vielleicht was auf unserem Gelände machen können, wollte sie Schnupper…«, Abigail malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »…behandlungen anbieten.«

»Schnupperbehandlungen? Nur die Hälfte der Lippe aufspritzen, oder was?«, witzelte Ruby.

Während Travis auflachte, verzog Abigail keine Miene. »Keine Ahnung. Jedenfalls hat der Rat unseren Antrag abgelehnt, und wir mussten dann halt unser Zeug herschleppen«, erklärte Abigail.

»Dabei wäre das für die Besucher bei uns so viel cooler gewesen.« Travis zeigte gen Wald. »Da gleich um die Ecke! Wenn Vivian sich nicht eingemischt hätte, hätte der Rat sicherlich zugestimmt!«

»Vergiss sie.« Abigail trat hinter den Tisch, dabei streifte sie mit ihrem herumschlabbernden T-Shirt den Papierstapel. Zwei Blätter segelten hinunter. »Zeig Ruby lieber, was wir alles dabei haben.«

Ein Windstoß fegte die beiden Blätter in Richtung des Nachbarstands, doch Abigail machte keine Anstalten, diese aufzuheben. Auch wenn Ruby ein solches Verhalten aus New York kannte und man besonders im Herbst nicht davor gefeit war, plötzlich ein fettiges Papier im Gesicht zu haben, das zuvor ein Sandwich umhüllt hatte, empfand sie es hier als besonders störend, wie das billig kopierte Infomaterial über das Gras wehten. Mit wenigen Schritten war sie bei dem herumfliegenden Papier angekommen, hob es auf und legte es wieder auf den Tisch. Weder Abigail noch Travis kommentierten dies.

Travis hatte mittlerweile seinen Kaffee abgestellt und war vor das Gestell mit den Bögen getreten. Er zog zwei Bögen heraus und hob je einen mit einer Hand hoch. »Willst du zuerst ein Foto machen?«

»Ein Foto?«

»Für den Artikel. Hab ich im Marketingkurs gelernt. Man braucht heutzutage was Visuelles, damit der Leser dran hängen bleibt.«

»Äh, ja.« Ruby zog ihr Handy aus der Handtasche. »Hast du vorher was mit Marketing gemacht?«

»Ne.« Nachdem Ruby ihm signalisierte, dass sie ein Foto gemacht hatte, steckte er die Bögen zurück in ihre Halterung.

»Du warst also mit der Schule fertig und hast dann gleich Arrowsmith eröffnet?« Ruby bemühte sich um professionelle Interviewfragen, obwohl sie sich nicht im Geringsten dafür interessierte, wie Travis an seinen Job gekommen war.

»Ne.«

Ruby verkniff sich ein Augenrollen. Sie hatte schon einige Menschen interviewt, die zunächst ihre fünf Minuten Ruhm gar nicht erwarten konnten, doch bei den eigentlichen Fragen dann so verschlossen wie Fort Knox waren.

»Hier.« Abigail reichte Ruby einen Bogen und einen Pfeil.

»Uff.« Der Bogen war schwerer, als Ruby gedacht hatte.

Abigail nahm ihn ihr erneut aus der Hand und legte ihn an. »So ist die richtige Haltung.« Sie trat neben Ruby, übergab ihr wieder den Bogen und korrigierte Ruby, bis sie zufrieden war. Dann half sie ihr, den Pfeil richtig an der Bogensehne anzubringen.

Rubys Arme schmerzten jetzt schon aufgrund der ungewohnten Haltung.

»Jetzt spannen«, befahl Travis ihr.

»Lieber nicht, sonst schieße ich womöglich noch damit.« Ruby ließ Pfeil und Bogen wieder sinken, sofort lockerten sich ihre Muskeln.

»Du musst es doch ausprobieren!«, protestierte Travis.

»Sonst kannst du gar nicht richtig darüber schreiben«, pflichtete ihm Abigail bei.

Das Schlimmste war, dass beide recht hatten. Ruby war normalerweise eine Verfechterin von Reportagen, bei denen die Journalisten nicht nur am Rand standen und zuguckten, sondern aus eigenen Erlebnissen berichteten.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Selbst in ihren Ohren hörte sich das nach einer jämmerlichen Ausrede an. Denn natürlich hatten Travis und Abigail den Stand für Neulinge wie sie aufgebaut. Jeder, der sich hier an Pfeil und Bogen versuchte, wusste nicht, ob er das Ziel treffen würde oder nicht.

Neben ihr drängelten sich zwei ältere Damen an den Tisch und baten um Probeschüsse.

Ruby trat zur Seite. »Ich lasse die Damen vor und beobachte erst mal.«

Travis und Abigail versorgten die Rentnerinnen mit Pfeil und Bogen, erklärten ihnen die Haltung und brachten sie in Position. Einen Moment später schwirrte der erste Pfeil durch die Luft und fiel kurz vor dem ersten Ziel auf den Boden.

»Den Pfeil ein kleines bisschen steiler ansetzen«, empfahl Travis. »Dazu den Bogen vorne ein wenig anlupfen.«

Die Frau legte den zweiten Pfeil ein, spannte den Bogen erneut, kniff ein Auge zu und ließ los. Ihre Freundin brach in Jubel aus, als dieser Pfeil in dem Strohring stecken blieb.

Travis gab der Schützin ein High-Five und reichte ihr dann einen dritten Pfeil.

Nachdem sie den Bogen wieder gespannt hatte, korrigierte er ihre Haltung erneut, bevor er ihr die Erlaubnis zum Schuss gab. Der Pfeil zog durch die Luft, traf auf die Scheibe, aber blieb leider nicht stecken, sondern berührte nur mit der Spitze das Ziel und fiel dann davor zu Boden.

»Mist«, fluchte die ältere Dame. Sie drückte ihrer Freundin den Bogen in die Hand und trat zur Seite.

Ihre Freundin feuerte drei Pfeile in Windeseile auf das mittlere Ziel ab. Jedes Mal traf sie die Scheibe.

»Bravo!«, gratulierte Abigail und gab den beiden Damen einen Infozettel. »Kommen Sie doch dienstags mal vorbei, da haben wir eine offene Anfängergruppe.«

Die beiden Damen freuten sich und trollten sich von dannen. Abigail deutete auf Ruby. »Los, jetzt du.«

Ruby nahm den Bogen wieder auf. Sofort protestierten ihre Armmuskeln wieder. Abigail zeigte ihr erneut, wie sie den Pfeil auf der kleinen Ablage des Griffes zu platzieren hatte.

»Jetzt zeigst du mit dem Pfeil auf das Ziel«, wies sie Ruby an. »Bogen anheben, Zeigefinger über den Nockpunkt, Mittelfinger und Ringfinger darunter. Linken Arm gerade halten, mit dem rechten die Bogensehne zurückziehen, sodass der Daumen unter deinem Kiefer sitzt.«

Ruby versuchte, Abigails Anweisungen, so gut es ging, Folge zu leisten. Sie richtete den Pfeil auf die vorderste Zielscheibe. Travis winkte ab. »Ziel auf die am Waldrand. Die beiden vorderen müssen wir erst abräumen.«

»Und Spannung nicht verlieren«, wies Abigail sie zurecht.

Ruby schluckte und nahm die am weitesten entfernte Scheibe ins Visier. Doch dann wurde ihr Blick nach links abgelenkt. Eine pinke Gestalt huschte am Rand der Wiese entlang.

Travis schlug Rubys Bogen hinunter. »Stopp!«, schrie er sie an, dann in Richtung der Frau: »Aus dem Weg! Verschwinde!«

Ruby erkannte Vivian, die unbeirrt weiter in Richtung Wald ging.

»Was machst du denn da?«, brüllte Travis sie an.

Vivian blieb kurz stehen, drehte sich zu ihnen und rief: »Ich brauche mehr Flyer aus meiner Klinik.«

Selbst auf die Entfernung hin sah Ruby, dass Vivian völlig unbeeindruckt von Travis war, der mit zusammengeballten Fäusten und rotem Kopf neben ihr stand.

»Spinnst du total? Was glaubst du, wozu da überall Absperrband ist?«

»Das ist der kürzeste Weg in meine Klinik. Und das ist hier öffentliches Gelände, da kannst du mir nicht verbieten, hier langzugehen.« Vivians Stimme wurde leiser, je weiter sie sich entfernte.

»Hier wird mit Pfeilen geschossen!« Travis zeigte auf die Zielscheiben und starrte dann Vivian hinterher, wie sie am Ende der Wiese scheinbar im Dickicht verschwand.

»Du hast sie doch nicht alle! Wenn ich dich da noch mal sehe, schieße ich dir in dein verkümmertes Hirn!«, schrie er in den scheinbar verlassenen Wald hinein.

Abigail strich ihm über den Rücken. »Beruhig dich, Bärchen.«

»Die ist doch nicht ganz dicht! Ich hab das doch nicht gemacht, um ihr den Weg zu versperren, sondern als Sicherheitsmaßnahme!« Travis war immer noch aufgebracht.

Abigail suchte Rubys Blick und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Zielscheiben. »Los jetzt, andere wollen auch noch schießen.«

»Wieder die am Waldrand?«, vergewisserte sich Ruby.

Abigail nickte. »Das schaffst du.«

Mit einem leisen Ächzen hob Ruby den Bogen erneut an. Sie zielte auf die Scheibe, hinter der eben noch Vivians Kopf zu sehen gewesen war. War es wirklich sicher, jetzt abzufeuern?

Als wenn Travis ihre Gedanken lesen konnte, sagte er mit wieder ruhiger Stimme: »Keine Sorge, die ist schon längst aus der Schusslinie und in ihrem Schönheitstempel.«

Ruby atmete noch einmal tief durch, zielte dann auf die Scheibe und ließ los. Der Pfeil stieg steil in die Luft, flog in hohem Bogen über die Wiese und verschwand weit hinter der Zielscheibe im Dickicht.

»Gar nicht so schlecht«, lobte Abigail Ruby. »Jetzt nicht ganz so steil, dann passt’s.«

Doch die nächsten beiden Pfeile flogen noch weiter ins Gebüsch hinein. Was bei den beiden älteren Damen so einfach ausgesehen hatte, war Ruby einfach nicht gelungen.

»Voll daneben«, kommentierte ein pickeliger Teenager, der sich mit seinem Freund hinter Ruby gestellt hatte.

Zu ihrer Überraschung hatte sich hinter ihr eine kleine Schlange gebildet. Offenbar warteten alle darauf, auch mal schießen zu dürfen.

»Können wir jetzt auch mal?«, drängelte sein nicht wenig minder mit Mitessern gesegneter Freund.

Travis hob die Hand. »Wir müssen erst mal wieder die Pfeile einsammeln.«

Abigail betrachtete die Menschentraube. »Du, Bärchen, ich lauf kurz rüber und hol noch mehr Pfeile.« Sie griff nach einem großen Rucksack und steuerte über die kleine Lichtung auf den Wald zu.

»Wenn du für den Artikel noch was wissen willst, komm die Tage bei uns vorbei.« Travis machte sich daran, die Pfeile, die vor der ersten Scheibe gelandet waren, aufzusammeln.

»Mach ich!«, rief Ruby, doch Abigail hörte sie schon nicht mehr und Travis hob nur kurz die Hand.