Leseprobe Whispers of my Heart

Kapitel 1

»Julian, jetzt warte mal! Wo willst du denn schon wieder hin?«, ruft meine Mutter mir hinterher.

»Lass mich in Ruhe! Du denkst doch so und so nur an dich!« Krachend fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss. Ich stürme durch das Treppenhaus, reiße die Eingangstür auf und schlage sie geräuschvoll hinter mir wieder zu. Draußen blinzle ich in die grelle Mittagssonne. Für Mitte September ist es noch sehr warm.

»Verdammte Scheiße! Immer muss sie alles allein entscheiden!« Missmutig vergrabe ich die Hände in den Hosentaschen meiner abgenutzten Jeans und stapfe die Einfahrt hinunter zur Straße. Eine leere Coladose liegt vor mir auf dem Gehweg. Sie kommt mir gerade recht. Ich kicke sie eine Weile vor mir her, um meiner Wut Luft zu machen. Es geht mir gehörig gegen den Strich, dass meine Mutter so plötzlich zu ihrem neuen Freund nach Köln ziehen will, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Stattdessen stellt sie mich vor vollendete Tatsachen und tut so, als wäre es die beste Idee seit Langem.

Während ich den Weg zum Hügelpark anstrebe, kreisen meine Gedanken um das Gespräch von eben. Meine Mutter hat mir gerade tatsächlich verkündet, dass wir schon in den Herbstferien nach Köln zu Bernd ziehen werden.

Ich will nicht mehr umziehen! Neues Haus, neue Umgebung, neue Schule, neue Leute. Wie ich das hasse! Wir wohnen noch nicht einmal fünf Jahre hier und ich habe mich total an mein Leben in Essen gewöhnt. Hier sind meine Freunde und mein Zuhause. Bis zur Abiturprüfung ist es noch knapp ein Dreivierteljahr, und mitten im Schuljahr zu wechseln, ist doch zum Kotzen!

Schlecht gelaunt fahre ich mir durchs Haar und über die Augen. Im Park angekommen, setze ich mich auf eine Bank und lasse meinen Blick durch die Gegend schweifen. Der kurze Fußmarsch hat mich zumindest etwas beruhigt, sodass ich die Situation ein wenig rationaler betrachten kann.

Ein Pärchen spaziert händchenhaltend an mir vorbei, irgendwo in der Ferne sehe ich Kinder mit einem großen Hund spielen. Ich schaue dem Paar hinterher. Das Mädchen lacht über etwas, das ihr Freund zu ihr gesagt hat, und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Sie sehen glücklich zusammen aus. Was würde ich dafür geben, jetzt auch eine Freundin zu haben. Einen Menschen, der mich liebt und mir Halt gibt. Ich war zwar noch nie verliebt, aber ich stelle es mir sehr schön vor. Später werde ich mit meinem Kumpel Tim reden, vielleicht kann er mich ja ein bisschen aufbauen. Ihn werde ich hier auch zurücklassen müssen, so eine Scheiße! Ich werde Tim echt vermissen, wenn ich erst mal in Köln bin.

Ich atme tief ein und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Es ist ja nicht so, als würde ich meiner Mutter ihr Glück mit Bernd nicht gönnen. Doch muss sie gleich bei ihm einziehen? Bernd ist Zahnarzt und eigentlich ganz nett. Nach der Trennung von meinem Vater vor fast zehn Jahren hatte es meine Mutter nicht leicht, so allein mit mir. Als Kind konnte ich einfach nicht verstehen, warum er uns im Stich gelassen hat. Ich glaube, er lebt mittlerweile mit seiner neuen Frau irgendwo in Hamburg. Da kann er mir gestohlen bleiben.

Meine Mutter hatte nicht wirklich viele Beziehungen vor Bernd und sie hielten nie lange, sodass ich eigentlich froh bin, dass sie jetzt so glücklich ist. Trotzdem will ich nicht mit ihr nach Köln ziehen. Weil ich jedoch noch nicht volljährig bin, werde ich wohl nichts gegen meine Mutter ausrichten können. Dennoch bin ich sauer, weil sie mich nicht schon viel früher in die Entscheidung mit einbezogen hat. Bei Bernd hätte ich ein großes Zimmer mit einem eigenen Bad, so hat sie vorhin versucht, mir den Umzug schmackhaft zu machen. Nur blöd, dass ich kein eigenes Bad haben will!

»Hey. Weißt du, wie spät es ist?«

Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Verwirrt blicke ich auf und sehe in braune Augen, die im Licht der Nachmittagssonne strahlen. Für einen Moment bleibt mir die Spucke weg, weil mich der Blick des Mannes völlig gefangen nimmt. Ich war so versunken, dass ich überhaupt nicht bemerkt habe, wie sich jemand der Bank genähert hat.

Der Typ vor mir ist älter als ich. Mit den Händen auf den Knien abgestützt, versucht er seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Er trägt Shorts und ein Fußballtrikot des BVB. Seine Haare hängen ihm in verschwitzten, dunkelbraunen Strähnen in die Stirn.

»Puh!« Er atmet aus, dann streckt er sich zu voller Größe. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Was ist los? Hast du jetzt eine Uhr?«, fragt er noch mal und zieht eine Augenbraue hoch. Mist, ich habe ihn wohl zu offensichtlich angestarrt. Schnell krame ich mein Handy aus der Hosentasche und schaue aufs Display. Siebzehn Uhr dreiundzwanzig.

»Gleich halb sechs«, antworte ich.

»Super, dann kann ich mich noch einen Moment hier ausruhen.« Der Typ lässt sich neben mir auf die Bank sinken und streckt seine langen Beine aus. Ich mustere ihn verstohlen von der Seite. Sein Gesicht ist fein geschnitten und doch männlich. Gerade Nase, volle Lippen, ein leichter Dreitagebart. Sein Körper ist gut definiert, vermutlich joggt er regelmäßig. Einen Arm hat er um die Rückenlehne gelegt und wischt sich mit der freien Hand den Schweiß aus der Stirn. Ich bin oft im Park, aber ihn habe ich hier noch nie laufen gesehen.

Mein erster Gedanke ist: Wow! Mein zweiter: Habe ich das gerade wirklich über einen Mann gedacht? Ich schüttele leicht den Kopf, um dieses seltsame Gefühl, das sich in meinem Inneren ausbreitet, schnell zu vertreiben und meinen Blick von dem Fremden zu lösen. Es verwirrt mich, dass ich ihn so angestarrt habe. Irgendwie macht mich seine Nähe nervös. Er sieht gut aus … Doch seit wann achte ich darauf, wie andere Männer aussehen? Ich meine, hey, das ist nur ein fremder Typ, der hier neben mir auf der Bank sitzt. Da ist nichts dabei und es sollte mich nicht so durcheinanderbringen.

Als habe er meine Blicke bemerkt, dreht er den Kopf zu mir und lächelt. Scheiße, dieses Lächeln …

»Ist was?«, fragt er leicht amüsiert.

»Du hast schöne Zähne.« Ehe ich es verhindern kann, sind die Worte schon heraus. Ach du Scheiße! Ich könnte mich in den Arsch beißen für diesen peinlichen Spruch. Augenblicklich laufe ich rot an und möchte am liebsten im Boden versinken. Alternativ könnte ich auch aufstehen und abhauen, doch irgendwie scheint mein Körper mit der Bank verwachsen zu sein. Nach einem kurzen Schreckensmoment, in dem ich mich ganz weit wegwünsche, bricht der Mann in schallendes Gelächter aus.

»Oh wow, danke. Das hat echt noch keiner zu mir gesagt.« Er grinst breit. Er hat eindeutig dieses Zahnpastalächeln aus der Werbung. Ich mache mich hier gerade total zum Affen. Hastig springe ich auf, ehe mir noch irgendwas Blödes über die Lippen kommt. Dass er schöne Waden hat oder eine hübsche Nase. Oh Gott!

»Muss dann mal los.« Und weg bin ich. Zum Glück sehe ich diesen Kerl sowieso nie wieder.

Den Weg bis zur Wohnung lege ich in Rekordtempo zurück. Einige Fußgänger drehen sich nach mir um, als vermuteten sie, der Teufel wäre hinter mir her. Als das große Wohnhaus in Sicht kommt, verlangsame ich meine Schritte. Schwer atmend presse ich meine Hände in die Seite, wo mich ein stechender Schmerz quält.

Was war das denn eben? Dieser Typ hat mich ja völlig aus der Bahn geworfen. Ich schüttele über mich selbst den Kopf. Die Wut über den bevorstehenden Umzug ist durch diese seltsame Begegnung komplett in den Hintergrund gerückt, doch dafür rast mein Herz jetzt wie verrückt. Das liegt sicher an dem Dauerlauf, den ich hinter mir habe.

Seufzend krame ich den Hausschlüssel aus der Hosentasche und schließe die Eingangstür auf.

***

»Du ziehst um?« Tim sieht mich entsetzt an. Ich nicke niedergeschlagen und nehme mir einen Stöpsel der Kopfhörer aus dem Ohr, damit ich meinen Kumpel besser verstehen kann. Linkin Park spielt jetzt nur noch leise im Hintergrund.

»Meine Mutter will zu ihrem neuen Freund nach Köln ziehen.« Seufzend lasse ich den Kopf auf die Tischplatte sinken. Es ist Montagmorgen und wir warten auf unseren Mathelehrer, der sich verspätet.

»Das ist echt mies. So kurz vor dem Abschluss …«, meint Tim bedrückt.

Ich drehe den Kopf zu ihm und betrachte ihn, während er sich weiter darüber ereifert, dass ich gefälligst hierbleiben soll. Er ist größer als ich und schon achtzehn. Als ich damals in diese Klasse kam, war er der Erste, der sich zu mir gesetzt und ein Gespräch mit mir angefangen hat, während ich noch total unsicher war. Seitdem sind wir die besten Freunde. Ein Grund mehr, nicht nach Köln zu gehen, weil ich kaum glaube, dass ich dort einen so guten Freund wie Tim finden werde. »Wann soll es denn losgehen?«, fragt er mich.

»In den Herbstferien«, antworte ich unglücklich.

»Und daran lässt sich nichts ändern?«

»Ich fürchte nicht. Meine Mutter hat ihre Arbeit im Büro bereits gekündigt und freut sich sehr auf Köln. Ich kann ja schlecht allein hierbleiben.«

»Und wenn du bei uns bleibst? Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen, wenn du das Gästezimmer bewohnst«, schlägt Tim vor. Ich muss trotz meiner schlechten Laune schmunzeln, weil ich mich über sein Angebot freue.

»Nein, ich glaube kaum, dass ich damit bei meiner Mutter durchkomme. Sie ist total überzeugt von ihrem Plan.«

»Das ist echt scheiße. Ich werde dich vermissen.«

»Ich dich auch«, seufze ich traurig. Meine Laune ist ziemlich im Keller. Ich bin nur froh, dass Herr Bergmann noch nicht da ist. Auf Mathe habe ich im Moment echt keine Lust. Es ist nicht unbedingt mein stärkstes Fach und ich habe Mühe, meine fünf Punkte zu verteidigen.

»Kopf hoch, Juli. Köln ist ja nicht ganz aus der Welt. Mit dem ICE bist du in knapp einer Stunde hier. Und wenn du erst deinen Führerschein hast, kannst du noch viel schneller herkommen«, versucht Tim mich aufzumuntern, wofür ich ihm dankbar bin. Hoffentlich scheitert unsere Freundschaft nicht an der Entfernung. Ich stecke mir wieder beide Stöpsel in die Ohren und lasse mich von der Musik weit wegtragen.

Die Tür öffnet und schließt sich. In der Klasse wird es ruhig, die Gespräche verstummen. Desinteressiert stütze ich meinen Kopf in den Handflächen ab, starre aus dem Fenster und beginne mit dem Stuhl zu kippeln. Durch die Musik abgelenkt, nehme ich nicht richtig wahr, wie hinter mir getuschelt wird. Die Mädchen kichern. Tim stößt mir unsanft den Ellenbogen in die Seite.

»Hey, Mann, der Bergmann ist da«, raunt er mir alarmiert zu und zieht an meinem Kopfhörer.

»Julian, wollen Sie so freundlich sein und mir auch einen Moment Ihrer wertvollen Aufmerksamkeit schenken?«, höre ich meinen Lehrer sagen. »Und nehmen Sie die Stecker aus den Ohren. Musik hören, können Sie in der Pause.«

Ich zucke zusammen und drehe meinen Kopf nach vorn. Mein Blick huscht zur Tafel – und ich erleide beinahe einen Herzinfarkt! Neben Herrn Bergmann steht ER! Der Jogger, der mir gestern Nachmittag im Park begegnet ist. Eilig ziehe ich mir die Stöpsel der Kopfhörer aus den Ohren und richte mich auf. Meine Bewegung ist jedoch viel zu abrupt, sodass der Stuhl, der durch mein Kippeln nur auf den hinteren Stuhlbeinen steht, abrutscht. Mit voller Wucht und einem lauten Knall krache ich rückwärts auf den Boden. Die Klasse bricht in schallendes Gelächter aus. Auch Tim krümmt sich vor Lachen, während ich mich mühsam aufrappele und den Stuhl wieder aufstelle. Herr Bergmann setzt zu einer Schimpftirade an, die ich jedoch kaum wahrnehme. Der Fremde neben ihm schaut mitleidig zu mir herüber. Gott, ist das peinlich! Dass gerade er hier auftauchen muss. Mit feuerrotem Kopf setze ich mich schnell wieder auf meinen Platz und verstaue mein iPhone in meinem Rucksack. Wenn diese Aktion nicht schon unangenehm genug ist, kommt er nun auch noch auf mich zu. Seine braunen Augen ruhen auf meinem Gesicht und bringen mein Herz erneut zum Rasen.

»Hey, hast du dir wehgetan?«, fragt er besorgt. Ich nicke, dann schüttele ich schnell den Kopf, traue mich dabei kaum, ihn anzusehen. Scheiße, warum kann ich mich nicht einfach für den Rest der Stunde unter dem Tisch verkriechen?

»Oh Mann, du bist der Knaller!« Tim lacht und klopft mir auf die Schulter. »Jetzt sind wir wenigstens alle wach.«

Kann ein Montagmorgen noch schlimmer beginnen? Ich habe mich gerade vor der ganzen Klasse zum Deppen gemacht. Und das auch noch vor diesem Typen, der ein wenig unschlüssig vor meinem Tisch steht und anscheinend auf eine Antwort von mir wartet. Da ich jedoch bei dem Sturz meine Zunge verschluckt zu haben scheine, geht er nach einem kurzen Moment des Schweigens, in dem ich den Atem angehalten habe, zurück ans Lehrerpult.

»Jetzt beruhigen wir uns alle wieder«, tönt Herr Bergmanns Stimme durch die Klasse und meine Mitschüler verstummen. »Ich möchte euch Herrn Markus Richter vorstellen. Er studiert hier an der Universität Mathematik im vierten Semester und macht während der vorlesungsfreien Zeit ein Praktikum bei uns. Er wird ein paar meiner Stunden übernehmen.« Der junge Mann lächelt freundlich in die Runde und nickt einigen Mädchen zu, die ihn schmachtend ansehen. Als sich unsere Blicke treffen, rutsche ich auf meinem Stuhl ein Stück tiefer. Leider kann ich mich nicht noch kleiner machen und ganz unter dem Tisch verschwinden. Und als Markus mir zu allem Überfluss auch noch zuzwinkert, werde ich plötzlich nervös. Allein, dass er hier ist, bringt mich völlig durcheinander. Mir ist es immer noch furchtbar peinlich, was ich gestern zu ihm gesagt habe. Ich meine, es war nicht gerade ein Kompliment, das man jeden Tag zu hören bekommt. Und so schnell wird er meinen blöden Spruch sicher nicht vergessen haben.

»Hey Leute. Es freut mich sehr, Erfahrungen als Lehrer sammeln zu können. Ich hoffe, dass wir gut miteinander auskommen werden.« Markus lacht freundlich. Sein Lachen beschert mir eine Gänsehaut. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper, um mich irgendwie abzulenken. Je länger ich ihm zuhöre, desto schneller klopft mein Herz.

»Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und … hm … ich mag Fußball und gute Filme. Na ja, so viel zu mir.«

Herr Bergmann neben ihm räuspert sich.

»Ähm … dann werde ich mal mit dem Unterricht starten.« Markus greift nach dem offenen Mathebuch auf dem Lehrerpult und beginnt damit, eine Kurvendiskussion an die Tafel zu schreiben. Ich gebe mir wirklich Mühe, seinen Ausführungen zu folgen, doch es fällt mir schwer. Markus' angenehm tiefe Stimme verursacht ein eigenartiges Kribbeln in meiner Magengegend und lässt mich bis zum Ende der Stunde nicht zur Ruhe kommen.

Als es endlich zur Pause klingelt, kann ich den Klassenraum nicht schnell genug verlassen. Gemeinsam mit Tim begebe ich mich zu unserem Stammplatz bei den Bäumen in der Nähe der Tischtennisplatten, wo wir uns auf eine Bank setzen. Ich beiße in mein Butterbrot und kaue lustlos darauf herum. Dass sich mein Magen so komisch anfühlt, liegt sicher daran, dass ich Hunger habe, obwohl ich gerade nicht viel davon verspüre. Tim schaut einigen Sechstklässlern beim Fußballspielen zu und ich hänge meinen Gedanken nach. Irgendwie schweifen sie immer wieder zur Mathestunde zurück. Völlig zu Unrecht, da es für mich nichts Schlimmeres gibt als Zahlen und Kurvendiskussionen. Sofort habe ich Markus' Stimme im Kopf, wie er mich gefragt hat, ob bei mir alles in Ordnung sei. Und wie er mich dabei angesehen hat … erneut breitet sich dieses seltsame Gefühl in meinem Inneren aus, das mir absolut fremd ist. In der Ferne sehe ich ihn über den Schulhof schlendern und zucke unwillkürlich zusammen.

»Was ist los mit dir?«, wundert sich Tim, der meine Reaktion bemerkt hat. Er folgt meinem Blick, der wie festgetackert auf Markus ruht. Er sieht sich gerade ein wenig planlos auf dem Schulhof um und schaut immer wieder auf seine Armbanduhr. Ein schelmisches Grinsen erscheint auf Tims Gesicht.

»Du hast ihn im Unterricht auch schon die ganze Zeit so angestarrt, als würdest du ihn mit Blicken auffressen wollen. Sag bloß, du stehst auf Kerle?«

Mein Magen verkrampft sich, Hitze steigt in meine Wangen.

»Erzähl keinen Scheiß!«, fahre ich Tim gereizt an. Mein Herz beginnt zu rasen. Wie kommt mein Kumpel nur auf diesen Blödsinn? Das ist so absurd, dass ich gar nicht weiter darüber nachdenken will!

»Was denn? Wäre doch nichts dabei.« Er klopft mir kameradschaftlich auf den Rücken, sodass ich mich an dem Brot verschlucke, das ich mir in aller Eile in den Mund gestopft habe, um ihm nicht antworten zu müssen. Natürlich ist für Tim nichts dabei. Er macht keinen Hehl daraus, dass er sich durchaus auch für Männer begeistern kann. Einmal hat er mir gestanden, dass er mit sechzehn etwas mit einem älteren Jungen hatte, als er mit seiner Familie im Sommerurlaub war. Wirklich ernst war es ihm damit jedoch nicht. Zumindest hat er mir nie erzählt, dass er schon mal in einen Jungen verliebt gewesen war. Tim umgibt sich viel zu gern mit Mädchen, als dass er statt sexuellem Interesse auch irgendwie romantische Gefühle für einen Jungen gezeigt hätte. Ich kenne meinen Freund. Es wäre mir aufgefallen, wenn es bei ihm mehr als nur eine kleine Schwärmerei gewesen wäre. Egal für welches Geschlecht.

Manchmal macht er sich einen Spaß daraus, mich mit seinem Verhalten aufzuziehen oder mich mit ungestümen Umarmungen oder harmlosen Wangenküsschen in Verlegenheit zu bringen. Die Mädchen in unserem Jahrgang finden es lustig und die Jungs machen Witze darüber, dass Tim es mit seiner Freundschaft ja nicht übertreiben soll. Ich habe kein Problem damit, dass Tim bi ist. Doch das heißt ja nicht automatisch, dass ich es sein muss. So bin ich nicht. Ich mag Mädchen. Sie sind hübsch und nett … Aber das ist Markus auch. Allein schon bei der Erinnerung an seine braunen Augen wird mir ganz anders zumute … Ich schlucke und verdränge diesen Gedanken sofort.

»Es ist nur … Das glaubst du mir nie«, beginne ich stockend, nachdem ich das Brot heruntergewürgt habe. »Als ich gestern nach dem Streit mit meiner Mutter im Hügelpark war, um ein bisschen allein zu sein, ist er mir über den Weg gelaufen.«

Tim sieht mich überrascht an. »Wer? Markus?«

Ich nicke. »Ja – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er war im Park joggen und hat mich nach der Uhrzeit gefragt. Und heute taucht er plötzlich bei uns im Unterricht auf. Deshalb war ich eben ein wenig … unruhig.« Okay, unruhig ist untertrieben. Die ganze Mathestunde über hat mein Herz wie wild gepocht und ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf seine Worte, die leider keinen Sinn in meinem Kopf ergeben haben.

»Das ist ja ein krasser Zufall«, staunt mein Kumpel und lacht. Mir ist jedoch so gar nicht nach Lachen zumute. Immerhin war mein erstes Zusammentreffen mit Markus schon echt peinlich und das heute hat dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt.

Er sieht uns und winkt. Aus einem Impuls heraus winke ich zurück. Mist! Das wollte ich doch gar nicht. Schnell lasse ich die Hand wieder sinken. Mein Körper macht in seiner Nähe einfach nicht das, was mein Hirn verlangt. Durch mein Winken ermutigt, kommt er auf uns zu. Ich rutsche auf der Bank herum, versuche, ruhig zu bleiben und meine aufkommende Nervosität zu verstecken. Warum zur Hölle macht mich seine Gegenwart so nervös? Liegt es wirklich nur daran, dass mir mein blödes Verhalten peinlich ist?

»Hey, Jungs«, grüßt er und schenkt uns ein strahlendes Zahnpastalächeln. »Könnt ihr mir vielleicht helfen? Ich muss gleich zu Frau Siebert in den Unterricht der 10b, aber ich finde den Klassenraum nicht.«

»Klar, der ist drüben im A-Trakt. In der ersten Etage. Komm, Julian, wir bringen ihn hin.« Tim steht auf und macht sich mit Markus auf den Weg. Ich folge ihnen schweigend. Beide unterhalten sich über die Mathestunde, doch ich blende ihr Gespräch aus, konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht irgendwas Blödes zu machen. Denn das scheint in seiner Gegenwart zur Gewohnheit zu werden. Nicht, dass ich plötzlich stolpere.

Es klingelt bereits zur nächsten Stunde, als wir Markus bei der 10b abgesetzt haben. Na super, jetzt müssen wir uns auch noch beeilen, das Gebäude zu wechseln, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Tim wendet sich schon ab, doch ich verharre etwas unschlüssig in der Bewegung.

»Ist noch was?«, fragt Markus.

»Kannst du mir Nachhilfe in Mathe geben?« Schon wieder könnte ich mir dafür auf die Zunge beißen. Was ist denn heute los mit mir? Als hätte ich nichts Besseres zu tun, als für Mathe zu pauken. Außerdem ziehe ich doch eh bald um, da ist es scheißegal, ob ich die letzte Klausur verhaue oder nicht, weil ich in Köln vermutlich sowieso neu in den Stoff einsteigen muss. Hoffentlich ist ihm das zu blöd und er sagt ab. Meine Hoffnung verflüchtigt sich jedoch, als ich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht erkenne. In meinem Inneren rumort es. Bestimmt liegt mir mein viel zu rasch hinuntergewürgtes Pausenbrot schwer im Magen.

»Klar, sehr gern sogar.« Na super, da habe ich mir ja was eingebrockt!

Kapitel 2

Ich bin froh, als das Klingeln das Ende des Unterrichts ankündigt.

»Willst du noch mit zu mir und eine Runde Playstation zocken?«, fragt mich mein Kumpel, als wir das Schulgebäude in Richtung der Straßenbahnhaltestelle verlassen.

»Sorry, aber ich muss gleich noch zur Arbeit. Habe die Schicht wegen der Klausur letzte Woche getauscht und muss dafür heute ran«, entschuldige ich mich.

In der Tankstelle angekommen, gehe ich zielstrebig in den angrenzenden Raum hinter dem Verkaufstresen, um mich für die Arbeit umzuziehen. Achtlos lasse ich meinen Rucksack in eine Ecke fallen und ziehe mir das Shirt über den Kopf.

»Hey, Julian, beeil dich bitte. Ich habe gleich noch einen Zahnarzttermin«, höre ich meine Kollegin Susanne sagen, die auch schon ihren Kopf zur Tür hereinsteckt. Ich verdrehe die Augen, da mir das Funkeln in ihrem Blick nicht entgeht. Sie klimpert unschuldig mit ihren langen Wimpern. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde sie mich nicht bloß zufällig beim Umziehen beobachten. Susanne ist älter als ich und bereits Studentin. Keine Ahnung, was sie an einem schmächtigen Kerl wie mir findet. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, auch wenn sie es manchmal mit der Schminke etwas übertreibt. Ich sollte mich geschmeichelt fühlen, dass ich ihr offensichtlich gefalle, doch irgendwie nerven mich ihre schmachtenden Blicke heute. Schnell streife ich mir das Shirt mit dem Shell-Logo über.

»Na los, hau schon ab. Sonst kommst du wirklich noch zu spät. Ich mach’ nachher die Kasse für dich fertig«, scheuche ich sie mit deutlichen Handbewegungen hinaus.

»Du bist ein Schatz.« Kichernd verlässt sie die Tankstelle. Endlich allein, stelle ich die Kaffeemaschine im Aufenthaltsraum an und schaue zu, wie die dunkle Flüssigkeit in die Kanne läuft. Mit meiner Tasse gehe ich in den Verkaufsraum. Hingebungsvoll nippe ich an dem Getränk, das heiß meine Kehle hinabrinnt, und genieße die Wärme, die sich wohlig in meinem Körper ausbreitet. Ein guter Kaffee ist schon was Feines. Tim nennt mich immer liebevoll einen Kaffee-Junkie, weil ich nicht auf meinen täglichen Koffeinkick verzichten kann. Nach dem stressigen Schultag ist es genau das, was ich brauche. Kaffee ist eindeutig besser als die Energydrinks, die Tim immer in der Schule dabeihat, um nach einer langen Nacht vor der Playstation oder in irgendeinem Klub nicht im Unterricht einzuschlafen.

Die nächsten Stunden ziehen sich endlos hin. Heute ist nicht viel los. Ein paar Kunden nutzen die Waschanlage oder kaufen Zeitungen und Süßigkeiten. Ich blicke auf die Uhr an der Wand. Um 18 Uhr habe ich Feierabend. Bald kommt Patrick, um mich abzulösen. In Gedanken versunken blättere ich in der neuen Ausgabe der Auto Motor Sport, als von draußen ein lautes Motordröhnen zu mir dringt. Neugierig wende ich den Kopf zum Fenster. Ein schwarzes Motorrad rollt an die nächste freie Zapfsäule heran. Ein großer, schlanker Mann in schwarzer Motorradkleidung steigt von der Maschine und hantiert am Tankdeckel herum. Ich beobachte fasziniert, wie sich die schwarze Lederkleidung bei jeder Bewegung an seinen Körper schmiegt. Seine Jacke und Hose sitzen so eng wie eine zweite Haut. Er muss doch schrecklich schwitzen in dieser Montur, so warm, wie es ist.

Der Mann hat fertiggetankt und hängt den Schlauch wieder zurück, ehe er sich in meine Richtung begibt. Ich logge schon mal die Daten ein. Die Türglocke ertönt. Der Motorradfahrer steuert auf mich zu, zieht beim Gehen die schwarzen Handschuhe aus und nimmt anschließend den Helm ab. Dunkelbraune, zerzauste Haare kommen zum Vorschein. Mir stockt der Atem. Scheiße, das ist Markus! Er kramt in seiner Jackentasche und holt die Geldbörse hervor. Noch hat er mich nicht erkannt, doch als sich unsere Blicke treffen, ist er nicht weniger überrascht als ich. Vermutlich jedoch aus einem anderen Grund, denn mir schlägt das Herz erneut bis zum Hals. Schon wieder laufen wir uns zufällig über den Weg. Langsam wird es wirklich gruselig.

»Julian, das ist ja eine Überraschung. Mit dir hätte ich hier wirklich nicht gerechnet«, stellt er verwundert fest, während er das Geld abzählt und es zu mir herüberschiebt.

Ich hebe eine Augenbraue. »Nicht?«

Markus zuckt mit den Schultern. »Ich tanke fast immer hier, weil es nicht weit vom Studentenwohnheim ist. Du wärst mir sicher schon früher hier aufgefallen.«

Hat er mir gerade zugezwinkert? Ich schlucke. Meine Kehle ist plötzlich trocken und ich suche nach einer passenden Erwiderung.

»Wir laufen uns ja andauernd über den Weg. Wenn das mal kein Zufall ist.« Ich lache gekünstelt und versuche, die angespannte Stimmung zwischen uns aufzulockern. Markus mustert mich und irgendwie ist mir mein Aufzug in diesem Shell-Shirt peinlich. Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Schnell reiche ich ihm das Wechselgeld und den Kassenbon, in der Hoffnung, dass er dann gleich geht und mich allein lässt.

»Wegen der Nachhilfe …«, beginnt er, bevor er sich von mir abwendet.

»Schon gut. War eine blöde Idee. Sicher hast du Besseres zu tun«, winke ich ab und bin froh, der Nachhilfe entkommen zu können. So wie ich jetzt drauf bin, bezweifele ich stark, dass ich in seiner Nähe wirklich viel an Mathe denken kann.

»Nein, das meine ich gar nicht«, entgegnet er, »ich wollte dir eigentlich nur meine Nummer geben. Damit du mich anrufen kannst, wenn du Zeit hast. Gibst du mir eben einen Stift?«

»Oh.« Überrascht reiche ich ihm einen Kugelschreiber und Markus schreibt seine Handynummer auf den Kassenbon, den ich ihm eben gegeben habe. Ich betrachte die Zahlen. Er hat eine schöne Handschrift. Jetzt kann ich ihn anrufen, wann immer ich Lust dazu habe …

Markus wendet sich zum Gehen. »Also, bis dann. Wir sehen uns bestimmt morgen.«

»Wie wär’s mit jetzt gleich?«, sprudelt es aus mir heraus. Scheiße, ich hab’s schon wieder getan! Wieso kann ich nicht einfach die Klappe halten? Er dreht sich zu mir um und hebt fragend eine Augenbraue. Irgendwie mag ich es, wenn er das macht.

»Ähm … ich meine die Nachhilfe«, sage ich schnell. »Ich hätte jetzt Zeit. Meine Ablösung kommt jeden Moment, dann habe ich für heute Feierabend.«

Ein Lächeln huscht über Markus’ Züge. »Gerne. Ich wohne nicht weit von hier. Du kannst mit zu mir kommen, wenn’s dir nichts ausmacht, auf dem Motorrad hinten drauf mitzufahren.«

Ich nicke hastig. Ich habe noch nie auf einem Motorrad gegessen. Diese Vorstellung macht mich jetzt schon ganz kribbelig. Im selben Moment kommt Patrick durch die Tür.

»Hallo Julian«, grüßt er und nickt Markus zu, ehe er sich nach hinten begibt, um sich seine Arbeitskleidung überzustreifen.

»Ich gehe dann schon mal raus.« Markus verlässt die Tankstelle. Aufgeregt eile ich Patrick hinterher, um mir ebenfalls meine Klamotten zu schnappen. Wieder in meinem eigenen Shirt und mit meinem Rucksack über der rechten Schulter trete ich aus der Tür auf den Platz. Markus lehnt lässig an seinem Motorrad, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Wow, geiles Teil«, staune ich und betrachte die Maschine ausgiebig. Ich verstehe eigentlich nichts davon, aber die Kiste sieht echt klasse aus. Damit macht er sicher viel Eindruck bei den Mädchen. Ob er wohl eine Freundin hat? Ich werfe ihm einen kurzen Seitenblick zu. Bestimmt hat er eine.

»Eine Ducati Monster 969«, erklärt Markus stolz und streicht mit der behandschuhten Hand liebevoll über den Sitz. »Habe ich mir vor zwei Jahren gegönnt. Musste schon einiges zusammenkratzten, um sie mir leisten zu können, aber sie ist jeden Cent wert.«

Das glaube ich ihm sofort. Wenn ich so ein Ding fahren könnte … Dafür müsste ich jedoch erst mal den Führerschein machen und noch ein paar Jahre sparen. Markus schwingt sein Bein über das Motorrad und setzt sich. Er macht auf der Maschine wirklich eine tolle Figur.

»Willst du nicht aufsteigen?«, fragt Markus. Er lässt den Motor an und reicht mir dann seinen Helm. Ich erwache aus meiner Starre.

»Ich weiß gar nicht, was ich machen soll«, gebe ich verlegen zu und betrachte den Helm in meinen Händen. »Ich bin noch nie auf einem Motorrad mitgefahren.«

»Sag das doch gleich.« Markus steigt wieder ab und nimmt mir den Helm aus den Händen. »Warte. Ich setze ihn dir auf. So. Und nun den Kinngurt schließen …« Seine Finger streifen meinen Hals und ich halte die Luft an.

»Ein bisschen groß vielleicht. Aber für die kurze Fahrt wird es gehen«, stellt er nach einer ausgiebigen Musterung fest. Dann erklärt er mir, wie ich mich auf dem Motorrad verhalten muss. Ich höre ihm aufmerksam zu, immerhin will ich nichts falsch machen und uns beide dadurch in Gefahr bringen.

»Was ist mit dir? Es ist doch gefährlich, ohne Helm zu fahren.«

Er winkt ab. »Macht nichts. Wir haben es ja nicht weit und hier in der Stadt fahre ich sowieso nicht schnell. Hauptsache, wir treffen nicht auf die Polizei.«

Markus geht um das Motorrad herum und klappt die Fußrasten aus. »Gib mir deine Hand.«

Ein wenig unbeholfen lasse ich mir von ihm auf das Motorrad helfen. Dann setzt er sich ebenfalls.

»Halt dich gut fest. Und keine Angst, ich fahre vorsichtig«, ruft Markus mir über den Motorenlärm hinweg zu. Ich bin erst etwas ratlos, doch dann merke ich, wie er meine Hand nimmt und sie sich um die Taille legt. Mein Herz macht einen Satz, als ich meine Arme fest um seine Körpermitte lege. Ich spüre das weiche Leder seiner Jacke unter meinen Fingern. Fühlt sich gut an.

Markus lenkt das Motorrad vom Vorplatz der Tankstelle auf die Hauptstraße. Zögerlich lehne ich meinen Kopf gegen seinen Rücken und schließe die Augen. Es ist wirklich toll, hinter ihm auf dem Motorrad zu sitzen. Mein Puls beschleunigt sich mit jedem Augenblick, den ich länger mit Markus verbringe. Ich versuche, mir einzureden, dass dieses Gefühl in mir bloß vom Motorradfahren kommt. Schließlich ist es mein erstes Mal …

Viel zu schnell erreichen wir die Wohnanlage Freistattstraße im Nordviertel. Ich kann mich daran erinnern, dass Susanne mal erwähnte, sie würde hier wohnen. Ob sie Markus kennt? Er parkt die Maschine im Hof und steigt ab. Ich mache es ihm nach. Meine Beine zittern leicht.

»Das war echt klasse«, entfährt es mir voller Begeisterung, nachdem ich den Helm abgesetzt habe. Markus nimmt ihn mir ab.

»Deine Haare sind ganz zerzaust«, meint er grinsend. Sofort versuche ich, meine Frisur in Ordnung zu bringen. Markus kramt seinen Schlüssel aus der Jackentasche und schließt die Eingangstür auf. Ich folge ihm die Treppen hinauf in den ersten Stock. In dem langen Flur reiht sich eine Tür an die andere. Genau so habe ich mir ein Studentenwohnheim vorgestellt. Markus stoppt vor einer Tür am Ende des Ganges und steckt den Schlüssel ins Schloss.

»Willkommen.«

Ich betrete den schmalen Flur und folge Markus neugierig in den Wohnbereich. Das Wohnzimmer ist recht überschaubar. Ein altes Sofa steht in der Ecke, es gibt eine Kommode mit einem Flachbildfernseher und ein großes Regal, vollgestellt mit diversen Büchern und DVDs. Eine Küchenzeile mit Theke schließt sich an den Raum an. Dort sitzt ein Mann, der sich jetzt zu uns umdreht.

»Da bist du ja endlich. Ich bin vor Sehnsucht schon fast gestorben.« Seine Augen weiten sich überrascht, als er mich bemerkt. »Oh, wen hast du denn da mitgebracht? Ist das der Junge aus dem Park? Du lässt auch wirklich nichts anbrennen, Mann.«

Sofort schießt mir das Blut in den Kopf. Was ist das denn für ein Spruch? Hat Markus etwa von mir erzählt? Wie peinlich. Die beiden haben sich sicher total über mich lustig gemacht. Markus verdreht die Augen, bevor er den Helm aufs Sofa legt.

»Julian, das ist mein Mitbewohner Philipp. Hör nicht auf den Idioten. Am besten, du ignorierst ihn einfach.«

»Hey, sei doch nicht gleich so gemein«, grummelt dieser und reicht mir die Hand. »Du bist wirklich ganz süß. Meiner Meinung nach.«

»Ähm … danke«, nuschele ich verlegen. Seine Worte sorgen dafür, dass ich mich noch etwas unbehaglicher fühle. Ich mustere den Mitbewohner verstohlen von der Seite. Einige rote Strähnen zieren sein schwarzes, halblanges Haar. Er trägt einen Ring in der Unterlippe und nicht wenige Piercings in beiden Ohren.

»Ist der neu?«, fragt Markus und deutet auf das Lippenpiercing. Philipp nickt begeistert. Ich verziehe das Gesicht. Muss sicher verdammt wehtun, sich eine Nadel durch die Haut jagen zu lassen. Markus schüttelt nur den Kopf, während er den Reißverschluss seiner Motorradjacke öffnet.

»Du solltest langsam aufhören, dich mit dem Metall zu verunstalten. Die Ohrringe fand ich ja noch süß, aber …«

»Es gibt durchaus Männer, die auf Piercings stehen«, verteidigt sich Philipp und streckt Markus die Zunge heraus. Eine Metallkugel blitzt kurz auf. Moment mal … hat er gerade Männer gesagt? Ist Philipp vielleicht schwul? Ich schiele zu Markus, der völlig entspannt zu sein scheint, dann wieder zu Philipp. Anscheinend hat Markus kein Problem damit, sich mit einem schwulen Mann eine Wohnung zu teilen.

»Unverbesserlich.« Ein Grinsen erscheint auf Markus’ Gesicht. Er zieht sich die Jacke aus und wirft sie zu dem Helm aufs Sofa. Das weiße Shirt, das er darunter trägt, ist durchgeschwitzt und klebt an seinem Körper. Ich kann die Muskeln deutlich erkennen und muss hart schlucken. Sein Anblick beschert mir weiche Knie.

»Komm, setz dich zu mir.« Philipp klopft neben sich auf den Barhocker, dann greift er über den Tresen nach einer Bierflasche. »Hier hast du ein Bier. Ich gehe mal davon aus, dass du schon Bier trinken darfst.«

Ich setze mich zu ihm, damit ich nicht länger, wie ein Idiot im Raum stehe und Markus anstarren muss. Dieser sieht verstimmt zu seinem Mitbewohner hinüber. »Julian ist noch nicht volljährig. Bist du sicher, dass du ihm Bier anbieten willst? Er ist zum Lernen hier.«

Philipp zuckt bloß mit den Schultern, als er mir die Flasche in die Hand drückt.

»Ist doch nur Beck’s Lemon. Außerdem kann er ganz gut für sich selbst sprechen, nicht wahr, Julian? Markus ist immer so ein Spielverderber, wenn er den Oberlehrer raushängen lässt.«

»Kann ich«, entgegne ich endlich. Bisher habe ich den beiden bloß zugehört und mich nicht getraut, in ihre Unterhaltung einzusteigen.

»Siehst du? Alles in bester Ordnung.« Philipp zwinkert seinem Kumpel zu und reicht mir den Flaschenöffner. »Willkommen!« Er prostet mir mit seinem Bier zu, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Seine Musterung macht mich nun doch ein bisschen nervös, als ich die Flasche an die Lippen setze und einen Schluck nehme.

»Ich springe schnell unter die Dusche, okay? Du kannst schon mal rüber in mein Zimmer gehen. Und lass dich nicht von diesem Spinner hier volltexten«, wendet sich Markus an mich, ehe er mich mit seinem Mitbewohner allein lässt. Ich sehe ihm nach.

»Mann, was für ein Anblick«, seufzt Philipp theatralisch und leckt sich über die Lippen. Er spricht das aus, was ich gerade gedacht habe! Ach du scheiße, hatte Tim heute Mittag vielleicht recht und … Ich wage den Gedanken kaum zu Ende zu denken. Das ist doch total absurd. Warum sollte ich mich für einen Kerl interessieren? Ich schüttele den Kopf, um diesen seltsamen Gedanken zu vertreiben.

»Ja, ich merk' schon, du hast keine Lust, dich mit mir zu unterhalten«, stellt Philipp mit einem prüfenden Blick in mein Gesicht fest. »Ist okay. Ich werde euch zwei Hübschen nicht stören, keine Sorge. Sein Zimmer ist gleich nebenan. Viel Spaß.« Er zwinkert mir zu, schnappt sich sein Bier und lässt mich allein an der Theke sitzen.

»Sorry«, rufe ich ihm hinterher. Normalerweise bin ich nicht stumm wie ein Fisch, aber die Tatsache, hier in Markus’ Wohnung zu sein, hat mich ein wenig verunsichert. Natürlich ist nichts dabei, immerhin wollen wir bloß für Mathe lernen, aber trotzdem fühlt es sich komisch an, hier zu sein. In Markus' Gegenwart reagiert mein Körper einfach nicht wie gewohnt. Ich atme tief durch, dann erhebe ich mich und betrete den Flur. Die halb volle Bierflasche lasse ich auf der Frühstückstheke stehen.

Von rechts ertönt ein wummernder Bass. Sicher Philipps Zimmer. Aus dem Raum daneben höre ich Wasser plätschern. Ein warmer Schauer jagt über meinen Rücken und lässt meinen Bauch kribbeln. Das Badezimmer. Dort steht Markus jetzt und lässt sich das warme Wasser auf den nackten Körper rieseln. Bei dem Gedanken zucke ich heftig zusammen. Was war das gerade? Schnell reiße ich die Tür zu meiner Linken auf und schließe sie hinter mir. Ich lehne mich gegen das kühle Holz und atme tief ein. Scheiße. So was sollte ich mir gar nicht vorstellen. Philipps Gerede hat mich total durcheinandergebracht. Zittrig schleiche ich zum Bett und lass mich darauf fallen. Den Rucksack stelle ich neben mich auf den Boden. Fahrig streiche ich mir mit den Händen übers Gesicht, um meine Gedanken zu ordnen.

Nach einer Weile öffnet sich die Tür und das Licht geht an. Irritiert blicke ich auf.

»Ist vielleicht ein bisschen dunkel zum Lernen, oder?«, fragt Markus. In einer grauen Jogginghose und einem weiten, dunkelgrünen Shirt steht er vor mir und rubbelt sich mit einem Handtuch noch die von der Dusche nassen Haare trocken. Dann setzt er sich neben mich.

»Hier ist nicht so viel Platz, sorry. Das nächste Mal können wir auch nach dem Unterricht in der Schule lernen, wenn dir das lieber ist«, entschuldigt er sich. Da hat er recht. Das Zimmer ist nicht gerade groß, und mit dem schmalen Schreibtisch, auf dem Fachbücher liegen, einem Kleiderschrank und dem Bett wirkt es wirklich vollgestellt.

»Das macht mir nichts. Es ist gemütlich.« Als Bestätigung, dass es für mich wirklich okay ist, nehme ich mein Mathebuch und das Heft aus dem Rucksack. Ich setze mich im Schneidersitz hin und schlage das Buch auf. Markus macht es sich auf seinem Bett bequem. Er beugt sich etwas zu mir vor, damit er die Aufgaben besser sehen kann. Der Duft von Duschgel weht zu mir rüber und verursacht erneut dieses seltsame Kribbeln in meiner Magengegend. Er riecht wirklich gut. Sein eigener Geruch mischt sich mit dem des Duschgels, als er noch ein Stück näher an mich heranrückt. Meine Nase reagiert total empfindlich. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und atme tief aus. Sein Duft berauscht so sehr meine Sinne, dass ich einfach nicht genug davon bekommen kann. So geruchssensibel bin ich doch sonst nicht. Scheiße, was ist nur los mit mir? Ich muss mich beruhigen. Vielleicht werde ich krank? Oder es sind die Ereignisse des Tages, die mich überfordern.

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich direkt in seine, die mich intensiv mustern. Markus ist so nah, dass ich mir einbilde, bereits seinen Atem spüren zu können. Okay, das ist jetzt definitiv zu viel für mich. Mein Herz will gerade einen Weltrekord aufstellen, fürchte ich. Warum sollte es sonst so wild in meiner Brust hüpfen?

»Wollen wir dann mal loslegen?«, fragt er mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen und ich weiß gerade nicht, was genau er meint. Was wollte ich noch mal hier in seinem Zimmer, auf seinem Bett …?

»Bei welcher Aufgabe hast du denn Probleme?«

Ach richtig, es geht um Mathe! Meine Wangen röten sich und ich senke den Kopf, damit er es nicht bemerkt. Hastig blättere ich die einzelnen Kapitel durch und tippe wahllos auf die Aufgaben aus dem Unterricht.

»Die hier habe ich noch nicht verstanden.«

Markus schaut ins Mathebuch. Seine Hand streift kurz mein Knie, als er mit dem Finger auf die Zahlen im Buch deutet. Ich zucke bei der leichten Berührung zusammen, doch er scheint es glücklicherweise nicht zu bemerken.

»Hier musst du nach X auflösen und das Ergebnis in diese Formel einfügen«, erklärt er fachmännisch. Ich lausche dem angenehmen Klang seiner Stimme – und plötzlich ist Mathe gar nicht mehr so schlimm.