Leseprobe Wie bändigt man einen Schotten?

Prolog

York, 1801

Charlotte Elizabeth Nash saß auf dem Fensterbrett des Erkerfensters und las ein Buch, als sie plötzlich hörte, wie Leute den gewölbeartigen, nur noch spärlich eingerichteten Salon betraten. Sie drückte sich gegen die Wand in ihrem Rücken. Ihr war nicht nach Gesellschaft zumute. Sie hatte genug von diesen Leuten, diesen Verleumdern und Heuchlern, die Mitgefühl vortäuschten, während ihre Blicke immer wieder wie magisch angezogen wurden von jenen kahlen Stellen an den Wänden, die früher von Gemälden geschmückt worden waren.

Sie ließ das Buch auf ihren Schoß sinken und zog den Vorhang ein Stück weit zu, damit die Nische, in der sie saß, nicht so leicht eingesehen werden konnte. Doch Männerstimmen, die in diesem reinen Frauenhaushalt zur Seltenheit geworden waren, seit Kate den Butler hatte ,gehen lassen‘, weckten prompt ihre Neugier.

Mit ihren sechzehn Jahren und angesichts der Tatsache, dass sie noch nicht in die Gesellschaft eingeführt war, wusste sie, sie würde sofort aus dem Zimmer geschickt werden, sollte sie sich bemerkbar machen. Aber Charlotte wollte nicht nach draußen gehen. Der Tod ihres Vaters stimmte sie ebenso traurig wie die Auswirkungen seines Ablebens, doch sie besaß auch den wachen, neugierigen Geist, der mit der Jugend einherging. So kam es, dass sie nach vielen Monaten der Trauer wahrhaftig begonnen hatte, sich ein wenig zu langweilen. Hinzu kam, dass Besucher Kate vielleicht dazu bringen konnten, sie von ihrem endlosen Wehklagen über die Wirtschaft abzulenken, während Helena womöglich von ihrem aufgesetzten Optimismus abließ, den sie wie eine Maske zur Schau trug. Und mit ein wenig Glück würden sogar die fahlen Wangen ihrer Mutter wieder etwas Farbe bekommen, wenn ein Mann ihr seine Aufmerksamkeit widmete.

Mit einem Finger schob sie vorsichtig den Vorhang zur Seite, um durch die Lücke zu spähen. Ihre Mutter hatte auf dem einzigen Sofa Platz genommen, Charlottes ältere Schwestern saßen links und rechts von ihr: Helena so blass wie die Wintersonne, Katherine erregt und freudlos wie eine Neumondnacht im Sommer. Die Frauen saßen da, die Schultern gestrafft, die Hände auf dem Schoß verschränkt, den Blick auf drei junge Männer gerichtet, die vor ihnen standen.

Die Besucher konnte Charlotte nicht genau erkennen, doch sie wagte es nicht, den Vorhang weiter zur Seite zu schieben. Stattdessen glitt sie lautlos von der Fensterbank, kauerte sich auf den Boden und hob den Saum des Vorhangs hoch. Ja, das war schon besser.

Von ihrer Position aus betrachtete sie die jungen Männer, die sich soeben vorstellten. Eines war sicher: Keiner von ihnen gehörte zur Schicht, der die Familie Nash entstammte. Welcher Schicht sie stattdessen zuzuordnen sein würden, blieb abzuwarten.

Warum Charlotte zu diesem Schluss gekommen war, wusste sie nicht so recht. Die Kleidung der Männer war makellos sauber, aber schäbig. Die Ärmel waren ausgefranst, und der Stoff spannte über Schultern und Rücken, doch seit man im Krieg mit Frankreich war, hatten sich viele Menschen gezwungen gesehen, nicht mehr mit der Mode zu gehen, da das Geld knapper wurde. Auch ihr Auftreten war das von wahren Gentlemen, wenngleich ihre finanziellen Verhältnisse keineswegs ideal zu sein schienen. Genau genommen zeigten die drei ein untadeliges und umsichtiges Verhalten.

Nein, es lag an etwas schwer Greifbarem. Ihr kam es so vor, als sei etwas Wildes, Gefährliches ins Haus gekommen und habe die Ruhe gestört.

Charlotte rutschte ein Stück weiter nach vorn, als sich der erste Mann als Andrew Ross vorstellte. Seine tiefe Stimme hatte einen markanten Highland-Tonfall. Er war von mittlerer Größe und hagerer Statur, sein Gesicht war wettergegerbt, und er hatte braunes Haar. Der Mann lächelte häufig und sah freundlich aus. Doch … bei näherem Hinsehen fiel eine hässliche Narbe auf, die sich über seine schmale Wange zog, sowie ein harter Ausdruck, der das warme Braun seiner Augen Lügen strafte.

Neben ihm stand der wohl bestaussehende Mann, den Charlotte jemals zu Gesicht bekommen hatte. „Ramsey Munro“, stellte er sich vor. Groß, schlank und blass, schwarze, glänzende Locken, die ihm in die Stirn fielen, tiefblaue Augen, die unter den dichten Brauen funkelten. Seine Gesichtszüge hatten etwas Spöttisches und Aristokratisches zugleich. Ihn konnte Charlotte sich stilvoll gekleidet vorstellen, seine Eleganz würde dabei diese unterschwellige, aber unbestreitbar vorhandene räuberische Seite überdecken – so wie bei dem Panther, den sie letzten Sommer bei der Tierschau gesehen hatte.

Der Letzte der Gäste – Christian MacNeill – hielt sich ein wenig im Hintergrund, die Körperhaltung verriet seine Anspannung. Er war breitschultrig, sein rotblondes Haar, das deutlich zu lang war, umrahmte ein schmales Gesicht, das von blassgrünen, höchst wachsamen Augen geprägt wurde. Von den dreien machte er den ungeschliffensten Eindruck, mit tief liegenden Augen, einem sinnlichen Mund und einem ausgeprägt kantigen Kiefer.

Charlotte legte den Kopf schräg, da der Mann sie an jemanden erinnerte … ja, genau, jetzt wusste sie es wieder.

Eines Nachts vor ein paar Jahren hatte sie sich in der Küche aufgehalten, um mit einem Glas Milch, die mit Weinbrand versetzt war, ihren schmerzenden Magen zu besänftigen, als draußen jemand pfiff. Das Dienstmädchen Annie stürmte herein und riss die Hintertür auf, woraufhin ein Mann aus der Dunkelheit trat. Er war beängstigend und aufregend zugleich, und er nahm Annie ausgelassen in die Arme, um sich mit ihr im Kreis zu drehen, bis er Charlotte bemerkte. Mitten in der Bewegung hielt er inne, setzte Annie aber nicht ab. In jener Nacht war Annie mit ihm zusammen fortgegangen, einen ängstlichen und zugleich lustvollen Ausdruck in den Augen. Sie war niemals zurückgekehrt.

Dieser Christian MacNeill erinnerte sie an jenen Mann, diesen ,zum Aufknüpfen geborenen Lump‘, der Annie mitgenommen hatte.

Allerdings, so hielt sich Charlotte vor Augen, wäre Annie jetzt wahrscheinlich nicht mehr hier, selbst wenn sie den Fremden damals nicht begleitet hätte. Bis auf die Köchin und zwei über die Maßen beanspruchte Dienstmädchen waren alle anderen Bediensteten des Hauses entlassen worden.

„Ich weiß nicht, was Sie wollen“, murmelte ihre Mutter auf einmal in jenem bestürzten Tonfall, den sie sich an dem Tag angewöhnt hatte, als sie erfuhr, dass sie Witwe geworden war. Sie sah Helena von der Seite an, die ihr tröstend eine Hand auf die Schulter legte. Wortlos nahm Kate einen Brief entgegen, den ihre Mutter ihr hinhielt, und begann zu lesen.

„Wir wollen gar nichts, Mrs. Nash“, erwiderte Mr. Ross. „Wir sind gekommen, um Ihre Familie von einem Schwur in Kenntnis zu setzen. Ob Sie willens sind, sich das zunutze zu machen, liegt ganz allein bei Ihnen. Doch ganz gleich, wie Ihre Entscheidung ausfallen wird, wir werden unser Leben lang zu unserem Wort stehen.“

Fasziniert riss Charlotte die Augen auf. Ein Schwur? Die Männer hatten auf irgendeine Weise mit ihrem Vater zu tun gehabt, und Charlotte vermutete, es handelte sich um Mitglieder seines Stabs, die gekommen waren, um ihr Beileid auszusprechen.

„Was für ein Schwur?“, wollte Helena wissen.

„Ein Versprechen, uns zu Diensten zu sein“, antwortete Kate, die immer noch den Brief las.

Mit widerstrebender Bewunderung betrachtete Charlotte ihre ältere Schwester. In diesem letzten Jahr hatte sich nicht Helena, sondern Kate als Fels in der Brandung erwiesen, der ihrer Familie Halt gab, auch wenn sie mehr als jede andere von ihnen Grund gehabt hätte, am Boden zerstört zu sein.

Mit neunzehn hatte Kate den schneidigen Lieutenant Michael Blackburn geheiratet, doch kaum war sie in ihr neues Zuhause in Plymouth eingezogen, da starb ihr Ehemann auf dem Weg nach Indien. Nicht einmal ein Jahr nach ihrer Hochzeit kehrte sie als Witwe nach York zurück. Sechs Monate darauf kam aus Frankreich die Nachricht vom Tod ihres Vaters, der sich dort heimlich mit den gestürzten führenden Mitgliedern der Regierung von Louis XVI. getroffen hatte.

Die Familie stand noch unter dem Schock dieser Nachricht, als die Anwälte sie davon in Kenntnis setzten, mit dem Tod von Lord Nash sei auch ihre jährliche Pension erloschen. Unmittelbar darauf kamen die Krämer und meldeten ihre Ansprüche aus offenen Rechnungen an, die Bediensteten sahen sich nach einer neuen Anstellung um, die ihnen mehr Sicherheit bot, und die neuen Eigentümer des Stadthauses schickten einen Brief nach dem anderen. Ihre Mutter öffnete keinen dieser Briefe.

Ganz anders dagegen Kate. Sie stellte sich der unerträglichen Aufgabe, ihre persönlichen Habseligkeiten zu verkaufen, den Dienern Empfehlungsschreiben auszustellen und offene Rechnungen zu begleichen. Ausgerechnet Kate, die lieber tanzen ging, anstatt ein Buch zu lesen. Jene Kate, die Rechenaufgaben hasste und Klatsch liebte, die von den Damen als ,kapriziös‘ betitelt worden war. Selbst jetzt noch musste sich Charlotte über ihre Schwester wundern. Wenn sie die junge Frau betrachtete, von der sie wusste, dass sie ein sorgloses Leben und ausgelassene Feste geliebt hatte, und die nun ruhig und gefasst den Brief zusammenfaltete, dann erkannte sie ihre Schwester kaum noch wieder.

„Gentlemen, wir danken Ihnen für Ihr Angebot“, sagte Kate schließlich. „Aber wir benötigen Ihre Hilfe nicht, und wir würden sie auch nicht von Ihnen erwarten.“

Ungläubig machte Charlotte den Mund auf. Selbstverständlich benötigten sie Hilfe! Dringlichst sogar! Jegliche Hilfe hätte allerdings in Geld bestehen müssen, um etwas zu bewirken, und der Anblick der drei Männer ließ keinen Zweifel daran, wie es um deren Finanzen bestellt war. Womöglich erging es den dreien noch schlechter als ihrer eigenen Familie, auch wenn Charlotte sich das kaum vorstellen konnte.

Eigentlich sollte sie nicht wissen, wie schlecht es finanziell um sie bestellt war. Ihre Schwestern gaben sich nach außen hin stets gelassen und selbstbewusst, doch so leichtfüßig, wie sich Charlotte durchs Haus bewegte, hatte sie an den Abenden durch geschlossene Türen genügend Gespräche belauschen können, um zu wissen, dass die Lage verzweifelt war.

„Ich verstehe.“ Mr. Ross sah weiterhin höflich die drei Frauen an, Ramsey Munro regte sich nicht, während Christian MacNeill seinen eisigen Blick durch das Zimmer wandern ließ. Ihm entgingen weder die rechteckigen Flächen an den Wänden, die die gestreiften seidenen Tapeten in ihren ursprünglich kraftvollen Farben zeigten, noch die Stellen im Perserteppich, die über Jahre hinweg von jenen schweren Möbeln niedergedrückt worden waren, von denen nun nichts mehr zu sehen war. Genauso war es nicht zu übersehen, dass es auf der einzigen Anrichte im Raum an Dekorationen jedweder Art fehlte.

Er weiß, dass es nicht stimmt, dachte Charlotte. Nur was soll er machen, wenn Kate sein Angebot ausschlägt?

„Es ist nicht unsere Absicht, Ihnen weiter zur Last zu fallen, Mrs. Blackburn, doch bevor wir gehen“, erklärte Mr. Ross und deutete mit einer flüchtigen Bewegung auf seine Begleiter, „würden Sie so freundlich sein und etwas von uns annehmen?“

Er hielt einen Stoffbeutel hoch, der Charlotte bisher nicht aufgefallen war. Ein kurzes Stück Holz ragte aus dem mit einem Faden verschnürten Beutel.

„Was ist das?“, fragte Helena.

„Ein Rosenstock, Miss Nash“, erklärte Mr. Ross. „Sollten Sie jemals Hilfe benötigen, die wir Ihnen womöglich gewähren können, müssen Sie nur eine dieser Blüten an den Abt von St. Bride’s in Schottland senden. Er weiß, wie er mit uns Verbindung aufnehmen kann, und so schnell, wie es menschenmöglich ist, werden wir zu Ihnen kommen.“

Ein unsicheres Lächeln umspielte Helenas Mund. „Wieso eine …“

„Eine Rose?“, war in diesem Moment eine ungläubige Frauenstimme von der Tür her zu hören. Ihre Cousine Grace mit dem goldblonden Lockenkopf kam in den kühlen Salon gerauscht, während sie einen samtenen Umhang von ihren Schultern nahm.

„Hallo, meine Lieben!“ Sie beugte sich vor, um ihrer Tante einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben, dann richtete sie sich wieder auf und betrachtete die Besucher mit einem Anflug von erstaunter Überheblichkeit.

„Grace, dies sind die jungen Männer, die dein Onkel …“, stotterte Charlottes Mutter, die nicht wusste, wie sie es in Worte fassen sollte.

Zum Glück sprang Helena ein. „Dies sind die jungen Männer, die Vater retten konnte, bevor er ums Leben kam: Mr. Ross, Mr. Munro und Mr. MacNeill. Gentlemen, unsere Cousine, Grace Deals-Cotton.“

Retten konnte? Sie waren die jungen Männer, bei deren Rettung ihr Vater gestorben war? Fasziniert hob Charlotte den Vorhang noch ein Stück höher.

Die drei verbeugten sich und begrüßten Grace, die ihr katzenhaftes Lächeln aufsetzte und ihre großen Augen zu Schlitzen verengte, um die Besucher abschätzig zu betrachten.

„Ich verstehe“, sagte sie. „Und Sie bringen uns einen … Rosenstock? Wie sentimental.“ Sie wandte sich ihrer Tante zu. „Mochte Onkel Roderick Rosen? Das war mir nie bekannt, aber andererseits bin ich ja auch erst seit einem Jahr hier.“ Wieder ein Lächeln. „Für dieses Mal zumindest.“

„Ich bin mir sicher, Lord Nash hätte die Rosen zu schätzen gewusst“, entgegnete Charlottes Mutter aus reiner Höflichkeit. „So wie wir auch, wenn wir sie einpflanzen werden … im Lauf des Jahres.“

Ihr Zögern verriet ihren unausgesprochenen Gedanken, den sie alle teilten: Sie würden nicht lange genug hier wohnen, um die Rosen erblühen zu sehen. Selbstverständlich wurde das gegenüber ihren Gästen nicht erwähnt, denn dafür war die Familie viel zu stolz.

„Aber ihr werdet doch nicht versuchen, so lange zu bleiben, bis … Oh, natürlich! Ihr nehmt einen Ableger mit, wenn ihr umzieht“, plapperte Grace weiter, setzte sich dann ans andere Ende des Sofas und nahm sich den Stickrahmen, den sie am Abend zuvor dort hatte liegen lassen.

„Sie ziehen in ein anderes Haus?“, wollte Ramsey Munro in schneidendem Tonfall wissen.

„Ja.“ Helena sah Kate voller Unbehagen an. „Es muss sein. All die Erinnerungen …“ Sie ließ den Satz unvollendet und machte eine fahrige Geste.

Kate warf Grace einen stechenden Blick zu, die darauf verletzt und verwirrt reagierte. Ein wenig wütend auf ihre Schwester ließ Charlotte den Vorhang ein Stückchen weit sinken. Es war sicher nicht absichtlich geschehen, dass Grace den Umzug aus dem Stadthaus ausgeplaudert hatte, doch das würde Kate niemals glauben. Die Feindseligkeit zwischen den beiden existierte seit Jahren, vielleicht weil sie beide sich so ähnlich waren – oder es zumindest einmal gewesen waren. Früher hatte Kate die gleiche arglose, träumerische Art an sich gehabt wie Grace, und sie hätte besser daran getan, sich dessen zu erinnern, anstatt bei ihrer lebenslustigen Cousine nach Fehlern und Schwächen zu suchen.

„So wie du, Grace“, sagte Helena und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. „Ich meine damit, dass du auch umziehen wirst.“

„Oh, ja!“ Grace senkte sittsam ihren Blick, während sie weiterstickte. „Nur werde ich armes Geschöpf in die Wildnis hinausgejagt, während ihr wenigstens in der Lage sein werdet, weiterhin die Freuden des gesellschaftlichen Lebens zu genießen.“ Sie lächelte Mr. Ross an. „In fünf Monaten werde ich Charles Murdoch heiraten. Er ist der Bruder des Marquis of Parnell. Ich wage zu behaupten, Sie sind ihm kein Begr…“ Sie besann sich, ehe der Satz vollständig über ihre Lippen gekommen war. „Sie werden ihn vermutlich nicht kennen. Sein Schloss …“ Sie machte keinen Hehl aus der Befriedigung, die sie fühlte, wenn sie das Wort aussprach. Warum sollte sie auch nicht so empfinden? Immerhin war ein Schloss ein Schloss. „Sein Schloss ist an der schottischen Nordküste gelegen. Dort werden wir leben, wenn wir nicht in London sind.“

„London? Nicht Edinburgh?“, wollte Ramsey Munro wissen. „Ich gestehe, ich bin erstaunt. Die Schotten sind doch über alle Maßen stolz auf Edinburgh.“

Etwas an der Art, wie er mit Grace sprach, gab Charlotte das Gefühl, dass er nicht von den Reizen ihrer Cousine überwältigt war, was ihn zu einem außergewöhnlichen jungen Mann machte. Allerdings musste sie einräumen, auch nur über wenig Erfahrung mit jungen Männern und deren Reaktionen auf Grace zu verfügen.

„Edinburgh?“, wiederholte Grace nachdenklich. „Mag wohl sein, doch ich muss gestehen, ich habe mir darüber noch nicht viele Gedanken gemacht. Die Hochzeit erfordert schließlich auch meine ganze Aufmerksamkeit.“

„Meinen Glückwunsch zur anstehenden Vermählung“, erwiderte Mr. Ross und wandte sich den anderen Frauen zu. „Darf ich Sie um einen letzten Gefallen bitten?“

„Aber sicher“, antwortete Helena, ehe Kate etwas einwenden konnte.

„Dürfen wir zusehen, wie der Rosenstock eingepflanzt wird?“

„Oh“, entfuhr es Helena überrascht. „Ja, selbstverständlich. Kate, was meinst du, wo wir ihn einpflanzen sollen?“

„Aber nein, Liebes, das musst du bestimmen. Zusammen mit Mutter. Ihr beide seid die Gärtnerinnen in der Familie.“

Ihre Mutter schien aus dem Tagtraum zu erwachen, in dem sie sich verloren hatte. Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, das für Sekunden dafür sorgte, dass sie wieder so fröhlich wirkte, wie man es früher von ihr gewohnt gewesen war.

„In den Garten? Ja, natürlich.“ Ein wenig schwankend erhob sie sich, sodass Helena ihren Arm fasste, um sie zu stützen. „Das sollten wir sofort machen. Du musst auch mitkommen, Grace, du hast das Auge einer Künstlerin.“

„Ich freue mich, dir zu Diensten zu sein, Tante Elizabeth“, meinte Grace und legte den Stickrahmen zur Seite.

Weiter auf Helena gestützt, ging ihre Mutter voraus und trat hinaus in den sanften Schein der Morgensonne. Charlotte, die nahezu im Begriff war, unter dem Vorhang hervorzukriechen und die Flucht aus dem Raum anzutreten, erstarrte mitten in der Bewegung, da ihr bewusst wurde, dass Kate nicht mit den anderen das Zimmer verlassen hatte. Zudem war der Mann mit den grünen Augen, Christian MacNeill, an der Türschwelle stehen geblieben.

„Nach Ihnen, Madam.“ Seine tiefe Stimme hatte einen sanften und höflichen Klang.

„Nein, vielen Dank, Sir. Ich bin davon überzeugt, dass meine Meinung nicht zu einem idealeren Standort für Ihren Rosenstock führen wird. Bitte, gehen Sie nur.“

„Ich bin gleichermaßen der Meinung, dass wir nicht alle drei zugegen sein müssen, um die Wurzel in die Erde zu setzen“, entgegnete Mr. MacNeill mit einem ironischen Unterton. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich hier warte?“

„Keineswegs.“ Ihr Einverständnis klang eher zweifelnd. „Kann ich Ihnen ein Glas Punsch anbieten?“

Fast hätte Charlotte gelacht, als sie sich vorstellte, wie Christian MacNeill aus einem zierlichen Gefäß Punsch trank. Das Kristallglas würde einfach in seinen großen Händen verschwinden, davon war sie überzeugt. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie nicht länger eine Punschbowle besaßen. Sie hatten sie in der letzten Woche verkauft, was Kate entfallen sein musste. Oh weh, sie würde sich gedemütigt vorkommen, wenn sie den Punsch in einer Teetasse würde servieren müssen …

„Nein, danke.“

Erleichtert seufzte Charlotte auf. Wenigstens war Kate vor dieser peinlichen Situation bewahrt worden.

Christian MacNeill wartete, während Kate so auf die Sofakante rutschte, als wollte sie jeden Augenblick aufspringen. Was war bloß in ihre Schwester gefahren? Sie kannte sie nur als gelassen, doch jetzt … jetzt war sie nervös, wie Charlotte erstaunt erkannte. Dass irgendjemand es jemals geschafft hatte, Kate in Verwirrung zu stürzen, daran konnte sie sich nicht erinnern. Bevor Michael um sie zu werben begonnen hatte, war Kate diejenige gewesen, die ein ganzes Dutzend Männer in Unruhe versetzen konnte. Niemand hatte sie aus ihrer amüsierten Gelassenheit holen können, ganz gleich, wie gebildet oder weltgewandt er auch war.

Charlotte beugte sich ein Stück nach vorn und beobachtete aufmerksam den rauen Highlander mit dem rötlich-goldenen Haar. Er war ins Zimmer zurückgekommen und stand nun vor Kate, die er eindringlich ansah.

„Ich hoffe, ich bereite Ihnen kein Unbehagen, Mrs. Blackburn“, sagte er mit leiser, verhaltener Stimme, die an das Geräusch eines plätschernden Bachs erinnerte.

„Keineswegs.“

Lügnerin, dachte Charlotte.

„Ich fürchte, ich bin in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt, verzeihen Sie bitte.“ Kate legte ihre Hände so auf den Schoß wie damals, als sie mit der Gouvernante Konversation geübt hatte. Sie räusperte sich. Die Minuten verstrichen, doch der hochgewachsene Schotte stand so unnatürlich reglos vor ihr, dass sich nicht mal auf seinem Gesicht eine Spur von Unbehagen bemerkbar machte. Kate dagegen wirkte, als habe sie allergrößte Mühe, jene Selbstkontrolle zu wahren, die sie starr wie eine Statue dasitzen ließ. Dann war der Punkt erreicht, an dem sie sich nicht länger zusammennehmen konnte.

„Wenn ich Ihre Situation richtig verstanden habe, waren Sie im Gefängnis. Es tut mir leid, was Sie durchgemacht haben.“

Ihre Worte waren höflich und schicklich, das Gleiche galt für sein Nicken, mit dem er ihr Mitgefühl zur Kenntnis nahm.

„Darf ich fragen, im Verlauf welcher Schlacht Sie in Gefangenschaft geraten sind?“, fuhr sie ernst fort.

„Ich befand mich nicht in einer Schlacht“, kam seine ruhige Antwort.

„Oh.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich nahm an … aber wieso haben Sie und Ihre Freunde sich dann zu Kriegszeiten in Frankreich aufgehalten, Mr. MacNeill?“ Kates höflicher Tonfall war echtem Interesse gewichen.

„Das habe ich mich öfter gefragt, als Sie es sich vorstellen können“, entgegnete er. „Ich nehme an, es hatte mit den Rosen zu tun.“

Wieder legte sie die Stirn in Falten, während sie nervös mit ihren Fingern spielte. Charlotte fand, dass Kate mit einem Mal sehr jung aussah. Ihre blasse Haut bildete einen krassen Gegensatz zu ihrem dunklen Haar, ihr nach vorn geneigter Hals wirkte zierlich und verwundbar. Obwohl sie wusste, dass ihre ältere Schwester für die Familie der Fels in der Brandung war, machte sie in diesem Augenblick einen sehr schwachen und zerbrechlichen Eindruck.

Charlotte begann sich zu fragen, ob alles, was Kate widerfahren war, wirklich so … so schön gewesen war, wie sie, Helena und sogar ihre Mutter es sich vielleicht einfach nur vorstellten.

„Wie konnten Rosen zu Ihrer Gefangennahme führen?“, fragte Kate und blickte Christian MacNeill in die Augen.

Der verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah Kate mit undurchschaubarer Miene an. Charlotte spürte, wie sie schauderte. Der junge Mann war viel größer, als es ihr bewusst gewesen war. Seine hagere Statur hatte ihn als vermeintlich leichten Gegner erscheinen lassen, was sich nun als Irrtum erwies, während er so dicht vor Kate stand. In Wahrheit war er ein entsetzlich Respekt einflößender Mann.

„Es ist eine unangenehme Geschichte, Mrs. Blackburn.“

„Erzählen Sie sie mir.“

Charlotte erschrak über die Worte ihrer Schwester. Einen derartigen Tonfall hätte die Gouvernante niemals gutgeheißen. Man stellte an einen Bekannten keine so persönlichen Forderungen und an einen Fremden erst recht nicht. Doch ihn schien das nicht zu stören. Vielmehr wirkte seine Miene sogar entspannter als zuvor.

„Wir alle besaßen Kenntnisse in der Gartenarbeit“, sagte er. „Eine unserer Aufgaben an dem Ort, an dem wir aufwuchsen, bestand darin, uns um die Rosen zu kümmern.“

„Das tut mir leid“, erwiderte Kate mitfühlend.

MacNeill lachte kurz auf. „Vergeuden Sie nicht Ihr Mitleid. Es war kein Armenhaus. Meines Wissens gibt es in Armenhäusern keine Rosengärten. Nein, ich würde sagen, es war vielmehr eine Art Waisenhaus. Aber das ist auch nicht weiter wichtig.“

Kate wartete schweigend.

„Wegen unseres Geschicks mit den Rosen und wegen einiger anderer Fertigkeiten, die meine Gefährten und ich uns angeeignet hatten, sprach uns ein Gentleman an. Er bat uns, nach Frankreich zu reisen und unter anderem einer Dame eine höchst seltene gelbe Rose zu überbringen. Unsere Hoffnung war, auf diesem Weg in die Welt dieser Dame eingelassen zu werden und so – die Welt zu verändern.“

„Eine Dame, die die Welt verändern könnte?“, gab Kate ungläubig zurück. Wieder fühlte sich Charlotte peinlich berührt, denn ganz gleich, was ein Besucher berichtete – man zweifelte niemals offen den Wahrheitsgehalt seiner Worte an.

„Ihr Name war Marie-Rose, doch ihr Gatte nannte sie Josephine.“

Charlotte musste sich den Mund zuhalten, um nicht überrascht nach Luft zu schnappen. Dieser Mann kannte die Frau von Napoleon Bonaparte?

Auch Kate konnte keinen Hehl aus ihrer Überraschung machen. „Sie sind Josephine begegnet?“

Christian MacNeill reagierte mit einem gequälten Lächeln. „Einmal und das auch nur kurz, Madam. Kurz nach unserer Ankunft wurde unser Plan aufgedeckt. Nein …“ Seine Miene nahm einen so zornigen Ausdruck an, dass Charlotte vor Schreck zurückwich. „Unser Plan wurde nicht aufgedeckt, sondern von einem Verräter enthüllt. Es war jemand, der von unserer Mission wusste. Wir wurden gefangen genommen, und wir wären hingerichtet worden, hätte Ihr Vater nicht eingegriffen. Einer aus unseren Reihen wurde allerdings gehenkt.“

„Wie schrecklich“, entgegnete Kate. „Es tut mir leid, dass das Opfer, das mein Vater brachte, nicht zeitig genug kam, um Ihrem Freund das Leben zu retten.“ Sie sah auf. „Ich will sagen, wenn jemand schon darauf besteht, ein Märtyrer zu sein, dann sollte auch wenigstens etwas Gutes dabei herauskommen … oh mein Gott, das tut mir so leid! Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe! Bitte, ich … verzeihen Sie mir. Ich wollte Ihnen keinesfalls zu nahe treten. Es ist nur so …“ Sie senkte ihre Stimme zu einem rauen Flüstern. „Der Tod meines Vaters kommt mir oft wie ein Verrat vor.“

Verblüfft über das Geständnis ihrer Schwester rutschte Charlotte zurück in den Erker. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Kate solche Gedanken hegte. Erneut spähte sie in den Raum und erkannte, dass die Leidenschaft, die sich wie ein Schatten über Mr. MacNeills Gesicht gelegt hatte, sofort verschwand, als er Kate ansah, die mit gesenktem Kopf vor ihm saß.

Plötzlich kniete er vor ihr nieder, um auf Augenhöhe zu ihr zu sein. „Ich schwöre, Madam, hätte es in unserer Macht gestanden, Ihren Vater vor einem solchen Opfer zu bewahren, dann wäre es auch so geschehen“, sprach er leise. „Wir kannten die Risiken unseres Unterfangens, und wir hätten uns niemals freiwillig dazu bereit erklärt, einen anderen die Strafe für unser Handeln auf sich nehmen zu lassen. Doch uns blieb keine andere Wahl, niemand fragte uns.“

Wieder wich Charlotte zurück und machte eine finstere Miene. Das war nicht die Art von Konversation, wie sie zwei Menschen führen sollten, die sich kaum kannten! Man stellte einem anderen keine gezielten Fragen. Man verriet nicht einem anderen intime Einzelheiten aus dem eigenen Leben, den man erst seit einer halben Stunde kannte. Man unterhielt sich mit Fremden nicht leidenschaftlich! Man unterhielt sich ja nicht mal leidenschaftlich mit den Menschen, die man gut kannte! Es gehörte sich nicht.

Charlotte war schockiert, sie fühlte sich ein wenig verletzt, und vor allem war sie beunruhigt. Es war zutreffend gewesen, diese jungen Männer als wild und gefährlich einzuschätzen. Sie waren in ihr Haus gekommen und hatten sich über die Regeln hinweggesetzt, die für Charlotte und ihre Familie galten.

Kates nächste Worte waren eine deutliche Bestätigung für Charlottes Vermutung.

„Aber wie ist mein Vater gestorben, Mr. MacNeill? Was ist geschehen? Niemand will es uns sagen.“ Kates geflüsterte Worte schienen aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen, sie klangen verzweifelt und schmerzvoll.

Christian MacNeills Kiefermuskeln zuckten angespannt, als er sie reden hörte. Seine Haut war von der Sonne gebräunt, sie wies nicht die gepflegte Blässe eines Gentlemans auf. Kleine Falten verliefen von den Augenwinkeln aus über die Haut, was ihm etwas Verruchtes verlieh. Sollte Charlotte in irgendeiner Form eingreifen?

Mit raubtierhafter Eleganz richtete er sich wieder auf und legte die Hände auf den Rücken. Rastlos ging er im Zimmer auf und ab, bis er schließlich stehen blieb, eine halbe Drehung vollführte und den Blick auf die kahle Wand richtete, vor der er stand.

„Lord Nash hätte nicht dort sein sollen, es war ein Fehler. Ein volltrunkener Offizier, der gar nichts von unserer Existenz hätte wissen dürfen, erwähnte beiläufig unsere Namen. Nachdem Ihr Vater wusste, dass wir festgehalten wurden und wie lange unsere Gefangenschaft andauerte, beharrte er darauf, gegen uns ausgetauscht zu werden, damit wir wieder in Freiheit kamen.“

„Man sagte uns, mein Vater sei bei einem Rettungsversuch umgekommen“, erklärte Kate.

„Niemand rettet einen anderen aus einem französischen Kerker, Mrs. Blackburn. Man trifft Abmachungen, man verspricht Geld, oder wenn man kein Geld zur Hand hat, schlägt man einen Tauschhandel vor. Ihr Vater bot sich an, unseren Platz einzunehmen. Da er viel wertvoller war als drei verdreckte junge Kerle, nahm der französische Colonel, der uns festhielt, die Gelegenheit wahr. Zweifellos glaubte er, sich auf diese Weise einen Namen machen zu können. Während der Verhandlungen schlug er vor, Ihr Vater solle die Festung dort betreten, wo wir festgehalten wurden.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Lord Nash war einverstanden, jedoch unter der Bedingung, dass wir zunächst freigelassen wurden. Der Colonel war außer sich angesichts dieser Forderung, doch Ihr Vater ließ sich nicht umstimmen. Lord Nash wartete an der Zugbrücke, bis wir … herauskamen. Dann erst ging er hinüber.“

Sein Zögern ließ keinen Zweifel an einer Tatsache: Ganz gleich, wie die Gefangenen auf freien Fuß kamen, sie waren eindeutig nicht einfach „herausgekommen“. Er sah Kate an, die den Kopf gehoben hatte. „Nach wenigen Tagen, höchstens nach einer Woche, sollte er wieder entlassen werden, sobald ein Lösegeld bereitgestellt worden war. Er sollte die Immunität eines Diplomaten genießen. Doch nur wenige Stunden später wurden die Tore abermals geöffnet, ein reiterloses Pferd kam heraus, an dessen Sattel eine Nachricht festgemacht war.“ Für ein paar Sekunden kniff er die Augen zu, als versuche er, das Bild aus seiner Erinnerung zu löschen. „Die Nachricht besagte, Ihr Vater sei tot, und man werde fortan mit allen britischen Spionen in gleicher Weise verfahren. Er starb an unserer Stelle, doch Ihr Vater war kein Spion, Mrs. Blackburn.“

„Aber Sie waren Spione. Sie und die anderen.“

„Wir kannten das Risiko“, kam seine Antwort in einem leicht vorwurfsvollen Ton. „Wir waren bereit, den Preis für unser Handeln zu bezahlen. Ich konnte nicht ahnen, dass ein anderer das an meiner Stelle tun sollte. Damit muss ich nun leben, und aus diesem Grund sind wir hier.“

„Ich verstehe.“ Ihr Blick war auf einen Punkt gerichtet, der weit außerhalb des Zimmers zu liegen schien. „Und sind Sie … sind Sie immer noch Spion?“

„Ich bin nur das, was Sie sehen können. Ein Mann ohne Anstellung, ohne Zuhause, ohne Familie.“

„Also kaum in einer Position, um anderen Hilfe anzubieten“, gab Kate sanft zurück.

Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich besitze gewiss nicht viel, aber immer noch einige Begabungen. Und Entschlossenheit.“ Er wurde wieder ernst. „Die besitze ich im Überfluss, Madam.“

„Ich verstehe“, sagte sie wieder.

„Tatsächlich?“, fragte er mit Nachdruck. „Können Sie es überhaupt verstehen?“

„Selbstverständlich ja“, antwortete Kate, doch ihre Gedanken schienen um etwas anderes zu kreisen. „Sie wollten Helden sein. Junge Männer streben nach Heldentum, nicht wahr? Es ist durchaus nachvollziehbar. Nur ist mein Vater Ihnen zuvorgekommen, nicht wahr? Er hatte kein Recht dazu.“ Ihre Stimme wurde leiser und rauer, als ihre Gefühle sie überkamen. „Er hatte niemals das Recht gehabt, sich in solche Gefahr zu bringen. Stets muss er gewusst haben, dass sein Tod uns …“

In Armut stürzen würde, führte Charlotte stumm den Satz zu Ende, den Kate nicht ausgesprochen hatte, und der doch so deutlich im Raum hing, als hätte sie ihn hinausgeschrien. Doch Kate schrie schon lange nicht mehr. Überhaupt tat sie nichts Unschickliches, nichts Unangemessenes, nichts Überhastetes und erst recht nichts Leidenschaftliches. Dennoch hatte dieser junge Mann sie dazu gebracht, alle gesellschaftlichen Hürden zu überwinden und Kates Schmerz, Zweifel und Wut vor ihrer Schwester auszubreiten.

Charlotte hasste das, und es machte ihr Angst. Die Welt war auch so bereits ein erschreckender Ort, zu viel hatte sich verändert, da konnte Charlotte nicht auch noch das Bild aufgeben, das sie sich vor so langer Zeit von ihrer Schwester geschaffen hatte.

„Ich kann Ihnen nicht versprechen, von Ihrem Angebot Gebrauch zu machen, Mr. MacNeill, so ehrbar es auch von Ihnen gemeint ist.“ Kate atmete tief durch. „Ich hatte in meinem Leben genügend Helden“, flüsterte sie. „Ich brauche nicht noch mehr von deren Art. Sie müssen jemand anders suchen, dem Ihre Geste Nutzen bringen kann.“

„Sie missverstehen uns, wenn Sie glauben, unser Angebot sei edelmütig.“

„Ich missverstehe es keineswegs. Ich verstehe sogar sehr gut, dass Sie das Bedürfnis nach Wiedergutmachung verspüren. Doch das müssen Sie nicht. Ihre Schuld besteht meinem Vater gegenüber.“

Er schüttelte den Kopf, wodurch sich der Sonnenschein in seinem glänzenden Haar fing und tiefe Schatten auf die scharfen Konturen seines Gesichts warf. „Sie verlangen von mir, eine unglaubliche Schuld zu tragen, Mrs. Blackburn, die keiner von uns ablegen kann, wenn wir nicht etwas unternehmen. Wenn ich nicht etwas unternehme. Ich muss daran glauben, dass ich eines Tages wenigstens einen Teil meiner Schuld gegenüber Ihrer Familie begleichen kann. So wie ich glauben muss, eines Tages herauszufinden, wer uns verriet. Wie Sie selbst sehen können, ist mir auf dieser Welt nicht mehr viel geblieben – bis auf meine Ehre. Ich muss meine Schuld begleichen, und ich muss die Verluste rächen. Ich werde warten, bis es so weit ist. Ganz gleich, wie lange das auch dauern mag.“

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.

1. Kapitel

Am südlichen Rand der schottischen Highlands, 1803

Mrs. Blackburn,

diese Reise ist völlich wahnsinnich und ich will keinem schmuzzigen Wegelagerer die Schanse geben mich umzubringen. Auch nich wenn sie mir doppelt so viel Lohn geben würden. Aber das das passieren wird glaube ich sowieso nich. Ich weis sie werden mir jetz auch kein Emfehlungsschreiben geben. Aber das ist egal. Was habe ich von einem Emfehlungsschreiben wenn ich tot bin? Ich wünsche ihnen viel Glück. Sie sind eine gute Herrin gewesn und ich werd für ihre Sehle beeten.

Sue McCray

„Da denkt man, das Leben hält keine Überraschungen mehr für einen bereit“, murmelte Kate leise. „Und dann beweist Sue McCray, dass sie schreiben kann.“ Wie sie schrieb, das war ein ganz anderes Thema, und ein Blick auf das Wort Schanse genügte, um Kate ungewollt auflachen zu lassen.

Auf ihren kurzen Lacher hin verstummte das beständige Reden im Raum nebenan, und die Männer, die den Lärm verursacht hatten, sahen zu der halbhohen Mauer, die den öffentlichen Bereich des White Rose von jenem ,privaten Raum‘ trennte, in dem Kate saß. Sie rutschte näher an das nur schwach lodernde Kaminfeuer, das der Gastwirt erst auf ihr Drängen hin entfacht hatte.

Die Notiz knüllte sie zusammen und warf sie in die Glut, während sie sich darüber wunderte, wieso die Fahnenflucht ihres Dienstmädchens sie so überrascht hatte. Ihre Situation gestaltete sich nun schon seit langer Zeit derart absurd, dass man meinen sollte, sie müsste derartige Vorfälle gewöhnt sein.

Zunächst war da der Taschendieb in Edinburgh, der sie um ihre Geldbörse erleichtert hatte. Dann – keine dreißig Meilen von der Stadt entfernt – war ihre Kutsche wegen eines Defekts ausgefallen, und sie und Sue McCray hatten die kalte Nacht unter zu wenigen wärmenden Decken verbringen müssen, während sich Dougal, der Kutscher, um die Reparatur kümmerte. Anschließend wollte Dougal zusätzlich zu dem Betrag entlohnt werden, den der Marquis of Parnell dem Unternehmen schuldete, in dessen Diensten der Mann stand. Übertroffen wurde das wenig später von einem Schneesturm von solcher Heftigkeit, dass man Grund zu der Annahme bekommen konnte, die Elemente hätten sich mit dem Gesindel gegen Kate verschworen.

Als sei das noch nicht genug gewesen, führte das Schicksal sie schließlich in das Wirtshaus, das den trügerisch idyllischen Namen White Rose trug, sich aber als Zufluchtsstätte für eine Schar übellauniger und noch übler riechenden Spießgesellen entpuppte, die vor dem Unwetter Schutz suchten und die die beengten Zimmer belegten. Die Krönung des Ganzen war nun, dass ihr Dienstmädchen – eine Frau, die nicht nur für wenig Geld, sondern auch recht gut arbeitete, wenn man berücksichtigte, dass sie die meiste Zeit über angetrunken war – sich aus dem Staub gemacht hatte. War es überhaupt möglich, das noch zu überbieten?

Kate sah hinüber in den anderen Raum und nahm die trägen Blicke der Männer wahr, die dem Alkohol zu großzügig zugesprochen hatten.

Oh ja. Es war noch zu überbieten.

Sie zog den Mantel enger um sich und überlegte, was sie tun sollte. Inzwischen hatte ihr geschwätziger Gastgeber sicher schon herumerzählt, dass ihr Dienstmädchen abgereist war. Damit war sie auf sich gestellt, wenn man von dem Schutz absah, den Dougal ihr womöglich bot – was sie aber eher bezweifelte. Vermutlich wäre es besser gewesen, nicht noch länger hier unten zu bleiben, doch wenn einer der ,Gentlemen‘ nebenan mitbekam, wie sie auf ihr Zimmer ging, würde er es unter Umständen als Einladung auffassen, ihr zu folgen. Wie sie in der letzten Zeit hatte erfahren müssen, fühlten sich Männer immer eingeladen, auch wenn sie überhaupt nicht gemeint waren – vor allem wenn sie glaubten, die Einladung komme von einer verarmten Witwe. Andererseits konnte es sogar noch mehr einer Aufforderung gleichkommen, wenn sie sitzen blieb und sich praktisch zur Schau stellte. Allerdings hatte sie nichts mehr gegessen seit … seit dem frühen Morgen.

Im Geiste warf sie eine Münze und entschied, auf ihrem Platz zu bleiben, auch wenn die Angst ihr fast die Kehle zuschnürte. Hier unten war jeder der Männer wenigstens gezwungen, sich wegen der Anwesenheit der anderen zurückzuhalten. Trotz der Zurschaustellung männlicher Gutmütigkeit waren diese Leute nicht untereinander befreundet. Das Wetter hatte sie hier zusammengeführt, nicht ihr freier Wille.

Lediglich vier Männer, die an einem flachen Tisch saßen, wirkten auf sie wie eine Gruppe, die zusammengehörte. Durch die Rauchschwaden, die sich vom Kamin ausgehend im Raum verteilten, konnte sie die Gruppe nicht deutlich erkennen. Allem Anschein nach handelte es sich aber um große, raue Gesellen mit breiten Schultern und Stiernacken, mit fleischigen Händen, in denen die Zinnkrüge fast verschwanden, die der Gastwirt immer wieder mit starkem Ale füllte. Die übrigen Reisenden waren allein oder paarweise hereingekommen, um Schutz zu suchen, da sich zum eisigen Sturm, der an den Fenstern rüttelte und sich heulend seinen Weg unter der Tür hindurch bahnte, nun auch die Dunkelheit gesellt hatte.

Aus dem Augenwinkel heraus sah sie zu dem Tisch, an dem sich der zuletzt eingetroffene Reisende niedergelassen hatte. Anders als die meisten anderen hier war er kein Tieflandschotte, sondern ein Highlander.

Als er hereinkam, umwehte ein weiter, abgenutzter Tartan wie die Schwingen eines riesigen Raubvogels seine Schultern, während sein Gesicht von einem breitkrempigen, ramponierten Hut verdeckt wurde. Wortlos hatte er sich in eine düstere Ecke zurückgezogen und dort Platz genommen. Nachdem er den Tartan zurückgeschlagen hatte, drückte er die Stuhllehne gegen die Mauer in seinem Rücken und streckte seine langen Beine aus, die bis zu den Waden in abgetragenen Lederstiefeln steckten. Unter seinem Tartan trug er eine dunkelgrüne Jacke, die mit schwarzer Borte und silbernen Knöpfen verziert war.

Er legte seine abgewetzten Handschuhe ab, dann holte er aus einer Tasche eine Tonpfeife und einen Tabaksbeutel hervor. Seit er seine Pfeife angezündet hatte, saß er nur da und machte keine Anstalten, sich der wachsenden Kameradschaft zwischen den anderen Gästen anzuschließen. Genauso machte er auch keinen Hehl daraus, auf wen sein Blick gerichtet war.

Auf Kate.

Ihr gefiel es nicht, so unverhohlen beobachtet zu werden. Es war vor allem dieser starre Blick, der sie davon abhielt, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen, obwohl sie müde war und ihr von einem langen Tag in einer schlecht gefederten Kutsche jeder Knochen schmerzte. Doch dieser Blick beunruhigte sie aufs Äußerste.

Wieder sah sie zu ihm, bemerkte, wie der Rauch aus seiner Pfeife von der Dunkelheit unter der Hutkrempe geschluckt wurde. Rasch wandte sie den Blick von diesem unheimlichen Mann ab, als ihr einmal mehr bewusst wurde, wie weit sie von dem behüteten Leben entfernt war, das sie früher einmal geführt hatte. Damals wäre ihr der Gedanke, ihr Weg könnte sich mit dem dieses Mannes kreuzen, lächerlich erschienen. Doch in den letzten drei Jahren hatte sie lernen müssen, dass sie als vornehme, aber verarmte Frau permanent keineswegs begehrenswerte Typen anzog.

Was sie daran erstaunte, war die Tatsache, dass es nicht immer zu ihrem Nachteil geschah. So hatte sie zum Beispiel herausgefunden, dass ein Dienstmädchen mit einer Vorliebe für Alkohol und ohne jegliche Referenzen durchaus in der Lage war, für eine passable Frisur zu sorgen. Und ein angenehmer Tagesablauf ließ eine solche Bedienstete auch schon mal über eine unregelmäßige Entlohnung hinwegsehen. Die Reise in ,heidnische Regionen‘ jedoch – das musste Kate mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen nun einsehen – konnte zu einer unüberwindlichen Kluft zwischen Dienstherrin und Bediensteter führen.

Diesen Punkt musste sie sich merken: Zwinge nie ein Dienstmädchen, das keinen Lohn erhalten hat, zu einer gefährlichen Reise.

Vielleicht sollte sie ein Handbuch schreiben, ein Pamphlet. Etwas mit einem Titel wie: Ein unverzichtbarer Ratgeber für die wohlerzogene Dame aus gutem Hause, die ein Leben mit Einschränkungen zu erwarten hat. Die Schicht der Kaufleute verschlang Handbücher darüber, wie man das Verhalten der Aristokratie nachahmte. Warum sollte es nicht ein Buch geben, das sich einem würdevollen Leben in Armut widmete? Na, wenn das kein Widerspruch in sich selbst ist, dachte Kate.

Sie verzog den Mund flüchtig zu einem amüsierten Lächeln und erinnerte sich daran, wie ihr einmal der Gedanke gekommen war, niemals wieder lächeln zu können. Zum Glück hatte sie sich geirrt. Dennoch hielt sie sich rasch vor Augen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für Übermut war. Ihr Sinn für Humor mochte sie vor der Verzweiflung bewahrt haben, die ihre Mutter das Leben gekostet hatte, doch dieser Humor konnte auch Probleme mit sich bringen. So zum Beispiel, als sie den Schlachter davon überzeugt hatte, der Hausgast der Jaspers lebe strikt vegetarisch, weshalb der vorbereitete Sonntagsbraten nicht benötigt werde. Sie bot sich an, ihm den Braten abzukaufen – natürlich zu einem geringeren Preis, da er ansonsten ohnehin keine Verwendung dafür gefunden hätte. Mrs. Jasper hatte seitdem kein Wort mehr mit ihr gesprochen.

Der laute Knall der auffliegenden Tür kündigte einen weiteren, vor dem Unwetter Zuflucht suchenden Neuankömmling an. Es war ein Junge mit rotem Gesicht, der von einem Graupelschauer in das Wirtshaus getrieben wurde. Die Hände hatte er unter die Achseln geschoben.

„Mach die Tür zu, du Narr!“, rief ihm einer der Männer zu und erhob sich.

Der Junge schien ihn nicht gehört zu haben, sondern sackte zu Boden, kaum, dass er die Türschwelle überschritten hatte. Er blies in seine Hände, die er sich dicht vor den Mund hielt. Seine Fingerspitzen waren von der Kälte so sehr verfärbt, dass durchaus die Gefahr bestand, einen oder mehrere Finger zu verlieren.

„Ich sagte, du sollst die verdammte Tür zumachen! Niemand hier will dein Gejammer hören.“ Während der Mann den Jungen am Kragen packte, um ihn nach draußen zu schaffen, erkannte Kate, dass es Dougal war, ihr Kutscher, der etwas so Herzloses tun wollte.

Mit einem Mal wurde es ruhig. Einige der Männer hatten eine verächtliche Miene aufgesetzt, einer von Dougals Tischgesellen machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihn das Schauspiel amüsierte. Die meisten jedoch blickten verständnislos drein.

Kate wurde übel, als sie endlich begriff, dass sie aufgestanden war. Sie zitterte so heftig wie der Junge, doch es gab für sie kein Zurück mehr. Denn neben dem völlig trügerischen Selbstwertgefühl, das sie einst besessen hatte, verfügte sie auch noch über ein gleichermaßen überzogenes Verantwortungsgefühl. Genau diese Eigenschaft war es, die sie nie gefügig hatte machen können. Sie wollte gar nichts sagen, sie wollte die Augen schließen und sich so wie die anderen abwenden. Doch Dougal arbeitete für sie, und damit war sie für ihn verantwortlich.

Ihr Herz raste, und sie hatte Angst. Zudem war sie fast wie gelähmt aus Furcht davor, was geschehen würde, wenn sie sich einmischte – aber eben nur fast. Denn ihre Füße trugen sie langsam, aber unbeirrbar über die Schwelle in den Schankraum. Dougal schüttelte den heulenden Jungen wieder durch. „Vielleicht lasse ich dich herein, wenn du dich daran erinnern kannst, wie man eine Tü…“

„Lassen Sie ihn los“, hörte Kate eine ruhige Stimme sagen. Gott sei Dank, es war nicht ihre Stimme.

Dougal sah auf, um festzustellen, wer es da gewagt hatte, sich einzumischen. Es war der große Mann in dem alten Tartan gewesen.

„Und“, fügte der Highlander genauso ruhig an, „machen Sie endlich die verdammte Tür zu.“

„Wer zum Teufel sind Sie, dass Sie mir Befehle erteilen?“, wollte Dougal wissen, der den Jungen noch immer mit einer Hand hochhielt.

Die vorderen Beine des gekippten Stuhls berührten wieder sanft den Boden, dann erhob sich die schroffe Gestalt mit einer unheimlich wirkenden Eleganz. Sein Gesicht war noch immer unter dem Hut verborgen. „Ein Mann, dem es kalt wird“, sagte er und machte dann Dougal auf etwas aufmerksam. „Sie haben den Jungen noch immer nicht losgelassen, und die Tür steht nach wie vor weit offen.“ Sein ruhiger Tonfall hatte auf einmal etwas Bedrohliches angenommen.

„Zum Teufel mit Ihnen“, fauchte Dougal. „Die Tür schließe ich, nachdem ich diesen Bengel …“

Weiter kam er nicht, da der Highlander ihm den Jungen abnahm, als würde er eine reife Birne von einem Ast pflücken, und ihm dann einen Schubs gab, der ihn in die Richtung von zwei Männern beförderte, die das Treiben sichtlich besorgt verfolgt hatten.

Dann griff der Highlander hinter Dougal und warf die Tür ins Schloss.

„Fertig. Je eher begonnen, umso eher erledigt, wie meine alte Mutter gesagt hätte.“ Der Mann legte den Kopf schräg und fügte wehmütig an: „Nun, hätte ich eine Mutter gehabt, dann wäre das bestimmt ihr Wahlspruch gewesen.“

Einige Gäste kicherten nervös, doch Dougal wollte sich nicht gut zureden lassen. Sein Gesicht war puterrot angelaufen.

„Ich mag es nicht, wenn man sich in meine Angelegenheiten einmischt, Mister. Genau das haben Sie aber getan. Stimmt’s?“, fragte Dougal an die Männer gewandt, an deren Tisch er gesessen hatte. Sie nickten finster. Dass Dougal seiner Beute beraubt worden war, störte sie dabei weniger. Vielmehr hatte der Highlander sie um ein vergnügliches Schauspiel gebracht.

Dem schien der Unmut der Männer keine Sorge zu bereiten, ganz im Gegensatz zu Kate. Die Angst, die sie für einen Augenblick aus ihren Klauen gelassen hatte, drückte ihr jetzt wieder auf die Brust und nahm ihr den Atem.

„Vermutlich haben Sie recht“, gab der große Mann zurück. „Das ist eine Schwäche, die man mir schon oft auszutreiben versucht hat. Leider erfolglos.“

„Tatsächlich? Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht erfolgreicher sein können. Was meint ihr, Männer?“

Die Angesprochenen gaben zustimmende Laute von sich, während die beiden jüngeren Männer, in deren Richtung Dougals ursprüngliches Opfer gestoßen worden war, einige Schritte nach vorn machten.

„Uns gefällt nicht“, meinte der Stämmigere von ihnen, „welches Risiko Sie hier eingehen, darum …“

„Halt ein, Freund“, unterbrach der Highlander ihn. „Ich weiß deine Geste zu schätzen, doch da vier derart tapfere Krieger meine Niederlage planen, bleibt mir keine Zeit, um mir Gedanken zu machen um dein Wohlergehen.“

Die beiden jungen Crofter sahen sich verwirrt an.

„Setzt euch hin, Jungs, dann gebe ich euch ein Pint aus.“ Der Highlander wandte sich dem Gastwirt zu, zog seine ausgeblichene, grüne Jacke aus, als auf einmal Dougal vorstürmte wie ein Schakal beim Anblick von rohem Fleisch.

„Vorsicht!“, rief Kate, doch der große Mann war bereits Dougals Fausthieben ausgewichen und rammte seinerseits eine Faust in den Bauch des dickleibigen Kutschers. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, während er der Länge nach zu Boden ging.

Dougals Freunde rückten nun vor, gleichzeitig standen die anderen Gäste in der Schenke auf, um besser das sich anbahnende Geschehen beobachten zu können. Einer von Dougals Gesellen griff nach einer schweren Metallplatte und holte damit aus, als halte er eine Axt in den Händen. Der Schotte wich nach hinten aus, wobei er seine Kopfbedeckung verlor.

Kate sah, wie ein Gewirr aus rotblonden Haaren zum Vorschein kam, und nun konnte sie auch ein wenig vom Gesicht des Fremden erkennen. Es war kantig und hager und mit dem Schmutz überzogen, den lange Reisen mit sich brachten.

Der Mann wich zurück, Dougals bulligster Gefährte folgte ihm auf dem Fuß, während die beiden anderen sich ihm von den Seiten her näherten, um ihn an die Wand zu drängen und … in diesem Moment schloss sich vor den Kämpfenden der Kreis der Schaulustigen und nahm Kate die Sicht. Dougal kauerte noch immer am Boden und schnappte nach Luft.

Die Menge begann zu johlen, dann stießen einige der Männer Laute aus, als hätte man auf sie eingeschlagen, während andere umso lauter jubelten. Sehen konnte Kate nur ein Wirrwarr aus Fäusten, ein paar rotblonde Haare, schweißnasse Gesichtspartien. Es wurde geflucht und angefeuert, sobald wieder eine Faust ihr Ziel traf.

Jemand rief eine Warnung, und prompt teilte sich der Kreis unmittelbar vor Kate. Sie sah zwei von Dougals Saufkumpanen, einen am Boden ausgestreckt, der andere bemüht, sich wenigstens hinzuknien. Und dann auf einmal war er da, direkt vor ihr.

Sein Leinenhemd war aus dem Hosenbund gezerrt worden, ein Ärmel war an der Schulter aufgerissen und gab den Blick frei auf die Muskeln darunter. Sein Haar klebte in Strähnen an seinem schweißnassen Hals, während er sich dem Gegner widmete, der von den dreien den furchterregendsten Eindruck machte. Dass er siegen würde, war klar, denn die Fausthiebe des anderen Mannes wehrte er so lässig ab, als würde er nach einem Insekt schlagen.

Sein Kampfstil hatte etwas Diabolisches. Er war methodisch, auf jede Bewegung konzentriert, und jeder Hieb war eine Mischung aus geballter Kraft und durchdachtem Raffinement. Jedem Angriff wich er geschickt aus, während er im Gegenzug jede kleinste Unachtsamkeit sofort ausnutzte. Dann schließlich landete er mit einem Aufwärtshaken einen Treffer, der seinen Gegner ein Stück weit in die Luft hob, ehe er auf den Boden zurückkehrte und vor Kates Füßen liegen blieb.

Als der Highlander ihm entschlossen folgte, versuchte der Mann am Boden, sich auf allen Vieren in Sicherheit zu bringen, doch der Schotte beugte sich vor, packte den Mann am Kragen und grinste ihn dann strahlend an. „Sie wollen doch nicht schon gehen, mein Freund, und mich ganz allein zurücklassen?“, fragte er mit gespielter Sorge, während er den Kerl hochzog, bis der wieder aufrecht vor ihm stand. „Aber wenn sich unsere Wege doch trennen sollen, dann muss es wohl so sein. Zuvor werde ich jedoch wieder den Dolch an mich nehmen, den Sie mir entwendet haben. Mir ist nämlich nicht danach, ihn in meinem Rücken wiederzufinden.“

Dass Dougal noch da war, hatte er offenbar vergessen.

Kate war es nicht anders ergangen.

Der erhob sich auf einmal und marschierte auf den Highlander zu, ohne sich darum zu scheren, dass Kate zwischen ihnen beiden stand. Der Schotte ließ den anderen Mann los und zog ihm mit einer raschen Bewegung die Beine weg, woraufhin der wie eine gefällte Eiche zu Boden ging.

Blitzschnell ging der Highlander dann auf die Knie, bekam Kate am Handgelenk zu fassen und zog sie so kraftvoll aus Dougals Pfad, dass sie mitten in der Menge landete. Die jungen Crofter konnten sie gerade noch auffangen, ehe sie hinfiel.

Sie hatte sich eben wieder aufgerichtet, da sah sie, wie Dougal seinen Dolch hob und damit ausholte. Der Highlander, der immer noch kniete, packte das Handgelenk seines Angreifers und wehrte die Attacke ab. Seine Schultern spannten sich, und die Halsschlagadern schwollen an, so viel Kraft kostete es ihn, zu verhindern, dass ihn die Klinge tödlich traf.

Dougal biss die Zähne zusammen, Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, während er weiter versuchte, seinen Hieb zu Ende zu führen. Gleichzeitig stand der Highlander langsam auf, mit einer Hand noch immer den Arm seines Gegners umklammernd.

„Halten Sie jetzt ein, wenn Sie sich einigen Schmerz ersparen wollen“, riet der Highlander ihm mit finsterer Miene.

„Fahr zur Hölle, Bastard!“

„Ah, wunderbar. Ich gebe zu, ich wäre enttäuscht gewesen, hätten Sie irgendetwas anderes gesagt.“

Mit einem kraftvollen Ruck zog er Dougals Arm zunächst ein Stück weit nach vorn, gleichzeitig brachte er seine Schulter darunter in Position, und als er dann den Arm nach unten riss, konnte jeder im Raum hören, wie Knochen brachen.

Kates Magen drehte sich bei diesem Geräusch um. Dougal wurde blass, seine Finger ließen die Klinge los, die klirrend zu Boden fiel, dann heulte er vor Schmerz laut auf.

Verächtlich dreinblickend schubste der Highlander Dougal in Richtung seiner Freunde. „Sie sollten besser seinen Arm schienen“, rief er dem Gastwirt zu. „Sonst wird er nie wieder eine Kutsche lenken können.“

Seine Worte drangen auch bis zu Kate durch. Die nahm den Schotten nicht länger wahr, sondern musste an das denken, was er gesagt hatte: Nun hatte sie auch keinen Kutscher mehr!

Wie betäubt ging sie zum Gastwirt, suchte in ihrer Tasche und holte schließlich eine wertvolle Münze hervor, die zuvor im Saum ihrer Mantels eingenäht gewesen war. „Holen Sie jemanden, der seinen Arm richtet“, sagte sie tonlos und wandte sich ab, obwohl sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte.

Wenn sie keinen anderen Kutscher fand, würde sie mit der Postkutsche nach York zurückkehren müssen. Angesichts der steigenden Zahl an Wegelagerern, Dieben und Banditen, die im Land ihr Unwesen trieben, sowie der ersten Vorboten eines vermutlich strengen Winters, würden nur wenige private Agenturen ihr Vieh – oder ihre Leute – in den Norden von Schottland schicken. Es käme einem Wunder gleich, wenn es dem Marquis gelungen sein sollte, eine Gesellschaft zu finden, die zu dieser Jahreszeit noch dazu bereit sein sollte. Wenn sie aber nach York zurückkehrte, vergab sie damit ihre letzte Chance, es noch in diesem Winter nach Clyth zu schaffen.

Sie musste Clyth erreichen, um jeden Preis. Es erschien ihr als die einzige Chance, das zurückzuerlangen, was sie verloren hatte. Und nun sollte ihr auch diese Gelegenheit genommen werden!

Um sie herum begann sich alles zu drehen, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie eine Ohnmacht nahen. Zu wenig zu essen, keine Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluss ihrer Mission. Sie schwankte leicht, schloss die Augen und versuchte, irgendetwas zu fassen zu bekommen, um sich abzustützen. Doch da war nichts.

Andererseits würde es vielleicht eine Erleichterung sein, sich einfach hinzugeben und nicht länger zu versuchen …

Kraftvolle Hände legten sich plötzlich um ihre Ellbogen, um ihr Halt zu geben. Sie roch Leder, Schweiß und ein sonderbar metallisches Aroma. Dann öffnete sie die Augen.

Der Highlander stand mit dem Rücken zum Kamin, dessen Feuerschein das Haar des Mannes rötlich-golden leuchten ließ. Von seinen Gesichtszügen konnte sie kaum etwas erkennen.

„Wer sind Sie?“, fragte sie.

„Ich?“, erwiderte er mit tiefer Stimme. „Ich bin Ihr Schutzengel, meine Liebe.“

Kate bekam das Gefühl, dass sich jeden Moment etwas Bewegendes ereignen würde. Unwillkürlich stolperte sie ein Stück nach hinten, doch damit sie nicht hinfiel, zog der Highlander sie rasch an sich. Da er sich gleichzeitig etwas um seine Achse drehte, fiel der Lichtschein des Kaminfeuers auf sein Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Abend bekam Kate den Mann klar und deutlich zu sehen: unbarmherzige, eisig grüne Augen, den Mund eines Wüstlings, den kantigen Kiefer eines keltischen Kriegers.

Dann verlor sie in den Armen von Christian MacNeill das Bewusstsein.