Leseprobe Wie beschämt man einen Lord?

Prolog

Oxendon Street, London

Juli 1780

Georgiana Harley war die Dritte.

Lady Amanda Clifford hatte von dem Mädchen gehört, noch bevor sie ihr begegnet war. Zuerst waren es nur Gerüchte, ein Geflüster hier und da, über ein zerlumptes Waisenkind, das seine Nächte in Covent Garden verbrachte und die Taschen eines jeden betrunkenen Wüstlings in London erleichterte.

Man munkelte, das Mädchen habe teuflisches Glück.

Glück. Ein mittelloses Straßenmädchen, hatte Glück? Glück in Bezug auf Schornsteinfeger, Bucklige oder Henkersschlingen vielleicht.

Das hieß, es hatte nichts mit Glück zu tun.

Lady Amanda glaubte an viele Dinge – an Schicksal und Zufall, Bestimmung und Intuition –, aber Glück gehörte nicht dazu. Wenn eine Straßengöre ihre Handflächen mit Münzen wärmte, die sie Londons hartgesottenen Spielern abnahm, dann besaß sie etwas viel Wertvolleres als Glück.

List, vielleicht. Gerissenheit. Ein Talent für Verrat.

Lady Amanda hatte nicht die Angewohnheit, die Straßen Londons nach gestrandeten Heimatlosen zu durchforsten, aber als die Gerüchte zu einem fiebrigen Höhepunkt anschwollen, machte sie sich mit ihrem Diener Daniel Brixton auf den Weg zur Oxendon Street, um das Mädchen mit eigenen Augen zu sehen. Es war, wie sich Lady Clifford später erinnerte, eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie entgegen ihrer Gewohnheit handelte.

Es würde nicht das letzte Mal gewesen sein. Nicht, wenn es um Georgiana Harley ging.

Sie hockte auf der Straße vor dem Crimson, einer schmuddeligen Spielhölle, benannt nach der karmesinroten Tür, dem einzigen hellen Objekt in einer Nachbarschaft rußgeschwärzter Gebäude und schattiger Straßen.

Lady Amanda stieg nicht aus ihrer Kutsche, sondern wies ihren Kutscher an, zu warten. Sie verweilte viel länger, als sie vorgehabt hatte, und beobachtete das Mädchen in stiller Faszination durch das Kutschenfenster.

Sie war keine Betrügerin. Nicht im engeren Sinne des Wortes.

Aber sie hatte auch nicht einfach nur Glück.

Sie hatte ein grobes Brett auf ihrem Schoß, ihre Augen huschten hin und her, während sie die Karten mit geübter Geschicklichkeit austeilte.

Ein Stapel, zwei, ein halbes Dutzend. Die Anzahl der Karten schien keine Rolle zu spielen.

Hin und her, hin und her …

Sie zählte und rechnete.

Es fehlte ihr nicht an Kundschaft. Männer aller Art, hochgeboren oder aus niederem Stand, mittellos oder reich, betrunken oder nüchtern, sie alle hielten für ein Spiel an, wenn ihr Weg sie am Crimson vorbeiführte.

Die Gemeinen unter ihnen sahen in ihr eine Chance auf schnelles Geld und waren begierig darauf, das Mädchen um ihren Gewinn zu bringen. Andere, diejenigen, die ein paar Guineen übrig hatten, waren lediglich von der Neuartigkeit der Sache angetan.

Dennoch wuchs der Haufen Münzen im Schoß des Mädchens weiter an. Wenn das Gewicht lästig wurde oder das stumpfe Glitzern des Kupfers für Taschendiebe zu verlockend schien, verstaute sie sie in einem versteckten Beutel, der vor diebischen Fingern sicher war.

Sie war nicht gierig. Sie mochte ihre Opfer bis auf den letzten Schilling ausnehmen, aber sie war zurückhaltend, ja geradezu umsichtig. Das faszinierte Lady Amanda mehr als alles andere, denn eine Existenz in den schmutzigen Londoner Straßen trieb die Menschen eher zu Habgier als zu Feingefühl.

Glück? Nein. Lady Amanda hatte nicht erwartet, dass sich die Gabe des Mädchens als gottgegebenes Glück herausstellen würde. Sie hatte aber auch nicht erwartet, dass ein zerlumptes kleines Kind mit jedem Zucken seiner flinken Finger das Überleben in eine Kunst verwandelte.

Eine Künstlerin in Covent Garden, zusammengekauert auf der dreckigen Straße vor einer Spielhölle.

Andererseits war es ja auch nichts Besonderes, Kunst in einem Museum zu finden, nicht wahr?

Das wahre Genie bestand darin, Brillanz zu erkennen, selbst wenn man am letzten Ort der Welt, an dem man je danach suchen würde, darüber stolperte.

Kapitel eins

Covent Garden, London

Januar 1795

„Fünf Guineen, Haslemere. Legen Sie sie in Perrys Hut, und er wird dafür sorgen, dass Ihr Reiter aufsteigt.“

Benedict Harcourt, Lord Haslemere, warf die Handvoll Goldmünzen, die er in seiner Faust gehalten hatte, in Lord Peregrines Hut, dann sank er auf der Straße auf ein Knie und spähte über seine Schulter. „Also gut, Perry. Ich bin so weit. Heben Sie sie hoch. Sie ist eine gute Reiterin.“

„Bereit, Liebchen?“ Perry hob das Mädchen hoch, das auf dem Bürgersteig wartete, und setzte sie auf Benedicts Rücken. „Gut festhalten, jetzt. Du willst dir doch nicht das Genick brechen, eh?“

Das Mädchen packte Benedicts Haare mit einem Griff, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und trat ihm mit den Fersen in die Flanken. Sie quietschte vor Freude, als er mit den Füßen auf dem Boden scharrte und schnaubte. „Sieh dir meinen an, Susannah! Er ist wie ein richtiges Pferd!“

„Eher wie ein Esel.“ Lord Harrington packte seine eigene Reiterin fester und grinste Benedict an. „Er hat das Gesicht eines solchen, wenn Sie mich fragen.“

„Es hat Sie aber niemand gefragt, Harrington. Und jetzt seien Sie bitte still, während ich mich mit meinem Jockey über unsere Strategie berate.“ Benedict verrenkte sich den Hals, zwinkerte dem kleinen rothaarigen Mädchen auf seinem Rücken zu und hielt dann ihre Beine fest, um sie ruhig zu halten, bevor sie ihn mit ihrem wilden Gestrampel aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

Harrington schnaubte. „Welche verdammte Strategie? Laufen Sie bis zum Ende der Gasse und zurück, und verlieren Sie Ihre Reiterin nicht. Wer es zuerst zurückschafft, gewinnt die Partie.“

„Nur die schlimmste Sorte von Schurke flucht vor einer jungen Dame, Harrington.“ Benedict warf seinem Freund einen angewiderten Blick zu. „Achten Sie auf Ihre Manieren.“

Harrington rollte mit den Augen, aber er warf den Mädchen ein charmantes Lächeln zu. „Ich bitte um Verzeihung, meine Damen. Ich habe mich vergessen.“

Die beiden Mädchen kicherten daraufhin wie verrückt, und Benedicts Reiterin, die vor Aufregung immer noch zappelte, zog noch einmal heftig an seinem Haar. Er zuckte zusammen und griff nach oben, um ihre Finger zu lösen. „Hände auf meinen Kopf, Sarah, aber nicht in meine Haare, sonst reißt du sie mir alle aus. Schließe deine Beine um meine Taille, damit du nicht herunterfällst. Ja, so ist es gut. So macht es ein richtiger Jockey.“

Die Münzen klirrten, als Perry den Hut in die Hand nahm, um sie sicher aufzubewahren.

„Also gut. Auf die Plätze, meine Herren.“

„Verdammt“, sagte Harrington und vergaß damit bereits sein Versprechen, das Fluchen zu unterlassen.

„Wenn wir nur eine Pistole hätten, um das Rennen richtig zu starten.“

„Clevere Idee, Harrington, um Mitternacht mitten in Covent Garden eine Pistole abzufeuern. Was kann da schon schiefgehen?“

Harrington runzelte die Stirn. „Daran habe ich nicht gedacht.“

Nein, daran hatte er nicht gedacht, aber Benedict hatte Harrington auch nicht eingeladen, weil er ein tiefsinniger Denker war. Man konnte sich mit ihm amüsieren, aber er war einen der dümmsten Köpfe in ganz England.

Perry winkte Benedict auf die rechte Straßenseite, Harrington auf die linke und nahm dann zwischen ihnen Aufstellung. „Auf mein Zeichen hin, meine Herren, und äh … junge Damen. Auf die Plätze, fertig … los!“

Ein Wettlauf schien anfangs ein harmloser Zeitvertreib zu sein, aber wie viele von Benedicts Streichen erwies es sich als schwieriger, als er erwartet hatte. Die Gasse war schmal, das Kopfsteinpflaster glatt und uneben, und sowohl er als auch Harrington waren ein wenig angetrunken. Sie stürzten vorwärts, ihre Stiefel rutschten unter ihnen weg, und sie schafften es nur gerade eben, nicht ineinander zu krachen und ihre Jockeys zu Boden zu werfen.

„Mach schon, schneller!“ Sarah stieß ihre Absätze in Benedicts Bauch und quietschte vor Vergnügen, als er die Gasse hinunterrannte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als Harrington in der Kurve gegen ihn taumelte. Visionen von Blut und verdrehten Kindergliedmaßen schossen ihm durch den Kopf, aber sie waren schon zu weit gekommen, um es jetzt noch zu verhindern, also stemmte er die Füße auf den Boden und schoss an Harrington vorbei, um sich und Sarah einen sicheren Weg zu bahnen. Seine Beine zitterten und seine Lungen brannten dabei.

„Sie kommen auf die Zielgerade“, rief Perry, als sie näher kamen. „Und es sind … Haslemere und Sarah, um eine Nasenlänge! Ihr großes Mundwerk hat sich endlich als nützlich erwiesen, was, Haslemere? Schade, Harrington!“

Harrington kam neben Benedict zum Stehen, immer noch keuchend. „Verdammt! Susannah und ich hatten es bis zu diesem letzten Stück geschafft. Verdammt seien Sie und Ihre langen Beine, Haslemere. Sollen wir es noch einmal versuchen? Wetten wir diesmal um zehn Guineen?“

„Ja, ja, noch einmal!“ Sarah klatschte in die Hände. „Das hat so viel Spaß gemacht!“

„Zehn Guineen?“, hauchte Susannah. „Das ist aber eine Menge Geld.“

„Du hast ganz recht, Susannah. Das ist eine ganze Menge Stumpfsinn. Solch hohe Einsätze erfordern ein abenteuerlicheres Rennen. Was sagen Sie, Haslemere?“

Benedict erkannte das Glitzern in Harringtons Augen, und seine eigenen Augen verengten sich. „Sind Sie entschlossen, sich heute Abend die Knochen zu brechen, Harrington?“

Harrington, der sehr viel mehr Portwein getrunken hatte als Benedict, zuckte mit den Schultern und wischte seine Bedenken beiseite. „Blödsinn, es ist sicher genug. Zehn Guineen, aber dieses Mal reiten unsere Jockeys auf unseren Schultern, nicht auf unserem Rücken.“

„Sind Sie verrückt?“ Benedict schälte eine sich windende, anhängliche Sarah von seinem Rücken. „Ich hätte sie schon jetzt fast fallen lassen.“

„Ach, kommen Sie schon, Haslemere. Das geht schon. Ich zeige es Ihnen.“ Harrington hockte sich hin, und Susannah rutschte von seinem Rücken. „So ist es gut, Liebes. Und jetzt, heben Sie sie auf meine Schultern, ja, Perry?“

Perry sah ihn zweifelnd an, aber er fasste Susannah um ihre Taille und hob sie auf Harringtons Schultern. „Halten Sie sie jetzt fest, Harrington. Halten Sie ihre Beine gut fest und lassen Sie sie nicht fallen.“

„Wofür halten Sie mich, Perry? Ein richtiger Hengst verliert nie seinen Reiter.“ Harrington richtete sich auf, balancierte Susannah auf seinen Schultern, und wandte sich mit einem triumphierenden Lächeln an Benedict. „Nun, hören Sie auf zu meckern und lassen Sie Ihre Reiterin aufsitzen. Rauf mit dir, Sarah. Knien Sie nieder, Haslemere.“

Benedict rührte sich nicht. „Nein. Keine Chance, Harrington.“

„Um Himmels willen, Haslemere, was ist das Problem?“ Harringtons Lippen umspielte ein schelmisches Grinsen, welches bei den Schönheiten Londons schon oft unsägliches Unheil angerichtet hatte. „Du willst doch wieder reiten, nicht wahr, Sarah?“

„Natürlich will sie reiten. Sie ist ein Kind und weiß es nicht besser, aber Sie schon, Harrington. Das sind kleine Mädchen, keine Porzellanpuppen. Wenn man sie fallen lässt, kann man sie nicht mit Zwirn und Kleister wieder zusammenflicken.“

Harrington stieß ein Stöhnen aus, aber nach einer Weile des Schmollens gab er nach und griff nach oben, um Susannah von seinen Schultern zu heben. „Sie sind ein furchtbarer Langweiler, Haslemere.“

Benedict klopfte ihm auf den Rücken. „Ich werde mir ein anderes Vergnügen ausdenken, um Sie zu unterhalten.“

„Das sollten Sie auch“, brummte Harrington. „Aber nicht bei White’s und auch nicht in einer der Spielhöllen, sonst werde ich ziemlich sauer auf Sie sein. Ich will etwas Neues.“

„Ich habe Sie noch nie enttäuscht, oder? Also, Perry. Der Hut, wenn ich bitten darf.“ Benedict streckte seine Hand aus und Perry übergab den Hut. „Meine lieben jungen Damen, wir danken euch für eure angenehme Gesellschaft heute Abend.“ Benedict drehte sich zu den beiden Mädchen um und bot jeder von ihnen eine extravagante Verbeugung an. „Ihr seid beide bewundernswerte Jockeys, und ihr habt euch eure Guineen verdient.“

Susannah schnappte sich die Münze, die Benedict ihr anbot, schneller als ein Frosch, der eine saftige Fliege vor sich hatte, aber Sarah machte keine Anstalten, die ihre zu nehmen. Sie starrte zu Benedict hinauf, ihr Kinn wackelte, und dann … schlug das Unglück zu. Sarahs Augen zuckten, ihr Gesicht verzog sich, ihr Mund öffnete sich, und ein ohrenbetäubender Schrei entrang sich ihren Lippen.

Harrington schlug sich die Hände auf die Ohren. „Großer Gott. Was ist denn mit ihr los? Was macht sie da?“

Perry blickte auf das kleine Mädchen hinunter. „Ähm, sie scheint zu weinen.“

Harrington beugte sich hinunter, um sie genauer zu betrachten, dann richtete er sich mit einem klugen Nicken auf. „Ich glaube, Sie haben recht, Perry. Meine Schwestern weinen gelegentlich, und es sieht genauso aus.“

Benedict starrte entsetzt auf Sarah hinunter. „Um Himmels willen, natürlich weint sie, Sie Schwachkopf. Aber warum?“

Susannah hatte ihre Guinee studiert, misstrauisch wie ein Geldverleiher, aber jetzt wandte sie sich achselzuckend an Benedict. „Sie will nochmal reiten.“

„Ich will noch einmal reiten!“ Sarah stampfte mit dem Fuß auf, Tränen liefen ihr über die Wangen. „Der da hat gesagt, wir dürfen.“

„Aber es ist nicht sicher, Schätzchen“, protestierte Benedict. „Lord Harrington wird dich sicher fallen lassen, und du wirst mit einem gebrochenen Schädel enden.“

Ich? Sie waren derjenige, der sie beinahe fallen gelassen hätte, Haslemere.“

„Ein gebrochener Schädel ist ihr egal.“ Susannah balancierte ihre Guinee in der Handfläche, als ob sie die Münze wöge, dann schob sie sie in ihre Rocktasche. „Oh, hör schon auf, Sarah. Nimm deine Guinee, bevor sich die Kerle aus dem Staub machen.“

Aber Sarah hörte nicht auf zu jammern, auch nicht, als Benedict ihr die Münze anbot. Er hatte schon viele Frauen weinen sehen, aber Küsse und Schmeicheleien – oder in den schlimmsten Fällen Juwelen – hatten sie normalerweise schnell beruhigt. Kleine Mädchen ließen sich nicht so leicht besänftigen, wie es schien. „Was sollen wir tun?“

„Ich habe keine Ahnung, aber ich wünsche Ihnen viel Glück, Haslemere.“ Harrington klopfte ihm auf den Rücken, dann wandten er und Perry sich ab. „Wir sehen uns dann morgen bei Gentleman Jacksons, ja?“

Benedict packte ihn am Ärmel seines Mantels. „Morgen? Sie lassen mich hier einfach stehen?“

Harrington ließ ihn abblitzen. „Sie sind derjenige, der sie zum Weinen gebracht hat. Ich hätte sie auf einen weiteren Ritt mitgenommen.“

„Verdammt noch mal, Harrington.“

Benedict griff erneut nach ihm, aber Harrington wich geschickt aus und warf ihm über die Schulter ein unerhörtes Grinsen zu. „Viel Glück, Haslemere.“

„Verdammte Feiglinge!“, rief Benedict ihnen nach, aber sie verschwanden um die Ecke, ohne sich noch einmal umzusehen. „Komm schon, Sarah, nicht weinen“, flehte er und kauerte sich auf der Straße vor das schluchzende kleine Mädchen. „Hier hast du noch eine Guinee, in Ordnung?“

„Einen Moment, Meister. Ich habe meinen zweite Ritt auch nicht bekommen“, erinnerte ihn Susannah und hielt ihm ihre Hand hin.

„Mit Vergnügen, Susannah. Wie gesagt, du hast dir jeden Schilling davon verdient.“ Benedict war bereit, ihnen alles zu geben, wenn Sarah nur aufhörte zu weinen. Er hatte es nie ertragen können, wenn seine jüngere Schwester Jane weinte, und jetzt wickelte ihn dieses kleine Ding auch noch um den Finger.

Er drückte die Münze in Sarahs Handfläche. „Nun, Sarah, trockne deine Augen, ja? Hier ist eine schöne Guinee. Nimm sie. Du bist ein hervorragender Jockey, und ich entschuldige mich, dass ich euch enttäuscht habe.“

Es war falsch, das zu sagen. Bei der Erinnerung an ihre bittere Enttäuschung stieß Sarah einen ohrenbetäubenden Schrei aus, der Benedicts Ohren zum Klingeln brachte. Guter Gott, es klang, als würde jemand das Mädchen ermorden.

In seiner Verzweiflung sank er auf der nassen Straße auf die Knie und nahm Sarah sanft bei den Schultern. „Also gut, wie wäre es damit? Ich lasse dich noch einmal auf meinem Rücken reiten, ja? Bis zum Ende der Gasse und wieder zurück, und dann nimmst du deine Guineen und gehst.“

Sarahs Schreie verstummten zu einem Schluchzen. Das war auch verdammt gut so, denn noch ein paar Minuten, und jeder Nachtwächter in London wäre auf sie aufmerksam geworden. „Sie machen noch einen Ritt mit mir?“

„Nur noch einen, ja. Hilf ihr auf, ja, Susannah?“ Es wäre besser, die Sache schnell zu erledigen, bevor die Runner auftauchten und ihn wegen der Belästigung junger Mädchen festnahmen.

Benedict bot Sarah seinen Rücken an und stand auf, als er spürte, wie sich ihre dünnen Arme um seinen Hals schlangen. „Also dann. Halt dich gut fest. Los geht’s.“

***

Süße, kostbare, gesegnete Stille.

Es gab einen Grund, dass irgendein Weiser die Stille als golden beschrieben hatte.

Georgiana konnte sich nicht genau erinnern, von wem dieser Ausdruck stammte, höchstwahrscheinlich aber von einem der alten Griechen. Die waren die Klügsten.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür und betrachtete ihr Schlafgemach mit einem sicherlich sehr unpassenden, aber zufriedenen Lächeln auf ihren Lippen.

Alles war an seinem Platz. Nach dem Nachmittagsunterricht hatte sie sich nach oben geschlichen, um ihr Reich so einzurichten, wie es ihr gefiel. Diesmal musste sie keinen einzigen Gedanken an die Bequemlichkeit anderer verschwenden.

Es kam nicht oft vor, dass sie es nur sich selbst recht machen musste, und sie hatte vor, in ihrer Privatsphäre zu schwelgen wie ein süßes kleines Vogelbaby in seinem Nest.

Ein süßes kleines Vögelchen, das alle seine kleinen Geschwister über den Rand geschubst hatte, um genau zu sein.

Sie hatte die Bettdecke auf ihrem Bett zu einem exakten Dreieck gefaltet, sodass nur eine Ecke der schneeweißen Bettwäsche einladend herausschaute. Eine Kerze brannte auf dem Beistelltisch und sie hatte eine zweite in der Schublade versteckt, für den Fall, dass die erste Kerze herunterbrannte, während sie in ihr Buch vertieft war. Nichts war mühsamer, als die Treppe hinunterschleichen zu müssen, um eine neue Kerze zu holen.

Gleich neben der Kerze in der Schublade lag Mrs Meekes Count St Blancard. Georgiana hatte monatelang auf der Warteliste von Lane’s Circulating Library gestanden und darauf gewartet. Nun war sie endlich an der Reihe, und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt.

Sie durchquerte das Zimmer, sank auf ihr Bett und seufzte selig, als sie die Bettdecke bis zum Kinn hochzog.

Himmlisch. Von diesem Moment hatte sie den ganzen Tag lang geträumt –

Ein energisches Klopfen durchbrach die Stille, dann drang eine Stimme durch die Tür. „Georgiana?“

Es war Winnie Browning, Lady Cliffords Haushälterin.

Georgiana erstarrte, kniff die Augen zusammen, dann tauchte sie unter die Decke und zog sie über ihren Kopf.

„Entschuldige die Störung, Liebes“, rief Winnie. „Aber du solltest besser sofort kommen.“

Sofort kommen? Aber Count St Blancard wartete doch! Eine Dame ließ einen Viscount doch nicht warten –

„Georgiana?“ Noch ein Klopfen, diesmal lauter. „Bist du da drin?“

Georgiana vergrub das Gesicht in ihrem Kissen, dann schlug sie die Decke zurück. Kein Entkommen.

Sie war so nah dran gewesen …

„Ja, ich bin hier.“ Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. „Komm rein, Winnie.“

Winnie öffnete die Tür, das Geschirrtuch zerknüllt in den Händen. „Ich war gerade oben. Zwei der Mädchen sind verschwunden.“

„Was, schon wieder? Lass mich raten. Sarah und Susannah, nicht wahr?“ Georgiana war sich nicht sicher, warum sie sich die Mühe machte, zu fragen. Es waren immer Sarah und Susannah.

„Ja, die verflixten Luder. Lady Clifford ist bereits am Ende ihres Lateins mit den beiden. Ich möchte nicht daran denken, was passiert, wenn sie nach Hause kommt und feststellt, dass sie sich wieder hinausgeschlichen haben.“

Georgiana war versucht, herauszufinden, was passieren würde, wenn Lady Clifford nach Hause kam. Falls es aber Schwierigkeiten gab, war es so gut wie sicher, dass Sarah und Susannah hineingeraten würden. Und dies war London. Hier gab es immer Schwierigkeiten. „Warum passiert das immer, wenn Emma nicht da ist?“

Emma konnte eine verängstigte Maus aus ihrem Loch und direkt in die Fänge einer wartenden Katze locken. Sie war viel besser darin, widerspenstige Schulmädchen zu bändigen als sie selbst. Georgiana neigte eher dazu, ein schweres Möbelstück vor das Mauseloch zu schieben, sich den Staub von den Händen zu klopfen und es gut sein zu lassen.

„Es tut mir leid, meine Liebe, aber Emma und Lady Clifford sind auf einer geheimnisvollen Mission und Daniel ist bei ihnen. Ich fürchte, du bist verantwortlich.“

Georgiana warf einen letzten verzweifelten Blick auf ihr Buch, bevor sie es als verloren aufgab. „Es geschähe Sarah und Susannah recht, wenn ich sie ihrem Schicksal überließe. Das würde ihnen eine Lektion erteilen.“

Winnie zuckte nur leicht mit einer Augenbraue. Georgiana hatte in der Vergangenheit bereits ähnliche Drohungen ausgestoßen, aber sie machte sie nie wahr, und sie beide wussten, dass es diesmal nicht anders sein würde.

„Oh, in Ordnung. Ich gehe ja schon.“ Georgiana warf die Bettdecke zurück, marschierte durch ihr Schlafzimmer in den Flur und die Treppe hinauf in den dritten Stock, wo die jüngsten Schülerinnen der Clifford School ihre Schlafräume hatten. Anstatt der üblichen vier, waren hier oben sechs Mädchen in einem Zimmer untergebracht. Das führte dazu, dass ein Drittel mehr Unfug als üblich angestellt wurde.

Georgiana hatte diese Berechnung selbst angestellt.

Von der anderen Seite der Tür drang ein ersticktes Lachen an ihr Ohr. Ohne anzuklopfen stürmte sie in das Schlafgemach. „Guten Abend, Mädchen. Ihr seid ja heute Abend alle recht fröhlich. Lasst euch bloß nicht von mir stören.“

Ihre energischen Schritte dröhnten laut in der Stille, die sich über den Raum legte. Eins, zwei und … ja, da war die kleine Caroline, auf der anderen Seite der Tür. Das machte drei, und Abby, drüben am Fenster, war Nummer vier. Vier Köpfe, wo es doch sechs sein sollten. Zwei Köpfe fehlten, das hieß, zwei Mädchen. „Also gut. Nun sagt schon, wohin sind Sarah und Susannah diesmal verschwunden?“

Vier Paar schuldbewusste Augen starrten sie an, bevor Abby, die älteste und bei weitem die gerissenste von ihnen, das Wort ergriff. „Was, Sarah und Susannah sind weg, Miss Harley? Das haben wir überhaupt nicht bemerkt, nicht wahr, Mädchen?“

„Ach tatsächlich?“ Georgiana verschränkte die Arme vor der Brust. Wie die meisten Straßenkinder, waren ihre Mädchen geschickte Lügnerinnen, aber sie war selbst einmal ein Straßenkind und eine Lügnerin gewesen. Sie wusste, wie man ihnen ihre Geheimnisse entlockte. „Fragen wir doch einmal Caroline, ja? Komm her.“ Georgiana winkte Caroline zu sich und zeigte auf den Boden vor sich. „Hast du Sarah und Susannah heute Abend gesehen?“

Caroline war das jüngste und zarteste der Mädchen. Sie konnte man am leichtesten befragen. Gelegentlich regte sich Georgianas schlechtes Gewissen, weil sie das schwächste Tier in der Herde angriff, aber wenn es um wilde Schulmädchen ging, war Rücksichtslosigkeit eine Notwendigkeit. Es galt, entweder zu fressen oder gefressen zu werden.

Caroline warf Abby einen unsicheren Blick zu, aber wie befohlen, kam sie nach vorne und biss sich auf die zitternde Unterlippe. Georgiana blickte auf sie herab und dehnte das Schweigen aus, bis sich das Kind zu winden begann. „Nun, Caroline?“

„Ja, Miss Harley. Ich habe sie gesehen.“

„Ah, ich dachte mir, dass jemand sie gesehen haben muss. Wann hast du sie zuletzt gesehen? Nein, sieh mich an, nicht Abby.“ Georgiana legte einen Finger unter Carolines Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich.

„Beim Abendbrot, Miss Harley.“

Abendbrot! Das war vor Stunden gewesen. „Was, seither nicht mehr?“

„Nein, Miss.“ Caroline warf Abby einen besorgten Blick zu. „Sie verschwanden zur Vordertür hinaus, als Mrs Browning in die Küche ging. Sie sagten, sie hätten Lust auf einen Spaziergang, und …“

Abby stieß ein warnendes Zischen aus, aber Joanna zeigte mit dem Finger anklagend auf sie. „Abby ist mit ihnen gegangen, Miss Harley! Sie hat sich hereingeschlichen, kurz bevor Mrs Browning auftauchte. Sie hat uns gerade erzählt, dass Sarah und Susannah nach Covent Garden gegangen sind.“

„Covent Garden!“ Verdammt, diese dummen Mädchen! Was hatten sie sich dabei gedacht, sich nach Einbruch der Dunkelheit nach Covent Garden zu schleichen? London war voller Schurken und Bösewichte, und das nirgends so sehr wie in Covent Garden.

Wohin in Covent Garden?“

Caroline schien den angespannten Ton in Georgianas Stimme zu hören und begann zu weinen, aber bevor sie richtig losschluchzen konnte, wurde sie von Abby beiseitegeschoben. Sie hatte wohl erkannt, dass die Wahrheit trotz aller Bemühungen herauskommen würde. „Hör auf zu weinen, Caroline, und lass es mich erzählen. Also, es war so, Miss Harley. Wir waren in der Henrietta Street. Wohlgemerkt, wir haben nichts Böses getan. Wir haben die Leute beobachtet, die in den Spielhöllen ein– und ausgingen, und hier und da um einen oder zwei Pennies gebettelt. Wir haben niemanden belästigt, uns nur um unsere eigenen Angelegenheiten gekümmert, als …“

„Du hast dich also nur um deine eigenen Angelegenheiten gekümmert, ja?“ Georgiana schnaubte. „Ich nehme entsprechend an, ich werde keine seidenen Taschentücher finden, wenn ich deine Taschen durchsuche?“

Abby machte einen hastigen Schritt zurück, hinaus aus Georgianas Reichweite. „Wie gesagt, wir haben uns um unsere eigenen Angelegenheiten gekümmert, als diese drei feinen Pinkel herauskamen. Oh, sie sahen gut aus, Miss Harley, das sage ich Ihnen! Elegant, mit ihren glänzenden, bestickten Westen und goldenen Taschenuhren und so.“

Oh, nein. Das wurde von Minute zu Minute schlimmer. Von allen Schurken, die man in Covent Garden antreffen konnte, waren die herausgeputzten Wüstlinge die schlimmsten. Alles und jeden, dem sie begegneten, sahen sie als Spielball für ihr exklusives Vergnügen. „Aristokraten?“

„Ja, das würde ich sagen, Miss. Viscounts, vielleicht, oder Earls. Zumindest Lords. Also, diese Pinkel sehen Sarah und Susannah und fragen sie, ob sie sich je eine Guinee verdienen wollten.“

„Eine Guinee?“ Georgiana starrte Abby entsetzt an.

„Aye, eine Guinee. Sie hatten ordentlich einen sitzen und lachten sehr viel. Es war schwer zu sagen, warum, aber Susannah und Sarah sind mit ihnen gegangen, sobald sie die Guinee erwähnten.“

Nun, natürlich hatten sie das getan. Eine Guinee war ein Vermögen für Mädchen wie Sarah und Susannah, die kaum je zwei Pence hatten, geschweige denn eine Guinee für jede von ihnen. Ein Schauer des Grauens lief Georgiana über den Rücken. Wenn diese Wüstlinge so viel boten, was erwarteten sie im Gegenzug von den Mädchen? Sarah und Susannah waren kaum mehr als Kinder, aber für eine bestimmte Art von Männern spielte es keine Rolle, wie alt die Mädchen waren.

Oder wie jung.

Bei dem Gedanken drehte sich Georgiana der Magen um. „Wohin haben die Lords sie mitgenommen, Abby? Hast du gesehen, in welche Richtung sie gegangen sind?“

„Um die Ecke zur Maiden Lane. Aber es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen, Miss Harley. Sarah und Susannah wissen, was sie tun. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Rückweg und haben die goldene Taschenuhr von einem dieser Pinkel in der Tasche.“

Die anderen Mädchen nickten. Georgiana hätte sich aus Frustration am liebsten die Haare ausgerissen. Weil sie es geschafft hatten, so lange auf der Straße zu überleben, hielten sich diese Mädchen für unbesiegbar, aber Georgiana wusste, dass die Chancen in der Tat eher schlecht waren, dass Sarah und Susannah eine Begegnung mit drei betrunkenen Schuften unbeschadet überstanden. Sie selbst hatte zu viele Jahre ihrer Kindheit auf den Londoner Straßen verbracht, um sich Illusionen über die Überlebenschancen eines Mädchens hinzugeben.

Sie war nicht so naiv, zu glauben, sie könnte jedes verwahrloste Mädchen in London retten, aber diese Mädchen gehörten ihr. Sie hatte sie selbst von der Straße aufgelesen, eine nach der anderen, so wie Lady Clifford sie vor all den Jahren von der Straße geholt hatte. Es waren ihre Mädchen, und weiß Gott, wenn sie sich nicht um sie kümmerte, würde es kein anderer tun.

„Keiner von euch setzt auch nur einen Zeh vor diese Tür. Habt ihr mich verstanden?“ Georgiana schaute von einem Mädchen zum anderen. Nach deren Gesichtsausdruck zu urteilen, musste sie in der Tat grimmig dreingeschaut haben. „Nicht ein einziger Zeh.“

Die Mädchen starrten sie mit großen Augen an und nickten. „Ja, Miss Harley.“

Georgiana wirbelte herum, lief zurück in ihr Schlafgemach, um sich etwas anzuziehen, und eilte dann die Treppe hinunter. In der Eingangshalle hielt sie inne, schnappte sich ihren Mantel und ihren Hut vom Haken und eilte dann zur Tür hinaus in die Nacht, in Richtung Covent Garden.

Es war nicht weit, etwas mehr als eine Meile, aber es war feucht und kalt, und die Straßen waren glitschig. Sie schlitterte dahin, fröstelte im eisigen Januarnebel. Flüche und Gebete kamen ihr über die Lippen.

Diese dummen, törichten Mädchen! Bitte lass sie in Sicherheit sein …

Als sie die Bedford Street erreicht hatte, ohne in eine Blutpfütze getreten oder über leblose Körper gestolpert zu sein, zwang sie sich zur Ruhe. Es war alles in Ordnung. Natürlich war es das. Die Mädchen waren ungezogen, aber sie waren nicht naiv. Sie erlebten einfach ein weiteres Abenteuer, das war alles. Gleich wäre sie bei ihnen. Sie würde sie an den Ohren zurück in die Schule schleifen, und alles würde gut werden.

Als sie in die Maiden Lane einbog, war sie schon fast davon überzeugt, dass es keinen Grund zur Sorge gab.

Doch dann hörte sie den Schrei.

Kapitel zwei

Es war die Stimme eines jungen Mädchens, die sich zu einem schrecklichen, durchdringenden Heulen erhob, als wäre das Monster aus ihrem dunkelsten Albtraum zum Leben erwacht und drohte, sie in die tiefsten Abgründe der Hölle zu ziehen.

Dieser Schrei ließ jedes Haar in Georgianas Nacken vor Angst zu Berge stehen, aber kein einziger Laut kam über ihre Lippen, als sie um die Ecke hetzte. Sie schrie nicht, keuchte nicht, weinte nicht – sie weinte gewiss nicht – und hielt auch nicht inne, um nachzudenken. Sie stürmte vorwärts, das Herz schlug ihr bis zum Hals und grausige Bilder füllten ihren Kopf, während sie rannte – ein hünenhafter Schurke, ganz in Schwarz gekleidet, der seinen Dolch an Sarahs Kehle drückte, oder seine massiven Hände um Susannahs Hals schlang und das Leben aus ihr herausquetschte, oder eine Gruppe von Räubern mit gezückten Schwertern oder …

Dies ist kein Gruselroman, um Himmels willen.

Tief atmete Georgiana die kalte Luft ein, um sich zu beruhigen, aber es war dunkel, so stockdunkel wie in einem Albtraum. Covent Garden war in Licht getaucht, aber nur wenige Strahlen reichten bis in die Maiden Lane, und sie hatte selbst erlebt, dass die Dunkelheit eine Vielzahl von Schrecken verbergen konnte.

Sie eilte die Straße hinunter, wobei ihre Halbstiefel unter ihr wegrutschten. Als sie die schattenhaften Gestalten am Ende der Gasse bemerkte, hatte sie sie schon fast erreicht. Zwei waren kleiner, so groß wie Kinder, aber die andere war groß und hatte die breiten Schultern eines Mannes.

Nein, kein Mann, sondern ein Verbrecher, ein Dämon, ein Unmensch, der sich an unschuldigen Kindern vergriff. Georgianas erster Instinkt war, auf seinen Rücken zu springen und ihre Krallen in seinen Schädel zu bohren, aber sie kam abrupt zum Stehen. Der Nebel um sie herum lichtete sich und sie blinzelte in die Dunkelheit.

Da war kein blutiger Dolch – und kein Schurke, der seine brutalen Hände um den schlanken Hals eines Kindes legte. Das hieß, da war schon ein Mann, aber er war nicht in Schwarz gekleidet. Er trug einen königsblauen Mantel, bestickt mit teuren Silberfäden. Anstelle der fleischigen, mörderischen Pranken, die sie sich vorgestellt hatte, waren seine Hände lang und elegant und sie steckten in einem Paar makelloser weißer Handschuhe.

Susannah stand mit aufgerissenen Augen neben ihm, und es sah aus, als ob … ja, tatsächlich. „Sarah! Runter von dem Schurken. Sofort.“

„Schurke?“ Die dunklen Brauen des Mannes hoben sich. „Wie darf ich das verstehen, Madam?“

„Oh, das wird Ärger geben“, zischte Susannah. „Komm da runter, Sarah, und zwar ganz schnell.“

Sarah löste ihre Arme, die um den Hals des Mannes geschlungen waren, und glitt seinen Rücken hinunter. Sie zog eine Grimasse, als sie Georgianas Gesicht sah. „Guten Abend, Miss –“

Susannah drängte sich nach vorne und unterbrach Sarah. „Sehen Sie, es ist so, Miss –“

„Kein einziges Wort von euch beiden.“ Georgiana zeigte auf die beiden, ihre Hand zitterte. „Kommt her, auf der Stelle.“

Sarah warf Susannah einen panischen Blick zu. „Ach, Miss Harley, wir haben doch nichts Falsches getan. Wir haben nur diesem Mister hier geholfen mit seinem –“

Das reicht!“ Mit jeder Hand packte Georgiana den Arm eines der Mädchen und schob sie hinter sich. Sie war wütend auf die beiden, aber diese Wut wurde von der Erleichterung darüber gemildert, sie unverletzt vorzufinden.

Die größte Wut richtete sich gegen den Schuft vor ihr. „Ich weiß sehr wohl, dass ihr von diesem … Gentleman in die Irre geführt worden seid.“ Sie fixierte ihn mit einem stechenden Blick. „Ich nehme an, Sie bezeichnen sich als Gentleman, Sir, trotz Ihres schändlichen Benehmens heute Abend?“

Jeder mit Augen im Kopf konnte sehen, dass er ein Gentleman war, ein Aristokrat. Seine elegante Kleidung, sein Auftreten, und der Duft teuren Portweins, der ihm anhaftete, verrieten ihn. Höchstwahrscheinlich war er ein Earl, oder sogar ein Marquess, denn wer sonst würde es wagen, Kinder so gefühllos zu behandeln?

Jeder Gentleman mit einem Funken Anstand hätte sich geschämt, ihr in die Augen zu sehen, aber dieser hier schien eher amüsiert.

Ein breites Grinsen umspielte seine vollen Lippen, und in seinen dunklen Augen blitzte es schelmisch, als er seinen Hut vom Kopf zog und sich spöttisch vor ihr verbeugte. „Haslemere, Madam. Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Haslemere?

Er sagte seinen Namen, als ob Georgiana ihn kennen müsste, und das tat sie tatsächlich. Jeder in London wusste, wer er war. Benedict Harcourt, der Earl of Haslemere. Was sie von ihm wusste, war nicht zu seinen Gunsten, aber er war auch nicht der verachtenswerte Schurke, den sie sich eingebildet hatte. Er trug keinen Dolch und schwang kein Schwert. Keine Banditen lauerten in den Schatten, und Sarah und Susannah schienen unversehrt.

Dennoch war er Schurke genug. Haslemere war Londons bekanntester Wüstling, berüchtigt für seine rücksichtslosen Wetten, schockierenden Skandale und eine endlose Parade schöner, wechselnder Mätressen.

Georgiana musterte ihn, von den Spitzen seiner polierten Schuhe bis zu seinem grinsenden Mund. Ihre Lippen verzogen sich voller Verachtung. Oh, er war gutaussehend, nicht wahr? Zweifellos dachte er, dass sein dichtes kastanienbraunes Haar und seine hübschen dunklen Augen sein entsetzliches Verhalten entschuldigten, aber sie war immun gegen seine Anziehungskraft.

„Sagen Sie mir, Lord Haslemere, ist es Ihre Gewohnheit, sich auf Kosten der Sicherheit kleiner Kinder zu amüsieren?“

„Sie waren nie in Gefahr, das versichere ich Ihnen. Sie fanden das alles sehr spaßig. Fragen Sie sie selbst.“ Die grinsenden Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, das zweifellos die meisten Frauen aus ihrem Mieder und in sein Bett locken konnte.

Aber Georgiana war nicht wie die meisten Frauen. „Sie fanden es sehr amüsant, ja? Vielleicht möchten Sie mir dann erklären, warum ich Sarah vier Blocks entfernt schreien hörte?“ Es war nur ein einziger Block gewesen, aber das konnte Lord Haslemere nicht wissen.

„Gewiss, Miss … Sie sind Miss Harley, nicht wahr?“ Er beugte sich zu ihr, seine Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. „Sarah hier war verärgert, weil ich unserem Wettrennen ein Ende gesetzt habe. Ihr Schrei schmolz mir fast die Haut von den Knochen. Ich wollte gerade eine letzte Runde mit ihr drehen, als Sie aufgetaucht sind und mich beschuldigt haben, ein Schurke zu sein.“

„Wettrennen.“ Georgiana hatte Gerüchte über diese berüchtigten Wettrennen gehört. Junge, wilde, aristokratische Gentlemen, die des Hazard– und Whistspielens überdrüssig waren, hatten Wetten auf Rennen angenommen, und je gefährlicher sie waren, desto besser. Man erzählte sich Geschichten von betrunkenen Verschwendern, die sich in Covent Garden Rennen lieferten, dabei Damen von zweifelhafter Tugend in den Armen hatten, Passanten umstießen und im Allgemeinen ein großes Ärgernis darstellten.

Hätte sie es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte sie es nicht geglaubt, aber weiß Gott, die Dummheit gelangweilter Adliger nahm kein Ende. Letzten Monat hatten sie darum gewettet, wie lange ein Regentropfen brauchte, um die Fensterbank bei White’s zu erreichen. Im Monat davor ging es darum, ob Lord–wer–auch–immer Mr–so–und–so auf seinem Rücken um den Serpentine tragen konnte oder nicht.

Eigentlich sollte sie nichts mehr überraschen.

Was Georgiana betraf, so konnten sich alle törichten Lords in London ihre dicken Schädel auf dem Bürgersteig einschlagen. Es kümmerte sie nicht, ob sie sich ihre Nasen brachen oder jeden Zahn in ihren Kiefern für ihre dummen Streiche opferten.

Das hieß, es kümmerte sie solange nicht, bis einer von ihnen es wagte, ihre Mädchen in seine absurden Spiele zu verwickeln. Dann kümmerte es sie in der Tat sehr. „Sie riechen, als hätten Sie in Portwein gebadet, Lord Haslemere. Glauben Sie wirklich, dass Sie in Ihrem Zustand ein Kind auf den Schultern balancieren sollten?“

„Miss Harley, ich bin geschmeichelt, dass Sie sich für meine Badegewohnheiten interessieren.“ Er zwinkerte ihr zu, seine Lippen zuckten. „In diesem Fall ging es jedoch entweder um einen weiteren Lauf oder ein geplatztes Trommelfell. Außerdem bin ich keiner, der eine junge Dame in Tränen aufgelöst zurücklässt.“

Georgiana gab sich große Mühe, ihre Fassung zu bewahren, aber Lord Haslemere brachte sie mit seinem unbekümmerten Zwinkern und unterschwelligem Kokettiergehabe an die Grenze ihrer guten Manieren. „Für Sie ist das alles nur ein kleiner Spaß, nicht wahr, Mylord? Ein weiteres Spiel, eine Unterhaltung, um sich den Abend zu vertreiben. Was wäre, wenn eines der Mädchen gefallen wäre und sich einen Knochen gebrochen hätte, oder schlimmer noch, sich den Kopf aufgeschlagen hätte? Hätten Sie es dann genauso amüsant gefunden?“

Ihre Vehemenz ließ ihn aufhorchen. „Hören Sie, Miss Harley …“

„Wir sind nicht auf seinen Schultern geritten, Miss Harley.“ Susannah und Sarah hatten bis jetzt geschwiegen, ihre neugierigen Blicke waren von Georgiana zu Lord Haslemere und wieder zurück gewandert, aber jetzt meldete sich Susannah zu Wort. „Die anderen Pinkel wollten es, aber dieser hier sagte, es sei keine gute Idee.“

„Die anderen?“ Ja, genau. Georgiana hatte vergessen, dass Abby gesagt hatte, dass es drei Herren gewesen waren.

„Nun, natürlich.“ Lord Haslemere gluckste. „Dachten Sie etwa, ich würde Rennen gegen mich selbst laufen? Wirklich, Miss Harley, wo wäre da der Spaß?“

Georgiana ballte die Hände zu Fäusten, um sich davon abzuhalten, ihn zu ohrfeigen.

„Sie waren zu dritt.“ Sarahs Tonfall war eifrig, als dächte sie, dass zwei weitere Schwerenöter ihrer Sache dienlich wären. „Einer hieß Harry irgendwas – er war das andere Pferd, und Susannah sein Jockey –, und dann der andere Herr, Perry irgendwas, der den Hut mit den Münzen hielt.“

Ah ja, die berüchtigten Guineen. „Gebt Lord Haslemere sein Geld zurück.“

Keines ihrer Mädchen würde einem skandalumwitterten Earl etwas schuldig bleiben.

Susannah und Sarah machten einen hastigen Schritt zurück und versteckten die Hände – die zweifellos mit Guineen gefüllt waren – hinter ihrem Rücken.

„Ich will sie nicht zurück.“ Ein Hauch von Ungeduld hatte sich in Lord Haslemeres Stimme geschlichen. „Die Mädchen haben sie verdient und sollten sie behalten dürfen.“

Georgiana ignorierte ihn. „Sofort, Mädchen.“

Sarah und Susannah zögerten, ihren Reichtum aufzugeben, aber sie waren lange genug an der Clifford School, um zu wissen, dass ein Streit mit Miss Harley keine gute Idee war. Susannah gab ihre Guineen zurück, aber Georgiana war gezwungen, Sarahs Finger aufzubiegen und ihr die Münzen abzunehmen. „Hier, bitte sehr, Mylord. Ich glaube, damit ist unser Geschäft abgeschlossen.“

Sie hielt ihm die Münzen hin, aber statt sie zu nehmen, verschränkte er die Arme vor der Brust. „Das ist absurd, Miss Harley. Geben Sie den Mädchen ihre Münzen zurück.“

Georgianas Augen verengten sich. „Wollen Sie mir widersprechen, Lord Haslemere?“

„Meine Güte“, hauchte Sarah. „Er hat es gerade getan.“

„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, den Mädchen ihre Belohnung zu lassen, das ist alles.“ Nachlässig zuckte Lord Haslemere mit den Schultern.

„Das überrascht mich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass Sie nicht die Angewohnheit haben, über Konsequenzen nachzudenken.“ Warum sollte er auch? Für Gentlemen wie ihn gab es keine Konsequenzen. „Erlauben Sie mir, es Ihnen zu erklären. Sarah und Susannah sollten eigentlich in ihren Betten liegen. Stattdessen haben sie sich nachts nach Covent Garden geschlichen, haben die Regeln missachtet und sich selbst in Gefahr gebracht, und Sie schlagen vor, dass ich sie dafür belohne?“

Lord Haslemere kratzte sich an der Schläfe und zog eine Grimasse. „Jetzt, wo Sie es so ausdrücken, scheint es nicht mehr ganz richtig zu sein. Ich dachte nicht …“

„Nein, Sie dachten nicht. Und das ist keine Seltenheit, würde ich meinen.“ Schwungvoll ließ Georgiana die Guineas in die Tasche seines Mantels fallen. „Ich wage zu behaupten, dass Sie im Allgemeinen nicht viel denken müssen. Gute Nacht, Mylord. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.“

Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern nahm die Mädchen an die Hand und machte auf dem Absatz kehrt. Sie hatte vor, ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zurück davonzugehen, aber seine tiefe, amüsierte Stimme hielt sie auf.

„Was sind Sie doch für eine Lügnerin, Miss Harley. Wir beide wissen, dass Sie mich direkt zum Teufel wünschen.“

***

Großer Gott, die Frau hatte eine scharfe Zunge. Benedict hatte schon Sarahs Schreie unerträglich gefunden, aber das war nichts im Vergleich zu der Schimpftirade, die gerade über Miss Harleys Lippen gekommen war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so gründlich in die Schranken gewiesen worden zu sein.

Es war seltsam erfrischend, ja … konnte er es sogar als erregend bezeichnen?

Wenn man bedachte, wie wenige Damen sich dieser Tage die Mühe machten, ihn zu schimpfen, dann war dies eine neue Erfahrung für ihn, und diese Miss Harley war großartig im Schimpfen.

Er hatte schon immer eine Schwäche für Damen mit einer scharfen Zunge gehabt, und ihr Mundwerk war scharf wie Ingwertee, jedoch ohne Zucker.

„Sind Sie die Gouvernante der Mädchen?“ Sie hatte etwas Gouvernantenhaftes an sich, das Benedict an Miss Vexington erinnerte, die jahrelang die Gouvernante seiner Schwester Jane gewesen war.

Der Name war etwas unglücklich für eine Gouvernante, aber er hatte Miss Vexington immer gemocht. Sie war eine anständige Dame, wenn auch ein wenig steif.

Miss Harley drehte sich wieder zu ihm um und presste ihre Lippen zu einer festen, abweisende Linie zusammen. „Sie würden das denken.“

Benedict blinzelte verblüfft. Er hatte die Frage nicht als Beleidigung gemeint, aber die Federn ihres Hutes zuckten wie die eines empörten Stachelschweins. „Ich würde? Was soll das heißen?“

„Lassen wir das.“ Mit einem kleinen Kopfschütteln wandte sie sich ab. „Es spielt keine Rolle. Kommt, Mädchen.“

„Warten Sie, Miss Harley. Was ist so schlimm an Gouvernanten?“ Benedict scherte sich keinen Deut um irgendwelche Gouvernanten, aber er wollte sie noch nicht gehen lassen.

Sie warf ihm einen Blick über ihre Schulter zu. „Überhaupt nichts. Der Fehler liegt nicht bei den Gouvernanten.“

Benedict tat sein Bestes, um beleidigt auszusehen. „Sie wollen sagen, dass die Schuld bei mir liegt? Sie können nicht einfach in die Dunkelheit verschwinden, nachdem Sie mich so bösartig verleumdet haben, Madam. Ich verlange zu wissen, was Sie meinen.“

„Nun gut, Lord Haslemere, wenn Sie darauf bestehen.“ Vor Wut schnaubend ließ Miss Harley die Mädchen los und drehte sich zu ihm um. „Sie scheinen mir ein Gentleman zu sein, der in jeder Dame entweder eine potentielle Mätresse oder eine Gouvernante sieht …“

„Das ist absurd, Miss Harley. Manchmal sind sie Hausmädchen, oder Kindermädchen.“ Benedict erwartete einen weiteren Hieb dieser scharfen Zunge, aber das einzige Geräusch, das von ihr kam, war ein Schnalzen mit der Zunge.

„Die Damen, die bei Ihnen keine amourösen Neigungen anregen, sind wohl …“

„Meine amourösen Neigungen?“ Benedict unterdrückte ein Lachen. „Ist das das Gleiche wie meine …“

„Die Damen, die bei Ihnen keine amourösen Neigungen anregen“, wiederholte sie hartnäckig, „müssen zwangsläufig Gouvernanten sein.“

Er neigte den Kopf zur Seite und musterte sie. Sie war weder elegant noch war sie eine konventionelle Schönheit, aber dennoch hatte sie etwas Verlockendes an sich. Vielleicht lag es daran, dass sie so zugeknöpft war, so beherrscht. Der Drang, sie zu aus der Reserve zu locken – ihre Haarnadeln zu lösen und ihre Knöpfe zu öffnen –, machte ihn ganz verrückt.

Und wie bei den meisten Versuchungen gab Benedict ihr nach. „Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie nicht zu meiner Geliebten machen will?“

Ihr blieb der Mund offen stehen. „Ich … das ist nicht … ich habe nie …“

Benedict konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während sie stammelte und stotterte und ihre Wangen sich knallrot färbten. Oh, sie war verärgert, aber dieses Erröten war köstlich.

Ich glaube, meine amourösen Neigungen sind geweckt worden.

Niemand war darüber mehr überrascht als er selbst. Sie entsprach ganz und gar nicht seinem Stil.

Mit ihrem aus dem Gesicht gekämmten Haar und dem lächerlichen Mantel, der bis zum Kinn zugeknöpft war, sah sie aus wie ein geschorenes Schaf, aber die wenigen Haarsträhnen, die sich unter ihrem Hut gelöst hatten, waren von einem hübschen Kastanienbraun, und sie hatte ein ablenkendes Paar dunkel umrandeter … brauner Augen? Waren sie braun oder grün? Er blinzelte sie an und versuchte, sich zu entscheiden.

Ja, braun war gut. Auf jeden Fall waren sie eher das als grün.

Sie bemerkte, dass er sie musterte, und verzog das Gesicht zu einem finsteren Blick. „Nehmen Sie je irgendetwas ernst, Lord Haslemere?“

Das Grinsen auf Benedicts Lippen wurde breiter. „Nicht, wenn ich es verhindern kann. Nehmen Sie alles zu ernst, Miss Harley?“

Ihr Kinn hob sich. „Um Himmels willen, warum sollte es Sie interessieren, ob ich die Gouvernante der Mädchen bin oder nicht?“

„Natürlich interessiert es mich. Was wäre ich für ein Gentleman, wenn ich diese kleinen Mädchen mit einer Fremden in die Nacht entschwinden lassen würde?“

„Oh, Miss Harley ist keine Fremde, sie ist eine unserer Lehrerinnen auf der Cliff–“

„Schon gut, Sarah.“ Miss Harley schnappte sich wieder die Hände der Mädchen, und marschierte, ohne Benedict noch einmal anzusehen, den Hügel hinauf in Richtung Henrietta Street.

„Warten Sie!“ Benedict lief hinter ihnen her. „Es ist schon spät. Erlauben Sie mir, Sie in meiner Kutsche nach Hause zu bringen?“

„Nein, danke. Das wird nicht nötig sein.“

„Kommen Sie, Miss Harley. Es gibt keinen Grund, so wählerisch zu sein. Es sieht so aus, als finge es wieder an zu regnen.“ Benedict war sich nicht sicher, warum er sie nicht einfach mit ihren Schützlingen davonschreiten ließ, und die Sache somit beendete. Die in ihm schlummernden Instinkte eines Gentlemans schienen sich jedoch durchzusetzen. Zweifelsohne war ihr Erröten der Grund für diese lästige Galanterie.

„Können wir, bitte?“ Sarah zupfte an einer Falte von Miss Harleys Röcken. „Er hat sicherlich eine schöne Kutsche, wo er doch ein Lord ist und so.“

„Das habe ich, eine sehr schöne sogar, und auch ein prächtiges, passendes Paar Pferde. Wenn Ihnen das Wohl der Kinder wirklich am Herzen liegt, Miss Harley, werden Sie ihre Sicherheit doch nicht in den dunklen, verruchten Straßen Londons riskieren.“

Aber Miss Harley ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich versichere Ihnen, Lord Haslemere, die Gefahren der Londoner Straßen sind diesen beiden Mädchen nicht fremd. Ich wage zu behaupten, sie haben in ihrem kurzen Leben mehr Zeit auf ihnen verbracht als Sie.“

Das stimmte. Er hatte nur eine Nacht auf den Londoner Straßen verbracht, und das auch nur, weil sein Kutscher ihn aus den Augen verloren hatte und Benedict zu betrunken gewesen war, seine Kutsche selbst zu finden. Er war, leider, genau der Wüstling, für den Miss Harley ihn hielt, aber ein Mann sollte das tun, was er am besten konnte. Benedict zeichnete sich dadurch aus, dass er andere unterhielt und sich selbst amüsierte. Ansonsten war er ziemlich nutzlos. „Nun gut, aber lassen Sie mich den Mädchen zum Abschied wenigstens die Hand geben, Miss Harley.“

Miss Harley sah aus, als wolle sie sich weigern, aber Benedict winkte den Mädchen bereits zu, und sie rissen sich von Miss Harley los. Als sie auf ihn zustürmten, steckte er seine Hand in die Tasche und holte die Münzen heraus, dann kniete er sich auf das Kopfsteinpflaster, streckte seine behandschuhte Hand aus. Mit einem feierlichen Nicken schüttelte er die Hände der Mädchen und drückte die Guineen zurück in ihre Handflächen. „Miss Sarah, Sie sind ein großartiger Jockey, und Sie Miss Susannah, sind eine harte Konkurrentin.“

Die Augen der Mädchen weiteten sich, als sie die Münzen spürten, aber er schüttelte leicht den Kopf und entließ sie dann mit einem Zwinkern.

„Kommt, Sarah und Susannah. Eure Freundinnen werden sich fragen, wo ihr seid.“

Miss Harley nahm wieder die Hände der Mädchen. Diesmal versuchte Benedict nicht, sie aufzuhalten, sondern stand auf der feuchten Straße und sah zu, wie die Dunkelheit Miss Harley und ihre beiden Schützlinge verschlang.