Leseprobe Wie entkommt man einem Viscount?

Kapitel 1

Bloomsbury, London

April 1877

Simon Marlton, der Viscount Adler, streckte sich neben seiner Mätresse im Bett aus. Mit einem koketten Lächeln breitete Vivian ihr fuchsrotes Haar auf der weißen Seidenbettdecke aus und wölbte den Rücken, um seine Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu lenken, der sich unter ihrem hauchdünnen Morgenrock deutlich abzeichnete.

Diese Bewegung hätte ihn erregen sollen. Doch sie tat es nicht. Er wusste, was als nächstes kam.

„Was sollen wir heute Abend spielen?“, fragte Vivian, während sie einen Finger über seine nackte Brust bis zu seinem Hosenbund gleiten ließ. „Romeo und Julia oder Antonius und Cleopatra? Wir könnten auch sündhaft werden und eine Adaption von The Vampire spielen. Du könntest der blutrünstige Lord sein und ich die arme Milchmagd, die du im Wald verführst.“

Simon biss die Zähne zusammen. Er bereute zutiefst, eine Schauspielerin als Mätresse erwählt zu haben, insbesondere eine, die gerade keine Auftritte hatte. Er hätte eine Tänzerin wählen sollen, eine gelenkige Frau, die nicht das Bedürfnis hat, bei jeder sexuellen Begegnung Regie zu führen oder sie bis zum Abwinken mit Handlung zu versehen. Und die erst recht nicht während des Höhepunkts Zugabe! Zugabe! schrie.

Noch eine Nacht mit Vivian und er würde als nächstes Cassius spielen und sich in sein Schwert stürzen. „Wann fangen die Proben für dein neues Stück im Lyceum an?“

Sie wickelte sich eine Locke um den Finger und zog einen Schmollmund. „Sir Henry möchte Hamlet aufführen. Das Stück hat nur wenige weibliche Rollen, doch ich würde eine herausragende Ophelia abgeben.“ Sie richtete sich auf und warf in einer dramatischen Bewegung die Arme zur Seite. „‚Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört …‘“

„Wann ist die Premiere?“, fragte er.

„Erst in einigen Monaten. Ich werde mich zu Tode langweilen.“ Sie legte die Hand theatralisch an die Stirn und ließ sich in die Kissen sinken.

Gütiger Gott, mehrere Monate. Simon unterdrückte ein Stöhnen.

Vivian stützte sich auf einen Ellenbogen und nahm sich ihr Rotweinglas vom Nachttisch. „Warum lädst du nicht ein paar Gäste auf deinen Landsitz ein? Wir könnten ein Stück aufführen.“

Er würde lieber Schweinefraß essen. Wie dumm, zu glauben, die Gesellschaft einer Schauspielerin könnte die Unzufriedenheit abwenden, die ihn in jüngster Zeit plagte. Vielleicht würde eine kurze Pause von Vivian sie wieder in ein besseres Licht rücken.

„Wie wäre es mit einem Urlaub in Paris?“, fragte er.

Sie setzte sich so abrupt auf, dass sie ihren Wein verschüttete. Rote Tropfen funkelten auf der makellosen Bettdecke. Sie tupfte mit dem Saum ihres durchscheinenden Gewandes darüber, schmierte das Rot aber nur tiefer in den Stoff. „Wie schön! Wann brechen wir auf?“

Wir? Bei Gott, nein. Er würde sich aus dem Staub machen, sobald sie Land sahen. „Ich habe in der Stadt noch Geschäfte zu erledigen.“

„Ich kann warten, damit wir die Reise nach Frankreich zusammen genießen können. Auf dem Schiff könntest du Blackbeard spielen und ich die Adlige, die du entführt hast.“
Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. „Nein.“

„Redbeard?“

„Es muss ein Schiff geben, das morgen von Dover aus in See sticht“, sagte er und ignorierte ihren Vorschlag.

„Morgen?“ Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren schmalen Augenbrauen.

„Ja, und wenn du dort bist, könntest du einkaufen gehen. Diesen Charles Worth besuchen, von dem alle reden. Dir ein paar Kleider kaufen.“

Ihre haselnussbraunen Augen wurden groß. „Kleider?“

„Ja. Meine Kutsche wird dich gleich morgen früh zur Victoria Station bringen.“

***

Emma Trafford klopfte leise an die Tür zum Schlafgemach ihrer Schwester und öffnete sie langsam. Eine einzelne Kerze auf dem Nachttisch warf Licht in den dunklen Raum. Lily stand in einem weißen Nachthemd aus Baumwolle am Fenster. Das blonde Haar und der schlanke Körper der Zwölfjährigen wurden vom Mondlicht angestrahlt.

„Lily?“, flüsterte Emma.

Mit einem Keuchen wirbelte Lily herum und versteckte ein Opernglas hinter dem Rücken.

Na so ein kleiner Wildfang! Wenn diese Klatschbase von der anderen Straßenseite bemerkte, dass Lily ihr hinterherspionierte, würde noch vor Tagesanbruch ganz Bloomsbury davon erfahren.

„Beobachtest du Mrs. Jenkins?“

„Sicher nicht. Man würde vor Langeweile vergehen, wenn man ihr den ganzen Tag beim Schlummern zusehen müsste.“

Emma ließ sämtliche Luft aus ihrer Lunge und blickte zum Fenster hinaus. Am Londoner Himmel fehlte der immerwährende Nebel. Vielleicht hatte Lily ihren Verstand intellektuelleren Zwecken gewidmet. „Hast du die Sterne beobachtet?“

„Oh … ja, genau, die Sterne.“ Lily kaute auf ihrer Unterlippe herum.

Eines Tages, wenn sie alt und grau wären, würde Emma ihrer Schwester verraten, dass sie sich beim Lügen stets auf die Unterlippe biss. „Nein, es waren nicht die Sterne. Jetzt sag die Wahrheit.“

Lily trat von einem nackten Fuß auf den anderen. Selbst in dem schwachen Licht konnte Emma die beiden roten Flecken auf den Porzellanwangen ihrer Schwester sehen. „Ich beobachte die Frau, die vor Kurzem in das Haus neben Mrs. Jenkins gezogen ist. Bist du ihr schon begegnet? Sie scheint in deinem Alter zu sein, vielleicht ein wenig älter. Sie trägt mit Federn besetzte Hüte und Kleider mit riesigen Turnüren. Spätabends fährt eine edle Kutsche vor und ein überaus großer Gentleman betritt das Haus.“

„Du hast ihnen nachspioniert?“ Emma bemühte sich darum, dass ihre Stimme keinen schrillen Ton annahm.

„Nun ja, heute Abend haben sie ihre Fensterläden nicht geschlossen, und ich war sehr neugierig.“

Emma keuchte. „Lily, das ist skandalös.“

„Ha! Wenn du mich für skandalös hältst, solltest du die beiden sehen. Willst du wissen, was sie tragen, wenn sie ins Bett gehen?“

Emma wollte es wissen, doch ehe sie lügen und nein sagen konnte, plapperte ihre Schwester weiter: „Die Frau trägt ein Nachthemd, das kaum ihren Busen verdeckt. Und der Mann, nun, er trägt nur seine Unterhose.“ Empörung und Nervenkitzel schwangen in Lilys Stimme mit.

„Du liebe Güte.“ Emma eilte zu ihrer Schwester und streckte die Hand aus. „Lillian Marie Trafford, gib mir dieses Opernglas. Sofort!“

Lily schob die Unterlippe vor und reichte ihr das Opernglas. „Ähm, der Mann hat Arme wie Tizians Mars. Und er hat den größten …“

Emma legte ihrer Schwester rasch eine Hand auf den Mund. Sie wusste nicht, was Lily hatte sagen wollen, doch das Kind verbrachte zu viel Zeit in der Leihbücherei, wo sie Bücher über Renaissancemalerei betrachtete, und Emma befürchtete, dass es nicht die Liebe zur Kunst war, die Lilys Interesse geweckt hatte.

„Kein Wort mehr.“ Emma nahm ihre Hand weg.

„Aber er sieht ganz anders aus als der alte Mr. Peabody bei Mrs. Greens Weihnachtsparty, wo er zu viel Punsch getrunken und Hemd und Hose ausgezogen hat.“ Lili lehnte sich näher und sprach mit gedämpfter Stimme: „Er sieht eher so aus wie die nackten Männer in den Deckengemälden der Sixtinischen Kapelle. Aber größer. Kräftiger.“

Du liebe Güte. Emma drängte die schlüpfrigen Bilder zurück, die sich in ihre Fantasie drängten.

„Wenn du mir nicht glaubst, schau doch selbst.“ Lily deutete mit strahlenden Augen zum Fenster.

Die Verlockung, sich den verruchten Taten ihrer Schwester anzuschließen, nagte an Emma. Sie hatte noch nie einen Mann nur in Unterhosen gesehen. Nun, abgesehen von Mr. Peabody, doch seine verdorrte Anatomie und die spindeldürren Beine hatten sie nicht im Geringsten beeindruckt. Und das eine Mal, als sie intim gewesen war … das war ein Debakel gewesen, an das sie sich nicht erinnern wollte. Sie legte das Opernglas auf einen Tisch und zog den Vorhang zu.

„Ab unter die Decke und versprich mir, nicht wieder die Nachbarn auszuspionieren. Ganz besonders nicht diese Nachbarn.“

Lily krabbelte mit einem mürrischen Gesichtsausdruck unter die Bettdecke und verschränkte die Arme vor der Brust. „Versprochen.“

Emma drückte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange. „Jetzt schlaf gut, meine Süße, und blas die Kerze aus, sobald ich die Tür zugemacht habe.“

Emma betrat ihr eigenes Schlafgemach, direkt auf der anderen Seite des zentralen Flurs, und ging zu ihrem Fenster. Die Ringe ratterten an der Vorhangstange entlang, als sie den Stoff zuzog. Doch sie konnte nicht widerstehen, teilte den Stoff einen Spaltbreit und spähte hinaus. Die Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite strahlten wie Freudenfeuer in der dunklen Nacht. Ihren Nachbarinnen und Nachbarn fehlte es offensichtlich nicht an Geld.

Sie trat vom Fenster zurück. Nachdem sie ihr weißes Baumwollnachthemd angezogen hatte, schlüpfte sie mit einer gebundenen Ausgabe von Tennysons Gedichten unter die Bettdecke.

Eine halbe Stunde später starrte Emma auf eine Seite, ohne zu lesen. Sie bezweifelte, dass der Mann von gegenüber Michelangelos Akten ähnelte. Solche Männer gab es nur in der Vorstellung eines Künstlers. Sie legte ihre Lektüre beiseite, drehte den Docht an der Lampe auf dem Nachttisch herunter und hüllte den Raum damit in Dunkelheit.

Wumm! Die Tür zu ihrem Schlafgemach flog auf und knallte gegen die Wand.

„Em!“ Lilys verzweifelte Stimme schnitt durch die Dunkelheit wie ein Donnerschlag.

Mit pochendem Herzen schoss Emma in die Höhe. „Was ist los?“

Lily eilte ihr entgegen, ihr blasses Gesicht wurde von der Kerze in ihrer Hand erleuchtet. „Du musst einen Constable rufen.“

„Was ist passiert?“ Emma schlug ihre Bettdecke zurück.

Ihre Schwester fuchtelte mit der freien Hand in der Luft herum. „Der Mann. Ich … ich glaube, er hat die Frau getötet. Er hat ihr den dünnen Stoff vom Körper gerissen, ist unter die Bettdecke geschlüpft und auf sie gestiegen. Ihr Kopf wurde vor und zurück gerissen, während er … Oh, es war entsetzlich. Und als er fertig war, lag sie bloß noch bewegungslos da, mit geschlossenen Augen und einem seltsamen Ausdruck auf dem reglosen Gesicht. Sie ist tot!

Mehr als einmal hatte Emma über die Vereinigung von Mann und Frau nachgedacht – und es mit dem verglichen, was sie kannte. Nach ihrer einzigen eigenen Erfahrung war sie wund, beschämt und ruiniert gewesen. Doch sie hatte sich gelegentlich vorgestellt, dass ein Ehemann im Dunkeln sanft seiner Frau die Kleider auszog. Oder wenn sie kühn waren, im Licht einer einzelnen Kerze. Sie hatte sich nie ausgemalt, dass alle Lichter brennen blieben. Vielleicht reichte ihre Fantasie dafür nicht aus.

„Em!“

Lilys Stimme riss sie aus ihren erhitzten Gedanken. „Lily, du hast mir versprochen, dass du sie nicht mehr beobachten würdest.“

„Ich weiß, aber …“

Emma rutschte auf die andere Seite der Matratze und hob die Decke an. „Komm ins Bett.“

Der Mund ihrer Schwester blieb offenstehen. „Wirst du keinen Constable rufen?“

Sie seufzte. „Liebes, manchmal praktiziert ein verheiratetes Paar im Schlafgemach Dinge, die ein zwölfjähriges Mädchen nicht mitansehen sollte. Sie … sie spielen Spiele.“

„Das war kein Spiel! Blindekuh oder das Fragespiel, das wären Spiele. Das war Verderbtheit. Mord. So wie die Morde, die Inspector Percival Whitley aufklärt.“

Lily hatte eine lebhafte Fantasie und diese Groschenromane über Inspector Whitley vom Scotland Yard waren auch keine Hilfe. „Komm ins Bett“, wiederholte Emma. „Ich bin mir sicher, dass es nur ein Spiel war.“

Nachdem sie ihre Kerze auf den Nachttisch gestellt hatte, krabbelte Lily zu ihr. „Wenn das die Art Unterhaltung ist, die Eheleute genießen, werde ich eine alte Jungfer.“ Lily packte unter der Bettdecke Emmas Hand. „Ist das der Grund, warum du Charles nicht geheiratet hast? Weil du wusstest, dass du dann solch sündhaftes Verhalten an den Tag legen müsstest?“

Emmas Brust schnürte sich zu, während sie von Schamgefühlen überwältigt wurde. Charles hatte vor drei Jahren um ihre Hand angehalten, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, eine Woche nach dem Tod ihres Vaters. Sie hatte sich von Charles einreden lassen, dass sie nicht auf das Ehegelübde warten müssten, um sich zu vereinigen. Er hatte ihr seine Liebe gestanden und gesagt, dass er nicht mehr warten könne. Dass ihn der Wahnsinn überkommen würde, wenn er nicht bei ihr liegen dürfe.

Drei Tage darauf hatte er sie besucht und ihr erzählt, dass sein Vater der Eheschließung nicht zustimmen würde. Sie war töricht gewesen, weil sie geglaubt hatte, dass der Sohn eines Barons unter seinem Stand heiraten würde, insbesondere eine Portraitmalerin ohne Vermögen.

„Wir haben gemerkt, dass wir nicht zueinander passen“, sagte Emma und schob das schlechte Gewissen ob ihres leichtsinnigen Verhaltens beiseite.

„Ich bin froh.“ Lily kuschelte sich näher an sie. „Ich fände es furchtbar, wenn du gezwungen wärst, solche liederlichen Spiele zu spielen.“

Charles hatte im vergangenen Jahr geheiratet, die Tochter eines Earls, und seine Frau war jetzt hochschwanger. Emma wischte sich die Feuchtigkeit aus dem Augenwinkel. Wie albern, darüber Tränen zu vergießen. Sie brauchte Charles nicht, und auch keinen anderen Mann. Wenn sie genug Portraits verkaufte, konnte sie sich und ihre beiden Geschwister bestens versorgen.

Emma zwang sich zu einem Lächeln, legte die Decke über die schmalen Schultern ihrer Schwester und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Liebes.“

***

Das frühe Sonnenlicht fiel durch die Fenster des Tageswohnzimmers und erhellte die ausgeblichenen, blauen Wände. Emma saß an ihrem Sekretär und ging die Rechnungen durch, die vor ihr lagen. Sobald Mrs. Naples’ Portrait fertig war, hätte sie beinahe das gesamte Schulgeld für Michaels Internat zusammen, und genug, um den Kohlenhändler zu bezahlen. Auch wenn es noch nicht genug war, um Mrs. Flynn zurückzuzahlen, was sie ihr schuldete. Die Haushälterin arbeitete weiter für sie, obwohl Emma ihr schon seit Monaten nicht mehr den vollen Lohn gezahlt hatte. So ruppig sie auch sein konnte, Mrs. Flynn hatte ein weiches Herz und mütterliche Gefühle für sie.

Die Flügeltür flog auf und Lily kam so dramatisch wie in der vergangenen Nacht hereingestürmt.

„Ich sagte dir doch, dass der Mann die Frau mit dem fuchsroten Haar ermordet hat!“ Lily packte Emmas Hand und zog sie quer durch den Raum.

„Ich will kein Wort mehr von Mord hören.“ Emma stemmte die Hacken in den abgewetzten Teppich.

Ihre Schwester stampfte mit dem Fuß auf und deutete zum Fenster. „Sieh doch selbst.“

Die Kopfschmerzen, die Emma beim Durchgehen der Rechnungen befallen hatten, wurden stärker. Sie presste die Finger an die Schläfen. „Ich bestehe darauf, dass du mit dem Spionieren aufhörst.“

„Aber Inspector Whitley sagt, dass man gründlich nach Indizien suchen muss, da sie stets den Täter enthüllen werden.“

Emma versuchte, bei der Erwähnung des fiktiven Inspektors nicht mit den Augen zu rollen. Sie legte eine Hand auf den Fenstersims und sah nach draußen. Auf der anderen Straßenseite hievten zwei stämmige Männer eine schwere Truhe auf einen Wagen. „Was soll ich mir da ansehen?“

Lily stöhnte. „Verstehst du es nicht? Die Leiche der Frau ist in der Truhe verstaut.“

„Das weißt du doch gar nicht.“
„Was soll es sonst sein?“

„Vielleicht entrümpeln sie bloß den Dachboden.“

Ein großer Gentleman mit breiten Schultern trat aus dem Haus. Er war makellos gekleidet, in einen marineblauen Gehrock und mit Zylinder.

„Das ist er!“ Lily klammerte sich so fest an Emmas Arm, dass ihre Finger Abdrücke hinterlassen würden.

Der Mann hob seinen Hut an und fuhr sich mit den Fingern durch sein glänzendes, schwarzes Haar.

Lilys warmer Atem strich über Emmas Nacken. „Kriminelle sehen immer düster und gefährlich aus. Und wenn er nicht geradewegs heimtückisch wirkt, wüsste ich nicht, wie man ihn sonst beschreiben sollte.“

Emma schluckte. Sie würde ihn attraktiv nennen. Das perfekte Modell für ein Gemälde. Sein Gesicht hatte klare Kanten. Sein Kiefer war stark und straff. Seine Nase wie gemeißelt. Er erinnerte sie an einen Panther, den sie mal im Regent’s Zoo gesehen hatte. Beeindruckend, doch wenn man töricht genug war, um die Hand auszustrecken und sein Fell zu streicheln, würde man garantiert einen Arm verlieren.

Ihr Blick wanderte von seinen breiten Schultern zu der Truhe. Sie war durchaus groß genug, um die Leiche einer Frau zu fassen.

So ein Mist! Sie ließ zu, dass Lilys Fantasie in ihrem eigenen Verstand wütete. „Ich werde keine Anschuldigungen gegen ihn erheben.“ Er sah nicht nur gefährlich aus, sondern auch reich – ein Mann, der finanziell dazu in der Lage war, sie zu ruinieren, wenn sie ihn verunglimpften. „Du hast keine Beweise.“

„Beweise? Ich habe dir gesagt, was ich vergangene Nacht gesehen habe. Und jetzt die Truhe. Was willst du noch?“

„Und ich habe dir gesagt …“

„Ja, ja, ein Spiel. Papperlapapp.“

Der Kutscher rief den Pferden etwas zu, was die Aufmerksamkeit der beiden wieder zum Fenster lenkte. Jetzt stand auch noch eine geschlossene Kutsche mit gelben Rädern vor dem Haus.

„Siehst du“, sagte Emma und deutete auf das ausgefallene Gefährt. „Die Frau sitzt bestimmt da drin.“

Lily kaute auf dem Nagel ihres Zeigefingers herum. „Wenn du dich nicht mit mir gestritten hättest, hätte ich vielleicht auch etwas gesehen. Ich gehe raus und schaue mir den Wagen an.“

Emma nahm ihre Schwester bei der Hand. „Das wirst du nicht tun. Außerdem ist er schon losgefahren.“

Lily riss sich los und presste die Nase ans Glas. „Verflixt. Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich werde es dir beweisen.“

Kapitel 2

Emma tauchte den Pinsel in das Coelinblau auf ihrer Palette und tupfte die Farbe vorsichtig auf die Leinwand. Sie trat zurück und betrachtete ihre Arbeit. Das Portrait von Mrs. Naples und ihrem Hund Alfred bedurfte noch einiger Pinselstriche. Ein paar Tupfer Weiß für Lichteffekte, einen Hauch Grau für die Schatten, dann wäre das Gemälde vollendet.

Zum Glück mussten die Witwe und ihr Mops nicht länger für Emma Modell sitzen. Mrs. Naples hielt Alfred für die Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemannes. Emma hoffte sehr, dass Mr. Naples bessere Manieren als sein Namensvetter aufgewiesen hatte, der das schwülstigste Untier war, das Emma je hatte kennenlernen müssen.

Zwölf Schläge der großen Standuhr auf dem Treppenabsatz im ersten Stock hallten durch das Haus. Emma unterdrückte ein Gähnen und rieb sich mit dem Handrücken über die schweren Lider.

Mitternacht.

Es war gewiss nicht schlau, weiter zu malen, während die Müdigkeit wie bleierne Gewichte an ihren Gliedern zog und die Paraffinlampen heruntergebrannt waren. Sie legte den Pinsel auf der Palette ab und nahm sich einen mit Terpentin getränkten Lappen, um die Farbe von ihren Geräten und Fingern abzuwischen. Der harzige Geruch des Lösungsmittels erfüllte ihre Nase. Morgen würde sie das Gemälde fertigstellen und bald hatte sie dann den Großteil von Michaels Schulgeld in der Hand. Sie legte den Lappen in seine Schale und blickte aus dem Fenster. Silbriges Mondlicht erhellte den weißen Stein des Hauses auf der anderen Straßenseite. Das Gebäude hatte den ganzen Tag wie verlassen gewirkt. Die Bediensteten waren alle verschwunden, wie auch ihre Herrin. Eine Bewegung zog Emmas Aufmerksamkeit auf sich. Sie legte die Hände ans Glas und beobachtete eine schmale Gestalt, die über die Straße flitzte.

Lily!

Emma sog Luft ein. Das Minzbonbon, das sich langsam in ihrem Mund aufgelöst hatte, rauschte ihre Kehle hinunter. Mit einem Husten und einem wenig damenhaften Fluch hob sie den Riegel des Fensters an. Als sie das Fenster öffnete, hatte ihre Schwester bereits das schmiedeeiserne Tor vor der dunklen Residenz erreicht und verschwand die Dienstbotentreppe hinab.

Warum hatte sie Lily gesagt, sie habe nicht genug Beweise? Sie hätte wissen müssen, dass sich das Kind irgendeinen närrischen Plan ausdenken würde, um herumzuschnüffeln.

Emma rannte aus dem Zimmer und wischte sich die Hände an dem weiten, weißen Hemd und der grauen Wollhose ab, die sie immer trug, wenn sie zum Malen allein war. Kleidungsstücke, aus denen ihr Bruder herausgewachsen war.

Sie eilte die Treppe hinunter. An der Haustür schnappte Emma sich Michaels Strickmütze vom Kleiderständer und zog sie über ihren Haarknoten. Sie öffnete die Tür, warf einen Blick nach draußen und betrachtete die benachbarten Häuser. Mrs. Jenkins dürfte zum Glück längst schlafen. Die Klatschbase würde sich schreckliche Geschichten ausdenken, wenn sie Lily oder Emma zu dieser unchristlichen Stunde herumstreifen sah; besonders in der Männerkleidung, die Emma gerade trug.

Während sie über die Straße huschte, erhoben sich Nebelfetzen vom feuchten Bürgersteig und wirbelten um ihre Knöchel. Eine Vorahnung strich ihr wie ein eisiger Finger über die Wirbelsäule. Sie legte die Hand auf das eiserne Tor und öffnete es. Die Scharniere quietschten gespenstisch. Sie stieg die Stufen hinunter und erwartete, ihre Schwester zu sehen, die sich die Nase am Fenster plattdrückte, doch das Licht der Straßenlaterne fiel auf ein offenstehendes Fenster und eine Kiste, die davorgeschoben worden war.

Das geht viel zu weit, selbst für Lily. Wenn sie ihre Schwester zu fassen bekam, würde sie sie am Ohr nach Hause zurückschleifen. Und dann würde es ihr übermäßige Freude bereiten, jedes einzelne Inspector-Percival-Whitley-Buch zu verbrennen, das Lily besaß.

Sie zog sich hoch und schwang die Beine nacheinander durch die Öffnung. Als sie drinnen war, mussten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen, die nur von dem schwachen Licht erhellt wurde, das durchs offene Fenster fiel.

„Lily?“, flüsterte sie, während sie sich zu den Stufen am Ende der Küche bewegte.

Die schmale Treppe war in Dunkelheit gehüllt. Emma hielt sich am hölzernen Geländer fest und stieg in den dritten Stock hinauf, wo sie das Schlafgemach des Hausherrn vermutete, und Lily. Ein großes Koppelfenster mit Blick auf die Straße erhellte einen breiten Flur mit vier Türen. Die Tür gleich rechts neben dem Fenster war nur angelehnt. Sie schlich in den dunklen Raum. Die weißen Laken zum Schutz vor Staub ließen sämtliche Möbel wie geisterhafte Schemen wirken.

Im Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Eine weiße Katze sprang aus der Dunkelheit und landete auf dem Bett. Emma keuchte, trat zurück und presste sich die Hand aufs pochende Herz.

Die Katze miaute und reckte sich ihr entgegen.

Emma streckte eine Hand aus und kraulte das Fell hinter den Ohren.

Das hallende Geräusch von Hufen auf dem Pflaster der Straße zerriss die Stille.

Emma schlich zum Fenster und öffnete eine Seite des Fensterladens. Eine Kutsche war vor dem Haus stehen geblieben. Die Pferde schüttelten die Köpfe und ließen das schwere Zaumzeug klappern. Ihr Atem schickte weiße Wölkchen in die dunkle Nacht.

Ein breitschultriger Mann sprang aus der Kutsche. Sein Mantel schlug gegen seine langen Beine und wirbelte den Nebel auf, der sich von dem feuchten Gehweg erhob. Er hob den Kopf und das Licht der Straßenlaterne fiel auf sein kantiges Gesicht.

Sie sog die kalte Luft ein. Früher am Tag hatte sie diesen Mann für schön gehalten, doch ohne das strahlende Sonnenlicht wirkte sein Gesicht nur noch bedrohlich.

Er schritt auf das Haus zu.

Ihr Atem ging schneller. Emma schob sich eine Faust in den Mund, wirbelte herum und blickte sich panisch um. Wo war Lily? Hoffentlich schon wieder zu Hause.

Sie rannte in den Flur.

Die Haustür wurde geöffnet und dann zugeschlagen. Sie erstarrte. Das Wummern ihres eigenen Herzschlags und das Rauschen ihres Blutes erfüllte ihre Ohren. Sie hastete in das Schlafgemach zurück, ließ sich auf Hände und Knie fallen und krabbelte unters Bett.

„Kismet!“ Die tiefe Stimme des Mannes hallte von den Wänden wider. Er kam mit raschen Schritten die Treppe herauf.

Emma streckte den Kopf unter dem Bett hervor. Das Mondlicht fing sich in glimmenden Katzenaugen, während das Tier im Schlafgemach umherschlich. Die Katze lief in den Flur und miaute, ehe sie wieder in den Raum gerannt kam und sich zu ihr unters Bett gesellte.

„Kismet!“ Der Gentleman kam weiter die Treppe herauf.

Emma zog sich wieder unter das Bett zurück und sah blinzelnd das Tier an, das sich an ihr rieb. „Bist du Kismet?“, flüsterte sie.

Das Tier stieß seinen Hopf gegen ihren Arm, als wollte es ihre Sorge bestätigen.

„Husch!“ Sie schob den felligen Körper von sich und zog die Strickmütze ihres Bruders weiter über ihr helles Haar.

Die Schritte des Mannes wurden lauter. Die Bodenbretter in der Nähe der Türschwelle knarrten.

Sie presste sich eine Hand auf den Mund, in der Hoffnung, damit ihre Atemgeräusche zu dämpfen, während sie den Kopf senkte und unter dem Saum des Bettvolants hindurchblickte. Mondlicht drang zwischen den nicht ganz geschlossenen Fensterläden hindurch. Ein Strahl fiel auf die glänzenden Schuhe des näherkommenden Mannes. Weiches Fell strich über ihren Arm, und das Schnurren der Katze polterte wie verstärkt in den Flur.

„Ah, ich wusste, dass du hier bist.“ Der Mann ließ sich auf ein Knie sinken.

Er griff unters Bett. Emmas Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, der Gentleman würde es hören. Sie legte den Arm an den Körper.

Seine tastenden Finger berührten ihre Schulter.

Einmal.

Zweimal.

„Was zur Hölle!“, knurrte er.

Lange Finger legten sich mit einem schmerzhaft festen Griff um ihren Arm, dann wurde sie unter dem Bett hervorgezogen und auf die Füße gestellt. Der Mann war noch größer als sie gedacht hatte. Sie neigte den Kopf zurück und blickte in seine dunklen Augen. Einen bizarren Augenblick lang war sie froh, dass er sie hielt, da ihre Beine dazu nicht in der Lage zu sein schienen.

„Junge, zum Plündern hast du dir das falsche Haus ausgesucht.“

Junge? Sie blickte auf die Kleider ihres Bruders hinab.

Er schüttelte sie.

Schmerzen schossen durch ihren Arm, dort wo sich seine Finger in ihre Haut gruben. Panik schnürte ihr die Brust zusammen wie ein Schraubstock und sie rammte ihm einen Absatz auf den Fuß.

Sein klauenartiger Griff blieb starr, als würde ihn lediglich eine Fliege belästigen. „Du kleiner Wicht, nenn mir nur einen Grund, warum ich dich nicht ohrfeigen und vor Gericht schleifen sollte.“

Ihre Kehle schnürte sich zu.

„Verdammt, antworte mir.“ Er ließ ihren Arm los.

Sie versuchte, an ihm vorbeizustürmen.

„Oh, nein.“ Seine Finger legten sich fest um ihr Handgelenk.

Sie ballte unwillkürlich die freie Hand zur Faust und schlug zu.

Er duckte sich. Seine weißen Zähne blitzten im schwachen Licht auf.

Ihr Bruder hatte ihr gesagt, wo sie einen Mann treffen musste, wenn sie angegriffen wurde. Ohne weiter darüber nachzudenken, hob sie das Knie an und rammte es dem Mann zwischen die Beine.

„Uff.“ Er sank wie ein Sack Kohlen auf die Knie.

Sie starrte ihn mehrere Sekunden lang an, während er keuchend am Boden hockte. Lauf, befahl eine Stimme in ihrem Kopf. Wer kümmert sich um Lily und Michael, wenn du verhaftet wirst? Sie warf einen Blick zur offenstehenden Tür, presste sich dann mit dem Rücken an die Wand und schob sich Schritt für Schritt an seiner zusammengesunkenen Gestalt vorbei.

Sie hatte ihn gerade passiert, als er seine große Hand ausstreckte und ihren Knöchel packte. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, doch er riss kräftig an ihrem Bein und sie landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Rücken. Ein brennender Schmerz strahlte von ihrem Steißbein bis zu ihren Schultern aus.

Der Mann atmete ruckartig, während er zu ihr herüberkroch, sich auf sie setzte und ihren Körper mit seinen dicken, muskulösen Oberschenkeln umschloss. Sein Gewicht drückte ihre Rippen zusammen und fesselte sie. Ein Steifen aus Mondlicht fiel auf sein schmales Gesicht, betonte seine perfekten, wie gemeißelten Züge und eine halbmondförmige Narbe auf der linken Wange. Furcht breitete sich in ihrem Bauch aus, doch sie konnte den Blick nicht von seinen kantigen Gesichtszügen losreißen.

„Du mieser Wicht. Ich wollte dich eigentlich nur erschrecken, aber jetzt hast du mich wütend gemacht.“ Er legte die Hand auf ihre Brust. Seine Finger spannten sich an. Seine Augen wurden groß. „Verdammt, du bist eine Frau!“

Sie schlug die Hand weg und bäumte sich unter ihm auf.

Er lehnte sich näher zu ihr.

Seine erhitzte Haut verströmte einen würzigen, männlichen Geruch, während sein warmer Atem über ihr Ohr strich.

Sie bekam Gänsehaut.

„Du kleines Kätzchen, ich könnte dich übers Knie legen und dir den Hintern versohlen.“

Der tiefe, beinahe verführerische Ton seiner Stimme ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Funken entzündeten sich in ihrem Bauch. Was stimmte nicht mit ihr? Sie sollte Angst haben, doch es war keine Furcht, die ihren Puls beschleunigte. Bei Gott, sie musste wahnsinnig geworden sein.

Die Beine, die sie umklammert hatten, lockerten sich. Der Mann bewegte sich und sein Gesicht verzog sich, als hätte er immer noch Schmerzen. „Versprichst du, dich zu benehmen, wenn ich jetzt aufstehe?“

Sie befeuchtete die Lippen, öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder, als ein Schatten durch die Tür in den Raum huschte.

Lily. Du lieber Himmel! Hatte das Mädchen völlig den Verstand verloren? Wollte sie, dass sie beide vor Gericht landeten?

Emma packte die Aufschläge des Mantels ihres Gegenübers und zog sein Gesicht zu ihrem. Sie ließ eine Hand hinter seine Schulter gleiten und bedeutete ihrer Schwester, zu verschwinden.

Er zuckte zurück. „Was hast du vor?“

„Ich will Buße tun.“ Ihre Stimme klang so tief und sinnlich, dass sie selbst ihr fremd vorkam. Sie ließ die Finger in die Wärme seines dichten Haars gleiten und zog seinen Mund zu ihrem. Seine Lippen blieben starr. Reagierten nicht. Offensichtlich fehlte ihr das Talent, um eine solche Ablenkung erfolgreich auszuführen. Sie wollte gerade aufgeben, als sich sein Gewicht zu ihr verlagerte. Die Anspannung in seinen Muskeln löste sich so plötzlich, dass die Bewegung beinahe in der Luft spürbar war.

Er gab ein tiefes, raues Geräusch von sich und seine Lippen bewegten sich hungrig über ihre. Seine Finger legten sich um ihre Handgelenke. Er löste ihre Hände von sich und presste sie oberhalb ihres Kopfes auf den Boden. Seine Zunge glitt in ihren Mund und spielte mit ihrer, ehe sie sich zurückzog, nur um gleich darauf wieder einzutauchen.

Er schmeckte nach Brandy und Sünde, und die verruchte Art, mit der er sie küsste, erhitzte ihren Körper. Überall. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich ihm entgegen zu wölben. Vergebens. Sie presste ihre prickelnden Brüste fester an seine massive Brust.

Eine Holzdiele knarrte.

Lily! War das Kind immer noch im Zimmer und sah ihnen zu? Statt zu fliehen, wie Emma es gehofft hatte?

Emma rammte gerade ihre Handflächen gegen seine Schultern, als ein Knall die Luft zerschnitt. Porzellan barst rings um sie wie Feuerwerk, und sie kniff die Augen zu.

Der Mann sank auf ihr zusammen, sein Körper war bloß noch lebloses Gewicht. Sie öffnete die Augen und sah Lily über ihnen stehen, mit dem unteren Ende einer zerbrochenen Vase in der Hand.

„Lily, was hast du getan?“

Ihre Schwester warf den Rest der Vase aufs Bett und wischte sich den Staub von den Fingern. „Ich habe dich gerettet, Em. Er wollte dich töten, mit der gleichen Methode wie bei seinem anderen Opfer.“

Oh je. Emma kroch unter dem schweren Körper hervor und hielt die Finger vor seine Lippen. Der Atem des Mannes strich über ihre Haut. Der Knoten in ihren Eingeweiden lockerte sich.

„Zum Glück hast du ihn nicht umgebracht, Lily.“

„Ich musste dich beschützen. Ich konnte nicht zulassen, dass er …“

„Still“, sagte Emma und fuhr mit den Fingerspitzen vorsichtig durch sein Haar, um seinen Hinterkopf abzutasten. Es hatte sich bereits eine Beule gebildet, doch immerhin blutete er nicht.

Ein Strahl des Mondlichts fiel auf einen Goldring, den der bewusstlose Mann am rechten kleinen Finger trug. Ihre Schwester hockte sich hin und berührte ihn. „Da ist ein Wappen drauf. Was könnte das bedeuten?“

„Ich weiß es nicht. Lass den Ring in Ruhe.“ Emma strich dem Gentleman sanft eine Locke aus der Stirn.

„Er könnte zu einer Geheimgesellschaft von Mördern gehören. Es gab so eine niederträchtige Gruppe im dritten Inspector-Whitley-Buch, Blut in der Themse.“

Ein leises Stöhnen drang aus dem Mund des Mannes.

Emma schoss in die Höhe.

Lily beugte sich immer noch über den Gentleman und betrachtete den Ring.

„Schnell.“ Sie packte Lily am Handgelenk und zog ihre Schwester aus dem Raum. Sie rannten die Treppe hinunter und liefen zum offenen Küchenfenster.

„Em …“

Sie legte eine Hand über Lilys Mund. „Schsch, sein Kutscher wartet draußen. Steig aus dem Fenster und warte auf mich.“
Mit einem Nicken kletterte Lily aus dem Kellerfenster. Emma folgte ihr. Sie schlichen zum oberen Ende der Treppe und beobachteten den Mann auf dem Kutschbock. Sein Kinn ruhte auf der Brust und sein Schnarchen erfüllte die Nacht.

Sie schlichen sich heimlich über die Straße und verschwanden in ihrem Haus. Emma ließ sich von innen gegen die Haustür sinken und zog die Strickmütze ab.

„Em, du wirst nicht glauben, was ich gesehen habe …“

Mit einem zitternden Finger zeigte Emma auf die Treppe. „Ab ins Bett! Zwing mich nicht, dich am Zopf da hoch zu schleifen.“

Ihrer Schwester klappte der Unterkiefer herunter. „Aber …“

Emma stieß sich von der Tür ab und machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu.

Lily rannte die Stufen hinauf.

Emma ging ins Tageswohnzimmer, öffnete die Fensterläden und blickte hinaus.

Wenn der Gentleman nicht in fünf Minuten aus dem Haus kam, würde sie seinem Kutscher sagen müssen, dass er verletzt war. Plötzlich flog die Haustür auf. Der Mann stolperte heraus, hielt sich mit einer Hand den Kopf und trug in der anderen die Katze.

Emma zog die Fensterläden zu und stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte.

***

Im Club öffnete Simon ein Auge und blickte in die erwartungsvollen Gesichter. Er kniff das eine Auge zusammen und schaute auf das Kristallglas in seiner Hand. Braune Flüssigkeit hing an den Seiten des jetzt leeren Kelchglases, wie Pferdedung an einer Schuhsohle.

Das ätzende Gebräu, das James Huntington ihm gegeben hatte, würde ihn ins Grab bringen. Wenn Gott denn so gütig wäre.

Simon legte sich eine Hand an den Hals. Seine Kehle brannte, als hätte er die Fackel eines Feuerschluckers verschlungen. Er lehnte sich in den Ledersessel zurück. Warum er die Nacht in diesem Herrenclub verbracht hatte, war ihm unerklärlich. Er hätte zwischen den Beinen einer Frau mit sanfter Stimme Trost suchen sollen, mit Händen, die zu beruhigen wussten. Diese Vase hatte ihm offensichtlich jeden vernünftigen Gedanken aus dem Schädel geprügelt.

Er stellte das Glas ab. „Das schmeckt widerlich.“

Huntington grinste, ein seltenes Ereignis. Er war einmal jedermanns Liebling gewesen – der Mann, dem alle nacheiferten. Doch seit dem Tod seiner Frau und dem Verdacht, der auf ihn gefallen war, war der Marquess in Ungnade gefallen.

Simon legte sich eine Hand an die Stirn. Was immer er gerade getrunken hatte, es erlöste ihn nicht von dem pochenden Schmerz in seinem Kopf. Wenn er diese Femme fatale je in die Finger bekäme, würde sie dafür bezahlen. Ihm das Knie in die Eier zu rammen, war schlimm genug gewesen, doch ihn dann mit ihren warmen Lippen und ihrem geschmeidigen Körper abzulenken, während ihr Komplize ihm eins über den Schädel zog, war unverzeihlich.

„Hat es gewirkt?“ Huntington deutete auf das Glas.

Julian Caruthers schob seinen Stuhl von dem grün bespannten Tisch zurück und kam zu Simon herüber. „Sind die Kopfschmerzen fort?“

Die Worte des Mannes hallten von der Mahagonivertäfelungen des privaten Raumes wider. „Könntet ihr einem Freund die Gnade erweisen, leise zu sprechen?“, fragte Simon. „Was immer Huntington mir da gegeben hat, hat einen langsamen Tod eingeleitet, und ihr macht mein Verscheiden nicht angenehmer.“

„Lass es eine Minute wirken, alter Junge“, sagte Huntington beschwichtigend. „Ich schwöre aufs Grab meiner Großmutter, dass es wirkt.“

Caruthers Lachen erfüllte den Raum. Simon nahm an, dass er sich über die Tatsache amüsierte, dass Huntingtons mürrische Großmutter gesund und munter war.

„Ich habe selten einen Mann gesehen, der dich besiegen konnte, Adler“, sagte Caruthers. „Wie viele Männer haben dich in der vergangenen Nacht angegriffen? Fünf? Sechs?“

Simon blickte zu einem seiner engsten Freunde, Hayden Westfield; dem einzigen, dem er anvertraut hatte, dass einer seiner Angreifer eine Frau gewesen war, die ihn mit ihrem anziehenden Körper und dem Versprechen von Buße abgelenkt hatte.

„Ja, sag uns, wie viele Männer dich angegriffen haben.“ Westfield grinste.

Simon sah Westfield aus schmalen Augen an. „Zwei Leute haben mich angegriffen.“

Caruthers blinzelte. „Nur zwei? Sie haben dich hinterrücks überfallen, was?“

Westfield lachte schnaubend, ehe er die Morgenausgabe der Zeitung anhob, um sein breites Grinsen zu verbergen.

Verdammt, mussten sie alle so laut sein? Simon stöhnte.

„Wo war deine Mätresse, während all das vor sich ging?“ Caruthers hob eine Augenbraue.

„Ich habe Vivian gestern zur Victoria Station begleitet. Sie macht Urlaub in Frankreich.“

„Ihre Entscheidung oder deine?“, fragte Caruthers.

„Meine. Ich sagte ihr, dass sie sich in Paris ein paar neue Kleider kaufen soll.“

„Ah, ich erkenne ein Muster. Du hast auch die Mätresse vor Vivian dort hingeschickt, ehe du es beendet hast.“ Huntington saß mittlerweile am Kartentisch.

Ja. Sie war eine Opernsängerin gewesen, mit einer Stimme, die Glas und Trommelfelle zum Bersten bringen konnte. Simon seufzte. „Wenn Vivian zurückkehrt, werde ich ihr vermutlich ein hübsches Schmuckstück kaufen und die Sache beenden.“

„Wie viele Mätressen macht das im vergangenen Jahr?“, fragte Westfield und ließ die Zeitung sinken.

Zu viele. Simon fühlte sich in jüngster Zeit rastlos. Unzufrieden. Als würde ihm etwas fehlen, das er sich auch mit all seinem Geld nicht kaufen konnte. „Schreibst du eine Biografie über mein Leben?“

„Nein, ich mache mir nur Sorgen um dich, alter Junge. Soll ich Dr. Trimble rufen lassen?“ Westfield rieb sich das Kinn.

„Warum lässt du ihn nicht von deiner entzückenden Ehefrau und Krankenschwester untersuchen, Westfield?“ Caruthers kehrte zu seinem Stuhl zurück.

Westfield warf dem Mann einen finsteren Blick zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob er über die Beule am Kopf oder die gequetschten Eier klagt, und letztere werde ich Sophia gewiss nicht untersuchen lassen.“

Erneut breitete sich Gelächter im Raum aus und der pochende Schmerz in Simons Kopf wurde stärker. Er schloss die Augen und betete für einen raschen Tod.

Es kam ihm so vor, als seien nur wenige Minuten vergangen, als Simon die Augen wieder öffnete und seine Uhr aus der Uhrtasche zog. Beinahe Mittag. Zur Hölle, er war eingeschlafen. Im Schlaf hatte er von den warmen, nach Minze schmeckenden Lippen und dem zarten Körper dieser Teufelin geträumt. Er neigte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Die Kopfschmerzen waren verschwunden.

Huntington und Caruthers spielten Bézique, während Westfield sich in einen Sessel zurückgelehnt hatte und las. Was machte Westfield noch hier? Er verbrachte seit der Hochzeit kaum noch Zeit im Club. Anders als Huntington, der in den privaten Raum kam, um all den Gerüchten darüber zu entgehen, dass er vielleicht beim Tod seiner Frau die Finger im Spiel gehabt hatte. Was nichts als verdammte Lügen waren.

Westfield blätterte in seinem Buch um und warf Simon einen besorgten Blick zu.

Zur Hölle, was war dieser Mann für eine Glucke geworden. „Nicht schlecht, Huntington“, rief Simon und deutete auf das leere Glas.

Der Mann sah ihn über die Schulter an. „Hat es gewirkt?“ Er klang überrascht.

„Ja, was zum Henker war da drin?“

„Whisky, Gurkenwasser, Paprikapulver, Hafer und …“

„Verdammt, Huntington, hast du versucht, es zu Ende zu bringen?“, fragte Westfield und ließ seinen Roman zuklappen.

Huntington erhob sich mit seiner großen Gestalt. „Mein Kammerdiener schwört darauf, dass diese Mischung jegliches Leiden kuriert, oder bei Bedarf auch den Lack von den Möbeln ätzt.“

Simon erschauderte. Er konnte froh sein, wenn ihm das Zeug kein Loch in den Magen brannte. Er blickte auf den helleren Hautstreifen an seiner linken Hand und blinzelte. Wo war sein Siegelring? Hatte diese hodenzertrümmernde Füchsin ihn geklaut? Oder hatte er ihn in dem Handgemenge verloren? Er erhob sich ruckartig.

„Wo willst du hin?“, fragte Caruthers.

„Ich habe noch etwas zu erledigen.“

„Ich mache mich auch auf den Weg“, sagte Westfield.

Sie verließen den Raum und Westfield legte Simon eine Hand auf die Schulter. „Steht es noch, dass du morgen zum Abendessen vorbeikommst?“

„Natürlich. Ich habe mein Patenkind schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Wie geht es dem Kleinen?“

Ein Lächeln umspielte Westfields Lippen. „Er krabbelt jetzt. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du auch heiratest und eigenen Nachwuchs zeugst.“

Heiraten? Gütiger Gott, nein. Er hatte aus erster Hand erlebt, wie dumm die Liebe einen Mann machen konnte. Seine Stiefmutter war die Ausgeburt der Hölle. Sie hatte Simons Beziehung zu seinem Vater vergiftet und sein Vater war gestorben, während er alles geglaubt hatte, was diese manipulative Frau ihm eingeflüstert hatte. Nein, er würde nicht zulassen, dass eine Frau ihn um den Finger wickelte. „Ich genieße meine Freiheit.“

Der Ausdruck auf Westfields Gesicht sah beinahe wie Mitleid aus, und Simon bemerkte, dass er mit einem Finger über seine Narbe fuhr. Er ließ die Hand sinken.

„Du musst lernen, Menschen zu vertrauen, mein Freund. Nicht alle Frauen sind so manipulativ wie Julia.“

„Ich vertraue Frauen.“

„Welchen? Deinen Mätressen?“ Westfield warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Selbst die hältst du auf sicherer Distanz. Eine Familie würde dir guttun.“

Er hatte eine Familie gehabt, und die hatte er von einem Augenblick auf den anderen verloren, alles nur, weil sein Vater Julias Worten mehr vertraut hatte als seinen. „Deine Predigt über Vertrauen wäre sehr viel wirkungsvoller, wenn du sie nicht halten würdest, einen Tag nach dem eine Frau versucht hat, meinen Schädel zu zertrümmern. Ich muss jetzt los. Ich habe ein Vöglein zu fangen.“
„Die Frau von vergangener Nacht?“

„Ja.“ Wie seine Stiefmutter hatte sie ihn eingewickelt und dann ihr wahres Ich gezeigt. Simon ballte die Hand zur Faust und spürte das fehlende Gewicht seines Ringes. In seinen Träumen hatte die sinnliche Stimme der Frau immer wieder das Wort Buße geflüstert. Bei Gott, wenn sie seinen Ring gestohlen hatte, würde er sie büßen lassen.