Leseprobe Wie heiratet man einen Duke?

Kapitel 1

Dorchester Hall

Richmond, England

Lady Sara Elsmere atmete angespannt aus und versuchte, nicht mit den Fingern herumzuspielen. Es war nicht leicht, in der Menge zu verschwinden, wenn man in einem rosaroten Kleid mit tellergroßen Pfingstrosenblüten aus Seide im Ballsaal des Duke of Dorchester stand.

Die Worte ihres Vaters hallten durch ihren Kopf. Das Kleid verleiht dir einen jugendlichen Glanz.

Diese Aussage war überaus absurd. Völliger Unfug.

Tatsächlich sah sie in diesem Ballkleid albern aus. Doch all ihre Proteste hatten ihren Vater nicht umstimmen können. Hier stand sie also, versuchte, mit der goldbeflockten Tapete zu verschmelzen, und scheiterte jämmerlich.

Sie wünschte sich aus ganzem Herzen, ihr Vater würde aufhören, sie zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen zu zwingen, in der Hoffnung, jemand würde um ihre Hand anhalten. Die Gentlemen auf diesen Festen hatten wenig Interesse an einer siebenundzwanzigjährigen Entomologin, die Schmetterlinge sammelte und nervös lachte, wenn ein Mann sie zum Tanzen aufforderte.

Als sie sich die Frauen in ihren edlen Kleidern und die Männer in Abendgarderobe ansah, erinnerte sie sich an ihre erste Ballsaison. Sie war älter als die anderen Mädchen gewesen, da sie das Bedford College absolviert hatte. Ihr Vater hatte Bildung für eine Frau als Zeit- und Geldverschwendung angesehen, doch es war einer der letzten Wünsche ihrer Mutter gewesen. Ein Großteil des Abends war vergangen, ohne dass jemand sie zum Tanz aufgefordert hätte. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie wegen ihres Alters und der Tatsache, dass sie sich für Insekten interessierte und ein Blaustrumpf war, auf die heiratswilligen Gentlemen der Adelsschicht weniger attraktiv wirkte.

Dann näherte sich Sir Harry und die Worte ihres Tanzlehrers hallten durch ihren Kopf. Nein, nein, nein. Den rechten Fuß zuerst. Nicht den linken. Ihr seid wirklich die talentfreiste Tänzerin, die ich je unterrichten musste.

Als Sir Harry sie zu einem Tanz aufgefordert hatte, war sie von dem Gedanken überwältigt worden, sie würde hinfallen oder ihn zu Fall bringen, und hatte angefangen zu lachen. Kein mädchenhaftes Kichern, das ein Mann niedlich oder liebenswürdig finden könnte, sondern ein schrilles, nervöses Lachen. Blicke hatten sich auf sie gerichtet, und je mehr man sie angegafft hatte, desto mehr hatte sie gelacht. Ihr zweiter Ball in derselben Saison war ebenfalls eine Katastrophe gewesen. Es war genau das Gleiche passiert, als Lord Gilbert sie zur Tanzpartnerin erwählt hatte.

Als Blaustrumpf war sie ohnehin weniger attraktiv gewesen. Ihr unkontrollierbares Lachen, wann immer sie zum Tanzen aufgefordert wurde, hatte ihr Schicksal als Mauerblümchen besiegelt.

Sara schob diese Erinnerungen beiseite, betrachtete die Tanzenden und entdeckte ihre Schwester, die von einem jungen Mann über die Tanzfläche gewirbelt wurde. Louisa hatte ein breites Lächeln im Gesicht und ihr Tanzpartner schien sich für einen Mann zu halten, der von allen beneidet wurde. Sara war sich sicher, dass ihn viele tatsächlich mit Neid betrachteten. Louisa war in diesem Jahr mit achtzehn in die Gesellschaft eingeführt worden und augenblicklich zur Schönheit der Saison geworden. Jeder Mann wollte mit ihr tanzen und Sara konnte es ihnen nicht verdenken. Ihre Schwester war nicht nur wunderschön, sie blühte unter dieser Aufmerksamkeit sogar noch auf.

Während Sara Schmetterlinge sammelte, war Louisa gesellig, schwebte anmutig und schön durch die Räume und zog stets alle Blicke auf sich. Es überwältigte Sara beinahe, darüber nachzudenken, wie zwei Schwestern so unterschiedlich sein konnten. Doch sie war erleichtert, dass ihre Schwester nicht unter der gleichen Eigenart litt, die Sara ergriff, wenn sie zum Tanz aufgefordert wurde.

Sie suchte die Menge nach ihrem Bruder ab. Ned war vermutlich mit ihrem Gastgeber im Kartenspielzimmer. Sie machte sich nichts aus Ian McAllister, dem Duke of Dorchester. Er war einer der letzten aus einer Gruppe von Männern, die in den Skandalblättern als die Infamous Lords bezeichnet wurden – eine Gruppe ausschweifender Adliger. Wenngleich die meisten geheiratet und ihr verruchtes Leben hinter sich gelassen hatten, schien Dorchester, der Anfang Dreißig sein musste, fest entschlossen zu sein, sich nicht zu ändern. Und der Adel schien gewillt zu sein, dem kaltherzigen Schürzenjäger zu verzeihen, insbesondere dann, wenn er ihnen Unmengen Champagner und Köstlichkeiten der französischen Küche servierte.

Sie fragte sich, was die Frauen in ihm sahen. Ja, er war attraktiv. Ja, er war schlank und hatte breite Schultern. Aber ein Gentleman musste doch gewiss mehr aufzuweisen haben, damit ihm die Frauen zu Füßen fielen. Doch im vergangenen Jahr hatte man sich erzählt, dass eine junge Debütantin in Ohnmacht gefallen und auf dem Boden zusammengebrochen war, obwohl er lediglich Hallo gesagt hatte.

Sara verwarf die Gedanken an den skandalösen Duke und schaute zu ihrem Vater, der am anderen Ende des Ballsaals stand und in eine Unterhaltung mit einem anderen Gentleman vertieft war. Vielleicht war es eher ein Streit als eine Unterhaltung, da das Gesicht ihres Vaters den gleichen Rotton angenommen hatte wie ihres, als sie sich hatte weigern wollen, dieses grässliche, rosarote Kleid anzuziehen.

Sara biss sich auf die Unterlippe und schaute zu dem breiten Durchgang, der nur wenige Meter von ihr entfernt war. Ihr Vater, Ned und Louisa waren beschäftigt und es würde sich vermutlich keine bessere Gelegenheit zur Flucht mehr ergeben. Sie schob sich langsam auf den Durchgang zu. Sie hatte gehört, dass das Anwesen des Duke of Dorchester in Richmond über eine ausgezeichnete Bibliothek verfügte, und sie würde sich für den Rest des Abends dort verstecken. Hinterher würde sie gewiss den Zorn ihres Vaters ernten, sobald sie wieder zu Hause waren, doch sie würde lieber eine seiner Tiraden über sich ergehen lassen, als noch eine Minute länger in diesem Ballsaal zu bleiben.

So schnell, wie sie sich mit den zehn Kilogramm von Seide, Tüll und übergroßen Pfingstrosenblüten bewegen konnte, glitt sie durch den Durchgang. Sie wurde von einem Hochgefühl ergriffen, als sie dem breiten Flur mit dem roten, türkischen Läufer folgte.

Ein Bediensteter in einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug kam aus einem Raum und wäre beinahe mit ihr zusammengestoßen.

„Verzeiht, Madam. Sucht Ihr den Ruheraum?“

Sie trat von einem Fuß auf den anderen, während sie überlegte, wie viel von der Wahrheit sie enthüllen sollte. „Eigentlich suche ich nach der Bibliothek.“

Die Augen des Mannes weiteten sich und er wandte den Blick ab. „Natürlich, Madam. Die nächste Tür links.“

„Danke.“ Als Sara weiterlief, warf sie einen Blick über die Schulter. Irgendetwas beunruhigte sie an der Art, wie der Bedienstete sie angesehen hatte – als hätte sie ihn überrascht – als hätte er das nicht von ihr erwartet.

Nun, diesen Blick hatte sie in ihrem Leben schon viele Male geerntet. Sie schob den Gedanken beiseite. Vielleicht machte sie sich auch zu viele Sorgen um den Gesichtsausdruck des Mannes, weil sie ob ihrer Flucht ein schlechtes Gewissen hatte. Vermutlich hielt er sie für unverschämt, weil sie den anderen Gästen für ein Buch den Rücken kehrte.

Sie öffnete die Tür, die er ihr beschrieben hatte, und schloss sie hinter sich. Die Gaslampen an den Wänden waren heruntergedreht und warfen ihr schwaches Licht in die größte Bibliothek, die sie jemals gesehen hatte; und sie hatte einige gesehen, da sie bei solchen Veranstaltungen stets nach einer Zuflucht suchte.

Der Geruch der in Leder gebundenen Bücher stieg ihr in die Nase und sie suchte die hohen Mahagoniregale ab, die drei der Wände einnahmen. An jedem Regal war eine Schiebeleiter befestigt, sodass man die obersten Bücher erreichen konnte, und in der Ecke des Raumes führte eine metallene Wendeltreppe auf eine Galerie hinauf, die mit weiteren Regalen versehen war.

Angesichts dieser umfangreichen Sammlung war sie sich ziemlich sicher, dass sie Lesestoff finden würde, der anregender wäre als der Ballsaal, vielleicht etwas über Entomologie.

Während sie zu den Regalen rechts von ihr lief, blickte sie zu dem wunderschönen Deckengemälde hinauf. Weiße Wölkchen waren über einen blauen Himmel verstreut und davor flatterten geflügelte Putten mit Blumenkränzen auf dem Kopf herum. Die Engelchen hielten Flöten und Harfen in den Händen. Sie hätte sich beinahe auf den Rücken gelegt, um sich diese drollige Szene noch länger anzuschauen. Doch sie unterdrückte diese alberne Idee und lief weiter zu den Bücherregalen.

Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die kleine Schrift der Buchrücken und zog ihre Brille aus der Seitentasche, die in den Rock ihres Kleides eingenäht war. Als sie die Titel überflog, sah sie Werke von George Eliot, Daniel Defoe und sogar eine Gedichtsammlung von Robert Burns. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der aktuelle Duke Letzteres las. Soweit sie gehört hatte, wäre er eher geneigt, skandalösere Werke wie Die Memoiren der Fanny Hill zu lesen.

Sara hörte Schritte im Flur – und eine Männerstimme.

Sie wirbelte herum und sah, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde.

Hatten ihr Vater oder ihr Bruder sie ausfindig gemacht? Sie wollte nicht in den Ballsaal zurückkehren; nicht, wenn es hier so viele Bücher zu entdecken gab. Sie steckte ihre Brille wieder in die Tasche, hastete zu einem kleinen Alkoven zwischen zwei der Bücherregale und presste sich flach gegen die Wand.

Die junge, verwitwete Lady Cleary, in ihrem leuchtend gelben Kleid, betrat zusammen mit dem Duke of Dorchester die Bibliothek. Er schloss die Tür hinter ihnen.

Sara schluckte. Warum war dieser skandalöse Mann nicht bei seinen Gästen?

Die Antwort erhielt sie, als die Witwe mit den Handflächen über die Brust des Dukes strich und sich an ihn lehnte.

Im Gegenzug legte Dorchester der Frau seine große Hand in den Nacken und senkte seine Lippen auf ihre.

Himmel! Sie hätte Lady Cleary für klüger gehalten. Wusste die Frau denn nicht, dass sie nur die aktuelle Affäre war? Hoffentlich würde die Frau sich nicht zu sehr in Dorchester verlieben, ehe der Schuft sich seiner nächsten Eroberung zuwandte.

Sara dachte an den Bediensteten, mit dem sie im Flur beinahe zusammengestoßen wäre, und an seinen Gesichtsausdruck. Hatte er geglaubt, sie wäre auf dem Weg in die Bibliothek gewesen, um sich mit dem Duke zu treffen? Sara ähnelte der verführerischen Lady Cleary kein bisschen, insbesondere in diesem absonderlichen Kleid.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch als sie sah, wie Dorchester Lady Cleary das Ballkleid von einer Schulter zog und ihre blasse Haut küsste, presste sie die Lippen aufeinander.

Was soll ich jetzt tun?

Sie könnte die Augen schließen.

Ja, das dürfte gehen. Sie kniff sie zu.

Lady Cleary keuchte und gab wimmernde Laute von sich. „Hmm. Oh ja, Ian. Das fühlt sich so … Ja, genau da.“

Auch wenn Sara gegen den Drang ankämpfte, die Augen wieder zu öffnen, siegte schließlich ihre Neugier und sie hob langsam ein Augenlid.

Dorchester presste seinen Oberschenkel zwischen die Beine der Frau, die noch von ihrem Kleid bedeckt waren, während er sie küsste.

Sara öffnete das andere Auge und neigte leicht den Kopf. Warum wölbte Lady Cleary sich ihm entgegen und schnurrte wie eine Katze? Was Dorchester da mit der Frau machte, sah recht unangenehm aus.

Plötzlich hielt der Gentleman inne.

Ein Angstschauer überkam Sara und sie legte sich eine Hand auf den Mund. Hatte sie ein Geräusch gemacht? Bei dem Gedanken pochte ihr Herz wie wild. So laut, dass sie befürchtete, die beiden könnten das Pochen in ihrer Brust hören.

Der Duke warf einen Blick über die Schulter. Er war zwar attraktiv, hatte eindrucksvolle Gesichtszüge, dunkle Haare und ein kantiges Kinn, doch sie hatte seine Ausstrahlung immer als gefährlich empfunden. Vielleicht waren es seine stechend blauen Augen, mit denen er anderen in die Seele zu blicken schien, um nach Schwächen zu suchen.

Sie versuchte, sich unsichtbar zu machen, indem sie sich noch fester gegen die Wand presste. Als sie das tat, fiel eine ihrer verdammten Pfingstrosenblüten von ihrem Kleid ab und rollte aus dem Alkoven.

Dorchesters bedrohlicher Blick richtete sich auf die Stoffblume, eher er sie fixierte. Er sah sie mit der gleichen herablassenden Arroganz an, wie die meisten Männer in der Londoner Gesellschaft der Entomologie, wenn sie einen ihrer Artikel zur Publikation einreichte.

„Ian, quäl mich nicht, hör nicht auf. Ich bin fast so weit“, blaffte Lady Cleary verärgert.

Er drehte der Frau den Rücken zu. „Ich denke, du solltest besser in den Ballsaal zurückkehren, Schätzchen.“

„Ian, was ist los?“
„Ich glaube, ich habe eine Ratte gehört.“

Die Witwe gab ein Quietschen von sich und hob den Rock ihres Kleides.

Er öffnete die Tür.

„Es ist nicht fair, mich in so einem Zustand wegzuschicken. Warum gehen wir nicht in ein anderes Zimmer?“, fragte sie mit hoffnungsvollem Unterton.

„Tut mir leid, Schätzchen. Ich muss mich darum kümmern.“

„Persönlich? Hast du nicht eine ganze Armee von Bediensteten, die solche abscheulichen Aufgaben erledigen können?“

„Diese hier würde ich lieber selbst fangen.“

Als sie das hörte, schlug Saras Herz noch schneller. Sie lachte eigentlich nur, wenn ein Mann sie zum Tanzen aufforderte, doch sie presste sich die Hand fester auf den Mund, da sie plötzlich befürchtete, ihr könnte ein nervöses Kichern über die Lippen sprudeln.

Lady Cleary blinzelte und schien noch weitere Fragen zu haben, doch irgendetwas im Gesichtsausdruck des Dukes musste ihr Einhalt geboten haben. Die Röcke der Witwe raschelten, als sie den Raum verließ.

Dorchester drückte die Tür ins Schloss, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Ich bin kein Freund von Voyeuren, die sich daran ergötzen, andere zu beobachten.“

Sie, eine Voyeurin? Lächerlich. Sie hatte nicht vorgehabt, seine sexuellen Eskapaden zu beobachten. Sie hatte die Bibliothek aufgesucht, um dem Ball zu entkommen.

Was für ein arroganter Mann! Saras Nervosität verwandelte sich in Empörung. Sie fuhr sich mit den Händen über ihr Kleid und trat aus ihrem Versteck. „Ich hatte nicht die Absicht, Euch nachzuspionieren, und bin zutiefst beleidigt, weil Ihr mir so etwas unterstellt. Euer abfälliger Kommentar verlangt nach einer Entschuldigung.“

***

Ian atmete tief durch. „Sie glauben, dass ich mich bei Ihnen entschuldigen müsste, Miss …“

„Miss Elsmere. Lady Sara Elsmere.“

Ja, genau, das war ihr Name. Er hatte sie schon einmal gesehen. Die Tochter des Earl of Hampton. Ein Blaustrumpf, und sie lachte unkontrolliert, wann immer ein Mann sie zum Tanz aufforderte, sodass man sie bei Veranstaltungen mied wie eine Aussätzige.

„Ich bin nur in diesen Raum gekommen, um etwas zu lesen.“

„Wirklich?“ Er hob eine Augenbraue.

„Ja, wirklich. Wenn Ihr glaubt, ich hätte beobachten wollen, wie Ihr …“ Sie wedelte mit einer Hand in seine Richtung, als würden ihr die Worte fehlen, um das zu beschreiben, was sie gerade mitangesehen hatte. Ihre ohnehin schon geröteten Wangen nahmen eine noch intensivere Farbe an, bis der Ton dem ihrer vollen, sinnlichen Lippen glich. Diese Lippen wollten so gar nicht zum Rest der Frau passen, die ihr Haar in einem strengen Knoten trug und ein mit Rüschen besetztes und mit Verzierungen überladenes Kleid trug, das all ihre Kurven verbarg und sie recht albern aussehen ließ.

Sie streckte das Kinn vor, als hätte er diese Einschätzung laut ausgesprochen oder sie seine Gedanken erahnt. „Mein Vater hat diese Abscheulichkeit ausgesucht. Also verurteilt mich nicht.“

„Seid Ihr nicht ein wenig zu alt, um Euch die Kleidung von Eurem Vater vorschreiben zu lassen?“

„Doch, aber wenn ich das Wohlwollen meines Vaters erlangen will, muss ich so etwas tragen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich fürchte, diese Unterhaltung ermüdet mich.“ Damit marschierte sie zur Tür. Ihr Blick fiel auf die große Stoffblüte auf dem Teppich. Ian dachte für einen Moment, sie würde sie aufheben.

„Die Pfingstrose könnt Ihr behalten, Euer Gnaden. Vielleicht könnt Ihr sie Euch von Eurem Herrenausstatter an einen Eurer Hüte stecken lassen; oder Ihr könnt sie Lady Cleary schenken, weil Ihr nicht beendet habt, wofür Ihr hergekommen seid.“

Nur wenige Menschen sprachen ohne achtungsvolle Rücksicht mit ihm. Die kratzbürstige Lady Sara war da eine Ausnahme. Eigenartigerweise fand er sie faszinierend, insbesondere ihre scharfe Zunge und ihre sinnlichen Lippen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er darüber nach, sie zu fragen, ob sie in dem unterrichtet werden wollte, was sie gerade gesehen hatte.

Woher zum Teufel war dieser törichte Gedanke gekommen? Ian schüttelte kaum merklich den Kopf, um diesen abwegigen Gedanken zu vertreiben. Er hatte kein Interesse an einem prüden, hochnäsigen Mauerblümchen.

Sie hatte beinahe die Tür erreicht, als ein Mann im Flur mit panischer Stimme ihren Namen rief. „Sara, wo bist du? Zur Hölle.“

Verdammte Scheiße. Es wäre nicht gut, wenn man ihn allein mit dieser Frau antreffen würde. Ian trat in die Schatten.

Lady Sara öffnete die Tür und ihr Bruder kam über die Schwelle gestürmt. Der Mann atmete schwer. Sein Gesicht war totenblass.

„Ned, was ist los?“ Lady Sara fasste ihm an den Arm.

Der Adamsapfel ihres Bruders bewegte sich, doch er brachte keinen Ton heraus.

„Ned, du machst mir Angst.“ Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Raus mit der Sprache.“

„Es geht um Vater. Er ist zusammengebrochen.“

„Zusammengebrochen?“ Ihre Stimme bebte.

„Ja“, antwortete ihr Bruder. „Dr. Trimble sagt, er habe einen Hirnschlag erlitten. E… er ist tot.“

Kapitel 2

Ein Jahr später …

Dorchester Hall, Richmond

Normalerweise würde jeder, der ohne anzuklopfen ins Arbeitszimmer des Duke of Dorchester gestürmt kam, dafür einen vernichtenden Blick und eine Standpauke ernten. Tatsächlich konnte Ian sich nicht daran erinnern, dass ein Bediensteter das bis vor wenigen Augenblicken überhaupt schon einmal gewagt hätte.

Doch der Anblick von Gertrude Winterbottom, dem Kindermädchen seiner Mündel, ließ ihn von einer Zurechtweisung absehen. Die Frau mittleren Alters sah aus, als wäre sie in eine schlammige Pfütze gefallen, und so, wie er die beiden schelmischen Jungs kannte, die seine Mündel waren, war vermutlich auch genau das geschehen.

Die Frau wischte sich Dreckspritzer aus dem Gesicht und schmierte sie sich dabei über die Wange, bis sie aussah wie ein Rugbyspieler auf einem nassen, zertrampelten Feld. „Diese Jungen sind Dämonen. Teufelsbrut!“

Leider war er sich ziemlich sicher, dass die Jungs schon als Schlimmeres bezeichnet worden waren.

„Schaut Euch an, was sie mir angetan haben. Sie haben mich in eine schlammige Pfütze gestoßen.“ Miss Winterbottom packte ihren schmutzigen, grauen Rock mit beiden Händen und schüttelte ihn, als wollte sie damit ihre Aussage noch unterstreichen.

Ian wusste gar nichts über Kinder. Er war schockiert gewesen, als er vor drei Monaten nach dem Tod seines Cousins erfahren hatte, dass er der Vormund der Jungen war. Wenn er dem irgendwann zugestimmt hatte, musste Finley ihm zuvor zu viele Drinks spendiert haben.

„Ich kündige, hier und jetzt“, verkündete das Kindermädchen und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Sie atmete auf, als hätte sie sich gerade von einem schweren Gewicht befreit.

Kündigen? Das kam nicht in Frage. Statt die Frau zu beschimpfen, weil sie in sein Arbeitszimmer eingedrungen war, beschloss Ian, mit ihr zu verhandeln. Eine Fähigkeit, die er stetig verbessert hatte, seit er wusste, dass Geld in jeder Verhandlung das beste Mittel zur Einflussnahme war. Neben der Drohung, die andere Person zu ruinieren. Doch er war sich sicher, dass die fromme Gertrude Winterbottom keine Leichen im Keller hatte, die er gegen sie hätte benutzen können.

Also blieb ihm nur das Geld. „Ich werde Ihren Lohn erhöhen.“

„Nein. Ich habe die Nase voll, Euer Gnaden. Erst gestern fand ich Würmer in meinem Bett, und jetzt das.“ Die Stimme des Kindermädchens wurde mit jedem Wort höher. „Meine geistige Gesundheit ist mir mehr wert, als der überaus großzügige Lohn, den Ihr mir zahlt. Auch wenn mich diese exorbitante Summe davor hätte warnen sollen, was mich in diesem Haus erwarten würde. Ich würde vorschlagen, für diese Jungen einen Zoowärter einzustellen.“ Rinnsale schmutzigen Wassers liefen immer noch aus dem zerzausten Haar der Frau, als sie aus dem Raum stürmte und nichts als eine Spur dreckiger Fußabdrücke zurückließ.

„Verdammt“, knurrte Ian. Nicht schon wieder. Damit hatten ihm jetzt drei Kindermädchen gekündigt, seit die Jungen zu ihm gezogen waren. Und Gertrude Winterbottom war die einzige Bewerberin der Vereinigung der Gouvernanten und Kindermädchen in London gewesen – eine Einrichtung, die Frauen in diesen Berufen unterbrachte, während sie auf neue Anstellungen warteten. Die jüngsten Streiche der beiden Teufelsbraten hatten sich wohl herumgesprochen und jedes Kindermädchen mit auch nur einem Hauch von Vernunft abgeschreckt.

Er stand auf, verließ den Raum und folgte Miss Winterbottoms schlammigen Schuhabdrücken zu ihrem Ausgangspunkt zurück, den Flur hinunter, durch das Tageswohnzimmer und auf die Terrasse, in die helle Maisonne.

Da er die Satansbraten nirgends sah, stieg er über die Treppe in den Garten hinab. „Edward! Jacob! Wo steckt ihr?“

Die Blätter einer der Eichen bewegten sich kaum merklich.

Ian hob den Blick und entdeckte seine beiden acht- und siebenjährigen Mündel, die auf einem der Äste saßen und zu ihm herunterschauten. Mit ihren runden Gesichtern und rosigen Wangen sahen sie aus wie die beiden Putten im Gemälde von Raffaels sixtinischer Madonna, doch sie waren alles andere als kleine Engel. Sie glichen eher den mit Pfeil und Bogen bewaffneten Cherubim im Triumph der Galatea des alten Meisters.

Ian schob seinen Gehrock zurück und stemmte die Hände in die Hüfte. „Was habt ihr angestellt?“

„Nichts, Cousin Ian“, sagte Edward, der ältere der beiden.

„Nichts“, pflichtete Jacob bei.

Die beiden kleinen Teufel sahen ihn an und zeigten keinerlei Anzeichen von Reue. Tatsächlich wirkten ihre Gesichter so unschuldig wie die zweier Neugeborener.

Ian dachte an den Vater der Jungen, der in jungen Jahren selbst ein Satansbraten gewesen war. Finley hatte damals die Fähigkeit besessen, mit dem gleichen unschuldigen Gesichtsausdruck die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, sodass immer nur Ian den Tadel für ihre Streiche geerntet hatte. Und trotzdem war Finley ein guter Freund gewesen, bis Ians Vater bestimmt hatte, dass sie sich nicht mehr treffen durften. Für einen Jungen, der sich im Haus seines herrischen Vaters ohnehin schon allein gefühlt hatte, war das, als hätte man ihm ein Körperteil abgetrennt.

Ian schob diesen Gedanken beiseite und atmete langsam aus. „Dann war es nur Pech, dass sie in eine schlammige Pfütze gefallen ist?“

Die beiden Jungen sahen sich an, als würden sie wortlos die Antwort absprechen. Ihre Blicke richteten sich wieder auf ihn. „Sie ist über ihren Rock gestolpert“, sagten sie einstimmig.

Ian ging davon aus, dass die beiden da nachgeholfen hatten. „Nun, ihr habt schon wieder eine zum Teufel gejagt.“

Sie grinsten beide breit.

„Ihr seid wohl sehr zufrieden mit euch, was?“ Er ließ einen stählernen Unterton in seine Stimme einfließen. Es war der gleiche Unterton, den er benutzte, wenn er anderen ein wenig Angst machen wollte.

Doch die beiden Kinder schienen das nicht zu bemerken, da ihr Grinsen kein bisschen nachließ.

Wie konnte es sein, dass beinahe jeder, mit dem er zu tun hatte, ihm entweder mit Ehrfurcht oder Angst begegnete, und er dennoch nicht mit zwei kleinen Jungs fertig wurde? „Bevor sie ging, hat Miss Winterbottom vorgeschlagen, dass ich einen Zoowärter statt eines Kindermädchens einstellen sollte.“

„Heißt das, wir können einen Löwen oder einen Elefanten haben?“ Ein ausgelassenes Funkeln lag in Jacobs Augen und sein Lächeln zog sich noch breiter über seine vollen Wangen.

„Nein, heißt es nicht“, entgegnete Ian.

Edward stieß seinem jüngeren Bruder mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Nein, Dummkopf. Er meint, um sich um uns zu kümmern.“

Die Begeisterung wich aus Jacobs Gesicht. Er blinzelte. „Und wirst du einen einstellen, Cousin?“

Ian zögerte, ehe er antwortete, um die beiden über diese Möglichkeit nachdenken zu lassen. „Natürlich nicht. Jetzt kommt da runter, geht auf euer Zimmer und denkt über das nach, was ihr getan habt.“

Die beiden Jungen sahen deutlich weniger schuldbewusst aus, als es angebracht wäre, während sie vom Baum herunterstiegen und zum Haus zurückliefen.

Ian sah dabei zu, wie sie sich spielerisch schubsten, während sie die Terrassentreppe hinaufstiegen und dann im Haus verschwanden. Er rieb sich den Nacken. Er mochte im House of Lords eine ernstzunehmende Größe sein, und ein kluger Geschäftsmann obendrein, aber er räumte gerne ein, dass er keine Ahnung davon hatte, wie er diese beiden Jungs erziehen sollte. Sein eigener Vater hatte ihm nur beigebracht, wie man ein Kind nicht erzog, da er glaubte, ein Lederriemen oder eine Birkenrute sei die Antwort auf alle Probleme. Ian würde sich lieber den Arm abschneiden, als die Jungs zu schlagen.

Vielleicht sollte er zwei Kindermädchen einstellen. Eines für jeden Jungen. Nein, er wollte sie nicht trennen. Sie mussten schon mit dem Tod ihrer Eltern fertig werden, und er erinnerte sich noch deutlich daran, wie es war, isoliert zu sein und von anderen ferngehalten zu werden.

Ian hörte Schritte auf den Platten des Gehwegs.

Er warf einen Blick über die Schulter und sah seinen engsten Freund und Geschäftspartner Julian Caruthers, Earl of Dartmore, auf sich zukommen. Er hatte zusammen mit Julian die Universität besucht.

„Schon wieder ein Kindermädchen verloren, alter Junge?“

„Ja. Woher weißt du das?“

„Ich bin gerade der alten Freezerbottom begegnet. Sie murmelte vor sich hin, während sie ihre Koffer die Treppe hinuntertrug.“

„Winterbottom“, korrigierte Ian. „Ja, die Jungs haben sich große Mühe gegeben, um die Frau zu traumatisieren und zu verjagen. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich habe sogar kurz darüber nachgedacht, ihren Vorschlag umzusetzen.“

„Und der wäre?“

„Einen Zoowärter statt eines neuen Kindermädchens einzustellen.“

Julian lachte. „Vielleicht musst du heiraten, alter Junge. Womöglich würden die Jungs nicht so emsig daran arbeiten, ihre Mutterfigur zu vergraulen, wenn sie wüssten, dass sie sie nicht loswerden.“

Sein Freund hatte seine Sandkastenliebe geheiratet und sprach nun bis zum Überdruss von den Freuden der Ehe. Ian hingegen hatte nur ein einziges Mal eine Hochzeit in Erwägung gezogen, doch Isabelle hatte sich als manipulative, verschlagene, geldgierige Lügnerin herausgestellt. Nachdem sie ihm ihre Liebe gestanden hatte, hatte sie seinen Vater geheiratet. Und ihr war bewusst gewesen, dass er diesen Mann hasste. Isabelle schien der Titel der Herzogin wichtiger gewesen zu sein als er. Dieser Verrat durch seinen Vater und Isabelle hatte ihm eine schmerzvolle Lektion erteilt – eine, die er niemals vergessen würde. Er würde sich nicht noch einmal von Gefühlen derart zurichten lassen.

Sein aktuelles Arrangement mit der verwitweten Lady Randall reichte ihm vollends. Sie erwarteten beide nichts als lustvolle Befriedigung vom anderen. Ganz ohne emotionale Verstrickungen.

„Wenn ich eine Frau heiratete, würde sie es nicht als ihre Aufgabe ansehen, sich um meine Mündel zu kümmern. Sie würde schlicht ein Kindermädchen einstellen. Dann hätte ich nicht nur ein unzufriedenes Kindermädchen, sondern auch noch eine Ehefrau, die ich nicht will.“

„Nun, da muss ich dir wohl recht geben, aber vielleicht könntest du eine Frau finden, die dich unterstützen kann. Die die Erziehung der Jungen nicht gänzlich von sich schieben würde. Eine Frau mit einem mütterlichen Wesen.“

Die törichte Vorstellung eines Mannes, der völlig vernarrt in seine Frau ist. Da er das Thema wechseln wollte, legte Ian seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Was bringt dich her?“

Julian zog einen Brief aus der Innentasche seines Gehrocks. „Der ist bei Magnus Shipping Offices eingetroffen. Unser neuster Dampfer scheint im Zeitplan zu sein und wird bald in Dienst gestellt.“

„Ausgezeichnet. Dann können wir die Calypso aus unserer Flotte ausmustern. Aber dein Grinsen verrät mir, dass du noch weitere Nachrichten hast.“

„Stimmt. Ich glaube, ich habe Bertram Floyd davon überzeugen können, uns sein Eisenwerk zu verkaufen.“

Ian lächelte. Die Entscheidung, Schiffe mit eisernen Hüllen zu bauen, würde Floyds Unternehmen in den kommenden Jahren substanzielle Profite einbringen. Und es würde die Produktionskosten der Flotte von Magnus Shipping senken, da sie das Eisen an Carver’s Ship Building liefern konnten, ein weiteres Unternehmen, das sie gerne erwerben wollten.

***

„Ich werde nicht hingehen!“ Lady Sara Elsmere sprang von ihrem Sitzplatz auf und straffte die Schultern.

Ihr Bruder, der Earl of Hampton, saß hinter dem riesigen Schreibtisch, der einst ihrem Vater gehört hatte, und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Doch, wirst du. Es ist höchste Zeit, deine Tage nicht länger mit der Untersuchung toter Käfer zu verbringen.“

„Ned, Tagfalter sind keine Käfer. Es sind Rhopalocera, eine Untergruppe der Insektenfamilie der Lepidoptera.“

„Es ist mir egal, wie sie bezeichnet werden. Nach Vaters Tod habe ich dich nicht dazu gezwungen, an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen, doch jetzt, da die Trauerzeit vorüber ist, musst du einen Ehemann finden.“

Ihr Bruder hörte sich an wie ihr lieber, verstorbener Vater. Hartnäckig und unwillig, zu verstehen, wie es ihr ging, wenn sie einen Ball besuchte. Die Männer auf dem Heiratsmarkt interessierten sich nicht für einen Blaustrumpf; eine Frau, die ihre Zeit am liebsten damit verbrachte, das Habitat von Schmetterlingen zu untersuchen. Erst recht, da ihr der Ruf vorauseilte, wie ein Schulmädchen zu kichern, wenn sie zum Tanzen aufgefordert wurde.

Nach dem Tod ihres Vaters war sie von Trauer ergriffen gewesen, doch sie hatte das vergangene Jahr zu Hause verbringen können, ohne dem Tratsch ausgesetzt zu sein, den andere Adlige hinter ihrem Rücken verbreiteten.

„Ich bestehe darauf, dass du in dieser Saison einen Ehemann findest.“ Ned schlug mit der Faust auf seine Schreibunterlage, sodass das Tintenfass im Ablagekasten klapperte.

„Du weißt, dass ich nicht heiraten will. Ich möchte mein Leben dem Studium der Schmetterlinge widmen. Ich bin eine Entomologin.“

„Unser Vater hätte dich nie aufs College gehen lassen dürfen.“

„Es war einer der letzten Wünsche meiner Mutter, dass ich weiterführende Bildung erhalte.“

Ned erhob sich mit einem vernichtenden Blick und fuhr sich mit der Hand durch sein braunes Haar, ehe er zum runden, mit Intarsien verzierten Tisch in der Ecke des Raumes stapfte. Er nahm eine große, weiße Schachtel, die mit einem rosaroten Band zugeschnürt war, kehrte zu ihr zurück und drückte ihr die Schachtel in die Hand.

„Was ist das?“, fragte sie, als sie das Paket entgegennahm.

„Dein Kostüm für Lord und Lady Farnsworths Maskenball kommende Woche.“

„Ich sagte dir schon, dass ich nicht hingehen werde.“

„Du wirst hingehen, sonst streiche ich dir das Geld.“

Ihr Mund wurde trocken und ihre Lippen schlaff. Sie benutzte dieses Geld, um ihre Studien zu finanzieren. Ned wusste, dass sie es als Frau schwer haben würde, einen Mäzen zu finden. Sie funkelte ihn an. „Das würdest du nicht tun.“

„Du weißt, dass ich keine leeren Drohungen mache.“

Das wusste sie in der Tat. Ihr Bruder konnte sehr verächtlich handeln, wenn ihm danach war. Einmal hatte er nach einem Streit mehrere ihrer konservierten Schmetterlinge aus ihren Behältern aus Glas und Holz geholt und sie zerstört.

„Du musst einen Ehemann finden, und das wird nicht geschehen, wenn du dich hinter deinen Studien versteckst.“

Es war nicht gerecht, dass ihr zwei Jahre jüngerer Bruder die Kontrolle über ihre Zukunft hatte, nur weil er ein Mann war; oder dass ihr Vater festgelegt hatte, dass sie ihr eigenes Erbe erst erhalten würde, wenn sie heiratete. Und selbst wenn es so weit kam, würde ihr Ehemann versuchen, das Geld zu kontrollieren.

„Du bist hübsch genug“, fügte Ned hinzu.

Hübsch genug. Ihr Vater hatte sie stets mit den gleichen Worten beschrieben. Irgendwie hatten sie aus seinem Mund nie wie ein Kompliment geklungen, und so wie Ned sie jetzt aussprach, klangen sie auch nicht besser.

„Vielleicht solltest du deine Haare anders tragen. Nicht in diesem strengen Knoten. Warum frisierst du es nicht so wie Louisa?“

Sie hatte nur auf diesen Vergleich gewartet. Warum verstand ihre Familie nicht, dass sie anders war als Louisa? Ihre Schwester würde höchstwahrscheinlich wieder zur unvergleichlichsten Schönheit der Saison gekürt werden. Sie wünschte ihr das zumindest. Louisa wäre überglücklich. Dann würde sie endlich wieder lächeln, was sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr getan hatte. Leider lag es weniger daran, dass ihr Vater ihr fehlte, sondern daran, dass Louisa das Rampenlicht vermisste – sie vermisste es, im Mittelpunkt zu stehen.

„Es könnte dein Gesicht sanfter wirken lassen, wenn du es mit ein paar freien Strähnen einrahmen würdest“, sagte Ned und drängte sich damit in ihre Gedanken.

Sie ignorierte seine Anmerkung, stellte die große Schachtel, die Ned ihr in die Hand gedrückt hatte, auf einer Ecke des riesigen Schreibtisches ab und löste das rosarote Band, das darumgebunden war. Wenn sie ihre Studien fortführen wollte, würde sie in der kommenden Woche wohl Lord und Lady Farnsworths Maskenball besuchen müssen. Sie hob den Deckel an und brachte darunter ein Rüschenkleid zum Vorschein, das aussah, als wäre es einem anderen Jahrzehnt entsprungen. Außerdem fand sie einen Strohhut mit breiter Krempe und eine goldfarbene venezianische Maske.

Sie holte das Kleid aus der Schachtel. Der Rock des blauen Kleides war mit mehreren Lagen Stoff verziert und der Saum mit etlichen Schleifen. Es war zwar nicht so haarsträubend wie das Kleid, das ihr Vater ihr für den Ball des Duke of Dorchester im vergangenen Jahr aufgezwungen hatte, doch es würde eindeutig Aufmerksamkeit erregen.

Sie kniff die Augen zusammen, als sie den Ausschnitt betrachtete, an dem mindestens eine Handbreit Stoff zu fehlen schien. „Wo ist der Rest des Mieders?“, fragte sie.

Ned legte die Stirn in Falten. „Was meinst du? Es sieht für mich völlig in Ordnung aus.“

Was sie meinte? „Das, was ich gesagt habe. Das Dekolleté ist viel zu tief geschnitten. Ich werde dieses lächerliche Kostüm nicht anziehen.“

„Oh doch, das wirst du.“

„Dann soll ich also als Liebesdienerin gehen?“

Die Nasenlöcher ihres Bruders weiteten sich und er deutete zur Wand. „Sei nicht albern. Es ist das Kleid einer Hirtin.“

Saras Blick richtete sich auf den Hirtenstab, der an einem Bücherregal lehnte. Er war mit einem blauen Satinband verziert, das sich um den Stab wand. Sie malte sich aus, was sie mit diesem Stab gerne tun würde, und das hatte nichts mit dem Hüten von Schafen zu tun. Doch wenn sie ihrem Bruder den Stab über den Kopf zog, würde er ihr ganz sicher das Geld streichen.

„Ich bin zu alt, um ein solches Kostüm zu tragen.“

„Du bist achtundzwanzig und damit schon eine alte Jungfer. Es ist an der Zeit, dass wir das ändern.“

„Wie kann es sein, dass ein Mann mit achtundzwanzig in der Blüte seiner Jahre steht, während man eine Frau im gleichen Alter als alte Jungfer ansieht?“

Ned blinzelte, als würde ihn diese Frage verwirren. „Es ist einfach so.“

„Das ist keine Antwort.“

Seine Kiefermuskeln verspannten sich. „Du wirst nächste Woche am Maskenball von Lord und Lady Farnsworth teilnehmen, sonst gebe ich dir keinen einzigen Penny mehr, um deine Insekten zu studieren.“

Hitze brannte in ihren Wangen.

„Wallace wird dir dabei helfen, dich anzukleiden und dein Haar herzurichten“, fügte Ned hinzu.

„Ich kann mich alleine ankleiden und herrichten. Ich brauche die Hilfe der Zofe nicht. Sie kann sich wie üblich um Louisa kümmern.“

„Das war keine Bitte, Sara.“

„Welchen Unterschied wird es machen?“ Sie nahm den breiten Strohhut aus der Schachtel. „Diese Abscheulichkeit wird meine Frisur verstecken.“

„Nicht im Rücken, wenn du dein Haar offen lässt.“

„Offen? Jetzt gehst du ein wenig zu weit.“

Er warf ihr einen süffisanten Blick zu. „Die Tage, in denen du dich zusammen mit deiner Sammlung toter Käfer verstecken konntest, sind gezählt.“

„Insekten! Und du kannst mir deinen Willen nicht aufzwingen.“

„Oh doch. Es sei denn, du möchtest, dass ich diese Insektensammlung in die Themse werfe.“

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie konnte gar nicht glauben, dass ihr Bruder ihr nicht nur damit drohte, ihr das Geld zu streichen, sondern auch mit der Vernichtung ihrer jahrelangen Arbeit. Ihre Sammlung bestand aus Exemplaren, die sie im Verlauf einer Dekade gesammelt hatte. Sie kniff die Augen zusammen und öffnete den Mund, um Ned detailliert zu sagen, was sie von ihm hielt.

Ihr Bruder hob eine Hand. „Ich meine es ernst. Es wird keine Verhandlung geben.“

Da sie wusste, dass sie kaum eine Wahl hatte, stürmte sie mit dem grässlichen Kostüm in Händen aus dem Raum.