Leseprobe Wie heiratet man einen Schurken?

Kapitel 1

Canterbury, England

Drei Tage später

Grace Fairchild war verwirrt. Sie träumte. Sie wusste es. Doch der Traum ergab keinen Sinn. Oh, sie hatte schon solche Träume gehabt: vage, unruhige Träume von einem Mann, der mit ihr schlief. Aber für gewöhnlich waren ihre Träume verschwommen, eher Andeutung als Tatsache. Eher visuell als emotional. Nachdem sie ihr ganzes bisheriges Leben beim Militär verbracht hatte, wusste sie, wie es aussah, wenn ein Mann mit einer Frau schlief. In Indien hatte sie Darstellungen des Aktes gesehen – gemalt oder in die Mauern eines Tempels geritzt –, Bilder von Paaren, die sich eng umschlungen im Rausch der Gefühle wanden.

Ihre Träume spiegelten diese Darstellungen wider. Sie sah, was passierte; sie spürte es nicht. Selbst wenn ihr Traumpartner sie nahm, war sie nur die Beobachterin, eine Voyeurin in ihrem eigenen Schlafgemach.

Dieses Mal war jedoch alles anders. In diesem Traum konnte sie ihren Liebhaber spüren, der, dicht an ihren Rücken geschmiegt, hinter ihr lag. Haut an Haut, Hitze an Hitze, pochendes Herz an pochendem Herz. Sein frischer Duft drang ihr in die Nase. Sein Atem wehte durch ihr Haar. Er liebkoste ihren Hals und löste eine Welle von Schauern aus, die durch ihren Körper rieselte. Mit seinen rauen Fingern strich er sacht über jeden ihrer Rückenwirbel. Sie hätte schwören können, seine Haare an ihren Beinen und an ihrem Po zu spüren; und sie hörte ihren und seinen Atem.

Sie erschauerte, bevor ein Ansturm von Empfindungen sie überrollte, die sie nie zuvor erlebt hatte: eine beinahe schmerzvolle Lust, Hitze wie unter der Sonne von Madras, Schauer, die durch ihren Körper zuckten wie Blitze. Ihre Haut schien Feuer gefangen zu haben, seine raue Hand entzündete sie wie Feuerstein trockenen Zunder. Eine himmlische, begierige Erregung erfasste sie, strich über ihre Beine, über die empfindsame Haut ihrer Brustspitzen, durch die tiefsten Tiefen ihres Bauches, um ihren geheimsten Punkt zu treffen – wie die Sonne einen schlafenden Samen wach küsste. Ihr Innerstes fühlte sich an, als würde es schmelzen, und sie schien nicht stillhalten zu können.

Im Schlaf lächelte sie, denn im Schlaf war es sicher, sich ihren Träumen hinzugeben. Hier konnte sie sich in Erinnerung rufen, dass unter den grauen Kleidern und der sachlichen Miene, die jeder sah, eine Frau steckte. Und dass selbst eine unscheinbare Frau dasselbe wollte wie alle anderen Frauen, die das als selbstverständlich betrachteten. Berührungen. Freude. Lust. Sie wollte eines dieser Tempelbilder sein.

In ihrem Kopf bat sie ihn, sich zu beeilen. Das Feuer zu schüren; den Hunger zu stillen. Sie an sich zu ziehen, noch näher, damit sie nie wieder allein sein musste. Sie streckte sich wie eine Katze in der Sonne und drängte sich dichter an seinen muskulösen, schlanken Körper. Als sie den harten Schaft spürte, der sich gegen ihren Po presste, rang sie nach Luft. So eine neue lustvolle Empfindung, so fesselnd. So sinnlich.

Sie hörte ein Stöhnen – eine raue, tiefe Klage, die in ihr widerhallte. Ein erotischer, faszinierender Laut. Sie musste leise lachen. Mit der einen Hand streichelte er ihre Brüste und reizte die Nippel, bis sie sich aufrichteten. Mit der anderen Hand strich er langsam nach unten, stahl ihr den Atem. Ihr Herz hämmerte, ihre Haut war feucht. Wieder hörte sie ein Aufstöhnen.

Sie erstarrte und schlug die Augen auf.

Sie hatte tatsächlich ein Stöhnen gehört.

Verzweifelt versuchte sie nachzudenken. Sie konnte das fahle Licht der Morgendämmerung sehen, das durch das Fenster in das Pensionszimmer drang. Ja, das stimmte. Am Abend zuvor hatte sie mit ihrer Freundin Lady Kate zusammen im Falstaff Inn in Canterbury haltgemacht. Behutsam sog sie die Luft ein und rechnete damit, den Rauch des Feuers zu riechen, die frische Luft, die durch das offene Fenster kam, ihren eigenen Duft nach Rosenwasser. Aber stattdessen roch sie Brandy und Tabak und den unterschwelligen Geruch von Moschus. Sie nahm Männerschweiß wahr.

Ihr Herz zog sich zusammen. Ihr Gehirn setzte aus. Es war ein Traum gewesen, und sie hatte sich den Mann nur eingebildet – da war sie sich sicher. Warum konnte sie ihn dann trotzdem riechen? In dem Moment spürte sie, wie seine Hand zu den Löckchen zwischen ihren Schenkeln glitt. Und da wusste sie es. Er war kein Traum.

Kreischend richtete sie sich auf. Die Decke hatte sich um ihre Beine gewickelt. Sie zerrte an dem Stoff, trat mit den Füßen danach und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Unglücklicherweise waren ihre Bemühungen ein bisschen zu überschwänglich, und sie fiel aus dem Bett. Wild mit den Armen rudernd, versuchte sie noch, das Gleichgewicht zu halten. Mit einem lauten Aufschrei landete sie unsanft auf dem Boden.

Einen Augenblick lang blieb sie überrascht liegen. Sie hatte die Augen geschlossen. Schmerz jagte durch ihr schlimmes Bein, und ihr Magen drohte zu rebellieren. Die Hitze in ihr war mit einem Schlag erloschen. Ihr war schwindelig, ihr Mund war trocken, und sie war verwirrt. Und offensichtlich lag sie auf dem Boden im Schlafzimmer eines fremden Mannes und hatte sich in seiner Bettdecke verfangen. Herr im Himmel, wie hatte es so weit kommen können?

»Verflucht noch mal!«, erklang eine Stimme aus dem Bett. Ohne die Augen zu öffnen, wusste sie, dass es noch weitaus schlimmer war, als sie angenommen hatte. Denn im Bett lag kein Fremder. Es war Diccan Hilliard, der eleganteste Junggeselle in ganz England. Der einzige Mensch, dem es bei jeder Begegnung mühelos gelang, aus Grace eine stammelnde Närrin zu machen.

Noch immer fluchend, setzte er sich auf. In der Morgensonne sah seine Haut so golden aus wie auf einem Gemälde von Rembrandt. Seine Muskeln und Sehnen und Knochen wirkten wie aus flüssigem Gold. Schatten grenzten sein kantiges Kinn und die Wangen ab und spielten in seinem zerzausten dunkelbraunen Haar, als er mit gespreizten Fingern hindurchfuhr. Er schüttelte den Kopf, dann rieb er sich die Augen. Grace wusste, dass sie fliehen sollte, ehe er sie erblickte. Allerdings schien sie den Blick nicht von ihm abwenden zu können.

Hätte er noch verlockender sein können? Man konnte ihn nicht direkt als hübsch bezeichnen. Sein Gesicht war ein bisschen zu breit, seine Nase ein wenig schief, seine Augen zu geisterhaft grau. Doch er war groß und elegant und bis in die Zehenspitzen aristokratisch. Der perfekte Widerspruch zu der hoffnungslosen Jungfer, die wie ein Häufchen Elend auf seinem Fußboden kauerte.

»Merde«, murmelte sie verzweifelt.

Bei dem Geräusch wandte er sich ihr zu und starrte sie mit offenem Mund an. Augenscheinlich hatte er jetzt erst erkannt, wen er da liebkost hatte.

»Miss Fairchild«, sagte er mit eisiger Stimme. So anmutig wie ein Gott stieg er aus dem Bett, ging zu ihr und blieb vor ihr stehen. »Wenn ich fragen darf: Was, zum Teufel, machen Sie hier?«

Ihr stockte der Atem, und sie konnte nicht antworten. Grundgütiger, er war nackt. Er war atemberaubend. Seine Schultern waren kräftig und seine Arme muskulös. Seine Brust war straff und schlank. Ein Streifen lockiger dunkler Haare zog sich hinunter bis zu seinem … Ihr wurde heiß, und die Röte schoss ihr in die Wangen. Um Himmels willen. Er war prachtvoll. Er war wie eine antike Statue, die zum Leben erwacht war … nun, bis auf eine Kleinigkeit.

Na ja. Eigentlich war es keine Kleinigkeit. Und »er« ließ sich nicht übersehen. Er war nicht nur auf Augenhöhe. Wenn die alte Tempelkunst zumindest im Wesentlichen der Wahrheit entsprach, war Diccan Hilliard erregt. Der bloße Anblick seiner Erektion, die sich aus dem Nest dunkler Haare emporreckte, jagte ihr Schauer durch den Körper. Dagegen verblassten die zweidimensionalen bunten Bilder.

Natürlich sank sein Schaft in sich zusammen, als er sie erblickte.

»Ich muss noch immer träumen«, murmelte sie. Zu ihrer Schande schien sie nicht wegschauen zu können. »Das ist es. Ein Albtraum. Ich hätte gestern Abend auf das zweite Stück Taube verzichten sollen.«

Sie hätte ihre Augen schließen sollen. Sie hätte ihre Kleider zusammensammeln und weglaufen sollen. Sie hätte sich zumindest verteidigen sollen. Aber sie konnte nichts anderes tun, als zu blinzeln. Noch immer spürte sie seine Hände auf ihrer Haut, das unerträglich lustvolle Gefühl seines Körpers, der sich an ihren schmiegte. Beim Anblick seiner entsetzten Miene wollte sie vor Scham im Boden versinken.

»Ich hätte etwas anderes von Ihnen erwartet, Miss Fairchild«, sagte er. In seiner Stimme lag Verachtung, und seine Hände hatte er in seine sündhaft schmalen Hüften gestemmt. »Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass Sie eines dieser durchtriebenen Luder sind, die sich in das Bett eines Mannes schleichen. Was haben Sie mir in mein Getränk gemischt?«

Mit einem Mal war Grace wütend. Sie kam auf die Füße und hielt sich an einem Bettpfosten fest, als ihr schlimmes Bein sich schmerzhaft verkrampfte. »Was ich Ihnen in Ihr Getränk gemischt haben soll, fragen Sie?«, erwiderte sie, außer sich vor Wut. »Sie unausstehlicher, selbstsüchtiger, eingebildeter Taugenichts! Sie wären der letzte Mensch auf Erden, den ich je …«

Statt sich zu entschuldigen, schloss er die Augen. »Um Himmels willen, Madame, bedecken Sie Ihre Blöße.«

Grace blickte an sich hinab und quietschte erschreckt auf. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie keine Kleidung trug. Sie hatte sich die Decke geschnappt, weil es kalt in dem Zimmer war. Nicht, weil sie … Oh, verflucht. Sie war genauso nackt wie er. Und im Moment gewährte sie ihm einen Blick auf jeden knochigen Zentimeter ihrer Brust und ihrer Schultern.

»Wo sind meine Kleider?«, rief sie und versuchte, jeden Zoll von sich mit der dicken Decke zu verbergen.

»Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit«, versetzte er knapp. »Bedecken Sie sich einfach.«

»Das könnten Sie auch tun«, erwiderte sie genauso knapp.

Mit gebieterischer Miene zog er eine Augenbraue hoch und betrachtete seinen Zustand. »Das könnte ich, oder? Doch ich dachte, das wäre es, auf was Sie aus waren.«

Grace spürte, wie die Panik ihr den Atem raubte. Ihr Kopf schmerzte. Ihr war übel. »Ich habe es Ihnen schon gesagt«, beharrte sie, und ihre Stimme klang unverzeihlich schrill, »ich war auf nichts aus.«

Plötzlich flog die Tür zum Zimmer auf und krachte gegen die Wand. Mindestens ein halbes Dutzend Menschen, die alle Nachtwäsche trugen, steckten den Kopf zur Tür herein und gafften. Grace tat das Einzige, was ihr einfiel: Sie ließ sich auf den Boden fallen und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

»Ist das nicht General Fairchilds Tochter?«, wollte eine Frau, die wie Lady Thornton klang, wissen. Grace machte sich unwillkürlich noch kleiner.

»Wie delikat«, sagte eine andere, dünnere Stimme. Ein erfreutes Kichern ertönte. »Dieses dumme unattraktive Ding denkt offensichtlich, dass es sich auf diese Weise Diccan Hilliard geschnappt hat.«

Grace hörte Gelächter und wollte sterben. Wie viele Menschen standen dort?

»Schön, Sie alle zu sehen«, sagte Diccan, als wären diese Leute auf eine Tasse Tee vorbeigekommen. »Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich mich Ihnen en deshabille präsentiere.«

Wieder erklang anzügliches Gelächter. Grace kniff die Augen zusammen. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie darüber kaum Lord Thornton und ein paar andere unbekannte Herren hören konnte, die laut über ihre Zukunft nachdachten und Wetten abschlossen. Sie hatte Angst, sich noch mehr zu blamieren. Ihr Magen war in Aufruhr, als wäre sie wieder auf dem Paketboot auf dem Kanal.

»Schön, schön«, hörte sie eine andere Stimme, die sich einmischte, und war erleichtert. »Letitia Thornton. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie nachts so etwas tragen. Eine erstaunliche Farbe. Sie müssen aus dem Schlaf gerissen worden sein. Keine sehr attraktive Tageszeit für Sie, nicht wahr? Und Geoffrey Smythe. Was für ein interessanter Morgenrock. Sind das Gockel auf Ihrer Brust? Hm. Ich muss zugeben, dass ich noch nie zuvor ein puterrotes Huhn gesehen habe.«

Lady Kate war da.

Wenn das alles jemand anders passiert wäre, hätte Grace vermutlich geschmunzelt. Sollte Kate ruhig die Crème de la Crème der feinen Gesellschaft dazu bringen, wie beschämte Debütanten davonzuhuschen. Aber es passierte ihr. Sie war diejenige, die nackt unter einer Decke auf dem Boden hockte, während das Publikum lachte.

Offenbar hatte sie überhört, wie die Tür geschlossen worden war, denn mit einem Mal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.

»Grace?«

Wenn das überhaupt möglich war, fühlte sie sich nun noch schlechter. Sie hatte nur wenige Freundinnen. Um ehrlich zu sein, waren es nur drei: Olivia Wyndham, Lady Bea Seaton und Lady Kate Seaton, die sie bei sich aufgenommen hatte, nachdem Grace' Vater bei Waterloo gefallen war. Lady Kate war es gewesen, die sich während dieser schrecklichen Zeit um sie gekümmert hatte, die sie beschützte und unterstützte, bis Grace sich an das Leben außerhalb des Militärs gewöhnt hatte. Grace konnte ihre Freundin nicht so blamieren. Selbst für eine berüchtigte Witwe wie Kate gab es keinen Grund, sich mit einer verdorbenen Jungfer abzugeben.

»Grace, sag mir, ob es dir gut geht«, bat Kate besorgt.

»Mir geht es gut«, brachte Grace hervor, während sie noch immer kläglich auf dem Boden kauerte.

Es kam ihr nicht in den Sinn, in Tränen auszubrechen. Soldaten weinen nicht, hatte ihr Vater ihr immer wieder gesagt. Zumindest nicht mehr nach ihrem siebten Geburtstag.

»Ist das einer deiner Scherze, Kate?«, hörte sie Diccan fragen. Er klang wie ein bockiges Kind.

Lady Kate schnaubte wütend. »Du bist wohl verrückt. Ich bin noch überraschter als du. Ich weiß mit Sicherheit, dass Grace eigentlich einen sehr viel besseren Geschmack hat.«

»Tja, mein schreckliches Kind«, knurrte er. »Deiner Freundin ist es gelungen, von den schlimmsten Klatschmäulern der feinen Gesellschaft in meinem Bett erwischt zu werden. Nackt.«

»Tatsächlich, Diccan? Dann muss sie ja ganz schön hinterlistig und schlau sein, da keiner von uns dich oder diese Leute hier erwartet hätte.«

»Verdammt, sie muss es gewusst haben! Sie sind hier. Und sie ist … hier.«

Lady Kate seufzte. »Deine Argumente wären sicherlich überzeugender, wenn du angezogen wärst, Diccan.«

»Und was ist mit ihr?«

Noch immer unter der Decke kauernd, zuckte Grace zusammen. Ihr Bein schmerzte. Die Decke fing allmählich an, unangenehm zu kratzen, und ein eisiger Luftzug wehte unter den Stoff und quälte sie. Und trotzdem hatte sie nicht vor, sich zu rühren.

»Grace kann sich ankleiden, sobald du verschwunden bist«, sagte Lady Kate über Grace’ Kopf hinweg. »Übrigens: aus ihrem Schlafzimmer.«

»Aus ihrem?«

»Das Bild ihres Vaters in Paradeuniform auf dem Nachttischchen sollte ein eindeutiges Zeichen sein.«

Grace lauschte dem Rascheln von Kleidung. Anscheinend zog er sich an.

»Was machst du überhaupt hier?«, erkundigte Lady Kate sich, als würden sie bei einer Tasse Tee zusammensitzen. »Wir sollten dich eigentlich morgen in Dover treffen.«

Mit einem Mal herrschte Stille. »Das hier ist nicht Dover?«

»Canterbury«, erwiderte Grace, ohne nachzudenken.

»Canterbury?«, wiederholte Diccan. Sämtliche Geräusche verstummten. »Hol's der Teufel. Wie, zur Hölle, bin ich hierhergekommen? Das Letzte, an was ich mich erinnere, ist, dass ich auf dem Paketboot nach Dover war. Wo ist Biddle?«

»Dein Diener?«, fragte Kate und klang belustigt. »Der ist ohne Zweifel auf der Suche nach dir. In Dover. Wir werden jemanden nach ihm schicken, sobald wir alle angezogen sind. Geht es dir unter der Decke noch immer gut, Grace?«

Grace spürte wieder, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Kannst du meine Kleider sehen?«, fragte sie.

»Sie sind im Zimmer verstreut, als hätten sie in Flammen gestanden und du hättest sie dir in Panik vom Leib gerissen«, entgegnete Kate. »Noch ein Grund, der mich in der Überzeugung bestärkt, dass du hier nicht die Schuldige bist. Selbst während der grauenvollen Tage, in denen wir uns um die Verwundeten von Waterloo gekümmert haben, hast du stets deine Kleider zusammengelegt – wie eine erstklassige Zofe.«

»Sie hätte es aber auch eilig haben können, ins Bett zu kommen«, warf Diccan trocken ein.

»Ganz sicher nicht mit dir«, antwortete Kate und klang entzückt. »Sie mag dich nämlich nicht.«

Grace stieß einen Protestlaut aus. Es war unhöflich, so etwas zu sagen – selbst wenn es stimmte. Sie mochte ihn tatsächlich nicht. Das bedeutete aber nicht, dass sie gegen ihn gefeit war. Er war wie ein kaputter Zahn, den Grace immer mit der Zunge berühren musste; eine Erinnerung daran, was sie nicht war und niemals sein würde.

»Sei nicht albern«, erwiderte Diccan. »Jeder mag mich.«

»Würden Sie jetzt bitte Ihre Hose anziehen und gehen?«, bat Grace, die allmählich die Geduld verlor. »Ich bekomme hier unten sonst Schüttelfrost.«

Und er besaß die Unverfrorenheit, leise zu lachen. » Alles, was Sie wünschen, Boudicca.«

Grace fühlte sich schlagartig noch schlechter. Ein paar Monate zuvor hatte Diccan ihr den Spitznamen der britannischen Königin und Heerführerin gegeben – ohne Zweifel, weil ihm sonst keine Frau einfiel, die groß genug war, um ihm in die Augen zu blicken. Was, wie Grace inzwischen wusste, nicht unbedingt ein Kompliment war.

»Warum reservierst du nicht ein privates Speisezimmer für uns drei?«, schlug Kate vor. »Wir treffen uns dann gleich dort.«

Grace vernahm ein unverständliches Brummen.

»Vertrau mir«, sagte Kate lachend. »Sie ziehen sich gerade an. Du musst versuchen, in den Salon zu gelangen, ehe sie wieder aus ihren Zimmern kommen. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass eine dieser Personen Letitia Thornton ist – und du weißt, dass ein Tag für sie nur dann ein guter Tag ist, wenn sie den Ruf von dem einen oder anderen zerstört hat.«

Dieses Mal war es Grace, die aufstöhnte. Die Nachricht von ihrem Unglück, ihrem Ruin, würde noch vor dem

Abendessen in ganz London die Runde gemacht haben. Diccan schien nichts mehr zu sagen zu haben. Grace hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und wusste ohne Zweifel, dass er gegangen war.

»Komm raus, kleine Schildkröte«, sagte Lady Kate. Ihre Stimme klang für Grace' Geschmack viel zu freundlich.

Grace blickte unter der Decke hervor und sah, wie Kate die eingesammelten Kleider auf das Bett legte. »Ich habe wirklich nicht versucht, ihn in eine kompromittierende Situation zu bringen, Kate.«

Kates Lächeln war gütig. »Meine liebe Grace, das habe ich auch nie angenommen.« Sie legte den Kopf schräg. »Trotzdem war es eine Überraschung. Wer hätte gedacht, dass Diccan über derart erstaunliche … Merkmale verfügt?«

Grace hätte sich um ein Haar wieder unter der Decke verkrochen. Kate hatte eines dieser Merkmale nicht einmal in voller Pracht gesehen.

Anscheinend entging Kate Grace' Reaktion, denn sie trat ans Fenster und ließ sich in einem Sessel nieder. Die Sonne fiel warm auf ihr hellgelbes Kleid und ließ ihr Haar schimmern. Die dichten rotbraunen Locken umrahmten das reizende Gesicht, das durch kluge grüne Katzenaugen belebt war. Grace fühlte sich in ihrer Gegenwart wie ein Ackergaul.

»Eines muss ich allerdings zugeben«, fuhr Kate fort. Ein Schatten huschte über die glänzenden Augen. »Es lässt sich nicht verleugnen, dass wir in der Bredouille stecken. Was weißt du noch vom gestrigen Abend?«

Vorsichtig erhob Grace sich und sammelte ihre Kleider zusammen. Grace konnte das Durcheinander nicht betrachten, ohne an die paar Momente des Glücks zurückdenken zu müssen. Sie wusste, dass sie ungefähr von den

Knien aufwärts rot geworden war. Rothaarige Menschen erröteten leicht – Grace bekam hektische Flecken.

»Ich erinnere mich daran, hier angekommen zu sein«, begann sie, während sie sich bemühte, in ihr Unterkleid zu schlüpfen und ihren Reifrock anzulegen. »Ich erinnere mich an das Abendessen.«

Kate nickte. »Großartiger Braten. Die Rüben dagegen waren nicht der Rede wert.«

»Ich erinnere mich auch daran, dass wir nach dem Essen ein Glas Cognac getrunken haben.«

»Hat der Cognac seltsam geschmeckt?«

Unwillkürlich musste Grace lächeln. »Cognac schmeckt meiner Meinung nach immer seltsam, Kate. Im Gegensatz zu dir habe ich nie eine Vorliebe dafür entwickelt.«

»Und nachdem ich dich in dein Zimmer gebracht habe?«

Das graue Kleid in der Hand, hielt Grace inne. Sie versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen: Ins Zimmer gekommen zu sein, die Kerze auf die kleine Kommode gestellt und den Knoten in ihren Haaren gelöst zu haben.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich die Treppe hinaufgekommen bin. Hast du mich wirklich in mein Zimmer gebracht?«

»O ja. Ich nehme an, dass es mir aufgefallen wäre, wenn Diccan sich schon im Raum befunden hätte.«

»Ich hätte mehr Lärm gemacht als eine von Artillerieoffizier Whinyates’ furchtbar lauten, aber nicht sehr brauchbaren Raketen.«

»So wie heute Morgen?«

Grace seufzte und fragte sich, ob sie sich noch elender fühlen konnte. »Wie konnte das alles passieren?«

Lady Kate erhob sich und strich sich das Kleid glatt. »Eine exzellente Frage. Zieh dich an, meine Liebe, und

dann sehen wir mal, ob wir die Antwort darauf finden können.«

Diccan Hilliard war wütend. Natürlich sah man ihm das nicht an. Schon vor langer Zeit hatte Diccan die Maske ungerührter Gleichgültigkeit perfektioniert, die zu seinem Markenzeichen geworden war. Doch als er fünfzehn Minuten später den Flur entlang in Richtung des privaten Speisezimmers schlenderte, kochte er innerlich. Wie hatte das passieren können? Er war schließlich kein Grünschnabel, der sich mit heruntergelassener Hose erwischen ließ. Und doch war er irgendwo zwischen Paris und Dover unter Rauschmittel gesetzt, überrumpelt, ausgezogen und in diese unmögliche Situation gebracht worden. Und zwar nicht von Grace Fairchild. Egal, wie sehr er es auch versuchte – die Fakten wollten einfach nicht zu seinen Anschuldigungen passen. Grace Fairchild war mit Kate zusammen gewesen und hatte sich nicht, eine Flasche Laudanum unter ihrem Rock versteckt, auf das Paketboot geschlichen.

Steckten tatsächlich die Löwen dahinter? Hatte Bertie recht gehabt? Diccan rang den Drang nieder, sich verwirrt über die Stirn zu streichen. Ihm war noch immer schwindelig vom Laudanum, und sein Kopf schien zu klein für sein schmerzendes Gehirn zu sein. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, was in seiner derzeitigen Lage verflucht unpraktisch war. Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, saß er in Canterbury fest, obwohl er so schnell wie möglich nach London musste, um Berties Informationen weiterzuleiten. Er musste den armen, traurigen Jungen rehabilitieren, den er in dem stinkenden Apartment hatte liegen lassen. Er musste sich selbst rehabilitieren, weil er ihn enttäuscht hatte.

Er verspürte den Drang, laut zu fluchen. London musste warten. Er saß hier fest, bis er diese Unannehmlichkeit behoben hatte. Er musste seinen Diener ausfindig machen, der eigentlich bei ihm hätte sein sollen. Er musste herausfinden, wie er hierhergekommen war und wie sein Pferd in den Stall gekommen war. Und er musste sich mit Grace Fairchild auseinandersetzen.

Himmel, dachte er. Sein Kopf schmerzte immer schlimmer. Warum sie? Grace Fairchild war vermutlich die ehrenhafteste, angesehenste unverheiratete Frau in England. Außerdem war sie die bedauernswerteste. Größer als die meisten Männer, sah sie, um es geradeheraus zu sagen, unscheinbar und recht unattraktiv aus. Seine Tante Hermitrude sah besser aus, und die war immerhin schon sechzig Jahre alt und schielte. Um es noch schlimmer zu machen, ging Miss Fairchild nicht – sie taumelte wie ein Seemann an Land. Wer auch immer ihr den Namen Grace verpasst hatte, musste blind gewesen sein. Wer auch immer Diccan in ihr Bett gelotst hatte, musste grausam sein.

Er mochte sie. Er mochte sie wirklich. Das bedeutete aber nicht, dass er die nächsten vierzig Jahre lang morgens neben ihr aufwachen wollte. Seine Hoden zogen sich beim bloßen Gedanken daran schon zurück. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, dass er erregt aufgewacht war und dass diese knochige Frau der Grund dafür gewesen sein sollte.

Er sah den Fachwerkflur entlang zur Eingangstür. Ihm schoss durch den Kopf, wie leicht es wäre, einfach zu verschwinden. Er müsste nur durch die Tür gehen, auf Gadzooks steigen, losreiten und erst wieder anhalten, wenn er London erreicht hätte. Vielleicht nicht einmal dann.

Allerdings war das genau die Reaktion, die seine Feinde sich von ihm erhofften. Falls er sie nicht heiratete, wäre sein Ruf ruiniert – und zwar noch gründlicher als der von Lord Byron. Und jeder von ihm geäußerte Verdacht würde erst einmal angezweifelt werden. Falls er sie heiratete, würde ihn das aufhalten und ablenken und den Löwen die Zeit geben zu suchen, was sie verloren hatten, und dann Wellington anzugreifen. Es war eine schwere, eine schier unmögliche Entscheidung.

Verdammt. Verdammt! Das hatte er nicht verdient. Nicht jetzt, da der Krieg vorüber war und er endlich aus den Schatten treten konnte. Nicht jetzt, da seine Zukunft so vielversprechend aussah.

Ein schlurfendes Geräusch warnte ihn, dass er nicht mehr allein war. Als er in Richtung des großen öffentlichen Speisesaals blickte, bemerkte er, dass sich beinahe alle Zeugen des morgendlichen Fiaskos zu ihm gesellt hatten. Natürlich würde Lord Thornton wieder als Erster sprechen. Sein Standesgenosse, der wie ein Schwein aussah, und seine dürre Gattin waren keine Freunde von Grace.

»Ließ sich in der Stadt nichts Besseres finden, um sich die Zeit zu vertreiben, alter Junge?«, fragte Thornton mit einem affektierten Lächeln und einem Stoß in die Rippen seines Freundes Geoffrey Smythe. »Ich weiß, dass Sie Ihrer hübschen kleinen Geliebten nachtrauern, die Sie in Belgien zurücklassen mussten. Doch selbst Ihr klappriger Gaul mit dem Hohlkreuz wäre lieblicher.«

Die Bosheit in den Worten ließ Diccan erstarren. »Wie bitte?«

Der dicke Lord gluckste. Er stellte seinen Mangel an Intelligenz unter Beweis, als er sich nahe genug zu Diccan vorbeugte, sodass der seinen schlechten Atem riechen konnte, und dann sagte: »Obwohl die beiden eine gewisse Ähnlichkeit haben.«

Bewusst atmete Diccan langsamer. Er musste sich ermahnen, dass es nur noch mehr Zeit kosten würde, wenn er diesen Wurm auf dem Boden zertreten würde. »Mein Freund«, entgegnete er ruhig, »ich weiß, wie vernünftig Sie sind.«

Plötzlich wirkte Thornton etwas weniger selbstsicher. »Aber ja.«

Neben ihm lehnte sich der elegante Geoff Smythe an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust, als würde er es sich bequem machen, um sich ein Theaterstück anzusehen. Diccan beachtete ihn nicht weiter.

»Gut.« Er nickte Thornton zu. »Gut. Dann würden Sie ja auch nichts tun, was mich zwingen würde, Sie zum Duell zu fordern. In dem Wissen, dass ich mich schon viermal duelliert habe.« Er lächelte ihm knapp zu. »Und jedes Mal allein vom Platz gegangen bin.«

Fast sah es so aus, als würde Thornton schlucken. Dennoch hob der Mann das Kinn, sodass er nur noch drei hatte. »Sie übertreiben, nicht wahr? Sie werden das junge Ding doch wohl nicht heiraten.«

Diccan erstarrte. Natürlich dachte Thornton so. Die Löwen hatten darauf gezählt, wie ihm mit einem Mal klar wurde. Diccan hatte nie ein Geheimnis aus seinen sexuellen Vorlieben gemacht, und es gab keinen Menschen in der Stadt, der es wagen würde zu behaupten, dass Grace Fairchild seinen Anforderungen entsprach. Und hatte er nicht gerade noch hier gestanden und seine Flucht geplant?

Doch er konnte Grace nicht diesen Schakalen überlassen. Diese Genugtuung würde er Thornton nicht gönnen. Und er würde Thorntons Frau auch keine verletzliche Seele überlassen, die sie zerstören konnte. Grace verdiente etwas Besseres.

»Ich werde sie nicht heiraten?«, erwiderte er und ließ sein Monokel kreisen. »Warum nicht?«

Es war Geoff Smythe, der antwortete. Seine klassisch hellen, britischen Züge spiegelten seine Belustigung wider. »Warum nicht?. Sie wollen sich wirklich der Aussicht stellen, ihr jeden Morgen am Tisch gegenüberzusitzen, weil sie sich in Ihr Bett geschlichen hat?«

»Tatsächlich tue ich das«, entgegnete Diccan und wandte sich ab, damit niemand sehen konnte, wie ihm die Tragweite seiner Entscheidung gerade selbst bewusst wurde.

»Jetzt mal im Ernst«, widersprach Thornton und packte Diccan am Arm. »Sie können das Mädchen nicht heiraten.«

Diccan bemerkte einen leichten Schweißfilm auf Thorntons Stirn.

»Welche Alternativen würden Sie vorschlagen?«

Aber Thornton schien darauf keine Antwort einzufallen. Grundgütiger, dachte Diccan. Steckt Thornton auch mit in der Sache? Er ist mit Sicherheit nicht derjenige, der das alles geplant hat. Thornton kann nicht einmal ein Frühstück organisieren. Vielleicht sollte er jedoch Zeuge sein. Der Erpresser.

Was Geoff Smythe anging, war Diccan sich nicht so sicher. Geoff Smythe war ein stilles Wasser. Ein Mensch, den er genauer unter die Lupe nehmen musste. Sobald er von hier weg war.

»Der Pater will mich schon seit Jahren davon überzeugen, zur Ruhe zu kommen«, sagte Diccan und schob Thorntons Hand von seinem Arm. »Ich denke, Miss Fairchild ist genauso gut wie jede andere. Wenn ich sie heirate, werden Sie sicher verstehen, dass ich weitere Verunglimpfungen meiner Frau nicht dulden kann.«

Thornton wirkte, als wäre ihm übel. »Selbstverständlich«, murmelte er. Smythe lächelte noch immer.

Diccan drehte sich wieder um, um zu gehen, als er noch einmal innehielt. »Übrigens, Thorny«, sagte er, als wäre ihm nicht aufgefallen, dass der dicke Mann sich die Stirn mit einem bestickten Taschentuch abwischte. »Ich weiß, warum ich hier bin. Doch was, um alles in der Welt, hat Sie an einen langweiligen Ort wie Canterbury geführt?«

Thornton erschrak. Das Taschentuch fiel ihm aus der Hand wie ein Blatt von einem Baum. »Ich wollte mir Pferde ansehen. Der alte Brickwater hat einige zu verkaufen.«

Wenn er Thorntons Leibesfülle so betrachtete, hoffte Diccan, dass Brickwater Ackergäule verkaufte. Er schwieg jedoch und nickte nur knapp, ehe er ging.

Die Bediensteten des Falstaff hatten offenbar geahnt, was er brauchte, denn als er den privaten Salon erreichte, standen eine Kaffeekanne und eine Tasse auf dem Tisch. Er ließ sich in einen Sessel sinken und trank eine Tasse Kaffee nach der anderen, bis er wieder klar denken konnte.

Aber mit klarem Kopf sah die Situation auch nicht viel besser aus. Noch vor einer Woche hatte er voller Zuversicht in die Zukunft geblickt. Man hatte ihm eine Entschädigung für seine harte Arbeit versprochen. Eine traumhafte Stellung in einer der neu eröffneten Botschaften vielleicht. Einen Platz bei den Friedensgesprächen. Er hätte sich endlich amüsieren und tun können, was er am besten konnte, und das Beste genießen, was die Welt zu bieten hatte.

Über eine Ehe hatte er bisher noch nie nachgedacht. Es würde sich schon ergeben, wenn er bereit war. Wahrscheinlich würde er die Tochter eines Diplomaten heiraten; jemanden wie seine Cousine Kate: scharfsinnig, intelligent, elegant und eine Herausforderung. Eine Frau, die ihn dabei unterstützen konnte, seinen Weg zu planen, und die den Erfolg, von dem sie beide träumten, mit ihm feiern würde. Stattdessen musste er sich überlegen, was er mit Grace Fairchild machte.

Frustrierend war, dass er rothaarige Frauen mochte. Er konnte sich nichts Herrlicheres vorstellen als das flammende Rot zwischen den Schenkeln einer Frau, eher Versprechen als Farbe, eine Andeutung der Freuden, die darunter verborgen lagen, ein Aufleuchten von Verlockung, Hitze, Begierde. Er liebte alles an rothaarigen Frauen. Er liebte ihre milchweiße Haut, ihre lebhafte Persönlichkeit, ihr eindrucksvolles Temperament. Er liebte sogar die Farbe ihrer Sommersprossen. Tatsächlich liebte er Rothaarige so sehr, dass er seinen letzten beiden Geliebten vorgeschlagen hatte, ihm zuliebe ihr Schamhaar mit Henna rot zu färben. Beim bloßen Gedanken daran schoss ihm das Blut in die Lenden.

Bis auf die Sommersprossen hatte Grace Fairchild nichts von alledem vorzuweisen. Sie einen »Rotschopf« zu nennen, grenzte schon an übertriebene künstlerische Freiheit. Ihr Haar war farblos, fast so ausgewaschen und fade, wie man es bei alten Frauen sehen konnte. Ihre Haut war unglaublich dunkel, da sie jahrelang unter der iberischen Sonne gelebt hatte. Und ihr Erröten war unvorteilhaft. Sie hatte keine nennenswerte Form, kein Temperament, keinen Schwung.

Die schärfste Reaktion, die er je bei ihr erlebte, hatte sie an dem Tag gezeigt, als er sie zum ersten Mal Boudicca genannt hatte. Für einen winzigen Moment hatte ein Funke in ihren Augen geleuchtet, hatte kühner Trotz sie ein bisschen aufrechter stehen lassen. Doch so schnell ihr Zorn sich erhoben hatte, war er auch wieder verschwunden, fast so, als gäbe es keinen Platz für ihn. Die Leute erzählten sich, dass sie nicht einmal geweint hätte, als sie den Leichnam ihres Vaters aus Waterloo geholt hatte.

Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und sie kam herein. Sie trug eines dieser grauen Kleider, die sie immer anhatte. Ihre Haare waren zu einem festen Knoten zurückgebunden. Es überraschte Diccan nicht, dass sie ihn nicht ansehen konnte. Er konnte genauso wenig glauben, was an diesem Morgen passiert war. Seine Hoden schmerzten noch immer, weil seine Erwartungen unerfüllt geblieben waren. Als er sie nun wiedersah, konnte er sich nicht erklären, warum er so empfand. Sein Körper schien an dieser schlaksigen, unscheinbaren Frau, die mit der Lebhaftigkeit eines angeschossenen Kavallerieoffiziers ins Zimmer humpelte, vollkommen uninteressiert zu sein.

Diccan hätte sich mit einem Seufzen beinahe selbst verraten, als er sich erhob und tief verneigte, während Kate Miss Fairchild folgte und die Tür schloss. »Kate. Miss Fairchild. Ich werde nach dem Frühstück klingeln.«

Miss Fairchild wurde kreidebleich. »Nicht für mich, danke. Nur etwas Tee und Toast.«

Diccan legte den Kopf schräg und musterte sie. »Ist Ihr Magen ein wenig in Aufruhr?«

»Ein wenig.«

»Kopfschmerzen? Verwirrung? Schwindel?«

Sie blickte kurz auf, als sie den Tisch erreichte. »So ist es.«

Diccan rückte ihr den Stuhl zurecht und wartete ab, bis sie sich gesetzt hatte. »Das dachte ich mir. Ich habe diese Symptome ebenfalls. Ich weiß nicht, ob Sie bis zum Umfallen trinken, Miss Fairchild, aber ich mache das so gut wie nie. Und schon gar nicht auf einem Paketboot. Da es keine anderweitigen Beweise gibt, gehe ich davon aus, dass wir beide unter Drogen gesetzt wurden.«

Er war enttäuscht, als Miss Fairchild nicht reagierte. »Das überrascht Sie nicht?«, fragte er.

Ruhig blickte sie zu ihm auf. »Das würde einiges erklären.«

Er schüttelte den Kopf. Ihre Gelassenheit verwirrte ihn. »Kate«, sagte er und wandte sich um, damit er auch seiner Cousine den Stuhl anbieten konnte, »wer hat dir die Nachricht geschickt, mich zu treffen?«

Sie nahm Platz. »Ich dachte, die Nachricht wäre von dir gekommen. Ich nehme an, ich habe mich geirrt.«

»Das hast du. Wo hast du sie bekommen?«

»Wir waren das Wochenende über auf dem Land bei Marcus Drake. Gestern Abend haben wir es dann bis Canterbury geschafft.«

Bei der Erwähnung des Namens drehte sich Diccan abrupt ihr zu. »Drake? Wer wusste, dass du dort sein würdest?«

Kate warf ihm ein Lächeln zu. »Jeder, denke ich. Die Mitteilung stand im Gesellschaftsteil.«

Dennoch. Marcus Beiden, Earl of Drake, war derjenige, der Diccan gebeten hatte, sich mit Evenham zu treffen. War er möglicherweise in dieses Fiasko verstrickt? Diccan wollte es nicht glauben.

»Die Nachricht schien aus deiner Feder zu stammen«, sagte Kate und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Weißt du, was der Grund sein könnte?«

»Ich war in einige delikate Verhandlungen verwickelt. Die neuen Landesgrenzen in Europa nach dem Krieg und so etwas.« Er zuckte mit den Schultern und hoffte, er würde überzeugend wirken. »Vielleicht wollte jemand, dass ich dabei ins Straucheln gerate.«

Kate hob den Kopf. »Sie haben dir endlich einen richtigen Auftrag gegeben?«

Diccan warf ihr ein Lächeln zu. »Allein durch Zermürbung, meine Liebe. Alle anderen waren zu beschäftigt.«

Sie nickte ihm knapp zu. »Also gut. Ich denke, eine Entschuldigung wäre jetzt angebracht.«

Bei dem Gedanken zuckte Diccan zusammen. Er versuchte ein letztes Mal, sich vorzustellen, dass Grace Fairchild eine Hochzeit eingefädelt hatte, um irgendetwas zu entfliehen. Doch ein Blick auf ihre bleichen Wangen reichte aus, um diese Theorie zunichtezumachen. Sie war, wie er vermutet hatte, ein Bauernopfer. Also erhob er sich und verneigte sich vor Miss Fairchild.

»Ich hatte kein Recht, solch abfällige Bemerkungen über Ihren Charakter zu machen«, sagte er. »Ich entschuldige mich dafür.«

Und überraschenderweise bekam er dafür ein Lächeln. »Danke, aber ich würde an Ihrer Stelle nicht so hart mit mir ins Gericht gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie gegenüber einer Frau in Ihrem Bett, die Sie dort nicht erwartet hätten, anders hätten reagieren können. Ich würde gern dabei helfen herauszufinden, wie das alles passieren konnte. Und warum.«

Diccan nickte. Er spielte in Gedanken schon durch, wie er die Angelegenheit am schnellsten über die Bühne bringen konnte. »Natürlich«, entgegnete er. »Tja, ich habe einiges auf dem Plan, also müssen wir uns mit dem weiteren Vorgehen beeilen. Zum Glück sind wir in Canterbury, und der Erzbischof ist ebenfalls ein Cousin von mir. Ich sollte bis heute Nachmittag eine Lizenz erhalten haben. Möchten Sie hierbleiben, oder möchten Sie sich nach London begeben, um die Zeremonie dort abzuhalten?«

Kate sah zu Grace, die plötzlich verstummt war. »Ach, London«, sagte Kate, »dann sieht es nicht wie ein schlichtes, überstürztes Ereignis aus.«

Abwesend nickte Diccan und fing an, im Salon auf und abzugehen. »Gut. Ich muss sowieso so schnell wie möglich nach London. Ich kann jemanden vorausschicken, um Zimmer im Pulteney zu reservieren. Wenn Biddle zu uns stößt, kann er beginnen, meine Sachen aus meiner Wohnung im Albany zu holen.« Missbilligend blickte er seine Cousine an, als ihn jäh eine Angst überfiel. »Du erwartest doch nicht, dass der Vater bei der Hochzeit anwesend ist, oder?«

Kate seufzte. »Es würde seltsam wirken, wenn dein Vater nicht mit einbezogen werden würde, Diccan. Er ist immerhin Bischof.«

Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Um diese Farce noch absurder zu machen, fehlte nur noch sein Vater, der in einem Anfall von selbstgerechter Entrüstung sein Missfallen zum Ausdruck brachte. Wenn die Bedienstete käme, würde Diccan sie einfach um den Schierlingsbecher bitten.

»Entschuldigen Sie«, meldete Grace sich zu Wort.

Diccan hielt inne. Zum Teufel, wie hatte er vergessen können, dass sie auch noch da war. »Ja?«

»Spiele ich in diesen Plänen auch eine Rolle?«

Er blinzelte. Sicherlich war sie nicht so begriffsstutzig. »Natürlich tun Sie das. Was denken Sie denn?«

»Ich dachte, Sie hätten mich auch mal fragen können.«

Ihre Miene war ernst, aber Diccan bemerkte an ihrem Hals, dass ihr Puls schneller schlug. »Was? Möchten Sie lieber in Canterbury heiraten? Das kann ich Ihnen nicht verübeln. Vater ist der reinste Tyrann.«

»Ich würde lieber gar nicht heiraten.«

Es dauerte einen Augenblick, bis ihre Worte in sein Bewusstsein drangen. »Sie haben keine Wahl«, erklärte er knapp und dachte an Thorntons Äußerungen.

»Natürlich habe ich die«, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln. »Und meine Wahl ist, dass Sie sich um Ihre Angelegenheiten kümmern und dass ich nach Hause reise, um mich um meine zu kümmern.«

Diccan war sich nicht sicher, warum er so wütend war. Sie hatte ihm gerade eine Möglichkeit eröffnet, alldem zu entkommen. Er hatte ihr die Hochzeit angeboten, und sie hatte Nein gesagt. Nun lag es bei ihr. Doch er nahm ihr die unbekümmerte Ablehnung seines Opfers sehr übel.

»Sie haben gerade noch versprochen mitzuarbeiten.«

»Ich habe versprochen zu helfen. Damit meinte ich, dass ich mich aufs Land zurückziehen könnte, wo es niemanden stört, was in Canterbury vorgefallen ist. Damit könnten Sie dann eine Hochzeit umgehen, die keiner von uns beiden sich wünscht.«

Sie verschlimmerte seine Kopfschmerzen nur noch. »Seien Sie nicht albern«, erwiderte er. »Jedes Klatschmaul Londons steht draußen vor der Tür und wartet. Sie können diesen Raum nicht verlassen, ohne eine Verlobung bekannt zu geben.«

Ihr Blick war leer. »Eine Verlobung? Ach, das ist es, worüber wir sprechen?«

»Selbstverständlich.«

Kate trat ihm leicht gegen das Schienbein. »Ein Heiratsantrag wäre jetzt ganz passend, Diccan.«

Diccan atmete scharf ein. Er hatte keine Zeit für so etwas. Je länger Miss Fairchild sich weigerte, desto mehr geriet er in Verzug. Evenhams Beichte lastete auf ihm. Er hätte schwören können, das Blut des Jungen noch immer an seinen Händen riechen zu können. »Verdammt noch mal«, murmelte er und presste seine Handballen gegen die Augen, als könnte er so die hämmernden Kopfschmerzen vertreiben. »Gut. Miss Fairchild. Würden Sie mir die Ehre erweisen, mich zu heiraten?«

Es war vielleicht nicht der romantischste Antrag, aber es rechtfertigte ganz bestimmt nicht Miss Fairchilds Antwort.

»Wenn Sie mich beleidigen wollen«, sagte sie gelassen, während sie sich majestätisch erhob und zu ihm trat, »können Sie das auch hinter meinem Rücken tun. Ich habe zu viel zu tun, um hier Zeit zu vergeuden.«

»Verdammt …«

Sie ließ ihn nicht aussprechen. Unvermittelt holte sie wie ein Preisboxer aus, schlug ihm auf die Nase und verließ den Salon.

Als sie fort war, hallte in dem Raum die Stille wider. Diccan war überrascht, dass das Blut aus seiner Nase nicht auf seine Krawatte tropfte. Miss Fairchild hatte ihr Leben nicht beim Militär verbracht, ohne zu lernen, wie man zuschlug.

Kate stand ebenfalls auf. »Nun ja«, sagte sie und klang verdächtig belustigt, als sie ihr hellgelbes Kleid glatt strich. »Jetzt verstehe ich, warum du als der charmanteste Mann Englands giltst.«

Diccan wusste, dass er eigentlich kein Recht dazu hatte, doch er fühlte sich gekränkt. »Ich werde sie heiraten, Kate. Was willst du noch?«

Sie warf ihm einen traurigen Blick zu. »Höflichkeit wäre ein guter Anfang.« Damit ging auch sie.

Diccan stand noch immer mitten im Salon, als die Bedienstete endlich kam. Er ließ sich wieder in seinen Sessel sinken und stützte den Kopf in die Hände. »Kaffee«, knurrte er. »Und schauen Sie nach, ob Sie vielleicht noch etwas Gift finden.«