Kapitel 1
London, England
Es war kaum ein Geräusch zu vernehmen, als der Diebin, die von den Londoner Zeitungen das Phantom getauft worden war, über die alten Bodenbretter schlich und das Schiebefenster des Dachbodens öffnete. Obwohl es Mai war, war die Nacht kalt. Eine kühle Brise trug den Geruch der Stadt herein und strich über ihre Wangen. Sie zog sich ihre dunkle Strickmütze tiefer über die Ohren. Auf dem Weg über die Dächer konnte sie es nicht riskieren, dass der Wind ihr Strähnen ihres langen, roten Haars aus dem Haarknoten riss und in die Augen wehte.
Sie schwang die Beine nacheinander aus dem Fenster. In der schwarzen Hose und dem dicken, schwarzen Strickpullover konnte sie deutlich leichter von einem Dach zum anderen springen, als in einem Kleid. Sie ließ sich auf den Steinsims herunter, der einmal rund ums Haus lief. Wie bei so vielen dieser georgianischen Häuser war der Sims an der Residenz ihres Arbeitgebers breit genug, um darauf zu laufen.
Als Kind war sie über Äste balanciert, die deutlich schmaler gewesen waren, und hatte sich dabei vorgestellt, eine Akrobatin zu sein. Sie warf einen Blick auf das Pflaster unter ihr. Bei einem Sturz aus dieser Höhe würde sie nicht mit einem verstauchten Knöchel oder einem gebrochenen Bein davonkommen. Ein Sturz wäre höchstwahrscheinlich ihr Tod. Sie verdrängte diesen Gedanken und sprang vom Sims auf das Flachdach des Nachbarhauses.
Als Schemen in der Nacht huschte sie über die ebene Fläche und sprang aufs nächste Dach, das ein oder zwei Meter tiefer lag, und rollte sich auf den Fußballen ab. Wenn sie so von einem Dach zum anderen sprang fühlte sie sich sorgenfrei und beinahe richtungslos. Doch sie war nicht richtungslos. Sie hatte ein klares Ziel vor Augen. Und wenn alles gutging, würde sie auch Erfolg haben.
Hufgetrappel und das Rasseln von Pferdegeschirr hallten von der Straße herauf, als eine Kutsche über das Kopfsteinpflaster holperte. Sie atmete die kalte Luft tief ein, trat in einen Schatten und presste sich mit dem Rücken gegen einen Backsteinschornstein, bis die Geräusche des Gefährts in der Nacht verklungen waren.
Als sie aus ihrem Versteck trat, hob sie kurz das Gesicht zum Mond und badete in seinem grauen Licht. Der Mond war gleichzeitig Freund und Feind. Er erlaubte es ihr, in der Nacht zu sehen, ermöglichte es aber auch, dass sie gesehen wurde. Sie machte sich klein, huschte über die offene Fläche und verschwand wieder in den Schatten.
Hier oben auf den Dächern fühlte sie sich frei von all den Regeln, die ihr ansonsten den Großteil ihres Lebens diktierten. Niemand beobachtete sie. Niemand urteilte über sie. Aber vor allem machte sie niemand wegen der Umstände ihrer Geburt herunter. Sie war wie eine Nachtschwalbe, nachtaktiv, flog frei über die Stadt hinweg und beschwor Mythen und Geschichten herauf.
Als sie das letzte Haus der Straße erreichte, hielt sie sich an einem Regenrohr fest. Die Lederhandschuhe beschützten ihre Hände, als sie an dem Rohr herunterrutschte, wobei sie die Schuhe gegen das Metall presste, um ihren Abstieg zum Boden zu bremsen – oder vielleicht in die Hölle. An manchen Tagen wusste sie nicht, wo sie landen würde, insbesondere dann, wenn man sie erwischte. Doch sie hatte ihrer besten Freundin Helen vor ihrem Tod ein Versprechen gegeben, und das würde sie einhalten.
Eine Windböe trug den Rauch eines nahen Kamins zu ihr.
Sie musste sich beeilen. Lord Hamby würde mit seinen Gästen beschäftigt sein, während sie in seinem Schlafgemach nach seiner Geldschatulle suchte.
Sie würde ihr Versprechen einhalten.
Sie würde ihn büßen lassen.
Sie alle würden büßen.
Kapitel 2
Lady Winton sah aus wie ein Kürbis. Doch Olivia Michaels würde eine so unvorteilhafte Meinung nicht laut aussprechen. Als bezahlte Gesellschaftsdame einer älteren Dame von nobler Abstammung wusste sie, was sie zu tun hatte, um ihre Stelle zu behalten. Und die Stelle war für Olivias Plan unerlässlich.
Während Lady Winston sich in Madame Lefleurs Laden in London vor dem Standspiegel drehte, klappte Olivia den Mund wieder zu. Das orangefarbene, überladene Kleid mit der übergroßen Turnüre sah an dieser Frau gehobenen Alters aufdringlich aus. Ein subtilerer Farbton und weniger Rüschen hätten ihr besser gestanden.
„Ich sehe bezaubernd aus, nicht wahr?“, fragte Lady Winton in ihrem hochmütigen Ton. Diese Frau klang stets, als würde ihr jemand die Nase zuhalten.
Olivia verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während sie es sich verkniff, erbittert den Kopf zu schütteln. Vikar Finch aus dem All Saints Mädchenwaisenhaus hatte stets gepredigt, dass die Lüge der erste Schritt auf dem Weg zur Hölle sei, doch es gab keinen anderen Weg, und sie hatte sich ohnehin schon auf den Pfad zur Verdammnis begeben, seit sie vor einigen Wochen nach London gekommen war.
„Ja, Mylady“, antwortete sie.
Lady Winton sah mit einer erhobenen grauen Augenbraue Madame Lefleur an, die in einer Ecke des Anprobezimmers stand und etwas grün im Gesicht wirkte. Die Modistin hatte das Kleid zwar genäht, doch Lady Winton hatte diese kräftige Farbe und die vielen Rüschen verlangt.
„Oui, très belle.“ Das Lächeln auf Madame Lefleurs schmalen Lippen war offensichtlich aufgesetzt. Die Frau musste an ihren Ruf als Londons erstklassige Modistin denken, doch sie wusste auch, dass die Adlige vor ihr ein grausames Klatschweib war, die mit ihrer scharfen Zunge die gehobene Gesellschaft gegen jedes beliebige Geschäft aufbringen konnte.
„Ich werde allen erzählen, dass ich mein Kleid selbst entworfen habe.“ Lady Winton reckte ihre lange, schmale Nase in die Luft.
Ein erleichterter Ausdruck trat auf das Gesicht der Modistin, ehe sie ihn schnell überspielte.
„Vielleicht sollte ich einen passenden Turban mit orangefarbenen Federn anfertigen lassen. Ich werde diesen Trend wiederbeleben. Was meinen Sie?“
Madame Lefleur wirkte absolut sprachlos.
„Nun?“, hakte Lady Winton ungeduldig nach und richtete ihren stechenden Blick auf die Modistin.
„Der würde Euer wunderschönes Haar verstecken“, sagte die Französin.
„Wohl wahr.“ Lady Winton tätschelte ihre große, graue Hochsteckfrisur, die wie ein riesiges Vogelnest aussah.
Olivia wusste, dass es sich um eine Perücke handelte, da der Haaransatz manchmal gefährlich nah ans rechte Auge heranrutschte, wenn ihre Arbeitgeberin einnickte.
Eine Assistentin der Modistin kam in den Raum gestapft. Sie reichte Madame Lefleur eine Zeitung. „Er hat es schon wieder getan“, sagte sie leise.
Lady Winton beobachtete die beiden Frauen über den Spiegel. Dann wirbelte sie in dem orangefarbenen Kleid herum und richtete ihren stechenden Blick auf sie. „Was flüstern Sie beide da?“
„Das Phantom hat ein weiteres Anwesen ausgeraubt.“ Madame Lefleur biss sich auf die Unterlippe und las weiter.
Lady Winton stürmte zu den Frauen und riss der Ladeninhaberin ohne zu fragen die Zeitung aus der Hand.
„Wen hat er ausgeraubt?“, fragte Olivia.
„Lord Hamby, in der Duke Street“, antwortete Lady Winton.
„Du liebe Güte!“ Olivia legte sich eine Hand auf die Brust und versuchte, schockiert zu wirken.
„Kein Grund, so entsetzt auszusehen, törichtes Mädchen.“ Lady Winton funkelte Olivia an. „Dieser Dieb hat kein Interesse an Ihren erbärmlichen Habseligkeiten. Was würde er abgesehen von einigen zerlumpten Kleidern schon finden? Er hat es auf Adlige abgesehen. Menschen wie mich.“ Ihr Stimme wurde mit jedem Wort höher, während ihre sonst so roten Wangen blass wurden.
Also, das war nicht ganz die Wahrheit. Das Phantom hatte es nicht auf alle Adligen abgesehen, sondern war in London, um einige wenige Männer zur Rechenschaft zu ziehen. Männer, die sich ihren weiblichen Angestellten aufgezwungen und sie dann schwanger und ohne Arbeit im Stich gelassen hatten. So hatten diese armen Dienstmädchen kaum eine andere Wahl, als Mrs. Garson im Waisenhaus anzuflehen, ihre Kinder aufzunehmen. Uneheliche Kinder wie Helen, gezeugt von lüsternen, reichen Männern, die sie verstießen, ohne noch einen Gedanken an sie zu verschwenden.
Lady Winton war offensichtlich erzürnt, warf die Zeitung auf einen Stuhl und zeigte mit einem dicken, beringten Finger auf den Stapel aus Schachteln, die mehrere mit Stäbchen verstärkte Korsetts und Baumwollunterwäsche enthielten. „Olivia, bringen Sie diese Sachen zu meiner Kutsche, während ich mich umziehe.“
„Natürlich, Mylady.“ Olivia hob die schweren Pakete an. Sie verließ das Ankleidezimmer und betrat den Hauptraum des Ladens. Cremefarbene Tapeten bedeckten die Wände, ein perfekter Kontrast zu den bunten Ballen von Seide und Taft.
Das Glöckchen über der Eingangstür läutete.
Olivia reckte den Hals, um an den Schachteln vorbeischauen zu können.
Eine Frau mit pechschwarzem Haar und dunklen Augen betrat den Laden der Schneiderin. Ihr gelbes Seidenkleid und der dazu passende Hut betonten ihre kräftige Hautfarbe. Die Frau war eher eindrucksvoll als hübsch.
Eine junge Verkäuferin eilte ihr entgegen. „Signora Campari, herzlich willkommen.“
Campari? Die Opernsängerin? Olivias Knie wurden weich. Erst vergangene Woche war Lady Winton aus dem Drury Lane Theatre zurückgekehrt und hatte das außerordentliche Talent der Sopranistin gepriesen.
Olivia wünschte, sie hätte den Auftritt sehen und die Stimme der Primadonna hören können. Doch ihre Arbeitgeberin hatte sie an diesem Abend, den sie mit ihrem Zirkel von älteren adligen Frauen verbracht hatte, nicht mitgenommen.
Olivia spähte weiter an den Schachteln vorbei und navigierte aus dem Laden zu Lady Wintons glänzend schwarzer Kutsche, die an der Straße wartete. Zum Glück war die Trittleiter heruntergelassen. Sie balancierte die Schachteln in einem Arm, während sie nach der Klinke griff und die Tür öffnete. Als sie den Kopf einzog und ins Innere trat, stieß ihr Fuß gegen irgendetwas oder irgendjemanden.
Sie stürzte nach vorn und die Schachteln in ihre Hand flogen in die Luft.
Große Hände legten sich um ihre Taille und sie fiel auf eine feste, aber warme Oberfläche, während die Schachteln auf sie herniederprasselten. Sie schluckte den unerwarteten Kloß in ihrem Hals herunter und hob sich die Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten.
Lord Anthony Trent lag auf der Sitzbank der Kutsche. Und was noch schlimmer war: Sie lag auf ihm – beinahe jeder Teil ihres Körpers war in Kontakt mit seiner männlichen Gestalt. Der schwache, verlockende Duft von Seife und Bergamotte stieg ihr in die Nase.
Lady Winton hatte Seine Lordschaft mal als über die Maßen sündhaft bezeichnet, als sie auf der Straße an ihm vorbeigelaufen waren. Und als ihre Arbeitgeberin aus dem Drury Lane Theatre zurückgekehrt war, hatte sie berichtet, dass Signora Campari die aktuelle Mätresse des Gentlemans war.
Er war das perfekte Gegenstück zu der Opernsängerin. Wie die Diva hatte auch er eindrucksvolle Gesichtszüge, die eine Betrachterin verweilen ließen, um die Symmetrie zu bewundern. Wobei Lord Anthony im Augenblick zugegebenermaßen weniger majestätisch aussah, da eine von Lady Wintons recht großen Unterhosen aus ihrer Schachtel gefallen und auf dem Kopf Seiner Lordschaft gelandet war.
Olivia murmelte eine Entschuldigung, streckte eine Hand aus und nahm das Kleidungsstück an sich. Darunter kam lockiges, dunkles Haar zum Vorschein und eine launische Locke, die ihm über das linke Auge gefallen war. Ihre Finger zuckten, während sie gegen den Drang ankämpfte, ihm die seidige Strähne aus dem Gesicht zu wischen.
Seine Lordschaft sah sie mit einem schläfrigen Blick und schweren Lidern an. Seine Augen waren so dunkel, dass man sie für schwarz halten könnte, doch aus der Nähe war deutlich erkennbar, dass sie die Farbe von Kaffee mit einem winzigen Schuss Sahne hatten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einem Mann so nahe gewesen und seine Gesichtszüge so gründlich betrachtet zu haben wie jetzt; oder vielleicht hatte sie sich dabei nur noch nie so betört gefühlt.
Diese Augen, die eben noch so schläfrig gewirkt hatten, wurden größer, und oberhalb seines kantigen Kiefers breitete sich ein Lächeln aus. Seine perfekten, weißen Zähne sahen aus, als sollte man damit Higgins Pearly White Tooth Powder bewerben.
Sein unbeschwerter Gesichtsausdruck weckte in ihr die Frage, ob ihm regelmäßig Frauen in den Schoß fielen. Sie könnte die Motivation der Frauen auf jeden Fall nachvollziehen.
Eine seiner großen Hände glitt von ihrer Taille in ihren Rücken. Die Hitze, die von der Hand ausging, drang durch ihr dünnes Baumwollkleid und sandte Wärme durch ihren ganzen Körper.
„Sind Sie verletzt?“, fragte er. Seine Stimme war ein kräftiger, wohlklingender Bariton.
„Verzeiht. Ich bin gestolpert.“ Was nicht geschehen wäre, hätte sie gewusst, dass die Kutsche einen Insassen hatte. Warum faulenzte er in Lady Wintons Kutsche?
Der Schrei einer Frau, der Glas hätte zerspringen lassen können, schnitt durch ihre Gedanken.
Olivia warf einen Blick über die Schulter. Signora Campari stand vor der offenstehenden Kutschentür auf dem Bürgersteig.
„Un bastardo!“, schrie die Italienerin und hob dabei auf dramatische Weise die Hände in die Luft. „Ich drehe dir nur eine minuto den Rücken zu, und schon streunst du herum wie ein Hund. Du … du … Würstling!“
Der Gesichtsausdruck Seiner Lordschaft trübte sich kurz, dann hellte er sich wieder auf. „Ich glaube, du meintest Wüstling, Maria“, sagte er ruhig.
„Si, Wüstling. Dissoluto!“ Die Opernsängerin stampfte mit dem Fuß auf.
Olivia bemerkte plötzlich, dass die opulente Polsterung in dieser Kutsche in Dunkelblau gehalten war, nicht im Schlammbraun von Lady Wintons Kutschte. Noch unangenehmer war die Tatsache, dass Olivia mit dem Körper immer noch an die Wärme dieses Gentlemans gepresst wurde, von den kribbelnden Brüsten bis zur Hüfte. Ihr stockte plötzlich der Atem. Sie erhob sich strauchelnd und machte sich daran, die verteilten Kleidungsstücke aufzusammeln.
Seine Lordschaft setzte sich auf. „Die junge Frau ist gestolpert, Liebste. Das ist alles.“
Die Frau gab ein Geräusch von sich, das deutlich ihre Zweifel zum Ausdruck brachte, während sie eine von Lady Wintons Unterhosen von der Trittleiter hob und sie wie als Beweis für den Fehltritt in der Luft baumeln ließ. „Igitt!“
Olivias Gesicht wurde heiß. Glaubte die Diva etwa, dass das ihre Unterwäsche war? Sie öffnete den Mund, um die Situation zu erklären, doch die Sängerin warf das Kleidungsstück in die Kutsche und gab einen weiteren italienischen Wortschwall von sich, der kein bisschen melodiös klang.
Lord Anthony atmete schwer aus. Er richtete seine dunkelbraunen Augen auf Olivia. „Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht verletzt sind?“
„Es geht mir gut, Sir. Ich bitte um Verzeihung. Ich dachte, dies wäre Lady Wintons Kutsche.“
Er rümpfte die Nase, was andeutete, dass er Ihre Ladyschaft kannte.
„Oh, Olivia!“, sagte Lady Winton, als sie neben der Opernsängerin auf den Bürgersteig heraustrat. „Was um Himmels willen haben Sie da drinnen getan, allein mit … ihm?“
Die Opernsängerin drehte sich zu Lady Winton um und redete erneut auf Italienisch auf sie ein, unterbrochen von gelegentlichen englischen Worten, mit denen sie Seine Lordschaft als Schuft und andere mehr oder weniger korrekte Ausdrücke bezeichnete.
Mit einem bemitleidenden Gesichtsausdruck nickte Ihre Ladyschaft Signora Campari zu. „Ja, meine Liebe, alle Männer sind Schurken und Schwindler. Man kann ihnen nicht vertrauen. Und schon gar nicht diesem da.“
Ein Muskel zuckte im Kiefer Seiner Lordschaft. Er sah aus, als wäre er willens, die alte Frau zu erwürgen.
Lady Winton reckte die Nase in die Luft und stürmte davon.
Olivia murmelte noch eine weitere Entschuldigung, sammelte die letzten Kleidungsstücke und Schachteln auf und verließ eilig die Kutsche. Sie sog Luft ein, als sie die Gaffer sah, die glotzend und flüsternd auf dem Bürgersteig standen.
Lady Winton lief eilig zu ihrer eigenen Kutsche, die ein Stück weiter die Straße hinauf stand, direkt vor Lord Anthonys Gespann. Die alte Frau streckte ihre Brüste vor, als wären sie die geschnitzte Galionsfigur am Bug eines Schiffes. Als Olivia sie einholte, riss die Frau Olivia die Pakete aus der Hand und drückte sie dem Kutscher in die Arme. „Biddles, packen Sie das in den Kutschkasten. Olivia, Sie sind entlassen!“
Das Blut wich aus Olivias Gesicht, bis es ganz kalt wurde. „Lady Winton, ich kann das erklären.“
„Pah. Ich will Ihre Erklärung nicht hören.“ Die schroffe Stimme der Frau fühlte sich an, als würden Klingen in Olivias Haut schneiden.
„Aber …“
„Ich kann solch unmoralisches Verhalten nicht dulden. Ich hätte wissen müssen, dass eine junge Frau aus dem Waisenhaus keine angemessene Gesellschaftsdame abgeben würde.“ Sie stieg in ihre Kutsche und pochte von innen mit der Faust gegen das Dach.
Biddles sah Olivia mitfühlend an, als er auf den Kutschbock stieg und die Pferde antrieb.
Olivia verkniff sich ein niederträchtiges Wort. Ein Wort, das sie laut Vikar Finch direkt zur Hölle geschickt hätte. Sie drehte sich um und sah Lord Anthony, der neben Signora Campari auf dem Bürgersteig stand. Die Hände der Diva waren immer noch unablässig in Bewegung. Doch dieses Mal nicht in der Luft. Stattdessen schlug sie damit auf die Brust Seiner Lordschaft ein.
In einer flüssigen Bewegung warf er sich die Opernsängerin über die breite Schulter.
Die Primadonna schrie und trommelte Seiner Lordschaft mit den Fäusten auf den Rücken. „Antonio, lass mich runter, subito!“
„Das wird sie zur Vernunft bringen“, rief ein Mann aus der Menge.
Gelächter griff um sich.
Mit der Sopranistin über der Schulter zog Lord Anthony den Kopf ein und verschwand in seiner Kutsche. Das Kreischen der Italienerin war weiterhin zu hören, als die Kutsche die Straße hinauffuhr und Olivia als einzige Beteiligte dieses Fiaskos zurückblieb.
„Verflucht“, murmelte sie. Als sich der Boden nicht unter ihr auftat und sie ins Fegefeuer hinunterriss, wie Vikar Finch es prophezeit hatte, wiederholte sie das Wort.
Jetzt würde sie vor Lady Winton kriechen müssen, um ihre Stelle zurückzubekommen. Allein der Gedanke daran, diese übellaunige, alte Schachtel anbetteln zu müssen, ließ sie würgen, doch sie musste in London bleiben. Und die Frau war, zusammen mit ihren alten, tratschenden Freundinnen, ein Quell der Informationen.
Informationen, die Olivia brauchte.
Sie straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zu Lady Wintons Haus. Sie würde ihren Stolz herunterschlucken, wenn es ihr dabei half, das zu beenden, wofür sie nach London gekommen war.