Leseprobe Wie Liebe und Hass

Prolog

Andreas

Villa Schermann, Frankfurt

Dichte Nebelschwaden hatten sich wie eine weiße Decke über die Landschaft gelegt. Ein Uhu rief in weiter Ferne und der Mond schien hell durch die unheimliche Nebelwand.

Andreas legte seinen Aktenkoffer auf die Rückbank seines Aston Martin Vanquish S.

So, jetzt kann es losgehen.

Er klappte den Fahrersitz wieder zurück in seine alte Position und sah ruhelos auf seine goldene Armbanduhr.

Gleich schon drei Uhr. Mann, bin ich müde! Egal. In einer Stunde sitze ich im Zug nach Frankfurt. Von da aus muss ich dann herausfinden, wohin Iva und Amon gefahren sind. Vielleicht kann sich ein Schaffner oder Mitarbeiter vom Schalter an die zwei erinnern. Wenn nicht, probiere ich es am Frankfurter Flughafen.

Andreas schloss die Tür seines Luxuswagens, eilte zur Villa zurück und überprüfte noch einmal, ob er die Tür abgeschlossen hatte. Dann ging er in schnellem Schritt zu seinem Wagen zurück, öffnete ruckartig die Fahrertür und ließ sich auf den Sitz hinter dem Steuer fallen.

Hoffentlich klappt alles. Ich muss die beiden finden. Was fällt Iva ein, mich so aufs Kreuz zu legen? Einen Andreas Schermann hintergeht man nicht. Und außerdem will ich dieses verdammte Kleid zurück!

Andreas warf einen letzten kontrollierenden Blick in den Rückspiegel und richtete den Knoten seiner Krawatte. Dann steckte er den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Wagen. Trotz der hellen Scheinwerfer hatte Andreas Mühe, die Umgebung durch den dichten Nebel zu erkennen.

Langsam rollte der Aston Martin vom großen Hof der Villa Schermann. Der Kies knackte dabei laut unter den Reifen.

Als Andreas das Tor der Einfahrt passierte, hielt er für einen kurzen Augenblick inne. Die angrenzende Landstraße war leer und sah bei der Dunkelheit und dem Nebel ziemlich gespenstisch aus. Sein Sichtfeld war nur auf wenige Hundert Meter begrenzt.

Wie gut, dass ich letzte Woche noch das Fernlicht habe reparieren lassen.

Er setzte den Blinker und wollte gerade aufs Gas treten, als sein Handy klingelte.

Wer ist das denn jetzt?

Verärgert warf er einen Blick auf die Uhr im Auto.

Es ist drei Uhr in der Nacht.

Andreas griff nach seinem Smartphone, das auf dem Beifahrersitz lag. Er traute seinen müden Augen kaum, als er auf das Display schaute.

Das gibt es doch nicht! Sieh mal einer an.

Andreas stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Aufgeregt drückte er dann auf den grünen Hörer. Er legte das Handy vorsichtig an sein Ohr und bemühte sich, das plötzlich aufgetretene Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bringen.

„Andreas. Tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht anrufe …!“

Er schluckte schwer, als er den Klang ihrer Stimme vernahm und das Zittern verschlimmerte sich.

Cool bleiben! Sie sieht meine Hände nicht und das Wackeln wird ja wohl kaum hörbar sein.

„Hallo, Ellen. Kein Problem. Ich konnte sowieso nicht schlafen.“ Er atmete kurz tief ein und aus, bevor er weitersprach. „Was gibt es denn? Ich dachte, du wolltest keinen Kontakt mehr?“

„Ich weiß. Es tut mir leid! Ich war so durcheinander. Aber du bist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann.“ Ellens Stimme verriet ihm, dass sie ziemlich verzweifelt sein musste.

„Was ist denn los?“, fragte Andreas angespannt und spürte einen immer größer werdenden Kloß in seinem Hals.

Ellen seufzte angestrengt. „Du hast doch diesen einen Freund von der Detektei. Carsten oder wie auch immer sein Name war.“

„Ja. Was ist mit dem?“ Nervös kramte Andreas nach der Schachtel Zigaretten, die er immer in seinem Handschuhfach aufbewahrte. Er steckte sich einen Glimmstängel mithilfe des Zigarettenanzünders an und nahm einen tiefen Zug. Seine trockenen Lippen klebten am Filter, sodass sich Andreas beim Absetzen der Zigarette dadurch versehentlich ein Stück Haut seiner Lippe aufriss. „Autsch, verdammt!“, fluchte er.

„Alles in Ordnung?“, fragte Ellen mit besorgter Stimme.

„Jaja.“ Andreas schmeckte Blut auf seiner Lippe, bemühte sich aber, nicht allzu verärgert zu klingen. „Also, was willst du von Carsten?“ Das Zittern seiner Hände ließ langsam nach.

„Nun ja …“ Sie zögerte kurz. „Kannst du ihn vielleicht fragen, ob er mir helfen kann, Iva und Amon zu finden?“

Bitte was? Ist das dein Ernst? Das fragst du ausgerechnet mich? Erst trittst du mich für den Muskelprotz in den Arsch und nun bin ich dir wieder gut genug?!

Andreas bemühte sich um Contenance, obwohl er für diese Dreistigkeit von ihr am liebsten aus der Haut gefahren wäre. Doch er wollte Ellen nicht gleich wieder vergraulen. Zu sehr interessierte ihn ihr wahres Anliegen. „Warum willst du sie suchen? Amon hat dich sitzen lassen. Er hat dich und deinen Sohn vor der ganzen Familie bis auf die Knochen blamiert. Hast du das etwa schon vergessen?“ Verwundert hob Andreas eine Augenbraue und nahm einen weiteren Zug. Die Glut knisterte beim Ziehen, und um ein Haar wäre sie Andreas auf die Anzughose gefallen, denn er war seinen Händen immer noch nicht ganz Herr. „Außerdem weißt du doch nicht einmal, wo sie hinwollten. Wo sollte man dann überhaupt nach den beiden suchen?“

„Andreas, ich kann das nicht einfach so stehen lassen. Die ganze Nacht liege ich schon wach und werde von tausenden Gedanken gequält. Es fühlt sich an, als würde ich an einer riesigen Lüge ersticken, wenn ich nicht bald die Wahrheit herausfinde“, erklärte Ellen und klang dabei ziemlich entschlossen.

Andreas hatte Qualmkreise gegen sein Lenkrad gepustet, während Ellen erzählte.

„Ich meine das ernst, Andreas.“

„Du willst den Idioten doch nicht etwa zurück?“, fragte er empört und zerschlug die Kreise mit der Hand wie ein Schwert. „Hm?“

Stille.

Dann drang ein leises Räuspern durch den Hörer zu Andreas vor. Er ließ das Fahrerfenster einen Spalt hinunter und schnippte den Rest seiner Zigarette nach draußen. „Ellen? Bist du noch dran?“

„Ja, bin ich“, sagte sie leise und ein klein wenig trotzig. „Ich will ihn nicht zurück. Nicht nach dem, was er auf der Hochzeit abgezogen hat. Mein Sohn ist fix und fertig. Mir geht es auch nicht viel besser.“ Sie holte hörbar Luft. „Aber ich muss wissen, wie lange das schon ging. Ob die beiden das geplant hatten … Die ganze Wahrheit. Sonst kann ich nicht damit abschließen.“

„Ach so. Verstehe.“ Andreas geriet ins Grübeln und rieb sich das Kinn. Dann presste er angespannt die schmalen Lippen aufeinander.

Eigentlich kommt mir Ellen gerade recht. Vielleicht kommt sie an Hinweise über den Aufenthaltsort der beiden. Und außerdem, wenn ich Amon und Iva für Ellen ausfindig mache und sie mit dem Mistkerl abschließt, vielleicht kommen wir uns dann wieder näher. Schließlich bin ich der Einzige, dem sie vertraut. Das hat sie selbst gesagt.

„Du, Ellen. Ich weiß, dass Carsten im Moment ziemlich ausgebucht ist. Aber ich würde mich anbieten, dir zu helfen, um die beiden zu finden“, sagte Andreas, klappte den Spiegel vor sich herunter und fuhr sich mit den Fingern durch die Spitzen seiner Haare.

„Wirklich?“, fragte sie plötzlich ganz aufgeregt. „Das wäre sehr nett von dir.“

Er grinste zufrieden sein Spiegelbild an. „Hast du morgen schon was vor? Wir könnten besprechen, wie wir mit der Suche anfangen.“

„Okay, können wir machen. Bei dir?“, fragte sie.

Bingo!

„Ja, bei mir. Wo ich wohne, weißt du ja noch. Gegen drei Uhr?“, schlug Andreas vor.

„In Ordnung. Bis morgen. Und danke schön!“ Ellen war die Erleichterung anzuhören.

„Kein Problem“, sagte er großzügig, als hätte er die Welt gerettet. „Bis morgen.“ Nachdem er das Gespräch beendet hatte, legte sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen.

Geht doch! Ellen kommt zu mir nach Hause. Freiwillig. Ich wette, wenn sie ihr altes Zuhause sieht, wird sie die schöne Zeit mit mir vermissen.

Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss. Sein Blick blieb kurz an dem Schlüsselanhänger hängen, den Ellen ihm vor zwei Jahren geschenkt hatte. Dann startete er den Motor erneut und bog rechts ab.

Auf gehts. Ich habe eine Mission zu erfüllen. Vielleicht habe ich ja wirklich Glück und erfahre etwas, das ich Ellen morgen schon berichten kann. Sie wird beeindruckt sein und sich gleichzeitig darüber ärgern, einen Mann wie mich verlassen zu haben.

Andreas trat aufs Gas. Der Aston Martin schoss los und tauchte in den kalten Nebel ein, der ihn kurz darauf verschluckte.

1. Kapitel

IVA

Exuma Cays, Bahamas

Völlig tiefenentspannt lag Iva in der Hängematte, die Amon ihr zwischen zwei Palmen aufgehängt hatte.

Die kleine Mia schlief tief und fest auf ihrem Bauch.

Verträumt sah Iva zum azurblauen Himmel hinauf und beobachtete, wie Möwen ihre Kreise zogen, auf der Suche nach etwas Essbarem. Iva lauschte entspannt dem Gekreische am Himmel und dem sanften Rauschen der Wellen.

„Na, bereitest du dich schon mental auf die Abreise vor?“, hörte sie Amons warme Stimme neben sich. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Verliebt sah sie zu ihm herüber und musterte ihn wohlwollend.

Seine Haut war von der extremen Sonne schon ziemlich gebräunt und die Haare in den letzten Wochen so gewachsen, dass sie ihm fast bis zur Schulter reichten. Aus diesem Grund trug er öfter einen Man Bun, doch an diesem Tag ließ er sie offen und der leichte Wind hatte sie etwas zerzaust.

„Na, mein Tarzan“, neckte Iva ihn.

Er schaukelte die Hängematte sanft hin und her. „Na, Jane.“ Amon lachte.

Iva streckte sich vorsichtig, damit Mia nicht wach wurde. „Es ist einfach so schön hier. Am liebsten würde ich für immer hierbleiben“, schwärmte Iva und plötzlich holte sie Wehmut ein. „Aber ich freue mich auch schon wahnsinnig, meine süße Clara wiederzusehen. Ich vermisse sie sehr.“

„Ja, ich weiß.“ Das Lächeln, das Amon ihr zuwarf, war sanft und warm. „Mal sehen, vielleicht kommen wir ja eines Tages alle zusammen wieder hierher.“ Er zwinkerte Iva zu und sah dann wohlwollend zu Mia. „Schläft die kleine Maus immer noch?“

„Ja, das Meeresrauschen hat sie richtig entspannt. Sie ist ruckzuck eingeschlafen. Das ist zu Hause nie passiert.“ Behutsam streichelte sie über die kleinen Hände.

Amon hockte sich neben Iva auf den Boden und lehnte sich mit angezogenen Armen an den Rand der Hängematte. Behutsam legte er seinen Zeigefinger in Mias Hand, die diesen reflexartig umgriff. Erst grinste Amon, doch einen Atemzug später wurden seine Augen glasig. „Sie ist so süß. Schade, dass ich nicht ihr Vater bin. Ich habe sie so unfassbar lieb.“

„Ich glaube, das weiß sie“, sagte Iva und deutete mit ihrem Blick zu ihrer Tochter, die in diesem Augenblick im Schlaf lächelte.

„Wenn ich so etwas sehe, geht mir richtig das Herz auf.“ Amon beugte sich vor und küsste Mia auf die Stirn. Dann sah er Iva an. „Was uns wohl zu Hause erwartet, wenn wir wieder zurückkommen?“

„Ich will eigentlich noch gar nicht daran denken. Ellen und Leon machen uns bestimmt die Hölle heiß. Wie ich Leon kenne hat er garantiert die Wohnung verwüstet und Fotos von uns verbrannt. Ich traue mich ja jetzt schon nicht, mein Handy einzuschalten. Das explodiert bestimmt vor lauter Nachrichten mit Hasstiraden“ Sie seufzte schwer. „Wie machen wir das eigentlich?“

Irritiert kniff Amon die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?“

„Na ja! Ich kann mir nicht vorstellen in dieser Wohnung zu bleiben. Ich denke, das wäre auch nicht in Leons Sinn, wenn ich nach Hause komme und da noch eine Weile wohnen bleibe.“

„Bei mir wird es ähnlich sein. Ellen gehört das Haus ja eigentlich zur Hälfte.“

„Eigentlich?“

„Wir sind offiziell ja immer noch nicht rechtsgültig verheiratet. Nachdem sie für tot erklärt wurde, war ich ja Witwer. Aber nachdem sie wiederaufgetaucht war, hätten wir das Weiterbestehen der Ehe vor Gericht beantragen müssen. Das ist ja nie passiert.“ Amon raufte sich die Haare, als sei ihm gerade bewusst geworden, welche Schwierigkeiten es mit sich gebracht hätte, wenn die Ehe weiter bestanden hätte. „Trotzdem will ich nicht in dieses Haus zurück. Wir beide haben ein neues Kapitel in unserem Leben angefangen. Eine neue Seite im Buch unseres Lebens.“ Verliebt lächelte er und lehnte sich vor. „Deswegen möchte ich komplett neu anfangen.“ Amon zog Ivas Kopf zu seinem und küsste sie sehnsuchtsvoll.

Iva biss sich auf die Lippe. „Ob wir …“

„Uns vielleicht einfach zusammen eine Wohnung nehmen oder ein Haus mieten?“, beendete Amon den Satz.

Beide mussten augenblicklich grinsen.

„Abgemacht, Clyde! Nur was sage ich Clara? Ich bin mir zwar sicher, dass sie froh sein wird, wenn ich ihr sage, dass Leon nicht mehr bei uns wohnt oder wir bei ihm. Schließlich hat sie oft unter seinen Launen gelitten. Aber sie wird schon ziemlich irritiert sein, wenn du plötzlich an Leons Stelle bist. Verstehst du, was ich meine?“

Amon presste kurz die Lippen aufeinander, als müsse seine Kehle erst die richtigen Worte formen, bevor sie seinen Mund verlassen durften. „Sag ihr einfach, dass ich erst einmal bei euch wohne, bis ich etwas Eigenes gefunden habe. Und nach ein paar Wochen will sie sowieso nicht mehr, dass ich gehe.“ Ein spitzbübisches Grinsen huschte über seine Lippen und seine Augen funkelten.

„Du bist ja ganz schön von dir selbst überzeugt.“ Iva lachte und spielte mit ihren zarten Fingern mit Amons Haaren. Mit zwei Fingern zwirbelte sie einzelne Strähnen aneinander und ließ sie sich dann langsam wieder aufdrehen.

„Clara und ich sind BFFs“, grinste Amon. „Du wirst sehen, wie gut das alles klappen wird.“

„Ich hoffe, ohne große Zwischenfälle. Wenn Leon oder Ellen wutschnaubend bei uns auftauchen und Terror machen, ist das weder für Mia noch für Clara förderlich. Schade, dass wir sie jetzt doch nicht in Spanien holen. Sonst hätten wir gemeinsam noch etwas reisen können“, sagte Iva und legte ihre Hand auf Amons, dessen Finger immer noch fest von Mias kleiner Hand umfasst wurde. Sanft streichelte Iva mit ihren Fingern über Amons Handrücken.

„Wir haben doch schon darüber gesprochen“, sagte er sanft, aber mahnend. „Wir überrumpeln Clara völlig, wenn wir sie im Urlaub abholen und direkt mit ihr weiterfliegen. Wir können sie ja bei Adrian zu Hause einsammeln, wenn du nicht möchtest, dass Leon das mitbekommt“, schlug er vor.

„Okay, das können wir so machen. Aber was ist mit Ellen oder … Andreas?“ Schon beim Aussprechen dieses Namens stellten sich ihr alle Härchen an ihrem Körper auf. Als Iva sich sein Bild unfreiwillig im Geiste vorstellte, überkam sie Ekel und ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Amon verzog zornig das Gesicht. „Der aufgeblasene Fatzke. Der soll sich einmal in deine Nähe wagen. Dann mache ich Kleinholz aus dem.“ Er hielt inne, als Mia sich auf Ivas Bauch streckte. „Ich glaube die Maus wird gleich wach. Dann pack ich schon mal zusammen und wir gehen gleich zurück ins Hotel“, flüsterte er.

„Okay“, sagte Iva leise und war in Gedanken immer noch bei Andreas.

Dieses Ekelpaket mit seiner widerlich herablassenden Art und den furchtbar penetranten Augen. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, was Ellen an dem mal attraktiv gefunden hat. Zumal ist der ja nicht mal nett, dieses überhebliche Arschloch.

„Mach dir keinen Kopf. Ich passe auf euch auf.“ Amon lächelte ihr aufmunternd zu, küsste sie auf die Stirn und stand auf. „Aber bevor wir nach Hause fahren, will ich mit euch erst noch ein bisschen was von der Welt sehen.“ Euphorie lag in seinen Augen.

„Was meinst du genau damit?“ Iva hob das Kinn und sah ihn irritiert an.

„Lass dich überraschen, Bonnie! Ich kühle mich noch einmal schnell ab.“ Ein Augenzwinkern später rannte er auf das offene Meer zu und verschwand mit einem Köpper in den Wellen.

 

Als die beiden mit Mia zurück im Ferienhaus ankamen, hatte sich Iva nun doch vorgenommen, endlich mal ihr Handy anzumachen. Sie hatte es bei ihrer Ankunft im Ferienhaus in den Schlafzimmer-Safe gelegt und seitdem nicht mehr angefasst. Ihr war ein bisschen unwohl zumute, als sie es aus dem Safe nahm.

Jetzt mach schon! So schlimm wird es nicht werden. Da kommen bestimmt ein paar Warum-hast-du-das-gemacht-Nachrichten und das war es. Jetzt stell dich nicht so an und mach das Handy an.

Unsicher schaltete sie das Smartphone ein und machte sich auf das Schlimmste gefasst, doch es passierte nichts.

Keine Nachrichten?

Stutzig starrte Iva auf das Display. Dann fasste sie sich an die Stirn, als ihr einfiel, dass ihr Handy nicht mit dem Internet verbunden war.

Schon kurz nach dem Einschalten der mobilen Daten hagelte es SMS-Signaltöne. Iva starrte entgeistert auf das Display, auf dem immer mehr neue Nachrichten angezeigt wurden.

Ach du liebe Güte!

Sie hielt sich die Hand vor den Mund und ließ sich langsam auf den Schlafzimmerteppich sinken, als sie merkte, dass ihre Knie nachgaben.

„Was ist das denn für ein Alarm?“, fragte Amon und lugte mit seinem Kopf in das Schlafzimmer.

Betreten sah Iva zu ihm herüber. „Ich habe mein Handy gerade eingeschaltet.“

Amon machte ein leicht erschrockenes Gesicht. „Oh, oh!“ Er trat weiter in den Türrahmen und schaukelte Mia auf seinem Arm hin und her. Dann sah er zu der Kleinen herab. „Komm, wir gehen mal Brei machen. Die Mama muss gerade mal was lesen.“ Amon lächelte Iva aufmunternd zu und verschwand mit der Kleinen im Flur. Kurz darauf klimperte es in der Küche.

„Kommst du zurecht?“, rief Iva und wusste, dass er niemals mit Nein antworten würde. Seit ihrer Reise gab er sich die größte Mühe, Leon als Vater zu ersetzen, so gut er eben konnte. Wahrscheinlich wollte er Iva auch ein kleines bisschen damit beeindrucken.

„Ja klar. Was denkst du denn?“, antwortete Amon selbstsicher und lachte.

Iva schüttelte grinsend den Kopf, denn sie wusste ganz genau, dass das Zubereiten von Brei für Amon eine Wissenschaft für sich darstellte.

Das Piepen ihres Handys hatte inzwischen aufgehört. Iva widmete sich wieder ihrem Smartphone, nachdem sie nicht mehr von Amon oder Mia gehört hatte.

Auf dem Display waren 173 Anrufe in Abwesenheit und 53 Nachrichten angezeigt. Ach du Scheiße!

Mit so vielen Nachrichten hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Nervös öffnete Iva den Nachrichteneingang.

Die meisten Nachrichten waren von Leon. Aber auch von ihren Eltern, von Ellen und sogar von Andreas waren welche dabei.

Iva beschlich ein ziemlich mulmiges Gefühl. Sie entschied sich, zuerst eine Nachricht von ihrer Mutter zu lesen.

Mein liebes Kind,

ich verstehe nicht, warum du das getan hast. Sicher wird es Gründe geben, aber einfach abzuhauen war keine gute Idee. Du hast nicht nur Leon vor den Kopf gestoßen, sondern auch uns!! Papa und ich machen uns große Sorgen. Bitte melde dich, damit wir wissen, dass es dir gut geht! Mama.

„Scheiße!“, sagte Iva leise und hatte ihren Eltern gegenüber plötzlich ein furchtbar schlechtes Gewissen.

Meine armen Eltern. Die sind scheinbar wahnsinnig enttäuscht von mir. Sonst schreibt Mama immer ein „Hab dich lieb!“ oder „in Liebe, Mama“. Ich muss ihr wenigstens mal zurückschreiben, dass es mir gut geht.

Tränen schossen katapultartig in Ivas Augen und legten einen Schleier über ihr Sichtfeld, der sie daran hinderte, die Buchstaben auf dem Display zu lesen. Sie sah nicht mehr, als wenn sie vor einem beschlagenen Spiegel stünde. Iva wischte sich die Tränen aus dem Auge und konnte daraufhin wieder gut sehen. Sie tippte eine knappe Antwort ein, damit ihre Eltern sich keine Sorgen machen mussten. Ohne Emotionen und Emojis, die sie dann doch wieder hätten weinen lassen. Iva hatte das Gefühl, als hätten ihre Eltern ihr mit ihrer Nachricht einen dicken Stein auf die Brust gelegt, der nach und nach immer schwerer wurde.

Okay, weiter jetzt. Von jedem eine Nachricht und dann ist es gut.

Iva öffnete eine von Ellens Nachrichten, da sie sich noch nicht zutraute, eine von Leons Nachrichten zu lesen. Schon beim Überfliegen des ersten Satzes wurde ihr schlecht.

Ich bin einfach nur noch fassungslos, Iva! Wie konntest du es wagen, meinen Sohn derart zu verletzen? Und nicht nur das! Nein, du nimmst mir auch noch meinen Mann!!! Ich hatte ihn gerade erst wiedergefunden und du machst dich einfach an ihn ran! Schämst du dich eigentlich nicht? Auch wenn du jetzt mit Amon durchgebrannt bist … Irgendwann werdet ihr zurückkommen müssen und glaube mir, dann wirst du dich all dem stellen müssen, was du zurückgelassen hast. Gottes Mühlen mahlen langsam, ABER GERECHT! Das wirst auch du noch ganz schnell merken.

Mit einem dicken Kloß im Hals stand Iva auf und schaltete das Display aus. Langsamen Schrittes ging sie an der offenen Küche vorbei und stellte sich im Wohnzimmer vor das Fenster.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Amon, der Mia gerade die letzten Breireste vom Teller kratzte.

Iva kämpfte gegen die Tränen an und ihr Kinn hing so tief, als wäre es aus der Verankerung gesprungen. Die Muskeln um ihren Mund herum zuckten so stark, dass Iva befürchtete, los zu stottern, wenn sie sofort antwortete. Sie raufte sich die Haare und atmete so tief ein, dass ihr fast schwindelig wurde. „Mein Handy explodiert vor Nachrichten.“ Eine dicke Träne platschte leise auf den Boden, als sie die Zeilen ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge sah. Niemals hatte sie sie so enttäuschen wollen.

„Meine Eltern haben geschrieben, dass sie sich riesige Sorgen machen. Ellen hat mir geschrieben, und gefragt, ob ich mich nicht schäme, ihr den Mann genommen zu haben. Und wie ich es nur wagen konnte, ihren Sohn zu verletzen.“ Sie sah aufs Meer hinaus und hörte Amon laut hinter sich aufstöhnen.

„Das war doch klar, dass so was kommt. Lies das am besten gar nicht.“

Iva schluchzte kurz und versuchte sich dann zu beruhigen. „Ich werde von jedem nur eine der gefühlten tausend Nachrichten lesen. Mehr nicht“, sagte Iva und öffnete die Balkontür. „Jetzt ist eine von Leons Nachrichten dran.“

„Wie du willst. Ich würde mir das nicht reinziehen“, sagte Amon in einem Ton, der Iva einen kurzen Moment zurückhielt, mit der Chance, noch umlenken zu können.

Doch sie war fest entschlossen.

„Ich bin gleich wieder da.“ Mit dem Handy in der Hand trat Iva nach draußen und zog die Balkontür hinter sich zu, die mit einem Klacken einrastete. Dann lief sie barfuß durch den heißen Sand, bis knapp vor das Wasser.

Die Wellen rauschten angenehm monoton.

Iva setzte sich auf den sandigen Boden.

Okay, jetzt der Rest.

Mutig drückte Iva das Display ihres Handys an. Sie wählte eine der ersten Nachrichten von Leon aus und atmete noch einmal tief durch, bevor sie sie öffnete.

Du bist so ein grausamer Mensch, Iva! Wie kannst du mir so etwas antun?! Du hast wirklich kein Herz, oder wenn, dann nur eins aus Stein! Weißt du, wie es sich anfühlt vor der Familie so vorgeführt zu werden?! Ich wette, das hast du mit voller Absicht gemacht, um mir richtig eins reinzuwürgen. Denn du hättest ja auch einfach ein paar Tage vorher Schluss machen können. Aber wahrscheinlich war dir das nicht spektakulär genug und hätte mir weniger wehgetan. Aber nein, du wolltest den ganz großen Auftritt und mich so richtig bis auf die Knochen blamieren! Ist dir gelungen. Herzlichen Glückwunsch. Ich war nicht nett zu dir die letzten Wochen, das mag ja sein. Aber so etwas abzuziehen ist wirklich das Allerletzte! Und glaube mir, KEINER hier versteht dein rücksichtsloses Verhalten. ALLE hassen dich jetzt. Martin und Vanessa waren so fassungslos! Bei denen brauchst du und auch Amon, der Bastard, sich NIE WIEDER blicken lassen! Hast du gehört? Nie wieder! Die ganze Familie weiß nun, was du wirklich bist. EINE GOTTVERDAMMTE SCHLAMPE! Und noch etwas: Das, was du mit mir gemacht hast, ist die eine Sache. Aber was du meiner Mutter angetan hast … Ich finde keine Worte für so ein abartiges Verhalten! Du solltest dich so sehr schämen, einer armen, unschuldigen Frau so wehzutun! Sie war immer nett zu dir, hat dir nie etwas Böses getan. Und du schlägst ihr mit deiner Aktion volle Kanne ins Gesicht und nimmst ihr alles, was ihr etwas bedeutet hat! Du hast meine komplette Familie zerstört!!! Du hast mein ganzes Leben zerstört! Du bist so rücksichtslos. Du siehst immer nur dich und scheißt auf alle anderen! Deine Kinder würden sich für ihre Mutter schämen, wenn sie wüssten, wie du drauf bist. Du bist eine richtige Rabenmutter! Die Kinder haben etwas Besseres verdient als dich! Ach ja, hätte ich fast vergessen zu erwähnen: Mia hast du mir auch einfach weggenommen. Es war dir scheißegal, ob mir das wehtut oder nicht. Und weißt du auch, warum?! Ich weiß es ganz genau! Ich wette, dass du das gemacht hast, weil nicht ich, sondern Amon ihr Vater ist! Jede Wette! Du hast mich garantiert von Anfang an schon mit dem Penner betrogen. Das ging garantiert schon länger! Du hast mich die ganze Zeit belogen! Gib es ruhig zu! Dir traue ich inzwischen eh ALLES zu, denn ich kenne keinen schlechteren Menschen als dich.

 

Dicke Tränen waren Iva beim Lesen wasserfallartig über die Wagen gelaufen und sie hatte das Gefühl, als wäre Leons imaginäre Hand durch das Display gekrochen, hätte sich daraufhin um ihren Hals gelegt, um dann ganz langsam und qualvoll zuzudrücken. Sie schüttelte sich, um die Hand von ihrem Hals zu werfen. Als sie die Nachricht zu Ende gelesen hatte, war ihr Kopf leer. Iva wusste nicht, was sie denken sollte. Sie spürte nur noch diese dunkle Leere in sich und ihr wurde bewusst, dass sie etwas ganz Schreckliches getan hatte. Regungslos starrte sie in die Wellen, die sich einige Meter vor ihr brachen und schaumig bis zu ihren Füßen krabbelten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit verschwand die innere Leere und wurde von bitteren Schuldgefühlen abgelöst. Iva legte das Handy auf ihren Schoß, zog die Beine an und fing bitterlich an zu weinen. Am liebsten wollte sie die ganzen Schuldgefühle in Tränen verpackt aus ihrer Seele pressen, doch es gelang ihr nicht. Die Schuldgefühle blieben und drangsalierten sie unaufhörlich, indem sie ihrem Geiste Bilder zeigten, die allein Iva zu verantworten hatte. Bilder von ihren Eltern, die so traurig dreinschauten, dass Ivas Herz zerspringen wollte. Bilder von Ellen und Leon, die sie fassungslos und voller Hass anstarrten. Und Bilder von Andreas, der sie mit seinen stechend blauen Augen durchbohrte und sie schadenfroh ansah.

Plötzlich kam Amon von hinten und setzte sich neben sie in den Sand. Der Geruch seines Parfums hüllte sie angenehm ein.

Iva fuhr herum und wischte sich peinlich berührt die Tränen aus dem Gesicht. Scheinbar war er mit seinen Flipflops lautlos durch den butterweichen Sand geglitten, denn sie hatte ihn überhaupt nicht kommen hören.

„Mia schläft“, sagte er leise und deutete auf das Baby Fon in seiner Hand. Dann küsste er Iva seitlich auf das Haar und legte seinen Arm um sie. „So schlimm?“ Er zeigte auf ihr Handy.

„Les doch selbst!“, schluchzte Iva und drückte ihm das kleine Smartphone in die Hand.

Nachdenklich dreinschauend las er die Nachricht. Dann blickte er auf und drückte Iva noch fester an sich. „Nimm dir das nicht so zu Herzen. Er ist verletzt und lässt seinen Frust an dir aus.“ Er hielt Iva ein Taschentuch hin.

Sie schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. „Aber er hat doch recht. Ich bin ein grausamer Mensch.“ Sie vergrub den Kopf in ihrem Schoß und wimmerte.

„Bist du nicht.“ Er gab Iva wieder etwas Raum und streichelte sanft über ihren Rücken.

Iva wusste, dass er sie nur aufheitern wollte, doch sie war von Leons Worten derart verletzt, dass jeder noch so liebevoll formulierte Satz von Amon der Falsche gewesen wäre. „Doch! Ich habe nicht nur Leon, sondern auch Ellen wehgetan. Und das, obwohl sie mir nie etwas getan hat“, japste Iva und hatte Mühe, um vor lauter Aufregung und Tränen nicht zu hyperventilieren.

„Jetzt atme mal ruhig durch.“ Amon drückte sie sanft an sich und atmete ihr einen langsamen Rhythmus vor. „Gut so“, lobte er sie und küsste ihr Haar. „So, und ich sage dir jetzt mal was.“ Auf einmal klang er sehr ernst. „Ich habe das Ganze angezettelt. Nicht du. Mach dir das bitte klar. Das alles ging von mir aus. Ich war derjenige, der die Hochzeit gecrasht hat. Nicht du.“ Amon zog Ivas Gesicht zu seinem und sah ihr tief in die geröteten Augen. „Zieh dir diesen Schuh bitte nicht an, okay?“

Iva sah ihn nur noch schleierhaft vor sich und rieb sich die Tränen aus den Augen.

„Was haben wir immer gesagt? Bonnie und Clyde halten zusammen. Und wenn wir untergehen, dann gemeinsam. Aber das werden wir nicht.“ Amon zwinkerte ihr aufmunternd zu. Dann schloss er die Augen und ließ sich vom Wind einhüllen, der den beiden um die Nase wehte.

Iva atmete inzwischen ruhiger.

Amon schlug die Augen wieder auf und löste das Haargummi, das seine langen Haare nur noch notdürftig zu einem Dutt zusammengehalten hatte. Er durchkämmte sein Haar mit den gespreizten Fingern, und frisierte sich den Dutt wieder neu.

Iva liebte es, ihm dabei zuzusehen. Seine Haare waren es, die sie, neben Amons einnehmend braunen Augen und seinem flauschigen Bart, von Anfang an in seinen Bann gezogen hatten. Dazu kam seine nonchalante Art, die ein Gesamtbild von einem Mann erschufen, in dessen Herzen Iva nicht tiefer hätte abtauchen können, als ein Apnoetaucher ins Abyssal des Ozeans.

„Wir haben diese Entscheidung getroffen und wir stehen auch dazu. Denn es war die Richtige.“ Erst sah er Iva eindringlich an, lächelte dann aber und malte ein Herz in den Sand, das er mit „I + A“ beschriftete.

Das Herz im Sand erinnerte Iva an den Baum „beim Fuchs“ und sie fühlte sich plötzlich wieder so mit Liebe erfüllt, dass es sie sogar kurz ihren Kummer vergessen ließ. „Ja, es war die richtige Entscheidung“, hauchte sie und sah Amon gebannt an. Tiefe Dankbarkeit drang von ihrem Herzen in ihren Blick.

Amon lächelte verlegen und zog ihr Gesicht noch näher zu seinem. „Ich liebe dich, Bonnie!“

„Ich dich auch, Clyde!“ Der Wind wehte kräftig durch Ivas langes Haar, doch davon ließ sie sich nicht ablenken. Beinahe wie hypnotisiert sah sie Amon an und spürte, wie glücklich sie mit ihm war.

Amon lächelte und küsste sie so leidenschaftlich, dass Iva kurz alles um sich herum vergaß.

So saßen sie dort eine Weile. Um sie herum der feinpudrige, weiße Sandstrand, das saft-monotone Rauschen der Wellen und die endlosen Weiten des Ozeans.