Leseprobe Wie rettet man die Ehre einer Lady?

Kapitel Eins

Lady Carlotta Merritt, die jüngere Schwester des Dukes of Cashingham, steckte tief in einem Tagtraum, in dem sie ihrem Verlobten den Schädel einschlug. Konnte sie als Verwandte eines Peers eigentlich wegen Mordes angeklagt werden?

In jedem Fall nicht von jemandem, der diesen Idioten jemals sprechen gehört hat.

„Wahlrecht? Absolut lächerlich! Allein die Vorstellung, dem einfachen Mann das Wahlrecht zuzugestehen, fällt schwer – aber Frauen? Diese Präsentation war einfach nur absurd. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass dein Bruder dir nie erlauben würde, dich an so etwas Befremdlichem zu beteiligen. Ich werde nicht zulassen, dass meine Zukünftige von derartigen Ideen verdorben wird.“

Carlotta ging nicht darauf ein, sondern summte vor sich hin, während sie den Hals reckte, um die Reihen der Kutschen in verschiedensten Variationen zu überblicken, die die Straßen des eleganten Mayfair-Viertels füllten. Warum nur hatten sie beschlossen, so spät am Morgen einen Ausflug zu unternehmen?

Ach ja, richtig. Weil sie ein gewisser Jemand ausgelacht hatte, als sie ihm vorgeschlagen hatte, sie kurz nach Sonnenaufgang bei ihrem üblichen Ausflug durch den Park zu begleiten.

Wenigstens hatte der Trottel einem Ausritt zugestimmt, anstatt darauf zu bestehen, in eine dieser beklemmend engen Kutschen gestopft zu sein.

„Carlotta, Darling, wenn wir das nächste Mal einen solchen Ausflug machen, muss ich wirklich darauf beharren, dass wir meinen Einspänner nehmen. Der Verkehr hier ist viel zu dicht für meinen Brutus.“

Ah. Da war ja schon wieder die kontrollierende Art, die sie von ihrem Verlobten, dem hochwohlgeborenen Baron Dongel, zu erwarten gelernt hatte. Dieser Idiot.

Carlotta lächelte nichtsdestotrotz und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Gewirr der Gefährte vor ihr. „Ja, Freddie. Vielleicht ist dein Brutus einfach nicht für London im Frühling gemacht.“

Brutus … Der arme Wallach hätte treffender auf den Namen Muffin oder Bubbles getauft werden sollen – oder vielleicht sogar Stinky. Das Tier hatte eindeutig unter Lord Dongels stämmigem Körperbau zu kämpfen und war seinem Namensvetter alles andere als ähnlich.

„Liebling“, rief der Idiot Carlotta hinterher, die auf ihrer eigenen Stute die Führung übernommen hatte, „ich habe dich wiederholt darum gebeten, mich in der Öffentlichkeit nicht Freddie zu nennen. ‚Mylord‘ wäre angemessen, aber ich erlaube dir auch ‚Alfred‘, wenn deine Emotionen dich überkommen.“

Welche Art von Emotionen er von ihr erwartete war nicht schwer zu erraten.

Falscher konnte er dabei allerdings kaum liegen.

Ein Schürhaken. Das dürfte eine saftige Delle in seinem Schädel hinterlassen. Es ist eine Schande, dass Cash all diese modernen Wasserklosetts einbauen ließ – es wäre so viel schöner gewesen, einen Nachttopf auf den guten Freddie fallen zu lassen.

Aber sie festigte nur den Griff um die Zügel und biss die Zähne zusammen. „Es tut mir so leid, Mylord.“

„Ich vergebe dir, Carlotta“, säuselte er ihr selbstgefällig zu, als er mit seinem Pferd gleichauf mit ihr trabte. „Ich bin mir durchaus bewusst, dass manche Frauen an die wirklich wichtigen Dinge im Leben erinnert werden müssen. Es macht mir nichts aus, als dein Lehrer in allen Gebieten aufzutreten, meine Liebe.“

Oder vielleicht wäre der Nachttopf auch praktisch, um sich hinein zu übergeben.

„Oh, schau!“, rief sie dankbar aus. „Da ist ja schon das Stadthaus!“ Es gelang ihr durchaus überzeugend so zu klingen, als hätte sie nicht schon die ganze Zeit die Augen angestrengt nach ihrem Zuhause und dem Ende dieser schrecklichen Erfahrung offengehalten. „Was für ein schöner Ausritt. So schade, dass er schon zu Ende ist, und so weiter und so fort.“ Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, spornte sie ihre Stute zum Trab und spannte ihre Wade um den Sattelknopf für sicheren Halt. Im Stillen verfluchte sie die verdammten Anstandsregeln, die es ihr verboten, rittlings zu sitzen. Nach ein paar Metern atmete sie erleichtert aus.

Doch dann bemerkte sie, dass Alfred, Lord Dongel, der Idiot, und sein Brutus es schafften, mit ihr Schritt zu halten. Wie konnte es auch anders sein.

„Im Galopp zu reiten ist unschicklich, Liebling. Natürlich ziemt es sich auch nicht, auf einem Pferd durch London zu reiten, wo ich doch einen makellosen Einspänner besitze. Gleiches gilt für die Uhrzeit. Jedermann weiß, dass man am späten Nachmittag ausreiten sollte … Wo willst du denn hin?“

Carlotta beschloss, dass man von ihr nicht erwarten konnte, auch nur einen weiteren Moment in Gegenwart dieses Idioten zu verbringen. Sie lenkte ihre Stute in Richtung des Vordereingangs des Stadthauses ihres Bruders, in dem sie nun schon so lange gelebt hatte und in das Cash – den sie trotz des Jahrzehnts zwischen ihnen vergötterte – erst vor kurzem wieder eingezogen war.

„Carstairs wird nichts dagegen haben“, rief sie Freddie zu, obwohl sie wusste, dass das nicht der Grund für seinen Protest war.

„Carlotta, die Stallungen sind in dieser Richtung.“

Oh, wie nett von ihm, ihr den Grundriss ihres eigenen Hauses zu erklären!

Ein Ritt zu den Stallungen bedeutete gleichzeitig, mehr Zeit in Gesellschaft von Freddie. „Ja, Mylord, aber ich werde Carstairs bitten, einen der …“ Den Rest ihrer Antwort verschluckte sie, als sie sich der Eingangstreppe näherte. Dort kauerte eine Gestalt – ein Mann –, der zu ihr aufblickte, als er sie bemerkte.

Dem Zustand seines Gesichts nach zu urteilen hatte dieser Mann bereits den einen oder anderen Nachttopf abbekommen.

Carlotta holte tief Luft und zügelte ihre Stute.

Und dann holte sie noch einmal tief Luft, als sich ihre Blicke trafen, denn – lieber Gott im Himmel – trotz all der lila leuchtenden Blutergüsse und der aufgeplatzten Lippe war er wunderschön. Sein rotbraunes Haar war ein bisschen zu lang und Carlotta hatte Sommersprossen nie als besonders schön empfunden. Zumindest nicht, wenn sie ein blaues Auge und eine mindestens einmal gebrochene Nase zierten.

Vielleicht war wunderschön das falsche Wort.

Elegant.

Gefährlich.

Wütend …

Wunderschön.

Kurz kam Carlotta der Gedanke, dass sie offenbar all diese Dinge als schön empfand. Wie sonst war zu erklären, dass sie hier auf ihrem Sattel saß und nichts tat, als ihn wie ein lebendig gewordenes Gemälde anzustarren?

Aber welcher Maler würde so einen Kerl malen? Zu viele Muskeln, zu viele Sommersprossen, zu viele blaue Flecken. Aber irgendwie fügte sich das alles zu einem schönen, groben Gesamtkunstwerk zusammen.

Langsam richtete sich der Mann auf. Er hatte auf der zweiten Stufe gesessen und die Ellbogen mit locker baumelnden Händen auf die gespreizten Knie gestützt. Jetzt, wo er sich zu seiner vollen Größe aufbaute, hielt er ihren Blick fest. Carlotta versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie atmen sollte.

„He!“, tönte es vom Idioten, der schließlich aufgeholt hatte. „Was treibst du hier? Geh schon. Scher dich fort. Das hier ist kein Ort, um sich auszuruhen!“

Zum ersten Mal fiel Carlotta die Kleidung des Mannes auf: Er trug einen Anzug, der nicht besonders abgenutzt wirkte, aber auch nicht von so guter Qualität war wie der, den Freddie bei einem einfachen Ausritt durch den Park trug. War er wirklich ein Arbeiter, der sich auf der Türschwelle ihrer Familie in Mayfair ausruhte? Warum hatte Carstairs ihn nicht davongejagt?

Auf Freddies Worte hin trat der Mann von der Treppe herunter, bückte sich langsam und griff nach dem Hut, den sie auf der Stufe neben seinem Oberschenkel nicht bemerkt hatte. Die elegante Bewegung, mit der er den Hut auf seinen Kopf setzte, zog ihren Blick fast hypnotisch auf seine große Hand.

Und dann lächelte er.

Es war zwar kein echtes Lächeln und schon wieder vorbei, bevor es richtig begonnen hatte, und es war nicht einmal an Carlotta gerichtet, aber sie musste dennoch ein Wimmern unterdrücken.

„Verzeiht mir, Mylord.“ Der Mann klang keineswegs reumütig oder unterwürfig. „Ich ruhe mich nicht aus. Ich warte.“

Er sprach mit schottischem Akzent. Eigentlich sollte sie das angesichts des roten Haars und der Sommersprossen nicht überraschen. Außerdem stammte ihre eigene Schwägerin, Cashs Frau Raina, aus den Highlands. Carlotta schwor sich von diesem Moment an, so viele schottische Männer wie möglich ausfindig zu machen und diese dazu zu bringen, ihr einfach irgendetwas zu erzählen.

Dieser Akzent!

„Warten? Worauf warten Sie denn?“, forderte Freddie zu erfahren, während er Brutus unruhig auf der Stelle im Kreis drehen ließ. Es war unschwer zu erkennen, dass er wütend war.

Der Fremde richtete den Blick wieder auf Carlotta. Sie war sich unschlüssig, ob seine Augen braun oder grün waren. „Ich warte darauf, dass der Butler dieses noblen Schuppens zu dem Schluss kommt, dass ich es wert bin, eingelassen zu werden.“

Oje.

Er wollte sich Zugang zu ihrem Haus verschaffen und Carstairs hatte ihn daran gehindert?

Nun, sie konnte es dem Butler kaum verübeln. Der Mann sah aus wie ein Raufbold. Ein gut gekleideter Raufbold zwar und auch sicherlich ein gut aussehender, aber es fehlte nicht viel, um ihn sich blutüberströmt und ein Claymore schwingend vorzustellen, mit einem wilden Schlachtruf auf den Lippen und mit einem Kilt gekleidet, der seinen …

Du träumst schon wieder vor dich hin.

Richtig.

Carlotta zwang sich dazu, den Blick zu senken und sich aus dem Sattel zu schwingen. Zu spät fiel ihr wieder ein, dass sie ja vorgeben wollte, eine Dame zu sein. Und Damen konnten bekanntermaßen nicht einmal allein vom Pferd stürzen.

„Carlotta!“, keuchte der Idiot hinter ihr auf. „Du hättest auf mich warten müssen. Ich bin gleich da, um dir zu helfen.“

Natürlich. Alfred, Lord Dongel, brauchte wahrscheinlich selbst Hilfe, um von seinem Pferd zu steigen.

Dankbar für die Gelegenheit, ihren Verlobten zu ignorieren, duckte sie sich mit den Zügeln in der Hand unter dem Hals der Stute hindurch und näherte sich dem Fremden.

„Und warum verlangen Sie Zutritt zu diesem ‚noblen Schuppen‘, Sir?“, fragte sie, als sie die Treppe erreichte. Dieser Mann.

Er machte keine Anstalten, sich eilig den Hut vom Kopf zu reißen, sich zu verbeugen oder irgendeines der anderen Zeichen der Unterwürfigkeit an den Tag zu legen, an die Carlotta im Umgang mit Ladenbesitzern und Geschäftsleuten gewöhnt war. Stattdessen stemmte er die Hände in die Hüften, wobei er lässig die beiden Hälften des geöffneten Mantels nach hinten warf.

„Ich wurde eingeladen.“

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er damit ihre Frage beantwortet hatte. „Von wem?“

Offensichtlich nicht von Carstairs. Allerdings könnte ein Mann seines Aussehens vielleicht von Mrs McGee eingeladen worden sein. Aber wenn er sich um eine Stelle im Haushalt bewarb, war das hier sicher die falsche Herangehensweise.

Vielleicht spiegelten sich ihre Gedanken in ihrem Gesichtsausdruck wider, denn die Lippen des Mannes verzogen sich langsam zu einem leichten Lächeln – einem echten diesmal. „Vom Duke“, erwiderte er spöttisch.

Sie zog die Brauen weit hoch. Wenn er log, dann war er zumindest sehr überzeugend.

„Lachhaft!“, schimpfte der Idiot, nachdem er es endlich mit seinem Hinterteil vom Pferd geschafft hatte. Er stellte sich hastig an ihre Seite. „Der Duke of Cashingham hat nicht die Angewohnheit, gewöhnliche Arbeiter in seinem Haus zu empfangen! Scheren Sie sich fort.“

Dieser Mann hatte nichts Gewöhnliches an sich und Carlotta ergriff überraschend erbost für den Fremden Partei. „Maßen Sie sich nicht an, die Gewohnheiten meines Bruders zu kennen, Mylord“, blaffte sie ihn auf ganz und gar nicht damenhafte Weise an.

Während sich Freddies Gesicht erschreckend rot färbte, vernahm sie ein leises Glucksen. Der Fremde lächelte noch immer.

„Dein Bruder, was? Dann musst du also Carlotta sein?“

War dieses Lächeln, so unwiderstehlich es auch war, ein Zeichen des Spottes? Carlotta griff auf den arroganten Ton zurück, den ihre Mutter ihr von der Wiege auf einzutrichtern versucht hatte. „Lady Carlotta.“

Es war völlig unangebracht, dass sie sich selbst vorstellen musste, und sie konnte wohl kaum nach dem Namen des Mannes verlangen, während sie hier draußen vor der Türschwelle des Mayfair-Anwesens ihrer Familie stand und ihr Pferd sie immer wieder zwischen den Schulterblättern anstupste … aber Freddie verspürte offenbar keine derartigen Bedenken.

„Wie können Sie es wagen, Sir? Nennen Sie mir Ihren Namen, damit ich Sie verhaften und fortschaffen lassen kann!“

Der Fremde ignorierte Freddie und sein Blick hielt immer noch ihren fest.

Haselnuss, entschied sie schließlich. Seine Augen besaßen einen schönen haselnussbraunen Farbton, der irgendwie vertraut wirkte.

Wieder zuckte einer seiner Mundwinkel und er neigte leicht den Kopf. Es war keine Verbeugung, besonders, wenn man seine arrogante Haltung bedachte – meine Güte, seine Schultern waren wirklich sehr breit, oder? –, aber die Geste scheuchte dennoch die Schmetterlinge in Carlottas Magen auf.

„Oliphant.“ Seine aufgeplatzten Lippen formten so unvermittelt das Wort, als wäre es ihnen unfreiwillig entrissen worden. „Keith Oliphant.“

Oliphant.

Ihre Schwägerin Raina stammte aus dem Oliphant-Clan, aber das war nicht der einzige Grund, aus dem Carlotta den Namen sofort erkannte.

Keith Oliphant, der Battling Bastard. Faustkampfmeister und Gewinner des Boxkampfes mit Harris vor nicht einmal zwei Tagen … und er stand hier vor ihrer Haustür!

Wahrscheinlich war das nicht der richtige Zeitpunkt, um zuzugeben, dass sie die wenig damenhafte Angewohnheit hatte, einem der Dienstboten den Sportteil der Zeitung zu stibitzen. Mutter wäre entsetzt herauszufinden, dass sie sich im Untergeschoss herumtrieb – und noch weit mehr, wenn sie den Grund erführe.

Unwillkürlich fiel Carlottas Blick auf seine Schultern und schweifte dann über die Muskelstränge, die sie oberhalb seines Kragens sehen konnte. Seine Brust war breit, während Taille und Hüfte schmaler waren. Es handelte sich eindeutig um einen Mann, der jahrelang trainiert hatte, um dieses Niveau körperlicher Ertüchtigung zu erreichen – dieses Niveau des Erfolgs.

Erst als ihr Blick seine Oberschenkel erreichte, wurde sie sich bewusst, was sie gerade tat. Doch bevor sie ihren Blick abwenden konnte, stellte er unter Beweis, dass er eindeutig kein Gentleman war.

„Gefällt dir, was du siehst, Schätzchen?“

Oh lieber Gott im Himmel.

Ihre Wangen nahmen Farbe an, aber anstatt den Blick wieder dorthin zu lenken, wo er hingehörte, wandte sie ihm abrupt den Rücken zu und tat so, als sei die Mähne ihrer Stute plötzlich äußerst faszinierend. So. Sollte er sie doch für arrogant und unhöflich halten. Das war besser, als ihn ihre insgeheime Faszination erraten zu lassen.

Als sie ihre behandschuhte Hand an den Hals des Pferdes legte, in der Hoffnung, dass es so aussehen würde, als interessiere sie sich mehr für ihr Tier als für ihn, vernahm sie sein leises Glucksen. Es konnte auch ein Schnauben oder nur ein Ausatmen gewesen sein. Was auch immer es war, es zeigte recht deutlich, dass ihr Täuschungsversuch gescheitert war.

Verdammt.

Natürlich konnte sie sich immer auf Freddies großspuriges und lächerliches Auftreten verlassen. „Hören Sie, Oliphant! Ich bin mir nicht sicher, was Sie zu der Annahme bringt, dass Seine Gnaden Sie empfangen würde …“

In einer beispiellosen Zurschaustellung von perfektem Timing hörte Carlotta, wie sich hinter ihr die Tür öffnete und Carstairs’ Stimme ertönte. „Mister Oliphant, Seine Gnaden wird Sie jetzt empfangen.“

Während der Idiot weiter schimpfte, warf Carlotta einen Blick über die Schulter. Der alte Butler hielt tatsächlich die Tür für den englischen Faustkampfmeister auf, der bereits beschwingt die Treppe hinaufeilte und seine ganze aufgestaute Energie endlich freizusetzen schien.

Er warf nicht einmal einen Blick zurück in ihre Richtung.

Nein, nein, das ist natürlich gut so.

Leider war sie eine schreckliche Lügnerin, sogar sich selbst gegenüber.

„Lady Carlotta“, rief der Butler von der Treppe aus, „Ihr Bruder erbittet Ihre Anwesenheit im Rosa Salon, nachdem Sie sich frisch gemacht haben. Ich werde den Jungen anweisen, sich um Ihr Pferd zu kümmern.“

Oh.

Wenigstens verlief überhaupt etwas zu ihren Gunsten. Offenbar hatte Cash nach seinem Gespräch mit Keith Oliphant vor, etwas mit ihr zu besprechen. Vermutlich ging es um …

Nun, eigentlich war es ihr egal, worüber sie sprachen, solange sie nur eine Ausrede hatte, um ein wenig mit ihm zusammenzusitzen. Während seiner Besuche in London war er immer äußerst beschäftigt und sie vermisste ihre gemeinsamen Jahre in Cashingham so sehr. Jedes bisschen Zeit, das sie hier mit ihm verbringen konnte, war kostbar. Und außerdem war es eine gute Ausrede, um Freddie loszuwerden.

„Oje“, sagte sie und versuchte, enttäuscht zu klingen, als sie sich ihrem ungewollten Verlobten zuwandte. Ein Stallknecht nahm ihr behutsam die Zügel aus der Hand und führte ihre Stute zu den Stallungen. Gleichzeitig hatte Freddie große Mühe, seinen eigenen Wallach in Zaum zu halten. „Das Anliegen meines Bruders ist sehr wichtig. Das verstehst du doch, Freddie?“

„Alfred, Darling“, korrigierte er sie geistesabwesend. „Und ja, ich nehme an, es ist besser so.“ Es gelang ihm, ihre Hand zu ergreifen. „Und du wirst natürlich daran denken, meinen Investitionsvorschlag zu erwähnen, Carlotta.“

Es war klar als Aufforderung formuliert und nicht als Bitte, aber sie brachte dennoch ein Lächeln zustande. „Natürlich, Liebling. Mein Bruder hat sicher Verständnis, dass du jetzt Geld brauchst, bevor dein Onkel, der Earl, stirbt.“

Die Stichelei war offenbar zu subtil, denn Freddie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen beugte er sich vor, ganz als wolle er sie küssen.

Am helllichten Tag.

Auf der Straße.

Schon wieder.

Da sie bereits einen seiner Küsse erlebt hatte – das Wort „Frosch“ kam ihr bei der Erinnerung in den Sinn –, musste Carlotta das jungfräuliche, peinlich berührte Zögern und Zurückweichen nicht mimen. „Mylord!“

Er gluckste trocken und riss dann fest an den Zügeln, um sein Pferd unter Kontrolle zu bringen. „Du kannst dich so viel du willst in koketter Zurückhaltung üben, Darling, aber bald werden wir verheiratet sein, und dann bin ich für dich verantwortlich. Deine Mutter und dein Bruder sind sehr darauf bedacht, dass du dich unserer hochangesehenen Blutlinie anschließt. Und ich weiß, dass der Duke es begrüßen wird, wenn ich dich ein wenig an die Hand nehme.“

Mich kontrollierst wohl eher.

Diesmal sagte er es zwar nicht, aber das war auch gar nicht nötig. Er hatte kaum eine Gelegenheit ausgelassen, ihr zu versprechen, dass sie eines Tages die Countess of Blasingcourt sein würde. Das änderte nichts an Carlottas Erkenntnis, dass diese Aussicht nicht als Grund reichte, um die wenigen Freiheiten aufzugeben, die sie derzeit genoss.

Ihr Lächeln war eingefroren, aber Freddie schien es nicht zu bemerken. Stattdessen beugte er sich über ihre Hand und sie freute sich ungemein über das Ziegenleder des Handschuhs zwischen ihrer Haut und seinen Lippen.

„Bis nächste Woche, Darling“, säuselte er ihr zu.

Seufzend fragte sie: „Nächste Woche?“

„Der Worthington-Ball.“ Er zwinkerte ihr zu, während er sich aus seiner Verbeugung erhob. „Du hast doch wohl nicht das gesellschaftliche Ereignis des Monats vergessen, oder? Ich nehme an, dass die Ablenkung durch meine Anwesenheit es aus deinem Gedächtnis vertrieben hat. Du wirst ja nicht so zerstreut sein, wie die meisten Frauen es meiner Erfahrung nach sind.“ Sein Grinsen sollte wohl charmant sein. „Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten, mit der schönen Schwester des Dukes of Cashingham an meinem Arm vor der versammelten Gesellschaft aufzutreten.“

Die schöne Schwester des Dukes of Cashingham. Das war offenbar alles, was sie für Alfred, Lord Dongel, den Alleinerben des Earl of Blasingcourt, und ihren Verlobten, war.

Seine Stellung in der Gesellschaft, seine Beziehungen und sein baldiger Earl-Titel machten ihn ihrer Mutter zufolge zu einem guten Fang. Natürlich hatte Mutter noch nie eine Stunde damit verbringen müssen, sich seine verabscheuungswürdigen Ansichten über die Rolle der Frau anzuhören oder – Gott bewahre – seine Küsse zu ertragen.

„Natürlich“, brachte sie hervor, obwohl sich ihre Kehle vor Wut zusammenzog. „Und es wird Wunder für meinen Ruf wirken, mit Ihnen gesehen zu werden, Mylord.“

Das war nicht ganz unwahr; Lady Carlotta Merritts Ruf konnte immer ein wenig Aufbesserung gebrauchen und am Arm eines – wie Mutter es ausdrückte – „Gesellschaftslieblings“ gesehen zu werden, konnte sicher nicht schaden.

Verflucht.

Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern drehte sich um und raffte ihre Röcke. Sie konnte es kaum erwarten, in den Rosa Salon des Grauens zu entkommen, wie sie den Raum nannte, in dem ihre Mutter am liebsten Gäste empfing. Noch während sie den Rückzug antrat, hörte sie hinter sich Freddies selbstgefälliges Glucksen über ihre schwachen Worte des Lobes.

Nun, ich bin wohl doch keine so schlechte Lügnerin.

Kapitel Zwei

Keith hatte das feine Londoner Stadthaus des Dukes of Cashingham noch nie betreten, weil bisher nie die Notwendigkeit dazu bestanden hatte. Der Besitzer selbst war selten da und die wenigen Anlässe, bei denen Keith sich mit seinem zurückgezogen lebenden Schwager getroffen hatte, waren auf dessen Ländereien in York gewesen.

Aber da er dementsprechend in diesem Teil der Stadt noch nie sein hässliches Gesicht gezeigt hatte, war es nur logisch, dass der Butler – Carstairs hieß er – ihm nicht sofort Einlass gewährt hatte. Schließlich wusste Keith durchaus, dass er selbst unter besten Umständen nicht gerade der eleganteste aller Gentlemen war, und heute …

Nun, der Umstand, dass Harris noch schlimmer aussah als er, war vermutlich das Beste, was man über sein Aussehen sagen konnte. Der Gedanke daran brachte ein Lächeln auf seine Lippen.

Unglücklicherweise kam es genau in dem Moment auf, als der Butler sich umdrehte, und die Miene des älteren Mannes wirkte äußerst missbilligend. „Seine Gnaden erwartet Sie, Mister Oliphant.“

Keith hatte genug Jahre als Diener in einem noblen Haus verbracht, um zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Allerdings wusste er so auch, wie er das genaue Gegenteil tun konnte. Er setzte sich sein bestes Gehabe eines arroganten Lords auf, blickte von oben auf den Butler herab und schnaubte. „Sehr gut. Ich werde deinen Herrn darüber informieren, warum ich so lange aufgehalten wurde, mein Bester.“

Als der ältere Mann nervös zu stottern begann, stahl sich ein spöttisches Grinsen auf Keiths Gesicht und er stieß dem Butler freundschaftlich mit dem Ellbogen in die Rippen, als er durch die Tür trat.

Das Husten des Mannes hinter ihm verstummte, als Keith direkt hinter der Türschwelle wie angewurzelt stehen blieb. „Heiliger Bimbam“, murmelte er und sah sich um.

Als Carstairs vom Rosa Salon gesprochen hatte, war dies keine Untertreibung gewesen. Es traf auf jeden noch so kleinen Winkel zu. Die Sonne, die durch die nach Osten blickenden Fenster einfiel, ließ den ganzen Raum erstrahlen. Auch die schlafende rundliche Frau. Die Szene war ohne Zweifel eines Künstlers wert … sofern dieser seine Vorräte an Rosa, Mauve, Magenta und Rot ausgiebig aufgestockt hatte. Das Gemälde wäre vermutlich als Die Rosarote Runde Dame auf der Rosa Récamiere – rosa Öl auf rosa Leinwand in die Geschichte eingegangen.

Eine Bewegung auf der anderen Seite des Raumes erregte seine Aufmerksamkeit. Dort befand sich ein Schreibtisch, davor ein Mann und neben ihm …

Keiths Lächeln blitzte erneut auf, als sich Lady Raina Merritt, geborene Prince, von ihrem Platz an der Seite ihres Ehemanns erhob.

„So schlimm ist es doch gar nicht, oder?“, rief sie ihm zu, während sie mit einem breiten Lächeln auf ihn zueilte.

Er kam ihr entgegen, sodass sie sich in der Mitte des Raumes trafen. „Doch, ist es“, erwiderte er, während er sich ihre Hand schnappte und darüber eine tiefe Verbeugung machte. „Sie sehen heute recht rosig aus, Mylady.“

Die schöne Frau, deren rotes Haar nur einen Hauch dunkler war als sein eigenes, nickte scharf in Richtung ihrer dösenden Schwiegermutter, bevor sie Keith spielerisch gegen die Schulter boxte. „Hör auf. Das Kleid ist eigentlich violett, wie du sehr genau weißt, aber das Licht hier drin …“

„… lässt Sie noch schöner aussehen als bei unserer letzten Begegnung, Mylady.“

Diesmal brachte er sie mit seiner unverhohlenen Neckerei und gespielten Unterwürfigkeit zum Lachen, genau wie er es beabsichtigt hatte.

Seine ältere Schwester warf ihm die Arme um den Hals und er erwiderte die Geste mit dem gleichen Maß an Freude. Die Jahre der Ehe waren ihr offenbar gut bekommen, aber sie war nicht so in die Breite gewachsen, dass er sie nicht mehr hochheben und herumwirbeln konnte.

Danach küsste er sie auf die Wange. „Geht’s dir gut? Und den Kindern?“

Sie legte ihren Arm um seinen und lenkte Keith in Richtung Schreibtisch, wo der Duke noch immer saß und über seiner Post brütete. Während sie zusammen durch den Raum schlenderten, legte Raina die Hand auf ihren Bauch. „Es geht uns allen gut.“

Die Art und Weise, wie sie es sagte, veranlasste Keith eine Augenbraue hochzuziehen. „Weiß Lyon Bescheid?“

Er bezweifelte das, denn ihr ältester Bruder, inzwischen Laird Oliphant, hätte sie nicht gebeten zu reisen, wenn er geahnt hätte, dass sie Nachwuchs erwartete.

Sie schnalzte mit der Zunge. „Und ihm den Spaß verderben? Er und Bonnie planen diese Feier für mich, seit ich sie vor ein paar Jahren mit diesem Ball überrascht habe. Weißt du noch, wie peinlich berührt unser ältester Bruder war?“

Schmunzelnd erinnerte sich Keith daran, wie er Lyon – der nicht nur sein Bruder und langjähriger Arbeitgeber, sondern auch einer seiner engsten Freunde war – hatte überreden müssen, endlich die Tür aufzuschließen. Der arme Kerl hatte sich standhaft geweigert, seine Kammer zu verlassen. „Ich dachte, er würde dir nie verzeihen, dass du ihn so unvorbereitet in den Mittelpunkt gestellt hast.“

„Aber er war gerade zum Laird ernannt worden! Der Clan brauchte nach der Beisetzung von Da einfach eine Feier und Lyon musste seinen Platz auf Newfincy Castle einnehmen.“

Keith stupste sie in die Seite. „Aye, und seitdem hat er seine Rache geplant. Ein Geburtstagsball?“

„Aber kein gewöhnlicher Geburtstag“, flüsterte sie mit gespielter Empörung. „Ein Dreißigster. Kannst du dir vorstellen, dass ich gerne den Umstand feiern möchte, dass ich alt werde?“

Ohne von seiner Korrespondenz aufzublicken, schaltete sich ihr Mann ein: „Nicht alt, Liebste. Nur älter. Und nicht zu alt.“

Raina lächelte und sie legte ihre Handfläche wieder auf den Bauch. „Nein, nicht zu alt.“

Sie und der Duke of Cashingham hatten beide Söhne mit in die Ehe gebracht. Neben Matthew und Ewan – benannt nach dem Vater, den Keith mit Raina und ihren Brüdern teilte – gesellten sich Julian, Charles und Victoria zu ihrer Brut.

Und nächstes Jahr würde es einen weiteren Neffen – oder sogar eine Nichte – zum Knuddeln geben.

Er drückte ihren Arm. „Ich freue mich für dich.“

Seine nur um ein Jahr ältere Schwester grinste ihn breit an. „Vielen Dank. Ich wusste, dass du meiner Einladung folgen würdest, und sei es nur, um zu hören, was es bei uns an Neuigkeiten gibt.“

„Und ich kann nicht bestreiten, dass ich mich darüber freue. Aber das ist doch wohl nicht der einzige Grund, warum Ihr mich wie einen verirrten Jungen quer durch London herzitiert habt, wo ich doch eigentlich meinen Sieg feiern sollte?“

„Ach ja!“ Raina löste sich von ihm und verdrehte ob ihrer Vergesslichkeit die Augen. „Ich hätte direkt mit meinen Glückwünschen zu dieser kleinen Meisterleistung beginnen sollen. Wie fühlt es sich an, englischer Meister zu sein?“

Keith grinste gutmütig. „Genauso wie letzte Woche, nur ein wenig schmerzhafter.“

Sie warf einen Blick auf sein geschwollenes Auge, dann auf seine aufgeplatzten Lippen. „Du siehst auch ziemlich mitgenommen aus. Ich wollte zuschauen, aber Cash …“

„… ist kein völliger Idiot“, sagte ihr Mann, ohne aufzusehen. „Liebste, die ganze Gesellschaft weiß bereits, dass die Duchess of Cashingham ein wenig exzentrisch ist. Ich werde dir nicht noch mehr Klatsch und Tratsch aufbürden, indem ich dir gestatte, dich bei einem Boxkampf blicken zu lassen, in dem dein unehelicher Halbbruder sein Blut im Ring vergießt.“

Raina sah Keith in die Augen und schenkte ihm ein wenig überzeugtes Grinsen. „Aye. Deswegen.“

„Er hat recht, Raina.“

Cashingham teilte Keiths Meinung. „Natürlich habe ich recht.“ Schließlich legte er seine Schreibfeder ordentlich neben dem Briefpapier ab und blickte auf. „Schön, dich zu sehen, Keith.“

Es war nicht gerade eine enthusiastische Umarmung, wie Raina sie ihm gegeben hatte, aber für den kühlen und unnahbaren Duke kam es einer Erklärung seiner unsterblichen Zuneigung gleich, sodass Keith dennoch breit lächeln musste.

„Glückwunsch, Euer Gnaden.“ Er neigte den Kopf in Richtung Raina. „Sag meinem Bruder nicht, dass sie schwanger ist, sonst wird Lyon darauf bestehen, sie in Wolle einzuwickeln wie bei Bonnies Schwangerschaft, und den Geburtstagsball um ein weiteres Jahr verschieben.“

Raina stöhnte. „Es ist schon schlimm genug, meinen Dreißigsten zu feiern; ich will nicht auch noch meinen Einunddreißigsten feiern müssen.“

Hinter sich hörte Keith ein dumpfes Geräusch, das fast so klang wie eine Person, die unter einem Haufen Kissen begraben war. „Du meine Güte, hat dieser Flegel gerade schwanger gesagt? In Anwesenheit einer Dame?“

Keith und Raina wandten sich der alten rosafarbenen Dame zu, die sich aus dem Haufen rosa Kissen auf ihrer rosa Récamiere hochmühte. Wenig überraschend war auch ihr Kleid rosa.

„Mutter, bleib doch sitzen“, versuchte Raina die Frau zu beruhigen und eilte durch den Raum. „Und nein, wir haben nicht über so etwas Derbes wie eine Schwangerschaft gesprochen.“

„Und auch nicht über Zeugung, Kindererziehung, entblößte Knöchel und Schultern oder irgendwelche Körperfunktionen …“, murmelte der Duke leise hinter Keith und zählte damit offenbar sämtliche Themen auf, die seine Mutter für unpassend hielt.

Ohne die Miene zu verziehen, murmelte Keith „Achselhöhlen?“ zurück und wurde mit einem halb unterdrückten Schnaufen von Cashingham belohnt.

An Rainas Blick erkannte Keith, dass seine Schwester von ihm erwartete, ihre Neuigkeiten gefälligst für sich zu behalten. Das war ihm nur recht. Es war etwas ganz Besonderes, mit der Nachricht ihrer neuesten Schwangerschaft betraut worden zu sein, während der Rest seiner Familie und vielleicht sogar ihre Schwiegermutter noch nichts davon wussten.

Als der Duke an ihm vorbeiging, um seine Mutter – offenbar nicht zum ersten Mal – davon zu überzeugen, sich nicht in das Gespräch einzumischen, stellte sich Keith in einer bequemen Haltung mit verschränkten Armen neben dem Schreibtisch auf. Dank seiner jahrelangen Arbeit im Haushalt seines Bruders konnte er stundenlang so dastehen und vertraute darauf, dass ihm irgendwann schon jemand verraten würde, warum er wirklich hier war.

„Auf keinen Fall, Adolphus!“ Die alte Frau deutete einen Schlag in Richtung des Dukes an. Vor Verärgerung über die Verwendung seines Vornamens stieg eine deutlich sichtbare Röte in seinem Nacken auf. „Sie ist meine Tochter und ich werde hier sein, wenn du eine Begleitung für sie aussuchst!“

„Die Begleitung ist bereits ausgewählt worden, Mutter“, erinnerte Raina die alte Frau beschwichtigend. „Erinnerst du dich? Wir hatten über seine Qualitäten gesprochen.“

„Carlotta kann sturköpfig sein und er muss sie vor Gefahren beschützen.“

Als Raina sich neben ihrer Schwiegermutter niederließ, um die alte Frau zu beruhigen, wurde Keith hellhörig.

Carlotta? In Gefahr? Das Mädchen, dem er gerade erst draußen auf der Straße begegnet war? Er konnte sich durchaus vorstellen, dass jemand, der Männer so ungeniert begaffte, einen starken Begleiter brauchte.

Aber der Gedanke, dass sie in Gefahr war?

Keith zwang sich, tief durchzuatmen und die nagenden Sorgen tief in seinem Bauch zu vergraben, wo sie ihn nicht ablenken konnten, so wie er es vor jedem Kampf tat.

Lady Carlotta ging ihn nichts an, auch wenn ihr freches Grinsen und das kurze verschmitzte Aufblitzen ihrer grauen Augen, als diese fasziniert zu seiner Leistengegend gewandert waren eine verräterische Hitze durch seine Adern gejagt hatten. Sie war eine Dame, die Schwester eines Dukes, und er war …

Er war nur er selbst.

Der englische Faustkampfmeister Keith Oliphant.

Doch laut der Urkunde in seiner Tasche, die ihm von dem Anwalt aufgedrängt worden war, auf den sein Bruder Lyon bestanden hatte, war er nun der Landeigentümer Keith Oliphant. Burgeigentümer sogar. Und er hatte nicht den blassesten Schimmer, was er mit dieser Information anfangen sollte.

Das bisschen Unbekannte in seinem Leben reichte ihm völlig, vielen Dank auch.

Ja, diese grauäugige Verführerin, die sich so weit über seinem eigenen Stand befand, dass sie ihn nicht einmal anspucken konnte, ohne einen gesellschaftlichen Skandal loszutreten, ging ihn nichts an. Wenn sie wirklich in Gefahr war, dann war das verflucht nochmal das Problem des verfluchten Duke of Cashingham.

So viel Fluchen würde den Blaublütern vermutlich selbiges glatt in den Adern gefrieren lassen.

Unwillkürlich kräuselten sich Keiths Lippen bei diesem Gedanken zu einem schiefen Grinsen.

Das Familiengespräch auf der anderen Seite des Raumes hatte sich in der Zwischenzeit fortgesetzt. Jetzt sprach die Herzoginwitwe über Begleitpersonen und einen Zug und darüber, wie viel Zeit irgendetwas in Anspruch nehmen würde.

Ihr Sohn unterbrach sie. „Sie kann nicht den Zug nehmen, Mutter. Raina will, dass sie an der Feier auf Newfincy Castle teilnimmt, und Carlotta möchte dabei sein.“

„Ich möchte natürlich auch, dass sie teilnehmen kann, Adolphus!“ Die alte Frau klang verärgert. „Und Lord Dongel wurde großzügigerweise ebenfalls eingeladen. Verstehst du nicht, was das für eine Gelegenheit ist? Sofern das für sie sicher ist.“

Raina winkte ab. „Keith ist der Herausforderung mehr als gewachsen. Lord Donkel müsste sich um nichts kümmern.“

Keiths Mundwinkel zuckten erneut, als seine Schwester absichtlich den Titel des aufgeblasenen Arschlochs falsch aussprach. Er lehnte sich lässig gegen den Schreibtisch. „Meint ihr nicht, ihr solltet vielleicht erst einmal Keith mitteilen, was ihr von ihm wollt?“

Seine Schwester hatte den Anstand, rot anzulaufen, aber Cashingham erhob sich und schritt zum Kamin. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen setzte er zur Erklärung an. „Meine Schwester und meine Mutter werden zur Feier reisen, die Laird Oliphant und seine Frau zu Ehren meiner Frau ausrichten. Carlotta hingegen reist nicht mit dem Zug.“

„Wieso nicht?“, fragte Keith.

Die alte Frau übernahm die Antwort. „Über den Vorfall sprechen wir nicht“, blaffte sie ihn an.

„Ah.“ Keith machte eine spöttische kleine Verbeugung. „Ich bitte um Entschuldigung. Der Vorfall.“

Der Duke zog seine linke Augenbraue hoch. „In der Tat. Wie du dir vorstellen kannst, macht diese … Eigenart von ihr das Reisen – insbesondere nach Schottland – nicht gerade einfach.“

Keith nickte wortlos und fragte sich, was wohl geschehen war, dass Carlotta Merritt Angst vor Zügen hatte. Er war überrascht, wie sehr ihn die Vorstellung beunruhigte, dass sich die lebhafte blonde Dame, die so anziehend auf ihn gewirkt hatte, vor etwas so Allgegenwärtigem wie dem Zugfahren fürchtete.

Cash fuhr fort. „Carlotta wird mit ihrem Verlobten per Kutsche zu den Oliphant-Ländereien reisen.“

„Aber erst nächste Woche“, warf seine Mutter ein.

Bildete sich Keith das nur ein, oder war der Duke leicht zusammengezuckt? „Ja, wir wollen schließlich nicht, dass sie den Worthington-Ball hier in London verpasst.“

„Er ist die Veranstaltung der Saison, Adolphus! Das Angebot von Lord Dongel, sie dorthin zu begleiten, kann und sollte man nicht einfach in den Wind schlagen. Wenn die Gesellschaft erst von dieser Ehe überzeugt ist, wird sie sich darauf einlassen müssen.“

Der Blick, mit dem Cash seine eigene Mutter bedachte, war gelinde gesagt überraschend finster.

Raina hatte schließlich Mitleid mit Keith und brachte den Rest der Erklärung schnell zu Ende. „Wir alle werden in ein paar Tagen den Zug Richtung Norden nehmen, Keith. Aber Carlotta und Lord Donkel werden nächste Woche mit der Kutsche reisen. Wir möchten, dass du sie als eine Art Anstandsdame begleitest.“

„Ich?“ Er zog die Augenbrauen hoch und stellte sich aufrecht hin. „Als Anstandsdame?“

„Als Beschützer“, korrigierte ihn der Duke mit beinahe feierlicher Stimme und plötzlich ergab alles einen Sinn.

Keith runzelte die Stirn. „Ihr erwartet Ärger?“

„Mit Carlotta“, – Cashingham sah ihm tief in die Augen –, „erwarte ich immer Ärger.“

Keith ließ diesen Satz einen Moment auf sich wirken und versuchte herauszufinden, ob er damit meinte, dass sie der Ärger war oder sie ihn anzog. In jedem Fall war es keine schmeichelhafte Aussage.

„Bitte, Keith“, bat Raina ihn leise. „Du fährst doch sowieso zu den Oliphant-Ländereien, nicht wahr? Du wirst zu meiner Geburtstagsfeier kommen, oder?“

Als ersten Impuls wollte er seiner Schwester versichern, dass er natürlich an diesem besonderen Tag für sie dabei sein würde, aber er war sich nicht sicher, ob ihm die Vorstellung gefiel, dass er nur wegen seiner fähigen Fäuste für die Aufgabe ausgewählt worden war. „Ich muss weiter trainieren“, erinnerte er die anderen – und sich selbst.

Aber als seine Schwester das Gesicht verzog, fühlte er sich miserabel.

„Trotz deines Titels bist du immer noch auf neue Kämpfe aus?“

Tatsächlich war Keith nicht sicher, was die Zukunft bringen würde. Jeder Knochen in seinem Körper schmerzte und er hätte ohne weiteres erst einmal die nächste Woche durchschlafen können. Aber die Nachricht, die er an diesem Morgen von seinem Anwalt erhalten hatte, war dringend und unumkehrbar gewesen. Es fühlte sich fast an, als könnte die Urkunde jeden Moment ein Loch in seine Tasche brennen.

Er brauchte nicht mehr zu kämpfen.

Sofern er es nicht wollte.

Wenn sein Kopf nicht gerade mit Schlägen gepeinigt wurde, hatte darin immer eine Idee herumgespukt, die ihm eine Zukunft versprochen hatte. Und jetzt, da er einen Ort hatte, der ihm gehörte – wirklich ihm gehörte –, konnte er sie endlich umsetzen.

Lyon hatte beim Unterschreiben der Papiere, mit denen er Oliphant Castle an Keith überschrieb, gesagt: Schaffe dir eine Zukunft, die nicht auf deinen Fäusten aufbaut.

Aber Lyon war glücklich verliebt und entgegen seines einst gefürchteten Rufs als Bestie der Oliphants wollte er, dass auch alle um ihn herum glücklich waren – insbesondere sein unehelicher Halbbruder, der ihm all die Jahre so gute Dienste geleistet hatte.

Aber eine Burg zu besitzen – selbst eine, die sich seit unzähligen Generationen im Familienbesitz befand – war nicht genug für eine sichere Zukunft. Was sollte Keith also tun? Den Rest seiner Tage in einem modrigen alten Steinschuppen umherwandern und sich nach Beschäftigung sehnen?

Oliphant Castle war renovierungsbedürftig. Die Instandhaltungsarbeiten würden es für Grandda sicher machen, den Handwerkern im Dorf Arbeit verschaffen und ihm selbst eine Zukunft sichern. Aber das alles kostete Geld.

„Du wirst gut entlohnt.“

Die Aussage des Dukes ließ Keith überrascht aufblicken.

„Der Umschlag neben dir auf dem Schreibtisch.“ Mehr sagte Cash nicht und Keith drehte sich neugierig um.

Ja, da lag ein Umschlag, und als er ihn aufhob und den Inhalt in Augenschein nahm, zog Keith unwillkürlich die Brauen hoch. Das waren mehr Pfund-Noten, als er je auf einmal gesehen hatte.

„Ich dachte, Dukes arbeiten ausschließlich mit Wechseln und Rechnungen an ihre Anwälte.“

„Wenn wir Geschäfte mit Faustkampfmeistern machen, tun es manchmal auch obszön große Geldbatzen“, erwiderte der Duke. „Auf Newfincy Castle in den Highlands wartet die doppelte Summe auf dich, wenn du meine Schwester dort in genau demselben Zustand, in dem sie London verlassen hat, ablieferst.“

Heiliger Bimbam.

Keith warf einen Blick auf das Geld in seiner Hand. Das war ein ganzes Vermögen. Wie konnte er sich das entgehen lassen? Sein Verstand wirbelte herum und versuchte, die Möglichkeiten zu katalogisieren. Mit so viel Geld und einer Burg …

„Macht sie also so viel Ärger?“, fragte er, auch wenn sich die Situation fast unwirklich anfühlte.

Der Duke blickte Keith mit ernster Miene in die Augen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie etwas Unüberlegtes tun wird.“

Von der anderen Seite des Raumes meldete sich die Mutter des Dukes zu Wort: „Und es obliegt Ihnen, dafür zu sorgen, dass sie genau das nicht tut.

Etwas Unüberlegtes?

Sollte Keith nur sicherstellen, dass die jungfräuliche Schwester des Dukes sicher und in einem Stück auf den Oliphant-Ländereien ankam, ohne sich das Knie aufzuschürfen oder mit einem zu lauten Niesen Schande über die Familie zu bringen? Oder war damit etwas deutlich Schlimmeres gemeint?

Bevor er fragen konnte, wurde die Tür geöffnet und das Thema ihres Gesprächs kam hereinspaziert.

„Cash! Carstairs sagte, du … wolltest …“

Carlottas Stimme erstarb, als sie sich im Raum umsah und feststellen musste, dass viel mehr Leute als erwartet anwesend waren. Als ihr Blick auf Keith fiel, warf sich ihre Stirn sofort in Falten.

Er lächelte und grüßte sie mit einem spöttischen Wedeln seiner Finger, während er den prall gefüllten Umschlag in seiner Manteltasche verschwinden ließ.

Ihre Augenbrauen zogen sich zu einem bezaubernden kleinen V der Besorgnis zusammen, als sie sich an ihre Familie wandte und höflich knickste. „Mutter. Raina.“

„Hallo, Liebes“, begrüßte Raina sie mit einem breiten Lächeln. „Wir haben gerade über deine Reise in die Highlands nächste Woche gesprochen.“

„Mit Lord Dongel“, fügte ihre Mutter an.

Carlottas Stirnfalten vertieften sich noch weiter. „Es ist doch nicht nötig, dass er mich begleitet, Mutter. Sicher würde er die Saison lieber hier in London verbringen als in …“

„Unsinn! Wie du sehr gut weißt, junge Dame, habe ich seinen Antrag in deinem Namen angenommen. Sobald wir aus Schottland zurück sind, können wir mit der Planung eurer Hochzeit beginnen.“

Keith unterdrückte jede Reaktion, als er die Abneigung in ihrer Miene bemerkte. Cashs Blick war beinahe mitfühlend.

„Er stammt aus einer guten Familie, Carlotta“, erklärte der Duke mit ruhiger Stimme. „Außerdem wird er eines Tages ein Earl sein.“

Sie öffnete den Mund, vermutlich, um wütende Widerworte zu geben, aber die Emotion in ihrem Blick verblasste langsam zu einem Ausdruck der Enttäuschung, der ihren Bruder sichtlich bekümmerte.

War ihr klar, wie sehr Cash ihr Wohlergehen im Sinn hatte? Würde es einen Unterschied machen?

„Kann er mich nicht erst in Schottland treffen? Warum muss er mit mir in der Kutsche reisen? Die Reise wird viel länger und unbequemer sein.“

Ihre Mutter winkte abweisend mit ihrer rosafarbenen Hand, als wolle sie den Einwand verscheuchen, und antwortete ihr: „Selbstverständlich wird er mit dir reisen, mein Schatz. Lord Dongel ist dein Verlobter.“

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, verzweifelte Carlotta zunehmend. Konnte denn sonst niemand sehen, wie wenig das Mädchen diesen arroganten Wicht der nicht einmal sein eigenes Pferd im Griff hatte, ausstehen konnte?

„Aber eine Reise allein mit ihm nach Schottland ist doch sicher nicht …?“

Die Witwe fiel ihr mit spöttischer Stimme ins Wort. „Du wirst dein Dienstmädchen dabei haben.“

Carlotta reckte trotzig das Kinn vor. „Und was soll McGillicuddy tun, Mama, wenn wir unterwegs auf Wegelagerer treffen?“

Der Duke trat vor und zog damit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. „Wir leben fast schon im zwanzigsten Jahrhundert, Carlotta. Wegelagerer auf den Straßen gehören der Vergangenheit an.“ Bevor Keith ihn korrigieren konnte, warf Cash ihm einen Blick zu und fuhr fort. „Und außerdem wird Mr Oliphant dich begleiten. Als Anstands…dame.“

Zum ersten Mal seit ihrem Eintreten fixierte Carlotta Keith fest mit ihren grauen Augen. Das volle Gewicht ihres Blicks traf ihn und zwang ihn dazu, sich am Schreibtisch abzustützen, damit seine Knie nicht weich wurden. Heiliger Bimbam, sie war wirklich umwerfend.

Die Schwester eines Dukes kann es sich ohne Probleme leisten, umwerfend zu sein. Sie wird seit ihrer Geburt verwöhnt und verhätschelt, schon vergessen?

Aye, das sollte er sich wirklich sehr gut einprägen.

Dennoch konnte er nicht leugnen, dass er eine emotionale Regung in sich verspürt hatte, als sie ihn mit ihrem bewundernden Blick von Bug bis Heck – wie Grandda zu sagen pflegte – studiert hatte. Im Moment jedoch sah sie … verärgert aus.

„Und inwiefern ist Mr Oliphant als Aufpasser qualifiziert?“, brach es aus ihr hervor, offensichtlich mit dem Ziel, ihn damit zu beleidigen.

Keith lächelte.

Ihr Mumm war bewundernswert.

Und wie ihre Augen vor Frustration aufblitzten.

Und wie sie ihre prallen Lippen zusammenpresste.

Die Vorstellung, ihr einen Kuss zu entlocken und ihr ein sinnliches Oh ja, bitte weiter so zu entlocken, kam da fast wie von selbst.

Keith drehte sich abrupt um und wandte den Blick ab, als er bemerkte, was diese Gedanken mit der unteren Hälfte seines Körpers anstellten.

Vom anderen Ende des Raumes erklärte Raina ihr mit sanfter Stimme: „Mr Oliphant ist mein … Wir haben den gleichen Vater.“

Was für eine höfliche Art, Bastard zu sagen.

„Ach, er ist das?“, rief die Herzoginwitwe aus. „Ich hatte mich schon gefragt, warum ihr mich nicht vorgestellt habt!“

„Du hast Keith schon zweimal getroffen, Mutter“, erinnerte Raina die alte Frau, die daraufhin umgehend rot anlief.

Oder vielmehr rosa.

Als er zu Carlotta zurückblickte, musste er feststellen, dass sie ihn anstarrte. Und zwar nachdenklich. Suchte sie nach Ähnlichkeiten zwischen ihm und Raina? Er wusste, dass sein Haar im Laufe der Jahre dunkler geworden war, aber es war immer noch nicht so kräftig rot wie das seiner Schwester. Und nur Gott wusste, warum er als Einziger mit den verflixten Sommersprossen gesegnet war. Grandda hatte immer gesagt, Mam sei, was die Sommersprossen anging, ähnlich großzügig bedacht worden. Aber sie teilten die gleichen haselnussbraunen Augen – ebenso wie Lyon, Roland und Phineas – und Keith war immer schon der Meinung gewesen, dass ihr Lächeln ähnlich war.

War das der Grund für ihr Starren?

Oder sah sie in ihm den Seitensprung eines Lairds? Einen Bastard, der so erzogen wurde, dass er seine Geschwister zwar kannte, aber eigentlich nicht wirklich zu ihnen gehörte?

Du Trottel. Davon kann sie ja wohl kaum viel sehen, oder? Aber dafür bist du übersät mit blauen Flecken und Prellungen.

Das war es vermutlich.

Carlotta musterte ihn immer noch. „Plant Mr Oliphant ebenfalls, den Feierlichkeiten zu deinem Geburtstag auf Newfincy Castle beizuwohnen?“

Aus irgendeinem Grund fühlte er sich peinlich berührt, weil sie ihn weiter anstarrte, während sie mit seiner Schwester sprach. Als wäre er ein Ausstellungsstück, das es nicht einmal wert war, direkt angesprochen zu werden. Keith biss die Zähne zusammen, als Raina mit ruhiger Stimme antwortete.

„Natürlich. Wir haben ihn nur darum gebeten, nächste Woche mit der Kutsche zu reisen.“

Und ihn dafür obendrein auch noch gut bezahlt.

Es war eine simple Aufgabe: ein einfacher Abstecher in die Highlands. Und er würde dabei mehr Geld verdienen, als er sich bisher auch nur hatte vorstellen können.

Dieser Geldbatzen, wie der Duke es genannt hatte, würde es ihm ermöglichen, Oliphant Castle instand zu setzen – und das war noch nicht alles. Das Geld würde ihm erlauben, es zu genau dem Heim zu machen, das sein Großvater als Alterssitz verdiente. Außerdem würde es den Menschen seines Clans viele Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.

Und da Lyon und Bonnie den Highland-Rose-Verlag in ein eigenes Gebäude in Inverness umziehen ließen, verfügte die Burg auch über ausreichend Platz für das andere Projekt, über das Keith nachgedacht hatte.

Und dafür musste er nichts weiter tun, als eine verwöhnte Jungfrau und einen aufgeblasenen Lord zum Stammsitz seiner Familie zu begleiten.

Wie schwer konnte das schon sein?

Du hast Lord Dongel doch schon kennengelernt, schon vergessen?

Der Mann war ein Arsch, und die Dame …? Nun, die Dame wusste, dass er ein Bastard war, und ihr war daher klar, dass sie weit über ihm stand, was den guten Namen, den Status und die Herkunft anbelangte. Das war offensichtlich, wenn man bedachte, wie sie ihn musterte und über ihn sprach, als wäre er nicht anwesend.

Und sie tat es schon wieder. „Cash, ich verstehe nicht, warum …“

Keith Geduldsfaden riss.

„Versteht Ihr nicht, Prinzessin?“, knurrte er sie an und trat mit großen Schritten auf sie zu. „Was ist daran so schwer zu begreifen?“ Er blieb nur eine Armlänge vor ihr stehen. „Sie wollen dich verheiraten, und so, wie deine Familie es sich vorstellt, bleibt dir nichts anderes übrig, als Lord Ding-Dong nach einer so langen Reise allein mit ihm zu heiraten.“

Sie keuchte auf, auch wenn er sich nicht sicher war, auf welchen beleidigenden Aspekt seiner Erklärung sie reagierte.

In ihren grauen Augen blitzte ein Feuer auf, das Keith gerade noch rechtzeitig warnte, bevor sie mit ihrer Handfläche ausholte.

Er bekam ihr Handgelenk zu fassen und stoppte die Ohrfeige, bevor sie ausreichend Schwung holen konnte. Sie beide blieben einen Moment wie erstarrt stehen.

Wäre er zu dem Gentleman geworden, zu dem man ihn in der Schule mit aller Gewalt hatte formen wollen, hätte er ihr vermutlich die Gelegenheit gelassen, ihm eine Lektion für seine Unverschämtheit zu erteilen.

Aber genau diese Art Gentleman war er nicht, und er wurde – vielleicht auch aus beruflichen Gründen – nur ungern geschlagen, wenn er die Geste nicht erwidern durfte.

Allerdings änderte sich in dem Moment, als seine Haut die ihre berührte, alles. Da sie ihre Reithandschuhe abgelegt hatte, spürte er die nackte Haut ihres Handgelenks und eine Wärme, die er nicht erwartet hatte.

Sie ging nicht von ihr aus – obwohl sie sich natürlich auch nicht wie ein toter Fisch anfühlte –, sondern von ihm. Ein Funke, ein Kribbeln wie ein eigentümlicher elektrischer Impuls, schoss seinen Arm hinauf bis irgendwo in seine Brustgegend, als er sie berührte.

Es war ein unangenehmes Gefühl, das ihn dazu brachte, sich näher zu lehnen in ungeduldiger Erwartung von etwas … mehr.

Er konnte fühlen, wie ihr Puls unter seinen Fingerspitzen hämmerte, und ihr Duft kitzelte seine Nase. So etwas wie Honig-Vanille, überraschend einfach für eine so noble Frau wie sie.

Ihr Mund war aufgesprungen, ihre Atemzüge kamen in kurzen Stößen und ihr Blick war nicht länger wütend. Stattdessen erkannte er Verwirrung in ihren großen grauen Augen.

Fühlte sie dasselbe wie er?

Der Duke räusperte sich.

„Ihr Ruf darf nicht ruiniert werden, Oliphant.“

Es war keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Die jungfräuliche Schwester des Dukes würde sicher und unversehrt in den Highlands abgeliefert werden, und zwar in dem Zustand, in dem Keith sie bei der Übergabe in seine Obhut übernommen hatte.

Jungfräulich eben.

Seine Mundwinkel zuckten und Carlotta klappte ihren Mund zu. Sie begann vom Nacken aufwärts rot – oder vielmehr rosa – anzulaufen, was sein Grinsen noch breiter machte.

Mit einer abrupten Bewegung drehte er ihre Hand um, sodass er sie mit der Handfläche nach unten hielt, und machte dann darüber eine Verbeugung. Seine Finger glitten an den ihren hinunter, bis er sie für den Handkuss richtig hielt, und er führte seine Lippen bis auf wenige Zentimeter an die Fingerknöchel heran.

Sie hielt den Atem an, dessen war er sich sicher.

Er verzichtete darauf, ihre nackte Haut zu küssen, aber als er sich wieder erhob und die Verwirrung in ihrem Blick bemerkte, grinste er spöttisch.

Er würde diesen Auftrag annehmen … und ihn in vollen Zügen genießen.

„Bis nächste Woche, Lady Carlotta.“

Er ließ ihre Hand los, verbeugte sich vor seiner Schwester und ihrer Schwiegermutter und hob dann zwei Finger zu einem angedeuteten Salut Richtung Cashingham. Dieser antwortete mit einem grimmigen Nicken, und Keith beneidete seinen Schwager nicht um den Streit, der nach seinem Gehen sicherlich folgen würde.

Doch an der Tür angekommen, wo der Butler mit missbilligendem Blick wartete, konnte Keith nicht umhin, noch einmal einen Blick über die Schulter in das rosa Zimmer zu werfen.

Carlotta hielt sich die Hand vor die Brust und starrte ihm mit schwer lesbarer Miene hinterher.