Kapitel 1
London, November 1875
Eine Flasche Highland-Whisky sollte eigentlich ausreichen, damit ein Mann seine Reue vergessen konnte. Hayden Milton, der Earl of Westfield, atmete schwer aus. Doch wie üblich bewirkte der Alkohol kaum mehr, als seinen Gleichgewichtssinn zu kompromittieren. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, während er schwerfällig durch die in Nebel und Dunkelheit gehüllte Brook Street stapfte.
Er blickte hinauf in den Himmel. „Kannst du mir verzeihen, Laura?“
Es war zu spät, um seine Frau um Vergebung zu bitten. Fünf Jahre zu spät. Die Toten konnten keine Absolution erteilen.
Er schüttelte die rührseligen Gedanken ab und trat an die Tür seines Stadthauses. Seine Hand schwebte über dem Türgriff, während er eine welke, eingetopfte Stechpalme auf der obersten Treppenstufe musterte.
Wo zum Teufel kommt die denn her? Er trat zurück und blickte durch den Nebel an der Fassade empor. Eins, zwei, drei, vier …
Das war nicht sein Haus – es sei denn, irgendjemand hatte in seiner Abwesenheit das fünfte Stockwerk entfernt. War das möglich? Diese geistlose Frage ließ ihn begreifen, dass er doch berauschter war, als er gedacht hatte. Er starrte das nahezu identische Nachbarhaus an. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Er warf einen Blick zur Treppe: keine Stechpalme, weder welk noch anderweitig.
Er trat noch einen Schritt zurück.
Verdammt! Lady Bedfords Residenz. Die alte Streitaxt würde an einem Krampfanfall zugrunde gehen, wenn er nackt in ihr Bett krabbelte. Vor seinem inneren Auge entstand ein Bild davon, wie er sich mit der warzengesichtigen Matrone in die Laken kuschelte. Er erschauderte.
Vor seinem eigenen Haus legte er eine Hand auf den schmiedeeisernen Zaun, um das Gleichgewicht zu halten. Gott sei Dank würde Celia bereits schlafen. Das Kind sollte nicht erleben, dass er hin und her wankte wie ein Schiff auf hoher See.
Schritte störten die Stille der frühen Morgenstunden.
Er drehte sich um, als eine zierliche Frau aus der Dunkelheit geeilt kam. Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen, das Gesicht nach unten geneigt. Eine blasse Hand hielt die Kapuze ihres schwarzen Umhangs auf ihrem Kopf fest. Die Frau hob das Gesicht und zwei schrägstehende, grüne Augen blickten ihn an.
Adele.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der ihn ihre katzenhaften Augen fasziniert hatten, doch die Affäre hatte nicht lange angehalten. Diese Frau bewegte sich irgendwo zwischen unvernünftiger Torheit und völligem Wahnsinn. Zu unbeständig – selbst für ihn.
Sie hob den Arm und Mondlicht funkelte auf der Duellpistole, die sie in der Hand hielt.
Ah, dann ist also mein Tag der Abrechnung gekommen? „Adele, meine Liebe, ist es so weit gekommen? Mord?“
Ein animalisches Lächeln krümmte ihre Lippen. „Oh, Hayden, ich habe nicht vor, dich zu töten.“
Obwohl sie langsam sprach, klangen die Worte undeutlich. Anscheinend war er nicht der Einzige, der seine geistigen Fähigkeiten mit Alkohol betäubt hatte; oder in Adeles Fall, mit der Opiumtinktur, die sie sich zur Gewohnheit gemacht hatte.
Sie grinste und senkte die Pistole. Der Lauf, der zuvor auf seine Brust gerichtet war, deutete jetzt auf sein Gemächt. Sie gab ein leises, verbittertes Lachen von sich. „Nein, mein Liebster, ich gedenke lediglich, dich zu verstümmeln.“
Nur eine Frau konnte darauf kommen, ihn zu kastrieren; ein Mann hätte direkt auf sein schwarzes Herz gezielt.
Adele hob eine Augenbraue.
Erwartete sie eine Reaktion? Hatte sie gedacht, er würde auf die Knie fallen und um sein Leben betteln? Aussichtslos. Zumindest am Todestag seiner Frau. Sein eigenes Dahinscheiden kam ihm vor wie eine passende Wende des Schicksals.
„Du Hund, sag irgendwas“, zischte sie.
Los, tu es, diese Worte hallten durch seine Gedanken und kitzelten auf der Zungenspitze. War er so verrückt wie Adele oder hatte ihm der Alkohol den Verstand vernebelt?
Er blickte zum Fenster von Celias Schlafgemach. Um des Kindes willen würde er bei klarem Verstand bleiben müssen. Er hatte am Grab seiner Frau gestanden und versprochen, für das Kind sein Bestes zu geben. Er würde Laura nicht enttäuschen. Nicht schon wieder.
Er richtete den Blick wieder auf die antiquierte Pistole. Die reich verzierte Waffe wog bestimmt über zwei Kilogramm. Adeles Hand zitterte bereits vom angestrengten Versuch, sie stillzuhalten. Seine Überlebenschancen waren höher, wenn sie die Pistole nach unten richtete – nicht auf Brust oder Bauchraum.
„Liebchen, warum gibst du mir nicht die Pistole und begleitest mich hinein? Wir setzen uns und sprechen über das, was dich derart gegen mich aufgebracht hat.“ Er trat einen kleinen Schritt näher.
Sie wich zurück. Mit den weit aufgerissenen Augen wirkte sie umnachtet. Sie wedelte mit der Pistole. „Bleib zurück, Hayden. Ich schwöre dir, ich schieße.“
Er hob gerade die Hände, die Handflächen zu ihr gerichtet, als er eine Bewegung jenseits ihrer Schultern bemerkte. Eine kleine Gestalt lief auf sie zu. Die Silhouette wirkte verzerrt: ein Körper, der zu klein für den breiten Oberkörper war. Die Gestalt trat in das Licht eines Laternenpfahls.
Verdammt. Der junge Jimmy McGivney.
Der Zeitungsjunge trug ein Bündel des Morgenblatts auf den schmalen Schultern. Adele würde jeden Augenblick Jimmys Schritte auf dem Pflaster hinter ihr bemerken. Er konnte nicht riskieren, dass sich die labile Frau zu dem Burschen umdrehte und schoss.
Er sprang vor, um ihr die Pistole aus der Hand zu reißen.
Zündstein traf auf Metall. Der Blitz des sich entzündenden Pulvers zuckte durch die Dunkelheit. Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch seinen gesamten Körper und Schwefelgeruch stieg ihm in die Nase. Als hätte ihm jemand die Beine weggetreten, fiel er nach vorn und stürzte auf das Pflaster, was ihm schlagartig die Luft aus der Lunge presste.
Die feuchte Kälte des Bodens drang in seinen Oberkörper, was einen starken Kontrast zu der Hitze bildete, die in der unteren Hälfte seines Körpers brannte und sich bis in sein Mark fraß. Die Wärme schwand. Sie sickerte aus ihm heraus, bis sie eine Pfütze auf dem Pflaster unter ihm bildete und ihn mit nichts als stechendem, schneidendem Schmerz zurückließ.
Die Lider fielen ihm zu, und Lauras liebliches Gesicht blitzte vor seinem inneren Auge auf. Vergib mir, mein Schatz.
Adeles Schritte entfernten sich und das Geräusch zog ihn in die Gegenwart zurück. Er zwang sich, die schweren Lider zu öffnen. Ein helles, beinahe blendendes Licht stürmte auf ihn ein, ehe sich Wärme und Dunkelheit über ihn legten und ihn in eine friedliche, gedankenlose Bewusstlosigkeit zogen.
Kapitel 2
Sophia Camden warf die Tür auf und stürmte ins opulente Schlafgemach des Earl of Westfield. Der dunkle Raum roch nicht wie ein übliches Krankenzimmer. Es fehlte der Geruch nach altem Schweiß, Salben und Exkrementen. Nein, es roch nach Seife, frischen Bettlaken und Bienenwachs – nach Reichtum, Dienerschaft und Immunität gegen die Verheerungen, denen die Armen ausgeliefert waren.
Sie hielt ihre kleine Paraffinlampe in die Höhe, während sie den Raum durchquerte, und beleuchtete damit Seine Lordschaft, der sich im Himmelbett hin und her warf. Er wand und drehte sich, als würde er mit dem Teufel höchstpersönlich ringen, und die Obszönitäten, die er ausstieß, hätten selbst Luzifer die Ohren versengt.
Fieber? Ihre Eingeweide verknoteten sich. Sie hätte nach dem Gentleman sehen müssen, als sie spät am vergangenen Abend eingetroffen war, und die Haushälterin ignorieren sollen, die sie gewarnt hatte, ihn nicht vor dem Morgen zu stören. Die Furcht kroch ihr den Rücken hinauf, während sie die Lampe und ihre schwarze Doktortasche auf einer niedrigen Kommode abstellte und zum Bett eilte. Es war fast völlig dunkel und Schatten verunstalteten Westfields Gesichtszüge, doch sie erkannte, dass seine Augen geschlossen waren.
„Ruhig … entspannt Euch, Lord Westfield.“ Als hätte sie irgendeine magische Beschwörung ausgesprochen, verstummte sein Gemurmel und sein kämpfender Körper beruhigte sich. Sie legte ihre Handfläche auf die feuchte Haut seiner Stirn. Warm, aber nicht fiebernd. Sie atmete angespannt aus.
Gott sei Dank. Nur ein Albtraum. Verständlich, nachdem er angeschossen worden war. Die Zeitung hatte von einer verhüllten Frau berichtet, die vom Tatort geflohen sei. Westfield habe behauptet, seine Angreiferin nicht gekannt zu haben.
Sie lehnte sich vor und glättete die zerwühlten Decken. Ein maskuliner Geruch stieg zu ihr empor. Er erinnerte sie an Bisamäpfel, die mit Nelken gespickten Orangen, die sie im Atelier ihres Großvaters verteilt hatte, um den beißenden Geruch des Terpentins und der Farben zu überdecken. Der vertraute, würzige Geruch wirkte beruhigend.
Beruhigend? Das Wenige, was sie seit ihrer Ankunft über Seine Lordschaft erfahren hatte, war alles andere als beruhigend. Die Haushälterin hatte wenig preisgegeben. Doch nachdem Mrs. Beecham sie zu einem Schlafgemach gegenüber von Westfields Räumen geführt hatte, hatte sie ein junges Dienstmädchen mit frischem Bettzeug zu ihr geschickt. Alice war weitaus mehr zum Tratschen aufgelegt gewesen und hatte geträllert wie eine junge Lerche, die plötzlich bemerkt, dass Gott sie mit einer melodiösen Stimme gesegnet hat.
Alice hatte sie darüber informiert, dass sie Westfields dritte Pflegerin in weniger als drei Tagen war – eine Tatsache, die Westfields Schwester bei der Einstellung verschwiegen hatte.
Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und glättete die reich verzierte Bettdecke aus marineblauem Damast.
Westfields große Hand schoss vor und packte ihr Handgelenk.
Die Luft blieb ihr im Halse stecken.
Seine Augen öffneten sich blinzelnd. Westfields eiserner Griff wurde lockerer und seine Finger strichen über die empfindliche Haut an ihrem Handgelenk. Die sanfte, beinahe liebevolle Berührung bereitete ihr am ganzen Körper Gänsehaut und ließ einen Funken durch ihren Bauch zucken.
„Wer sind Sie?“, fragte er.
Seine tiefe, kratzige Stimme verstärkte nur die seltsamen Eindrücke, die auf sie einstürmten. Sie drängte die beunruhigenden Gefühle beiseite. „Es ist erst fünf Uhr morgens, Lord Westfield. Versucht, zu schlafen.“
Er ließ sie los, erhob sich leicht und stützte sich auf die Ellenbogen, wodurch mehr Licht auf sein Gesicht fiel. Dennoch konnte sie kaum mehr sehen als die dunklen Bartstoppeln, die wie ein Schatten auf seinem kantigen Kiefer lagen und ihm ein gefährliches Aussehen verliehen, beinahe wie ein Pirat.
„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Madam.“
„Miss Sophia Camden, Mylord. Ich soll mich während Eurer Genesung um Euch kümmern … Euch als Krankenschwester dienen.“
„Krankenschwester? Was ist aus dem närrischen Pfleger geworden, der gestern hier war?“
„Pfleger?“ Sie verheimlichte ihr Wissen, da sie die Geschichte, die Alice erzählt hatte, nicht wiederholen wollte.
„Kommen Sie schon, Miss Camden, Ihnen ist doch gewiss etwas zu Ohren gekommen.“
Oh ja, mir ist einiges zu Ohren gekommen. Genug, um zu wissen, dass Ihr mehr als niederträchtig seid.
„Miss Camden?“ Seine Stimme klang jetzt sanfter und fesselnder. Sie bekam das Gefühl, dass sich sein Ton abhängig von seiner Stimmung ändern konnte, wie der Wind oder die Jahreszeiten. Und dass er mit Schmeicheleien selbst den unnachgiebigsten Menschen die Wahrheit entlocken konnte, wenn er es wollte.
Sie seufzte. Es war wohl das Beste, diese Enthüllung gleich hinter sich zu bringen. „Es wird gemunkelt, dass er spät am gestrigen Abend gekündigt hat, nachdem Ihr ihn in den Schwitzkasten genommen und ihm gedroht hattet, ihn mit dem Gesicht voran in Eure Bettpfanne zu drücken.“
„Das hatte er verdient.“ Es lag kein Zögern in seiner Stimme. Keine Reue.
„Gewiss, Mylord.“ Solange Westfield kein Einfaltspinsel war, konnten ihm der Zweifel und die Verachtung in ihrer Stimme nicht entgehen.
Er atmete schwer aus. „Ich muss mich vor Ihnen nicht rechtfertigen, Miss Camden.“
„Durchaus nicht.“
„Sie werden hier nicht gebraucht, Madam.“ Er machte eine abweisende Handbewegung in Richtung Tür.
„Sir, Ihr hattet zwei Pfleger. Einer ist kaum einen Tag geblieben, ehe er gekündigt hat, und der Mann, über den wir gerade sprachen, floh unter unsinnigem Geplapper die Treppe hinab. Man ging davon aus, dass eine Pflegerin Euch weniger peinigen würde.“
„Und welcher Schwachkopf hat sich das ausgedacht?“
„Eure Schwester, Lady Prescott.“
„Edith. Diese verwirrte Frau. Das hätte ich wissen können.“
„Es wäre am besten, wenn Ihr weiterschlafen würdet. Ich habe Medizin, die Euch beruhigen wird.“
„Ich muss mich nicht beruhigen“, blaffte er.
„Ihr habt euch im Bett hin und her geworfen, und wenn Ihr damit weitermacht, könntet Ihr die Nähte an Eurem Oberschenkel aufreißen.“ Sie lief zu ihrer Doktortasche und holte eine bernsteinfarbene Flasche mit einer Tinktur heraus, zusammen mit einem einfallsreichen Utensil namens Gibson-Löffel. Er war mit einem Deckel versehen, sodass nichts verschüttet wurde, wenn der Patient widerwillig war. Er war hier anscheinend vonnöten. Nachdem sie den Löffel befüllt hatte, trat sie wieder ans Bett und führte ihn langsam an seinen Mund heran.
Er riss den Kopf zurück. „Was in Gottes Namen ist das?“
„Die Medizin, von der ich sprach. Ich versichere Euch, dass Dr. Trimble sie verschrieben hat. Bitte, öffnet den Mund.“
Er lehnte sich ans Kopfteil des Bettes und verschränkte die Arme vor der Brust.
So ein sturer Mann. Ohne weiter darüber nachzudenken, hielt sie ihm die Nase zu.
Er öffnete den Mund – höchstwahrscheinlich, um ihr die Meinung zu sagen – doch bevor er ein Wort herausbekam, schob sie den Löffel zwischen seine Lippen, neigte ihn nach hinten und zog ihn in einer flüssigen Handbewegung wieder heraus.
Er hustete, wischte sich mit dem Rücken seiner großen Hand über den Mund und starrte sie an.
Seine Schwester hatte ihr geraten, ihn mit starker Hand zu behandeln. Vielleicht war sie dennoch ein wenig zu weit gegangen. Doch es war getan und sie konnte es nicht zurücknehmen. Sie wirbelte herum, nahm ihre Lampe und schritt auf die Tür zu. Als hätte der Teufel sie geritten, hob sie den medizinischen Löffel zu einem kühnen Abschiedsgruß in die Luft. „Gute Nacht, Mylord, ich wünsche angenehme Träume.“
„Sie unverschämter, kleiner … Wichtel“, brüllte er, während sein offensichtlicher Schock zu Wut hochkochte.
Sie zog die Tür zu.
„Sie sind entlassen, Miss Camden!“ Seine erhobene Stimme war deutlich durch die Holztür zu vernehmen. „Hören Sie mich, Madam? Sie sind gefeuert. Abgesetzt. Verdammt noch mal, ich werfe Sie raus!“
Hayden zog sich die Bettdecke aus dem Gesicht und kniff die Augen zusammen, ob des hellen Lichts, das durch die Fenster seines Schlafgemachs strömte. Wer wagte es, so früh die Vorhänge aufzuziehen?
Celia? Nein, seine Schwester hatte das Kind in ihr Stadthaus mitgenommen und bestand darauf, dass er ruhen müsse. Mathews? Er öffnete den Mund, um seinen Kammerdiener zu rufen, doch dann klappte er ihn wieder zu. Am Kamin stand eine schlanke Frau in einem dunklen, marineblauen Kleid und einer weißen Schürze. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht und auf ihrem Kopf saß etwas, das aussah wie ein gestärktes Zierdeckchen mit Flügeln.
Er runzelte die Stirn. Warum setzte Mrs. Beecham den Zimmermädchen solche eigenartigen Hüte auf? Was war aus den Dingern geworden, die sie sonst immer getragen hatten … Morgenmützen oder Morgenhauben? Wie auch immer man sie nannte, sie waren potthässlich, doch diese gestärkte Gräueltat war auch keine Verbesserung.
Eine verschwommene Erinnerung an eine anmaßende Pflegerin kehrte zu ihm zurück. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Das musste ein Albtraum gewesen sein. Sein Blick wanderte zur Kommode; darauf standen die bernsteinfarbene Flasche und die Doktortasche.
Verdammt, doch kein Traum! Er räusperte sich.
Die Frau wirbelte herum.
Das Erste, was seine Aufmerksamkeit erregte, war die Bettpfanne aus Porzellan in ihrer Hand. Das Zweite waren ihre Augen. Ihre langen, geschwungen Wimpern ließen ihre mandelförmigen Augen noch länglicher wirken, und sie waren so dunkel, dass er auf diese Entfernung kaum Pupille und Iris unterscheiden konnte.
Er betrachtete den Rest ihres Gesichts; die gerade Nase und die breiten Lippen. Ihre Haut war recht dunkel und ihr Haar, das zu einem Knoten zusammengebunden war, so schwarz wie eine sternenlose Nacht. Sie sah südländisch aus; auf exotische Weise schön.
Ein stechender Schmerz schoss durch sein Bein und erinnerte ihn an das letzte Mal, dass er sich auf eine Frau mit außergewöhnlichen Augen in einem attraktiven Gesicht eingelassen hatte. Er ließ eine Hand über seinen bandagierten Oberschenkel gleiten und verfluchte im Stillen die irre Adele.
Er ließ der Frau einen finsteren Blick zuteilwerden, der sie verängstigen sollte.
Sie lächelte.
Er kniff die Augen zusammen.
Sie kam einen Schritt näher.
Er kratzte sich verdutzt am Kopf. Vielleicht war das gar nicht dieselbe Frau. Sie wirkte kein bisschen reumütig, und er tat alles, um sie einzuschüchtern – abgesehen davon, die Zähne zu fletschen und wie ein tollwütiger Hund zu knurren.
„Guten Morgen, Lord Westfield. Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen.“
Gütiger Gott, ein Teufelsweib! Er erkannte ihre sanfte Stimme und gebildete Sprache wieder, und den verführerischen Duft von Lavendel und Zitronen.
„Habe ich Sie nicht entlassen?“
Sie legte die Bettpfanne auf der Decke ab und neigte den Kopf zur Seite. Ihre dunklen, ausdrucksstarken Augen weiteten sich. „Wirklich?“
„Das wissen Sie verdammt gut.“
„Seid Ihr bereit für Euer Frühstück, Mylord?“
Begriff diese Frau nicht, dass er der Earl of Westfield war? Ein Mann, dem man höchst umsichtig gegenübertrat, wenn man ihm überhaupt gegenübertreten musste. Ein Mann, der von manchen verehrt, von anderen verachtet und von vielen gefürchtet wurde. Er hob eine Augenbraue. Bei diesem Auftreten suchten die Bediensteten üblicherweise das Weite, wie Murmeln auf dem Deck eines schwer beladenen Schiffes.
Ihr gelassenes Lächeln hielt sich unverändert. „Vor dem Frühstück würde ich gern Eure Wunde neu verbinden.“
„Sind Sie taub?“, fragte er mit erhobener Stimme.
„Nein, Mylord.“
Das musste irgendein niederträchtiger Scherz sein. „Ah“, sagte er, als ihm die Erleuchtung kam. Er blickte an ihr vorbei zur offenstehenden Tür. „Lord Simon Adler versteckt sich im Flur und amüsiert sich köstlich hierüber, nicht wahr? Dieser Schurke.“
Sie folgte seinem Blick zur Tür. „Wenn dem so sein sollte, weiß ich nichts davon.“
Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und ließ sich tiefer in die Kissen sinken. Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, doch jetzt dachte er darüber nach, um göttliches Eingreifen zu bitten, oder besser noch, einen Blitzschlag.
„Hören Sie mir genau zu, Madam. Sie … sind … entlassen.“
„Ihr könnt mich nicht entlassen.“
Er musterte ihre Kleidung. Wenngleich ihr Hut ausgefallen war, sprach keines ihrer anderen Kleidungsstücke gegen einen gesunden Verstand. Sie hatte ihr Kleid nicht verkehrtherum an, alle Knöpfe waren korrekt geschlossen, und sie hatte sich auch nicht die Unterhose über den Kopf gezogen. Dennoch musste sie unter irgendeiner Art von geistiger Störung leiden, wenn sie glaubte, dass er nicht die Macht hatte, sie zu entlassen.
„Dies ist mein Haus, Madam. Ich versichere Ihnen, dass ich Sie entlassen kann. Jetzt entfernen Sie sich von meinem Grundstück.“
„Mylord, Eure Schwester hat mich eingestellt, und Lady Prescott hat mir mitgeteilt, dass nur sie mich entlassen kann.“ Sie machte sich daran, seine Bettdecke zurückzuschlagen.
„Was zum Teufel glauben Sie, da zu tun, Miss …“ Verdammt, diese Frau hatte ihn derart aus der Fassung gebracht, dass ihm ihr Name nicht mehr einfallen wollte.
Ein mattes Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. „Miss Sophia Camden.“
„Miss Camden, meine Schwester versucht offensichtlich, mich baldmöglichst ins Grab zu bringen, indem sie Sie herschickt. Zudem hat sie in meinem Haus keine Befugnisse. Sie kann mir Ihre Dienste nicht aufzwingen. Und wenn Sie noch einmal mein Bettzeug anrühren, werde ich Sie übers Knie legen und Ihr Hinterteil meine flache Hand spüren lassen.“
Röte erfüllte ihre honigfarbenen Wangen. „Da… das würden Sie nicht wagen.“
„Es wäre ein schrecklicher Fehler Ihrerseits, mich herauszufordern. Ich habe eine Schwäche für Herausforderungen.“
Sie trat zurück und stemmte die Hände in die Hüften. „Eure Wunde braucht einen frischen Verband, und da ich hier die Einzige mit den nötigen Qualifikationen bin, rate ich Euch dringend, mich das übernehmen zu lasen. Dr. Trimble wird Euch heute nicht besuchen.“
Er deutete zur Tür. „Raus!“
Sie drehte sich mit einem verärgerten Gesichtsausdruck um und holte ihre Doktortasche.
„Miss Camden.“
Sie wirbelte herum.
Er deutete mit dem Kinn auf das Medizinfläschchen. „Nehmen Sie dieses bittere Gebräu gleich mit.“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich möchte, dass Ihr das Mittel behaltet. Denn sollte die Wunde eitern und eine Sepsis einsetzen, wird Dr. Trimble das Bein amputieren müssen. Und wenn die Betäubung nachlässt, werdet Ihr froh sein, etwas zu haben. Ihr werdet das Gebräu noch lieben lernen.“ Sie ging auf die Tür zu.
Soll sie der Teufel holen. Diese Verschwörerin versuchte, ihn zu manipulieren. Wie zum Spott setzte wieder stechender Schmerz in seinem Oberschenkel ein. Er knirschte mit den Zähnen. „Miss Camden“, rief er, als sie gerade über die Schwelle trat.
Sie drehte sich um.
„Ich möchte, dass Sie sich um mein Bein kümmern, ehe Sie gehen.“
Ihr Gesichtsausdruck blieb ungerührt, während sie die Doktortasche wieder abstellte, zum Bett zurückkehrte, seine Decken zurückschlug und sein Bein freilegte. Mit geübten Handgriffen entfernte sie seinen Verband.
„Habt Ihr Taubheitsgefühle in Bein oder Fuß?“, fragte sie.
„Nein.“
Sie entfernte den letzten Stoffstreifen und betrachtete die dünne Watteschicht, die den grässlichsten Teil seiner hervortretenden, vernähten Haut bedeckte. Der Anblick schien sie nicht abzustoßen.
„Arbeiten Sie auf einer chirurgischen Station, Madam?“
„Nein.“
„Dann sagen Sie mir, welche medizinische Ausbildung Sie erhalten haben.“
„Ich habe in den vergangenen Jahren mit Dr. Trimble zusammengearbeitet. Mein Wissen habe ich von dieser Anstellung und aus den Büchern seiner umfangreichen Bibliothek. Ich bin Dr. Trimbles medizinische Assistentin.“
„Ich habe Trimbles Assistenten kennengelernt. Ein dicklicher Mann mit zerklüftetem Gesicht und ledriger Haut.“ Er ließ seinen Blick über ihren Körper schweifen. „Sie haben eine wundersame Verwandlung durchgemacht.“
„Das ist Mr. Bailey. Er ist Dr. Trimbles chirurgischer Assistent. Ich assistiere Thomas … ich meine, Dr. Trimble, bei seinen weiblichen Patientinnen.“
Eine weibliche Assistentin? So etwas war ihm noch nie zu Ohren gekommen. Die Wärme ihrer Finger, die über seinen Schenkel strichen, und die Hitze, die sie auslösten, zogen Haydens Blick wieder zu seiner Wunde. Er streckte die Hand aus, um die entstellte Haut zu kratzen.
„Nein, nein, nicht anfassen.“ Sie stieß seine Hand mit dem Ellenbogen beiseite. „Ich habe Dr. Joseph Listers Abhandlung über antiseptische Prinzipien gelesen. Es ist dringend geboten, die Wunde sauber zu halten. Ich habe den Verband nur entfernt, um zu sehen, ob die Wunde eitert. Zum Glück ist das nicht der Fall.“
Hayden verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. Gott hatte Miss Camden nicht nur mit atemberaubenden Augen gesegnet; sie war auch intelligent. Er ließ den Blick über sie gleiten. Sie trug ein Kleid ohne jeglichen Zierrat und wenn ihr gestärkter Kragen noch ein wenig steiler stehen würde, wäre er lebensgefährlich. Was noch schlimmer war: Nicht eine einzige Strähne entkam dem Würgegriff ihres Haarknotens. Das alles wirkte viel zu streng, eher angemessen für eine ältere Dame. Sie mochte zwar nicht mehr in der ersten Blüte ihrer Jugend stehen, doch sie war kaum älter als dreiundzwanzig, vielleicht vierundzwanzig.
Sie beugte sich ein wenig tiefer über sein Bein und er neigte den Kopf, um eine bessere Sicht auf ihren wohlgeformten Hintern zu bekommen. Dieser Anblick allein brachte ihn in Versuchung, sie bleiben zu lassen. Sein Blick wanderte zur Bettpfanne. Nein, er würde nicht zulassen, dass sie ihm dieses Teil jeden Tag unter den Hintern schob; ganz zu schweigen davon, es zu leeren. Es steckte noch ein wenig Stolz in ihm.
„Ich werde Dr. Trimble eine Nachricht schicken, um ihn darüber zu informieren, dass ich einen männlichen Pfleger bevorzuge.“
„Mylord, warum gebt Ihr mir nicht die Möglichkeit, meine Kompetenz unter Beweis zu stellen? Eine sogenannte Probezeit. Sagen wir, vielleicht zehn Tage?“
„Nein, Miss Camden, keine Probezeit.“
Sie war damit fertig, sein Bein neu zu verbinden, und blickte ihm direkt in die Augen. „Seht es als Herausforderung an.“
Seine eigenen Worte so gegen ihn zu verwenden, was für ein frecher und durchtriebener Schelm sie war. Bei dem verschmitzten Blick ihrer dunklen Augen durchfuhr ihn eine fast vergessene Begeisterung.
„Eine Herausforderung, sagen Sie?“
Sie befeuchtete die Lippen mit ihrer Zunge und lächelte – ein hübsches Lächeln auf vollen Lippen, bei dem sich auf ihren Wangen Grübchen bildeten. „Ja, Mylord.“
Hayden rieb sich mit einer Hand übers Kinn, während er darüber nachdachte. Einen geistigen Wettstreit mit einem würdigen Gegner wusste er stets zu schätzen, und vielleicht war es genau das, was er gerade brauchte, während er in diesem gottverlassenen Bett lag und sich beinahe zu Tode langweilte. Und für die intimeren Bedürfnisse hatte er immer noch seinen Kammerdiener.
„Ich nehme Ihre Herausforderung an, Madam.“
Ihr Lächeln wurde breiter, als hätte sie ihn überlistet.
„Miss Camden, wie Sie wissen, ist eine Herausforderung nur dann unterhaltsam, wenn der Verlierer einen Preis bezahlt. Wir müssen diese Herausforderung interessant machen, indem wir eine Wette auf den Ausgang abschließen.“
„Eine Wette?“
„In der Tat. Wenn Sie die zehn Tage durchhalten, werde ich der Bezahlung, die meine Schwester Ihnen versprochen hat, einen beträchtlichen Bonus hinzufügen. Zudem werde ich Sie nicht entlassen, solange Ihre Dienste noch gebraucht werden. Wenn Sie allerdings vor Ablauf der Zeit kündigen …“ Er tippte sich mit den Fingern ans Kinn. „Ich bin mir nicht sicher, wie mein Gewinn aussehen soll, aber ich werde mir etwas einfallen lassen, das meinem Sieg angemessen ist.“
„Ich hege nicht den Wunsch, auf den Ausgang zu wetten, doch wenn Ihr darauf besteht, können wir um die Ehre wetten.“
War ihr noch nicht zu Ohren gekommen, dass er kein Mann von Ehre war? „Ah, Sie sind sich Ihres Sieges wohl nicht allzu sicher“, stichelte er.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum.
„Vergessen Sie es, Miss Camden. Sie würden ohnehin verlieren.“
Zorn blitzte in ihren Augen auf. Sie steckte eine Hand aus, auf dass er einschlagen solle. „Ich bin von meinen Fähigkeiten überzeugt. Ich stimme Euren Bedingungen zu.“
Er nahm ihre zarte Hand. Eine angenehme Wärme schmiegte sich in seine Handfläche. Er würde es genießen, die tüchtige Miss Camden auf ihren Platz zu verweisen und schließlich Preis und Sieg davonzutragen.
„Möge Gott mit Ihnen sein, Miss Camden.“