Kapitel 1
London, England
Mai 1881
„Was ist mit Lady Sara Elsmere?“, fragte Lord Adam Talbot, als er den Blick von seiner Ausgabe von Debrett’s Peerage hob, einem Verzeichnis sämtlicher Adelsfamilien.
Elliot Havenford, Baron Ralston, lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte die bestiefelten Füße auf die Ecke seines Schreibtischs. Talbot hatte offensichtlich nicht alle Pfeile im Köcher. Auch wenn Lady Sara ein recht hübsches Gesicht hatte, litt die Frau unter einem nervösen, hyänenartigen Lachen, wann immer sich ein Gentleman auf weniger als einen Schritt näherte. Elliot konnte sich nicht vorstellen, wie es wohl wäre, mit ihr zu schlafen. Nun, genau genommen konnte er es sich vorstellen, doch genau da lag der Haken.
Er schüttelte den Kopf. „Da würde ich lieber die alte Lady Winton ehelichen.“
Talbot schnaubte und schlug eine andere Seite in dem dicken Buch auf. Das Lächeln im Gesicht seines Freundes verflog und sein Blick zuckte zu Elliot. „Gütiger Gott. Du machst Witze, oder? Du ziehst doch gewiss nicht in Betracht, diese alte Streitaxt zu heiraten.“
Natürlich nicht. Lady Winton war senil und so bissig wie ein Hund, dem man seinen Knochen streitig macht. Er deutete auf das Likörglas in Talbots Hand. „Alter Freund, wenn du nicht merkst, dass ich scherze, hast du schon zu viel von meinem Brandy getrunken.“
„Elliot, dieser Schnaps ist so minderwertig, ich wette, ich wäre nicht einmal beschwipst, selbst wenn ich den ganzen Dekanter leere.“
Elliot hob sein eigenes Glas und trank einen Schluck. Talbot hatte recht. Fürchterlich. Seine aktuellen Umstände hatten ihn dazu genötigt, billigen Fusel zu kaufen. Vor einem Jahr noch war er ein zufriedener Mann gewesen. Kein reicher Mann, aber wohlhabend. Nach seiner Ausbildung in Oxford hatte er einige kluge Investitionen getätigt. Doch jetzt steuerte er auf die Armut zu, nachdem er beinahe all sein Geld in den geerbten Häusern versenkt hatte. Sein letzter Besitz von Wert war das Swan Cottage im Lake District, das er seiner Schwester geben wollte.
Der Sturm, der draußen vor Elliots Stadthaus wütete, gewann an Stärke und einige Blitze erhellten den Abendhimmel. Der Regen trommelte gegen die Fenster und ließ eine geschlossene Wasserschicht am Glas der Koppelfenster herunterfließen. Leider drangen auch kleine Rinnsale durch das Fenster und sammelten sich in einer Pfütze auf der inneren Fensterbank.
Verdammt. Dieses Haus bedurfte immer noch weiterer Reparaturen. Sein Anwesen in Hampshire befand sich in noch schlechterem Zustand als die Londoner Residenz. Elliot befürchtete, dass das nächste Gewitter den gesamten Landsitz niederreißen könnte. Sein Onkel, der letzte Baron Ralston, hatte mehr Geld bei seinem Schneider, für Reisen und für seine Reihe von Mätressen ausgegeben, als für seine Anwesen.
„Ah.“ Talbott tippte mit einem starren Finger auf eine Seite in Debrett’s Peerage. „Wie wäre es mit Lady Nina Trent?“
Nina Trent? Elliot rieb sich das rasierte Kinn, das so spät am Abend schon wieder rau von Bartstoppeln war, und stellte sich die Schönheit mit dem rabenschwarzen Haar vor, eine gute Freundin seiner Cousine Victoria. Er konnte sich mühelos vorstellen, mit Nina ins Bett zu gehen und das Erlebnis zu genießen.
„Sie ist recht hübsch“, sagte Talbot und drängte sich damit in Elliots schmutzige Gedanken. „Nur ein wenig zu dünn für meinen Geschmack. Wenn du weißt, was ich meine.“ Sein Freund zwinkerte ihm zu.
Er wusste genau, was Talbot meinte. Der Mann bevorzugte Brüste so groß wie Melonen.
„Und ihr ältester Bruder, der Marquess of Huntington, schwimmt in Geld.“ Das Grinsen auf Talbots Gesicht wurde breiter.
In der Tat. Lady Nina Trent wäre perfekt. Er mochte die Frau und würde seine letzten Münzen darauf verwetten, dass Huntington eine beträchtliche Mitgift anbieten würde. Diese Gelder würden ihm seine finanziellen Sorgen nehmen und ihm nicht nur erlauben, die nötigen Reparaturen an seinen baufälligen Häusern vorzunehmen, sondern auch dafür sorgen, dass seine Schwester Meg so debütieren konnte, wie sie es verdient hatte. Ja, Lady Nina mochte die Lösung für all seine Probleme sein.
„Veranstalten ihr Bruder und ihre Schwägerin nicht nächste Woche einen Ball?“, fragte Talbot, während er sich einen Stift nahm, etwas in den dicken Folianten schrieb und ihn auf einen Tisch warf.
Elliot verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Ja, und ich werde teilnehmen. Dann also Nina.“
„Ich weiß nicht, Elliot. Selbst wenn du sie für dich gewinnen kannst, würde ihr Bruder der Verbindung vielleicht widersprechen. Es heißt, Lord Avalon habe vergangenes Jahr um ihre Hand angehalten, und Huntington habe ihr nicht erlaubt, den Antrag anzunehmen.“
Das war nicht ganz die Wahrheit. Elliots Cousine Victoria hatte ihn zur Verschwiegenheit verpflichtet. Nina hatte den Antrag des Earls angenommen, doch bevor die Familie die Verlobung verkünden konnte, hatten sie herausgefunden, dass der Mann eine hübsche Mätresse in Paris hatte. „Jeder weiß, dass Avalon ein Flegel ist.“
Talbots bellendes Lachen klang wie eine kleine Explosion. „Und das bist du nicht? Du solltest das Mädchen lieber davon überzeugen, dass du sie liebst, sonst wird ihr Bruder niemals einer Ehe zustimmen. Huntington ist völlig vernarrt in seine eigene Ehefrau, und er glaubt, dass für seine Schwester nur eine Liebesheirat gut genug ist.“
Eine Liebesheirat? Was für ein Unsinn. So etwas gab es nicht. Seine eigenen Eltern hatten in verschiedenen Häusern gelebt. Es war ein Wunder, dass sie Meg und ihn überhaupt gezeugt hatten. Die Ehe seiner Großeltern war noch schlimmer gewesen. Die beiden hatten sogar in verschiedenen Ländern leben müssen.
Ein weiteres Donnergrollen erschütterte die Wände des Hauses. Ein Stück Putz löste sich von der Decke und fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden.
„Verdammte Scheiße!“ Talbot erhob sich und wischte sich Putzbröckchen von der Kleidung.
Elliot atmete langsam aus. Er musste Lady Nina davon überzeugen, ihn zu heiraten, bevor ihm sein Stadthaus unter dem Hintern zusammenstürzte.
***
Lady Nina Trent saß im Salon ihrer Familienresidenz in der Park Lane und versuchte, kein Wort zu sagen, während ihre Großmutter sie belehrte. Dieser Frau zu widersprechen würde nur dazu führen, dass die Matriarchin alles, was sie gerade gesagt hatte, mit lauterer Stimme wiederholte. Man behauptete sich in dieser Situation, indem man still blieb wie eine Kirchenmaus, bis die Predigt beendet war.
„Hörst du mir zu, Kind?“ Die alte Frau pochte mit ihrem Gehstock auf den Boden.
„Natürlich, Großmutter.“ Nina zwang sich zu einem zuckersüßen Lächeln.
Ninas ältester Bruder James hatte immer gesagt, Großmutter lebe nach drei Prinzipien: Gott und Land, aber vor allem Anderen stand die Familienehre der Trents. In Großmutters Augen hatten ihre Enkel Letztere besudelt. Auch wenn James, der einst als der mordende Marquess bekannt gewesen war, seinen Ruf wiederhergestellt hatte, sah das bei ihrem Bruder Anthony anders aus. Er spielte zu viel, trank zu viel und trieb zu viel Unzucht. Und Ninas gebrochene Verlobung mit diesem Schurken Lord Avalon hatte nur noch zum Missmut der alten Frau beigetragen.
„Ich habe neue, skandalöse Gerüchte über dich gehört.“
Nina sah die Frau aus schmalen Augen an, wie ein Falke, der eine Feldmaus ausgemacht hatte. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. „Was erzählt man sich denn?“
„Dass Avalon dir wegen irgendeines Charakterfehlers keinen Antrag machen wollte.“ Großmutter packte den goldenen Knauf ihres Gehstocks fester, als würde sie damit auf etwas einschlagen wollen.
„Das ist doch Unsinn. Er hat mir einen Antrag gemacht.“ Auch wenn der nicht öffentlich verkündet worden war. „Ich habe die Verlobung beendet, und ich bin nicht diejenige mit dem Charakterfehler, sondern dieser Schuft. Hoffentlich wird sich diese Unwahrheit wieder verstreuen.“
„Oder die Geschichte könnte sich in Windeseile in der Gesellschaft verbreiten. Wenn das passiert, werden deine Chancen auf eine gute Partie dahinschwinden. Ich wünschte, du hättest über Avalons Unzulänglichkeiten hinweggesehen und den Earl geheiratet.“
Unzulänglichkeiten? So nannte Großmutter das? Der Mann hatte Nina seine unsterbliche Liebe vorgemacht, bis sie herausgefunden hatte, dass er eine Mätresse hatte – eine hochschwangere Mätresse.
„Ich weigere mich, einen Mann zu heiraten, der eine Geliebte hat.“ Nina ballte die Hand so fest zur Faust, dass sich ihre Nägel in die Handfläche gruben.
„Es gibt einige verheiratete Männer mit Mätressen.“
„Dann bemitleide ich ihre Ehefrauen.“ Nina war sich sicher, dass Großmutter den Grund für ihren Hass gegenüber ehebrecherischen Männern kannte. Ihr Vater war untreu gewesen und ihre Mutter hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, mehr Kummer anzuhäufen, als eine Frau ertragen sollte, während sie sich mit ihrem untreuen Ehemann herumgeschlagen hatte.
Großmutter pochte wieder mit ihrem Gehstock. „Es ist deine Pflicht, das Gerede einzudämmen. Du trägst nicht nur Verantwortung gegenüber dem Familiennamen Trant, sondern auch gegenüber deinem Bruder James.“
Nina bekam ein schlechtes Gewissen. James war vor Kurzem aus dem Sumpf seiner eigenen Gerüchte emporgestiegen und hatte sich wieder als herausragendes Mitglied der Aristokratie etabliert.
„Du willst doch nicht seinem erneuerten Ruf in der Gesellschaft schaden, oder?“
Das wollte sie nicht. Sie liebte James. Er war ihr nicht nur ein Bruder, sondern auch ein Vater gewesen und mehr als alles in der Welt wollte sie ihn stolz machen.
Großmutter lehnte sich vor und durchbohrte Nina mit dem Blick ihrer grauen Augen. „Der Duke of Fernbridge ist vor Kurzem in London eingetroffen und sucht nach einer Frau. Er wird am Ball deines Bruders teilnehmen. Wenn du einen Mann von seinem hohen Stand heiraten würdest, dürfte das alle Gerüchte entkräften, die deinen Namen beschmutzen. Du musst diese Sache geradebiegen. Das bist du deinem Bruder schuldig.“
Kapitel 2
Nina beobachtete den Duke of Fernbridge von hinter einem eingetopften Farn. Der Mann hatte das blondeste Haar, das sie je gesehen hatte – es wirkte wie ein Heiligenschein, so wie es auf der Terrasse ihres Bruders im Licht der Laternenkette und des Mondes förmlich glühte. Sie schob zwei Blätter auseinander, um einen besseren Blick zu haben.
Auch wenn er nicht im klassischen Sinne gutaussehend war, wirkten seine Züge beeindruckend.
Seit dem Gespräch mit ihrer Großmutter hatte sie mehr über diesen Gentleman herausgefunden. Er war siebenundzwanzig, begab sich nicht in leichtlebige Gesellschaft, spielte selten und hatte keine Mätresse.
„Was schaut Ihr euch da an, meine Liebe?“, fragte eine tiefe, maskuline Stimme.
Wie eine Maus, die von einer Katze in die Enge getrieben worden war, quiekte Nina und wirbelte herum.
Lord Elliot Ralston bedachte sie mit einem halbherzigen Lächeln.
Der Mann war ein hochgradiger Schuft, vielleicht noch verruchter, als Ninas schändlicher Bruder Anthony – und das war eine beachtliche Leistung. Er war die Art Mann, die sich eine kluge Frau niemals zum Ehemann erwählen würde – selbst wenn sein dunkles, lockiges Haar und seine dunkelblauen Augen ihn im Aussehen attraktiver machten als jeden anderen Mann, den sie kannte.
Sie öffnete den Mund, um ihn für die Überraschung zu tadeln: „Lord Ralston …“
„Beäugt Ihr den Duke of Fernbridge?“
„Ich habe ihn nicht beäugt.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Sein Lächeln wurde breiter. „Ist Euch bewusst, dass Eure Wangen ein wunderschönes Rosarot annehmen, wenn Ihr lügt?“
Nina unterdrückte den Wunsch, das abzustreiten, da sie die Wärme spürte, die ihr ins Gesicht stieg. „Was geht Euch das an?“ Ihre Worte kamen ihr etwas harscher über die Lippen, als sie gewollt hatte. Ralston besaß die ungewöhnliche Fähigkeit, ihre Gelassenheit in eine tobende Stimmung zu verkehren.
„Ich kenne Euch, seit Ihr Euch mit meiner Cousine Victoria angefreundet habt. Wie lange ist das jetzt her, fünf Jahre?“ Er hob eine Augenbraue.
Beinahe sechs. Und sie erinnerte sich immer noch an den Satz, den ihr fünfzehnjähriges Herz gemacht hatte, als sie Ralston zum ersten Mal begegnet war. Er war in den Raum gekommen, in dem sie mit Victoria am Flügel ein Duett gespielt hatte. Seine maßgeschneiderte Kleidung hatte seine eindrucksvolle Figur betont. Er hatte sich dicht zu ihr gelehnt, um die Noten umzublättern, und sie hatte einen Hauch von seinem Duft eingeatmet – eine Mischung aus Seife und Vetiver. Der gleiche angenehme Geruch, der ihr auch jetzt in die Nase stieg.
„Nina?“ Seine sanfte, tiefe Stimme riss sie aus den Gedanken.
Sie blinzelte. Was hatte er gefragt? Ah, ob sie einander seit fünf Jahren kannten. „Ja, etwa so lange“, stimmte sie zu, auch wenn sie wusste, dass es mehr war.
Er legte ihr seinen Zeigefinger unter das Kinn und neigte ihren Kopf nach hinten, bis ihr Blick dem seinen begegnete. „In dieser Zeit sind wir Freunde geworden, daher möchte ich dafür sorgen, dass Ihr bekommt, was Ihr wollt.“
„Und was ist es Eurer Meinung nach, was ich will?“, fragte sie.
Er ließ sein Kinn in Richtung des Duke of Fernbridge zucken. „Ich nehme an, wie so viele andere Frauen in dieser Saison, wollt Ihr diesem Milchgesicht vorgestellt werden, in der Hoffnung, dass er Euch zu seiner Duchess macht.“
Milchgesicht? Der Duke mochte nicht Ralstons urbanes Auftreten oder sein atemberaubendes Aussehen haben, das so manche Frau dazu verleitete, sich völlig zum Affen zu machen und zu riskieren, den Zorn der Gesellschaft auf sich zu ziehen; doch Fernbridge war ein Mann, wie sie ihn würde heiraten wollen. Vertrauenswürdig und …
„Ungefährlich?“, fragte Ralston.
Der Mann besaß wirklich die unheimliche Fähigkeit, genau zu wissen, was sie dachte. Es war beunruhigend. Ralston war ein Hexer. „Es ist besser, einen charakterfesten Mann wie Fernbridge zu heiraten, als einen Schuft wie Euch.“
Er legte sich theatralisch die Hand aufs Herz. „Ihr verletzt mich.“
Sehr fraglich. Ralstons Gewissen war so unumstößlich wie eine Rüstung angesichts einer Feder. Er schäkerte weitaus intensiver mit Frauen, als es der Anstand gebot; und dann, wenn sie wie Wachs in seinen Fingern zerflossen, widmete sich der herzlose Teufel einfach der nächsten Eroberung.
„Ich war mit dem Mann auf der Universität, und ich weiß genau, was für eine Frau er sich wünscht, und Ihr seid zu freigeistig für ihn. Er wäre besser beraten mit jemandem wie meiner Cousine Victoria.“
Victoria? Nein, das kam nicht in Frage. Victoria war so süß wie ein Petit Four und genauso appetitlich, aber ihre Großmutter hatte recht: Fernbridge war perfekt für Nina. Ihn zu heiraten würde sämtliche Gerüchte verstummen lassen und James zufriedenstellen. „Ich bin da anderer Meinung.“
„Spätzchen, wünscht Ihr Euch wirklich einen Mann, der immer noch den Kontratanz dem Walzer vorzieht? Der es denn als aufregend empfindet, mit seinen Hunden jagen zu gehen?“ Er senkte die Stimme. „Der schon um neun zu Bett geht? Und sobald er verheiratet ist, vermutlich ohne seine Ehefrau.“
Die Hitze, die ihr ins Gesicht gestiegen war, breitete sich zu ihren Ohren aus. Es war wirklich völlig inakzeptabel, dass Ralston so etwas erwähnte.
„Ihr wollt doch keinen Mann heiraten, der so stumpf ist wie unpoliertes Silber, oder?“ Ralston hielt ihren Blick mit seinen blauen Augen und kam noch näher. So nah, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte.
Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie annehmen, dass er seine verführerische Magie an ihr ausprobierte. Doch er tändelte nicht mit Frauen, die nach einem Ehemann suchten. Witwen waren eher nach seinem Geschmack.
Sie warf einen Blick über die Schulter und schaute durch die Farnspitzen zu Fernbridge, der sich immer noch mit Lord Pendleton unterhielt. Vermutlich wollte Ralston sie entmutigen, damit seine Cousine eine Duchess werden konnte. Das würde erklären, warum er ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte. Er wollte sie ablenken, damit Victoria den Moment nutzen konnte. Wusste er denn nicht, dass seine Cousine krank war und an diesem Abend nicht auftauchen würde?
„Das klingt nach einer sehr behaglichen Zukunft“, entgegnete sie.
„Behaglich? Meint Ihr nicht eher, entsetzlich eintönig?“
Tatsächlich klang die Aussicht auf ein Leben mit Fernbridge recht langweilig, aber war das nicht, was sie wollte? Einen zurückhaltenden Mann, der ihr treu bleiben würde? Und auch wenn ihr Bruder James nicht wollte, dass sie einen Mann heiratete, den sie nicht liebte, wusste sie doch, dass er froh sein würde, wenn sie sich für einen vernünftigen Mann wie Fernbridge entschied. Und Großmutter wäre überglücklich.
„Dieser Gentleman verbringt all seine Zeit draußen auf dem Land“, sagte Ralston.
„Was ist so schlecht daran? Ich lese und reite gern. Dann werde ich mehr Zeit dafür haben.“
„Wenn man erst einmal verheiratet ist, gibt es mehr zu tun, als diese Aktivitäten, meine Liebe.“ Sein Grinsen ließ keine Zweifel daran, worauf er anspielte.
So ein skandalöser Mann. Sie schnaubte und blickte wieder zu Fernbridge.
„Nun gut, wie ich sehe, kann ich Euch nicht umstimmen. Soll ich Euch bekannt machen?“
„Ja, würdet Ihr mich ihm vorstellen?“
„Natürlich, alles für Euch, Spätzchen.“
Als sie noch jünger gewesen war, hatte es ihr gefallen, wenn er sie mit diesem Kosenamen angesprochen hatte. Jetzt ging es ihr auf die Nerven. „Müsst Ihr mich so nennen? Ich bin beinahe einundzwanzig.“
„Praktisch schon altes Eisen.“ Er grinste und bot ihr seinen Arm an.
Der Mann irritierte sie ohne Unterlass. Doch als sie ihre Hand auf seinen Ärmel gelegt hatte und sie über die großen Steinplatten der Terrasse liefen, schlich sich ein beunruhigendes Gefühl bei ihr ein. Ralston hatte vermutlich auf alle Frauen diese Wirkung. Es war sein Lächeln, mit diesen sinnlichen Lippen, und seine Art, mit den blauen Augen den Blick einer Frau zu halten, als wäre sie die einzige Person im Raum. Nina verpasste sich gedanklich eine Ohrfeige. Victoria hatte ihr zu viele Geschichten über die amourösen Abenteuer ihres Cousins erzählt. Der Schurke hatte sein verführerisches Lächeln vermutlich schon in jungen Jahren vor dem Spiegel perfektioniert.
Während sie die Terrasse überquerten, verabschiedete sich Lord Pendleton, der sich bis dahin mit dem Duke unterhalten hatte.
„Fernbridge, alter Junge, wie geht es Euch?“, fragte Ralston und gab dem anderen Gentleman die Hand.
Die beiden Männer waren so verschieden wie Tag und Nacht. Fernbridge war blond und hatte helle Haut, während Ralston braunes, beinahe schwarzes Haar hatte und seine Haut einen wärmeren, sonnengebräunten Farbton aufwies, als hätte er jüngst mehr Zeit im Freien verbracht.
Als Ralston sie vorstellte, nahm der Duke of Fernbridge ihre behandschuhte Hand. „Eine Freude, Euch kennenzulernen, Lady Nina.“
„Ich hoffe, Ihr genießt den Aufenthalt in London, Euer Gnaden.“ Nina schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln.
Er rümpfte die Nase. „Ich muss gestehen, dass ich erpicht darauf bin, bald aufs Land zurückzukehren. Diese langen Abende in London sind recht gewöhnungsbedürftig.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Ralstons Lippen zu einem Lächeln verformten, das eindeutig bedeutete: Sagte ich doch.
„Es ist erst zehn Uhr, Fernbridge. Der Spaß fängt gerade erst an“, sagte Ralston.
Der Duke atmete langsam aus, als würde es schwer auf seinen Schultern lasten, auch nur eine Minute länger wachbleiben zu müssen; doch um ehrlich zu sein, waren es sehr ansehnliche Schultern. Nicht so breit wie bei Ralston, doch eindrucksvoll, und er musste etwa einen Meter achtzig groß sein, nur ein paar Zentimeter kleiner als der Schurke neben ihr.
Fernbridge besaß ein rundes, freundliches Gesicht. Seine Augen hatten einen blassen Grauton, als wäre die Farbe verdünnt worden, und sein blondes Haar neigte an den Enden zu Locken. Neben Ralston sah er aus wie ein Engel.
Und dennoch, sie spürte kein Flattern in ihrem Bauch, wenn sie ihn ansah. Allerdings wusste Nina, dass Kompatibilität und gegenseitiger Respekt auch noch wachsen konnten, nachdem zwei Menschen geheiratet hatten. Man musste sich nicht immer nach seinem Gatten verzehren, um eine erfolgreiche Ehe zu führen. Jemanden zu lieben, machte einen auch verletzlich für Herzschmerz. Hatte sie das nicht aus nächster Nähe bei ihrer Mutter erlebt? Doch wie ihre Mutter, schien auch Nina eine Neigung zu Schurken zu haben. Das hatte sie in der vergangenen Saison unter Beweis gestellt, als sie auf Avalon hereingefallen war. Jetzt wollte sie einen Mann finden, der charakterfest war.
Nina schob ihre verwirrenden Gedanken beiseite. „Euer Gnaden, habt Ihr Euch bereits irgendwelche Theaterstücke zu Gemüte geführt, seit Ihr in der Stadt eingetroffen seid?“
„Nein. Noch nicht.“ Er wandte sich an Ralston. „Wie war die Jagdsaison in Hampshire?“
„Keine Ahnung. Ich war schon seit einer Weile nicht mehr auf der Jagd.“
„Wenn ich mich recht entsinne, wart Ihr in unserer Jugend ein trefflicher Tontaubenschütze.“ Fernbridge legte die Stirn in Falten.
Ralston lächelte schwach, doch irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck wirkte befremdlich. „Ja, aber ich habe diesen Sport in jüngster Zeit nicht mehr praktiziert.“
Die Musiker spielten zum ersten Lied des Abends auf, und Nina warf durch die offenstehenden Terrassentüren einen Blick auf das Orchester.
„Ah, ein Walzer“, sagte Ralston. „Darf ich um diesen Tanz bitten, Lady Nina?“
Sie hätte ihn am liebsten gegen das Schienbein getreten. Sie hatte gehofft, Fernbridge würde sie auffordern. Sie knirschte mit den Zähnen, während sie sich zu einem Lächeln zwang. „Natürlich, Mylord.“
„Ihr werdet uns entschuldigen, Fernbridge.“ Ralston bot ihr seinen Arm an.
Als sie hineingingen, sah sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich sagte Euch schon, dass er den Walzer nicht mag“, sagte er, als würde er wieder einmal ihre Gedanken lesen. Er lehnte sich zu ihr. „Wisst Ihr, der beste Weg, um sich einen Mann zu schnappen, ist es, ihm zu zeigen, dass Ihr ein Hauptgewinn seid. Besonders bei einem Mann wie Fernbridge, der die Jagd liebt. Ihr geht das falsch an, meine Liebe. Wenn es so wirkt, als wäret Ihr zu leicht zu haben, wird er sich weniger für Euch interessieren.“
Sie legte die Stirn in Falten. Was meinte er damit? Dass sie Fernbridges Aufmerksamkeit nur gewinnen würde, wenn er glaubte, ein anderer würde auch um ihre Hand wetteifern? Ralston wollte doch gewiss nicht die Rolle eines galanten Verehrers spielen, um Fernbridges Interesse zu wecken. „Wollt Ihr anbieten, einen falschen Konkurrenten zu spielen?“
Ralston verzog das Gesicht, als würde ihm diese Idee missfallen, dann hob ein Lächeln langsam einen seiner Mundwinkel. „Warum nicht? Das könnte unterhaltsam sein. Ja, ich werde mich für die gute Sache opfern.“
„Opfern? Ich hatte Euch immer für einen Schönredner gehalten. Jetzt frage ich mich, was es ist, das die Frauen zu Euch zieht wie Bienen zur einzigen Blüte auf einer vertrockneten Wiese.“
Als sie die Tanzfläche erreicht hatten, legte er ihr seine warme Hand in den Rücken und zog sie näher heran. Während er sie in den Strom der Tanzenden führte, die sich im Einklang mit der Musik bewegten, flüsterte er: „Es ist nicht die Art, wie ich mit Frauen spreche, meine Liebe. Es ist etwas viel Verruchteres.“