Prolog
Mit stummer Verzweiflung starrte Violet ihren Sohn an und es ging ihr dabei vor allem ein Gedanke durch den Kopf: Selbst meine Kakteen würden mir das nicht antun.
Sukkulenten konnten nicht sprechen. Sie rochen nicht entfernt nach etwas, das man schon vor längerer Zeit hätte von den Stiefeln abwischen sollen. Und ganz sicher würden sie niemals ohne zu fragen „Proben“ ihrer „Sammlungen“ auf den Stapel sorgfältig sortierter Bücher ablegen, die Violet gerade miteinander abgeglichen hatte.
„Also, Mama? Sieht das für dich wie Marderkot aus?“
Sie widerstand dem Drang, sich die Nase zuzukneifen. Stattdessen bedachte sie ihren Sohn mit einem strengen Blick. „Brom, Liebling … wie kommst nach all den Jahren, die wir uns kennen, darauf, dass ich dazu in der Lage wäre, Marderkot zu erkennen?“
Ihr Sohn verdrehte nur die Augen. „Du hast mir doch letztes Jahr das illustrierte Handbuch geschenkt, weißt du nicht mehr? Du hast mir mit den schwierigen, langen Worten geholfen.“ Er stieß mit dem Finger unwirsch gegen den Glasbehälter, der auf ihren Unterlagen für die diesjährige Gerstenernte lag. „Sieht das denn deiner Meinung nach passend aus? Der Wildhüter sagt, es sei ein Baummarder, und ich habe noch keinen Marderkot in meiner Sammlung.“
Herr im Himmel.
Violet unterdrückte einen Seufzer und schob den Behälter mit dem Bleistift von ihrem Buch herunter. Kurz strich sie mit der Hand über das Buch, um sicherzustellen, dass es nicht dreckig geworden war.
„Wenn der Wildhüter sagt, dass es von einem Baummarder stammt, Brom, dann sollten wir dem Mann da auch vertrauen.“ Sie wusste nicht einmal, was genau ein Baummarder war, obwohl sie mit ihrem Sohn viele Jahre die Schluchten von Hatwaring erforscht hatte. War es eine Art Nagetier? „Gott weiß, dass wir ihn für sein Wissen schließlich gut bezahlen.“
Brom stieß einen tiefen Seufzer aus und nahm den Behälter wieder an sich. Gott sei Dank war er verschlossen, sodass kein Geruch nach außen drang, während ihr Sohn die Probe in den Händen hielt und den Inhalt aufmerksam begutachtete.
„Ich wäre gern mit ihm auf die Suche gegangen.“
Obwohl die Aussage auf den ersten Blick recht einfach war, hatte Violet Mühe, den Sinn dahinter zu entschlüsseln. „Mit dem Wildhüter? Du wolltest, dass er mit dir nach Marderkot sucht?“
Sie war sich gegenüber ehrlich genug, um zuzugeben, dass ihr Sohn eine sehr seltsame Freizeitbeschäftigung verfolgte.
Du bist diejenige, die mit ihren Sukkulenten spricht, während du sie gießt. Lass uns Broms Sammlung nicht verunglimpfen, du große Ananas-Sammlerin.
Ihr Sohn stieß nur einen größeren Seufzer aus.
Stirnrunzelnd schob Violet das Buch beiseite. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, den Geschäftsbericht des Anwesens noch vor dem Mittagessen fertigzustellen, damit sie am Nachmittag ein paar Stunden mit Brom verbringen und sich seinen Studien widmen konnte, die in letzter Zeit ein wenig zu kurz gekommen waren. Aber es galt die Korrespondenz und die Wirtschaftsberechnungen zu erledigen, die Nachrichten der Verwalter durchzugehen und noch eine Million anderer Dinge zu erledigen … Die Arbeit schien nie enden zu wollen, so sehr sie sich auch danach sehnte, endlich von dieser Aufgabe befreit zu werden.
Vielleicht sollte sie diese Gelegenheit nutzen, um sich einer wichtigeren Verantwortung zu widmen: ihrem Sohn.
Als sie ihre Arme ausbreitete, stellte Brom den Glasbehälter zurück auf ihren Schreibtisch und ließ sich in ihre Umarmung sinken. Sie ließ die Hand über sein verschwitztes Haar fahren und wusste sofort, dass ein Haarschnitt überfällig war. Sie atmete tief ein. Er roch immer nach der freien Natur, vor allem, wenn er gerade von einer seiner Erkundungstouren zurückkam, und sie vermisste es, diese Zeit mit ihm teilen zu können.
„Brom, ich bezahle den Wildhüter nicht dafür, dass er mit dir spazieren geht.“ Der Junge brauchte einen Lehrer, so viel war offensichtlich. „Ich werde einige Haushaltsgelder umlegen …“
Ihr Sohn schnaufte spöttisch und richtete sich auf, aber nicht so weit, dass er sich aus ihrer Umarmung löste. „Geld! Mama, du denkst in letzter Zeit an nichts als Geld. Ich bin ein Earl, hast du gesagt! Wir haben ein Imperium.“
Ihre Mundwinkel wanderten reumütig nach unten, als sie sehen musste, dass er ihr manchmal doch zuhörte. „In der Tat, Liebling. Aber irgendjemand muss sich darum kümmern; Sekretäre können schließlich nicht alles machen.“
Er schnaufte verächtlich und legte dann seine Wange an ihre Schulter. „Ich vermisse die Zeit, als es nur dich und mich gab.“
So ging es ihr auch, aber es waren nie wirklich nur sie beide gewesen. Thomas hatte wenig Interesse an der Erziehung seines Erben gezeigt und sie war sich der unausgesprochenen Verurteilung ihres Mannes immer bewusst gewesen.
„Was soll ich deiner Meinung nach tun, Brom?“, murmelte sie.
Er zögerte und sie war überrascht zu sehen, dass er tatsächlich über ihre Worte nachdachte.
„Könntest du – könnte ich – nicht einen Teil des Grundstücks verkaufen?“
„Hatwaring verkaufen?“ Sie blinzelte verdutzt.
Brom hielt seine Wange immer noch an ihre Schulter gedrückt und versuchte aus dieser Position zu erklären, während er mit seinen Händen herumfuchtelte. „Also, nicht das Haus oder die Felder oder den Fluss … noch irgendeines der Grundstücke, schätze ich. Du hast erzählt, dass dies alles seit Jahrhunderten im Besitz von Vaters Familie sei.“
„So … ist es.“ Wenigstens hatte der Junge, was die Familiengeschichte anging, aufgepasst. „Wir können keinen Teil von Hatwaring verkaufen“, erklärte sie mit sanfter Stimme. „Damit würden wir den Generationen vor dir und den Generationen nach dir unrecht tun.“
Bei Gott, ihr Sohn war ein Earl.
Allein diese Tatsache machte den tiefsitzenden Schmerz der letzten zehn Jahre fast wieder wett.
Und auch die schmerzhafte Entscheidung des letzten Jahres, als sie wieder einmal ihr Leben geändert hatte, um all die neuen Verantwortlichkeiten, die auf ihren Schultern lasteten, irgendwie unterzubringen.
Brom richtete sich auf und tippte mit einem seiner langen Finger auf das Buch, das sie vorhin zur Seite gelegt hatte. „Hatwaring kommt also nicht infrage, aber eine der anderen Ländereien. Eines der Grundstücke, über die du dich immer beklagst …“
„Ich beklage mich nie!“
In dem Blick, den er ihr zuwarf, lag deutlich zu viel Einsicht in ihr Gefühlsleben. Offenbar hatte ihre unschuldige Miene ihre Wirkung verfehlt.
„Mama, ich brauche alle diese Ländereien doch gar nicht, oder?“ Er schüttelte den Kopf und begann schnell durch die Papiere und Bücher zu blättern, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. „Wie wäre es mit dem hier?“ Blinzelnd beäugte er das Papier in seinen Händen. „Forbes Farm? Die ist ganz schön abgelegen, oder?“
Sie schnalzte mit der Zunge und zog ihm den Zettel aus der Hand. „Ja, und ich bin stolz darauf, dass du deine Geografie-Lektionen verinnerlicht hast.“ Anstatt seine Idee rundheraus zu verwerfen, holte sie tief Luft. „Ich muss zugeben, dass ich selbst schon darüber nachgedacht habe, einige der weiter entfernten Ländereien zu veräußern.“
„Forbes Farm zum Beispiel?“
Forbes Farm zum Beispiel. Zumindest, wenn Forbes Farm nicht das Haus des Mannes gewesen wäre, der ihre Annäherungsversuche, Entschuldigungen und Bitten zurückgewiesen hatte.
Aber die letzten zehn Jahre hatten ihr nur zu deutlich gemacht, dass er nichts von ihr wollte, also vielleicht …
„Mama, wir könnten das Grundstück verkaufen, dann bliebe dir einiges an Kopfzerbrechen erspart. Wir könnten … wir könnten wieder Zeit miteinander verbringen.“
„Ein Verkauf von Forbes Farm also“, murmelte sie mit leiser Zustimmung in der Stimme. „Ich werde die Vor- und Nachteile abwägen.“
Malcolm hatte sehr deutlich gemacht, dass er nichts von ihr wissen wollte. Vielleicht war es an der Zeit, dass er dieses Nichts auch bekam.
„Gut!“ Ihr Sohn schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Du arbeitest zu viel und ich will, dass du wieder Zeit hast, um mit mir zu spielen!“
Violet musste lächeln. „Das würde ich auch gerne. Aber Verantwortung kann man nicht …“
„Pah! Offenbar gilt Verantwortung nur für Earls.“
Ihr Herz fühlte sich ein wenig leichter an. Sie beugte sich vor und stupste ihn in den Bauch. „So schlecht ist dein Leben auch nicht, Liebling. Die Köchin verwöhnt dich, du kannst den ganzen Tag so viel du willst überall herumtoben, zeichnen und skizzieren und –“
„Was das angeht …“, unterbrach er sie stirnrunzelnd. „Wo sind eigentlich meine letzten Skizzen, die ich dir gegeben habe, um sie hier aufzuhängen?“ Er sah sich im Arbeitszimmer um, bis sein Blick schließlich auf ihre Auswahl an Skizzen der letzten Woche und des letzten Monats und sogar auf einige seiner frühesten Kritzeleien fiel. „Ich dachte …“
Unvermittelt stieß er sich vom Schreibtisch weg und bückte sich, um in den Papierkorb zu schauen. „Mama!“ Er riss ein Bündel Papiere aus dem Papierkorb und zog stirnrunzelnd zwei seiner Skizzen aus dem Stapel heraus. „Was machen die denn hier drin? Ich habe sie dir zum Aufhängen gegeben!“
„Oje“, murmelte sie mit schwacher Stimme, als sie nach Broms Kunstwerken griff. Sie wusste natürlich nur zu gut, dass sie sie erst heute Morgen eigenhändig in den Korb gelegt hatte. „Wie sind die da nur hineingeraten? Sind sie vielleicht heruntergefallen?“
„Hier“, schnaubte er, als er sie ihr vorsichtig wie unschätzbar wertvolle Kunstwerke überreichte und den Rest der Papiere auf dem Boden verteilte. „Die sind für dich. Ich habe hart daran gearbeitet.“
Ja, er arbeitete hart an allem, was er tat, einschließlich Skizzen von verschiedenen Arten von Exkrementen, Kot und allerlei Unrat, den er auf seinen Streifzügen durch die Ländereien von Hatwaring entdeckte. Allerdings hatte eine jede Frau ihre Grenzen, wenn es darum ging, Kotskizzen bei sich aufzuhängen – und sich auch noch alles darüber zu merken.
Die Fähigkeit, überzeugend zu lügen, wenn man mit der Anschuldigung konfrontiert war, ein weiteres dieser „Meisterwerke“ entsorgt zu haben, war ein für die Elternschaft häufig unterschätztes Talent.
„Ich werde sie in Ehren halten“, sagte sie mit einem liebevollen Lächeln, während sie sie unter dem Geschäftsbuch verschwinden ließ. „Inzwischen bin ich dieser Arbeit ein bisschen überdrüssig, zumindest für die nächsten paar Stunden. Wollen wir einen Spaziergang machen?“
Broms Miene hellte sich auf. „Zusammen?“ Er hüpfte auf die Füße. „Aye! Willst du dein Schultertuch? Ich kann es holen!“
Sie hakte ihre Finger zwischen die ihres Sohnes, während sie sich aufrichtete. „Nein, danke. Der Tag ist schön und ich freue mich darauf, die Sonne auf meiner Haut zu spüren.“
Doch als Brom sie aus dem Arbeitszimmer hinauszog, warf Violet einen letzten Blick zurück auf den Schreibtisch. Ihr gefiel nicht, wie sich ihr Leben in den letzten Monaten seit Thomas’ Tod entwickelt hatte. Dennoch war es erstrebenswert, sein Erbe für ihren Sohn zu erhalten.
Schließlich hatten sie und Brom nach einem Jahrzehnt der Verbitterung endlich doch noch bekommen, was sie verdient hatten.
Also ja, sie würde ein paar Stunden mit ihrem Sohn verbringen, aber schon bald würde sie sich wieder mit der Verwaltung seines Imperiums befassen müssen.
Vielleicht war es wirklich an der Zeit, mit dem Verkauf einiger Grundstücke zu beginnen … angefangen mit Forbes Farm.
Kapitel Eins
Malcolm Forbes spürte, wie sich hinter seinen Augen Kopfschmerzen einstellten, und das hatte nur wenig mit der Abhandlung über den Kartoffelanbau zu tun, in die er versunken war. Nein, die neuesten technologischen Fortschritte auf dem Gebiet der Hackenwerkzeuge waren tatsächlich ziemlich faszinierend – man sollte meinen, dass es in diesem Bereich kaum etwas zu verbessern gab – im Gegensatz zu Anlässen, bei denen er sich höflich über Dinge unterhalten musste, die ihn nicht im Geringsten interessierten.
Die Kopfschmerzen hatten einzig und allein mit dem Mann zu tun, der auf der anderen Seite des Zimmers saß und über Zeus-weiß-was laberte.
„Sie wissen, dass es für so etwas Brillen gibt?“
Wenn Malcolm je etwas so Emotionales wie einen finsteren Blick zugelassen hätte, hätte er es an genau dieser Stelle getan, während er zu dem Mann aufblickte, der theoretisch sein bester Freund war. „Was?“
Cameron MacKay – Cam für seine Freunde – starrte mit seinem Whiskyglas in die Runde. „Du kneifst die Augen zusammen. Davon bekommt man Falten um die Augen, weißt du? Warum trägst du keine Brille, wenn du schon über die Freuden des Gülle-Ausbringens und Schaf-Fickens lesen musst?“
Malcolm richtete sich auf und klopfte auf seine Brusttasche, als er irritiert feststellte, dass er sich zum Lesen nach vorne gebeugt hatte. „Du hast sehr seltsame Vorstellungen von Landwirtschaft.“
„Aye!“, stimmte Cam ihm heiter zu, unbekümmert von seiner eigenen Unwissenheit. „Aber du musst zugeben, dass ich wirklich weiß, was Frauen mögen, und Falten …“
„Warum in aller Welt sollte ich mir Gedanken über Falten um meine Augen machen?“, fiel Malcolm ihm murmelnd ins Wort, während er immer hektischer in seinen Taschen kramte.
Wo, zum Teufel, war die Brille? Malcolm zog die oberste Schublade seines Schreibtischs auf, dann die nächste. Verflucht! Er verlor die verdammten Dinger ständig und er hasste es, dass er sie überhaupt zum Lesen brauchte. Aber Cam hatte recht: Mit der Vergrößerung war es einfacher zu lesen.
„Es mag dir egal sein“, sagte Cam, „aber du kannst nicht für den Rest deines Lebens wie ein Einsiedler in diesem Arbeitszimmer hocken bleiben. Du wirst ausgehen müssen, um etwas Spaß und Gesellschaft zu finden, und dabei wird es dir nicht helfen, wenn du mit zusammengekniffenen Augen Abhandlungen über Kalk, Gülle und Brokkoli liest. Soll ich dir ein paar Namen von Damen in London nennen? Ich kenne einige, die einen weiteren gutgebauten Schotten in ihrem Bett gutheißen würden. Nein, nicht gleichzeitig – ich weiß, dass Leute so etwas machen, aber ich nicht.“
Kaum auf die Worte seines Freundes achtend beugte sich Malcolm zur Seite, um die unteren Schubladen zu öffnen. Warum hätte er die Brille in eine davon stecken sollen? „Ich bin kein Einsiedler. Ich bin zu Keiths Hochzeit nach Inverness gefahren, oder etwa nicht?“
„Ach, ja! Eine einzige Zerstreuung zwischen der monatelangen Schinderei. Du bist sofort wieder hierher geflüchtet, als es vorbei war, oder nicht? Du musst ein bisschen leben, Malcolm! Such dir ein Mädchen, fick sie besinnungslos, hab ein bisschen Spaß!“
Diesmal bedachte Malcolm ihn tatsächlich mit einem finsteren Blick, als er sich aufrichtete. „Ich habe jede Menge Spaß.“
„Gülle! Hurra! Was für ein Spaß!“ Cam starrte ihn an.
„Hättest du irgendwelche Verantwortung, wüsstest du, dass es sehr erfreulich und erfüllend ist, ein erfolgreiches Anwesen zu führen.“ Vorsichtshalber zog Malcolm die oberste Schublade noch einmal auf, nur für den Fall, dass die Brille beim ersten Mal unter etwas verborgen gewesen war. „Es geht nicht nur um Gülle und Fruchtwechsel.“
„Mein Vater hat mir eben keine weitläufigen Ländereien geschenkt, die ich verwalten könnte“, erklärte Cam.
Malcolm hielt inne und schaute noch immer in die Schublade hinunter. „Meiner auch nicht“, murmelte er.
Sein Freund schwieg einen Moment lang und seufzte dann. „Ach, tut mir leid, Colm. Ich sollte meine Zunge hüten.“
„Ja, das solltest du. Und nenn mich nicht so.“
Cam grinste natürlich. „Das muss ich. Keith, Cam und Colm. Ich muss deinen Namen abkürzen, damit er dazu passt.“
„Du hast Crowe vergessen.“ Wenn Cam unbedingt die Namen ihrer Schulfreunde aufzählen wollte, konnte er ihn nicht auslassen.
Cams Grinsen verblasste. „Nein, habe ich nicht.“
Crowe und das, was er getan hatte, konnte man nicht vergessen.
Malcolm fühlte sich ein wenig schuldig, weil er Cams Scherzen einen Dämpfer verpasst hatte, behielt aber seine emotionslose Miene bei und begann, die Papierstapel auf seinem Schreibtisch nach der Brille zu durchforsten. Cam hatte es verdient, sagte er sich, weil er die ganze Zeit so verdammt heiter war.
„Wo zum Teufel …?“, murmelte er vor sich hin und wusste, dass seine Frustration nicht nur auf die fehlende Brille zurückzuführen war.
Cam räusperte sich. „Suchst du die hier?“
Als Malcolm aufblickte, war die fehlende Brille zwischen Daumen und Zeigefinger seines Freundes eingeklemmt. „Gib sie schon her.“
„Gewiss.“ Cam stand gemächlich auf und schlenderte zum Schreibtisch herüber, wobei er mit der Hand, die immer noch das Whiskyglas hielt, eine ausladende Geste machte. „Du hast sie wirklich überall im Haus herumliegen, ist dir das klar? Die hier lag nur zufällig am nächsten bei mir.“
Als er in Reichweite war, riss Malcolm seinem Freund die Brille aus der Hand und hielt sie sich vor die Nase, während er auf die Kartoffelskizzen hinunterblickte. „Das ist eine alte Brille“, murmelte er und war froh, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie fest aufzusetzen. „Aber trotzdem …“ Er schob sie in die oberste Schublade.
Wo er sie wiederfinden würde.
Erst als Cam zu glucksen begann, blickte Malcolm schließlich auf und sah, wie sein Freund sich mit einer Hüfte gegen den Schreibtisch lehnte und den freien Arm vor der Brust verschränkt hielt, während er an Malcolms bestem Whisky nippte.
„Was treibst du eigentlich schon wieder hier?“, blaffte Malcolm ihn an, als die Kopfschmerzen gerade beschlossen, dass dies der richtige Moment war, um sich wieder einmal zu melden.
Einer von Cams Mundwinkeln kräuselte sich zu einem ironischen Grinsen. „Ich bin auf dem Weg gen Süden, alter Freund, und deine Mutter sagte, dass deine Tür immer offensteht. Sie mag mich, musst du wissen.“
„Ich lasse die Schlösser austauschen.“ Malcolm sank in seinen Stuhl, sodass die Ellbogen auf den hölzernen Armlehnen ruhten, und er drückte die Finger gegen seine Schläfen. „Du bist nur hier, um mich zu ärgern.“
„Du sollst dich amüsieren, Colm! Seit dem Tod deines Vaters hast du dir immer mehr aufgebürdet – mehr als nötig! Forbes Farm ist zwar im Besitz des neuen Earls, aber es gibt keinen Grund zu glauben, dass du nicht für immer der Verwalter sein wirst. Du und deine Mutter lebt hier seit einem Jahrzehnt und selbst ich kann sehen, dass du brillant bist in dem, was du tust.“
„Ich bin in allem, was ich tue, brillant“, murmelte Malcolm und rieb sich die Schläfen, „weil ich lerne. Das solltest du auch mal versuchen.“
„Und meinen guten Ruf ruinieren?“ Cam grinste frech. „Nein. Die Damen mögen mich so, wie ich bin, und ich habe beschlossen, diesen Ruf auf dich auszudehnen.“
„Nein, danke.“
Aber Cam ließ sich nicht abhalten. „Komm mit mir zurück nach London, Colm. Ich führe dich herum und sorge dafür, dass du dich amüsierst. Es gibt dort so viele Frauen – Damen und auch andere –, dass man sich kaum entscheiden kann. Und wenn sie erst einmal mit dir fertig sind, wirst du eine Woche lang nicht mehr laufen können!“
Malcolm stöhnte nicht, aber er bedeckte die Augen mit einer Handfläche. „Ich will weder eine Dame noch sonst jemanden. Mir geht es gut, so wie ich bin, Cameron.“
„Du musst jemanden kennenlernen. Hab ein bisschen Spaß.“
Jemanden.
Jemand anderen.
Jemand, der nicht Lady Violet Stanley Forbes war.
Jemand, der das bisschen Herz, das ihm geblieben war, sich nicht schnappte und zu Asche verbrannte, um ihm dann die Verletzung mit ihren vierteljährlichen Briefen und Einladungen unter die Nase zu reiben.
Hatte Cam recht? Musste er jemand anderen treffen?
Könnte er das überhaupt?
„Ich glaube“, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen, „dass wir beide eine sehr unterschiedliche Definition von Spaß haben.“
„Aye, allerdings!“ Cam bewegte sich vom Schreibtisch weg. „So viel ist sicher. Ich habe deine Bibliothek gesehen, schon vergessen? Wie ein Mann sich für so viele verschiedene Themen interessieren kann, ohne die wahre Bedeutung von Spaß zu verstehen, ist mir ein Rätsel.“
Malcolm, der immer noch nicht aus der wohltuenden Dunkelheit seiner Handfläche hervorschaute, murmelte: „Ich vermute, dass dir vieles ein Rätsel ist.“
„Gut, dass du mein Freund bist, Colm, sonst müsste ich mich über solche Beleidigungen ärgern.“
Da Cam dies in seiner üblichen schrecklich fröhlichen Art vorgetragen hatte, wusste Malcolm, dass der Mann keineswegs beleidigt war.
Verflucht.
Er musste sich mehr anstrengen.
Manchmal war es verdammt lästig, einen besten Freund zu haben.
„Tilly! Tilly, du freches Biest, komm zurück!“
Der Ruf hallte aus dem Flur und Malcolm stöhnte auf. Er wollte auf keinen Fall etwas mit dem Hund oder seiner Mutter zu tun haben. Nicht ausgerechnet jetzt. Er konnte geradezu hören, wie die Kopfschmerzen mit jedem Herzschlag zunahmen, was medizinisch eigentlich unmöglich sein sollte.
Er nahm sich vor, das Phänomen gleich in einem seiner Journale nachzuschlagen, sofern es Tilly vermochte, seinem Arbeitszimmer fernzubleiben.
Cam war natürlich keine Hilfe. „Hierher, Tilly, Liebes. Was hast du da für uns, hm?“
Malcolm öffnete ein blinzelndes Auge und sah hilflos zu, wie sein Freund den Whisky auf dem Schreibtisch abstellte und dann in die Hocke ging, um die kleine Kugel aus Pelz und Sabber abzufangen, die durch die Tür hereingeschossen kam.
„Uff! Da ist ja das gute Mädchen. Du bist aber ein feiner Welpe, nicht wahr? Wer ist ein feines Mädchen?“ Cam kraulte das Tier unter dem Kinn und die schwarzen Augen des dämlichen Hundes verdrehten sich vor Freude wild in alle Richtungen.
„Tu das nicht“, schimpfte Malcolm.
„Was denn?“, erwiderte Cam mit der gleichen Stimme, die man verwenden würde, um mit einem Kleinkind zu sprechen, während er weiterkraulte. „Ich belohne Tilly nur dafür, dass sie uns diesen durchweichten Stapel Briefe gebracht hat. Stimmt’s, meine Kleine?“
Malcolm stöhnte. „Er ist ein Kleiner, keine Kleine …“
„Dann solltest du vielleicht nicht Tilly heißen, was?“, murrte Cam dem leicht feuchten Hund zu.
„Mutters Hunde heißen alle Tilly und du sollst ihn nicht dafür belohnen, dass er meine Post vollgesabbert hat!“
„Hier, bitte schön.“
Mit einem feuchten Klatschen landete das Bündel klebrigen Papiers auf Malcolms Schreibtisch und er stöhnte erneut auf.
„Ist das die neueste Ausgabe der Gazette? Verdammt, Tilly, musst du denn auf allem herumkauen?“, grummelte Malcolm, während er vorsichtig versuchte, die Seiten voneinander zu lösen. „Ich dachte, ich hätte Michaelson angewiesen, sie mir persönlich zu bringen.“
„Er hat es versucht, mein Schatz. Er hat es versucht“, versicherte ihm seine hereineilende Mutter. Malcolm stützte die Handflächen auf den Schreibtisch und wollte sich gerade aufrichten, als sie mit ihrer fülligen Hand abwinkte und schnaufend sagte: „Oh, steht nicht extra für mich auf, Jungs. Ich mache es mir einfach hier drüben bequem.“
Mit diesen Worten ließ sie sich schwer atmend in eben den Ledersessel fallen, den Cam gerade erst verlassen hatte. „Sei nicht böse auf den lieben Tilly, Malcolm. Ich wollte dir nur eine kleine Überraschung bereiten.“
Verärgert runzelte Malcolm die Stirn und hob die Überreste seiner Zeitung mit zwei Fingern vom Tisch. „Das war wirklich eine ziemliche Überraschung, Mutter“, knurrte er.
Cam rief von seinem Platz auf dem Boden aus: „Irgendwelche Neuigkeiten zu Crowe?“
Malcolm warf seinem Freund einen finsteren Blick zu. „Sobald ich die Fähigkeit entwickelt habe, diesen Haufen Hundesabber zu lesen, werde ich dir Bescheid sagen.“
„Deine Brille liegt in der obersten Schublade“, schaltete sich seine Mutter wenig hilfreich ein.
Aber Cam schüttelte nur den Kopf. „Ich meinte ganz allgemein. Du hast ihn vorhin erwähnt, aber hast du denn seit dem ersten Artikel über seine Entlassung aus dem Gefängnis nichts mehr gehört?“
„Nein, nichts.“ Vorsichtig und darauf bedacht, sich möglichst wenig zu bewegen, beugte sich Malcolm zur Seite und warf die Reste seiner Zeitschrift in den Papierkorb neben seinem knienden Freund. „Und ich weiß auch nicht, warum ausgerechnet ich dazu auserkoren wurde, auf solche Nachrichten zu achten. Du und Keith könnt ebenso gut die Zeitung lesen wie ich.“
„Ja, machen wir aber nicht“, murmelte Cam. „Du liest sie außerdem ohnehin schon, also sag uns einfach Bescheid, wenn du noch etwas von diesem Schurken hörst, in Ordnung?“
Auf der anderen Seite des Zimmers hatte Mutter einen Fächer hervorgeholt und wedelte ihn mit energischen Bewegungen vor ihrem hochroten Gesicht herum. „Dieser arme Junge … so verleumdet. Kannst du dir vorstellen, dass er den kleinen James umgebracht haben könnte? Ihr wart alle so gute Jungs und so enge Freunde! So eine Schandtat kann man ihm einfach nicht zutrauen!“
Malcolm und Cam tauschten schweigend Blicke aus und vergaßen zur Abwechslung ihre üblichen Neckereien. Mutter hatte sie alle irgendwann einmal in ihrer Obhut gehabt und sie betrachtete Crowe MacLeod immer noch als ein armes, verlorenes Lamm.
Sie hatten sich geschworen, ihr nie zu verraten, wozu der Bastard wirklich fähig war.
Cam erhob sich mit einem Räuspern. „Natürlich haben Sie recht, meine liebe Rhona. Und – wenn die Frage gestattet ist – warum sind Sie so aufgebracht?“, fragte er, während er sich träge in den Stuhl gegenüber von ihr sinken ließ und dann entspannt ein Bein über das andere schlug. „Sie können sich wohl vor all den hübschen Bediensteten kaum retten, was?“
Mutter schnalzte mit der Zunge und schlug mit ihrem Fächer nach Cam. „Pfui, Sir!“, flirtete sie ebenso schamlos zurück. „Wenn es hübsche Bedienstete wären, würde ich mich nicht retten müssen, oder?“
Während er akribisch den Stapel durchweichter Briefe sortierte, warf Malcolm unwirsch ein: „Wir haben nur einen Diener, und Michaelson ist mindestens sechzig.“
Mutter beugte sich näher zu Cam und flüsterte laut: „Ein sehr rüstiger Sechziger“ Cam gluckste.
Bei Zeus! Musste er sich jetzt auch noch das Liebesleben seiner Mutter anhören? Schlimm genug, dass sie immer noch nur allzu gern von ihrer lange zurückliegenden Affäre mit Thomas Forbes erzählte, der zwar in allen anderen Aspekten seines Lebens ein gewaltiges Arschloch gewesen war, sich aber – zumindest laut seiner Mutter – als überaus aufmerksamer Liebhaber erwiesen hatte. Malcolm wusste natürlich, dass seine Mutter keineswegs wie eine Nonne gelebt hatte. Und er konnte durchaus sehen, dass sie noch immer eine rundliche, matronenartige Schönheit besaß. Allerdings hatte er im Laufe der Jahre immer wieder festgestellt, dass er sich lieber mit einer Zange sämtliche Nasenhaare ausreißen würde, als von ihren Liebschaften hören zu müssen.
„Rhona, wenn ich nur dreißig Jahre jünger wäre, dürften Sie mich jederzeit über die ganzen Ländereien von Forbes Farm jagen“, scherzte Cam.
Sie gluckste. „Und wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, hätte ich auch noch genug Wind in den Segeln, um Sie einzuholen. Allerdings kann ich mich wohl glücklich schätzen, dass ich in meinem Alter nicht von ganz anderen Winden geplagt werde, was?“
Hervorragend, wir haben es zu den Furzwitzen geschafft.
„Wenn es bei der Aufregung also nicht um eine Liaison geht …?“
Mutter schnaubte auf Cams erneute Nachfrage und Malcolm bemerkte, dass ihre angespannten Nerven das Wedeln des Fächers beschleunigten. „Ich wollte nur Tilly einholen. Der kleine Racker und ich haben einen Trick vorbereitet, den wir Malcolm vorführen wollten. Aber er ist mir entwischt.“
Eben jener kleine Racker schnüffelte gerade an Malcolms Schuhen und Malcolm riss den Fuß von der gequetschten Nase des Tieres weg, in der Hoffnung, der Hund würde eine anderweitige Beschäftigung finden. „Ein Trick, Mutter?“, fragte er, eher aus Höflichkeit als aus einem wirklichen Bedürfnis, mehr zu erfahren.
Tilly ließ sich nicht entmutigen und schnüffelte nun einfach an seinem anderen Schuh.
„Aye, mein Lieber. Ich habe mir vorgenommen, ihm beizubringen, dir jeden Abend die Post zu bringen. Stell dir vor, wie reizvoll das wäre! Das Getrappel kleiner hilfsbereiter Pfoten und dann bringt dir der kleine Tilly genau das, was du brauchst, um die Aufgaben zu erfüllen, die dein Vater dir übertragen hat. Er sehnt sich so danach, hilfreich sein zu können!“
Der Hund hatte seit seiner Ankunft auf Forbes Farm – damals noch als viel niedlicherer Welpe – nichts auch nur ansatzweise Hilfreiches getan. Wie um diesen Umstand zu unterstreichen, wählte das Tier eben diesen Moment für einen kräftigen und übelriechenden Furz.
Während Malcolm mit tränenden Augen zu kämpfen hatte, rollte sich Tilly auf seinem feinen Lederstiefel zusammen und schlief prompt ein.
Cam räusperte sich. „Geht es dir gut, Malcolm? Ist dir vielleicht das Mittagessen nicht gut bekommen?“
Heiliger Zeus! Der Geruch hielt sich hartnäckig in seiner Nase wie klebriger Teer.
„Mir geht es gut“, keuchte Malcolm, entschlossen, seinem grinsenden Freund keine weitere Munition zu liefern. „Und dir?“
„Ach, gut“, erwiderte Cam freudig. „Allerdings vernehme ich da diesen Duft von … von …“
„Arsch“, brachte Malcolm fast würgend hervor. „Ein Fenster vielleicht?“
Womit um alles in der Welt hatte Mutter das arme Tier gefüttert?
Während Cam gluckste und aufstand, um hoffentlich ein Fenster zu öffnen, fächelte sich Mutter energisch Luft zu. „Ich frage mich, wo sich dieser freche Welpe immer herumtreibt?“
Malcolm kniff sich die Nase zu und fragte sich, ob es möglich war, an Kopfschmerzen zu sterben. „Das kann ich dir auch nicht sagen“, brachte er hervor, während betreffender Welpe sein inzwischen beachtliches Gewicht noch stärker auf seine Zehen verlagerte.
Glücklicherweise verflüchtigte sich der Gestank durch das geöffnete Fenster in der Sommerbrise und Malcolm atmete erleichtert aus, während er versuchte, seine Emotionen zu ordnen.
„Mutter, ich verstehe, dass du das Gefühl haben möchtest, ein Mitspracherecht bei der Leitung von Forbes Farm zu haben, aber …“
„Ganz und gar nicht!“ Ihren beleidigter Tonfall ließ Malcolm aufblicken. Sie klappte ihren Fächer zu und setzte sich auf. „Ich bin stolz auf dich, Malcolm, Junge! Als Bastard geboren und so viele Jahre vernachlässigt. Aber als dein Vater dich kennenlernte, erkannte er dein Potenzial und schickte dich zur Schule. Und jetzt sieh dich an!“ Ihre ausladende Geste deutete auf den Schreibtisch, das Arbeitszimmer und sogar die Felder jenseits des Fensters. „Dieses Anwesen hat nichts als Verluste gebracht, als er dich zum Verwalter ernannte, und du hast es zu etwas Großem aufgebaut. Etwas, auf das man stolz sein kann.“
Malcolm ballte die Hand, die auf seinem Bein lag, zur Faust. „Forbes Farm gehört mir nicht.“
„Nein, sie gehört deinem Vater – nun, jetzt wohl deinem Bruder, möchte ich annehmen.“ Mutters Schnauben legte sich ein wenig, als sie sich kleinlaut wieder in den Sessel sinken ließ. „Uns allen war klar, dass das junge Mädchen, das er geheiratet hat, ihm einen Sohn gebären würde, nicht wahr? Und jetzt ist er der neue Earl und hat die Verantwortung für dieses Anwesen. Aber du bist der Verwalter, genau wie du es für seinen Vater warst.“
Egal, wie oft er dieses Argument hörte, es wurde nicht leichter zu ertragen. Sein Vater – dieses tyrannische, gefühllose Arschloch, das mit einem Mädchen aus dem Ort einen Bastard gezeugt und sie prompt im Stich gelassen hatte, bis er zur Einsicht gelangt war, dass dieser Sohn vielleicht nützlich sein könnte, war tot. Malcolm hatte nie viel von seinem Vater erwartet, aber er war nicht einmal sein Erbe.
Nein, das war ein junger Bursche, den er nie kennengelernt hatte, dank der jungen Dame, die Thomas Forbes neun Jahre zuvor geheiratet hatte.
Lady Violet Stanley Forbes.
Früher einmal seine Violet.
Die Miene seiner Mutter wurde sanfter. „Malcolm, das ist mehr, als ich mir je für dich erhofft habe.“
Aber deutlich weniger, als er sich selbst erhofft hatte.
Unter seinem Schreibtisch bewegte sich Tilly erneut und stieß ein leises Zischen aus, von dem er hoffte, dass es keine erneute Flatulenz war.
Die Brise, die durch das Fenster wehte, traf kühl auf seine linke Gesichtshälfte und Malcolm war überrascht, als er bemerkte, wie wütend ihn das Thema gemacht hatte. Seine Kopfschmerzen flammten wieder pochend auf und es war wenig hilfreich, daran erinnert zu werden, dass Forbes Farm – der Ort, in den er in den letzten zehn Jahren Schweiß und Blut gesteckt hatte – niemals ihm gehören würde.
Dazu kam der Hund, der erneut den Duft von warmer Scheiße mit einer Note von altem Fisch und faulen Eiern verbreitete.
Er bemühte sich, seine Miene neutral zu halten, und griff nach dem nächsten Brief aus dem Stapel matschiger Post. Dieser war mit einem Stempel aus Aberdeen versehen und als er ihn umdrehte, erstarrte er.
Wenn man vom Teufel spricht.
Er würde diese Handschrift überall wiedererkennen, auch wenn die Tinte durch den Sabber ein wenig verschmiert war. Schließlich hatte er sie in den letzten neun Jahren mehrmals im Jahr auf all den ignorierten Einladungen und Briefen gesehen. Seit dem Tod seines Vaters sogar noch häufiger und in den langen Monaten, in denen Malcolm ihr selbst den Hof gemacht hatte, fast täglich.
Lady Violet Stanley Forbes.
Countess Hatwaring.
Seine Stiefmutter.
Es war Jahre her, dass er einen ihrer Briefe geöffnet hatte. Nach dem Tod seines Vaters – ihres Mannes – hatten sie sich gehäuft und die Versuchung war sehr groß gewesen, aber er wusste, dass sie wahrscheinlich nichts weiter enthielten als noch mehr Herzschmerz, noch mehr Mitleid.
Sie hatte ihre Wahl vor neun Jahren getroffen.
Sie hatte einen Titel ihm vorgezogen. Sie hatte sich entschieden, eine Countess zu sein, den Sohn eines Earls zu gebären, anstatt die Frau eines schottischen Bastards zu werden.
Unwillkürlich ballte er die Hand zur Faust und zerdrückte damit den feuchten Umschlag.
„Colm?“, fragte Cam leise vom Fenster aus. „Willst du vielleicht, dass ich ihn öffne?“
Malcolms wütender Blick schnellte zu seinem Freund, der ihn mit seinen blauen Augen betrachtete, in denen etwas zu erkennen war, das vielleicht Mitleid sein mochte. Jedenfalls war es genug, um Malcolms Missfallen zu erregen. „Warum?“, schnauzte er.
Cam zuckte mit den Schultern. „Ich habe den Poststempel gesehen“, sagte er leise, so leise, dass seine Mutter es vielleicht nicht einmal gehört hatte.
Aber Malcolm wollte verdammt sein, wenn er seinen besten Freund sehen ließe, wie sehr ihm ihre Briefe nahegingen. Die Kopfschmerzen konnte er ignorieren. Gleiches galt für die Tatsache, dass er nie Herr seines eigenen Hauses sein würde. Er konnte auch die sabbernde, furzende Bestie ignorieren, die selbst jetzt noch auf seinen Lederstiefeln hockte.
Aber das hier ließ sich nicht so einfach ignorieren.
Mit einem Knurren schlitzte er den Umschlag mit dem Daumen auf und riss die einzelne gefaltete Seite heraus.
Mr. Forbes,
Sie haben sehr deutlich gemacht, dass Sie nichts mit mir zu tun haben wollen oder mit dem, was ich Ihnen anbieten könnte. Meine Briefe der letzten Monate sind unbeantwortet geblieben, wie schon so viele zuvor. Ich habe keinerlei Grund zu glauben, dass Sie sie nicht ungelesen ins Feuer oder in den Papierkorb werfen.
Daher gehe ich auch nicht davon aus, dass Sie dieses Schreiben lesen werden.
Aber das Taktgefühl gebietet mir, es noch einmal zu versuchen, sodass Sie dies vielleicht direkt von mir und nicht von den Anwälten erfahren, wenn diese am ersten des nächsten Monats auf Forbes Farm eintreffen.
Wie ich in früheren Briefen – falls Sie sie gelesen haben – gewarnt habe, hatte ich seit dem Tod Ihres Vaters Schwierigkeiten. Ich bin nicht in der Lage, ein solches Imperium im Namen meines Sohnes, des Erben Ihres Vaters, zu verwalten. Als neuer Earl gehören Forbes Farm und die umliegenden Ländereien ihm, aber ich muss sie verwalten.
Das vermag ich nicht.
Wie Sie also gewarnt wurden, wenn Sie diese törichten Briefe gelesen haben, werde ich Forbes Farm verkaufen.
Ihnen und Ihrer Mutter wird, wenn Sie es wünschen, in Anerkennung Ihrer Dienste für die Earls of Hatwaring eine Pension gewährt. Ich nehme natürlich an, dass Sie das nicht erfahren und auch keinen Antrag stellen werden, wenn Sie diese Worte nicht lesen.
Ich werde mich vermutlich den Rest meiner Tage fragen, was ich Ihnen hätte geben können, um Wiedergutmachung zu erreichen, wenn Sie mein Schreiben nicht lesen.
Ebenso wie in meinen früheren Briefen, möchte ich folgendermaßen verbleiben: Es tut mir leid, dass ich nie genug für Sie war.
Violet
Malcolms Puls pochte in seinen Ohren und er bemerkte erst jetzt, dass er den Brief langsam in seiner Faust zerdrückt hatte. Seine Brust hob und senkte sich schwer.
„Colm?“ Die Stimme seines Freundes schien von weit her zu kommen, aber Malcolm konnte sich nicht auf sie konzentrieren.
Vor seinen Augen schwebten die Worte: Es tut mir leid und Violet.
Wiedergutmachung? Sie wollte ihm etwas über Wiedergutmachung erzählen?
Sie, die einen Adeligen ihm vorgezogen hatte, die sich sogar jetzt noch darüber beklagte, das „Imperium“ dieses Adeligen für ihren verwöhnten Sohn verwalten zu müssen?
Und sie wollte ihm eine Wiedergutmachung anbieten?
Ich werde mich vermutlich den Rest meiner Tage fragen, was ich Ihnen hätte geben können …
Alles! Sie hätte ihm alles geben können – alles geben sollen, so wie er bereit gewesen war, ihr alles zu geben!
Und er sollte eine Pension als Entschädigung akzeptieren, um ihr das Gewissen zu erleichtern, sein dreimal verfluchtes Zuhause verkauft zu haben?
„Malcolm? Liebling?“
Langsam hob er den Blick und bemerkte, dass seine Mutter vor dem Schreibtisch stand. Den Fächer hielt sie regungslos in der Hand und sie trug einen besorgten Gesichtsausdruck.
„Sie verkauft Forbes Farm“, brachte er mit einiger Mühe hervor.
Als sich die Augen seiner Mutter weiteten, wusste er, dass er sie nicht mit diesem Wissen hätte belasten dürfen.
„Wer? Die Countess?“, fragte sie mit hoher Stimme. „Oh nein! Das hier ist doch unser Haus! Thomas hat dich damit beauftragt, es für ihn zu verwalten! Das war seine Art, für dich zu sorgen – und für mich! Das siehst du doch auch so?“
Langsam schüttelte Malcolm den Kopf. So hatte er seinen Vater nie gesehen, denn er bezweifelte ernsthaft, dass der Mann zu so etwas wie Mitgefühl fähig war. Aber Malcolms Dienst hier hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass Rhona einen Ort hatte, an dem sie in Frieden alt werden konnte.
Und dies wollte die Witwe des Earls ihnen beiden nun entreißen.
Er verfluchte sich selbst, rollte den Brief von Violet – nein, von Countess Hatwaring – zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Wie viele andere Briefe von ihr waren dort schon ungelesen gelandet? Wie viele hatte sie ihm geschickt, um ihn vor diesem Vorhaben zu warnen?
Wenn niemand ihn dazu gebracht hätte, diesen zu öffnen, wäre er nächsten Monat überrascht worden, wenn die Anwälte vor seiner Haustür erschienen, um ihn und seine Mutter aus ihrem Zuhause zu entfernen.
Der sorgenvolle Blick seiner Mutter traf die Entscheidung für ihn.
„Sie wird es dir – uns – nicht wegnehmen“, schwor er ihr. „Das ist unser Zuhause, das Zuhause, für das ich bis auf die Knochen geschuftet habe.“
Cam räusperte sich. „Könnt ihr es ihr abkaufen?“
Sie hatte tatsächlich erwähnt, dass sie es verkaufen wollte …
Aber nein.
„Jeder Penny, den das Anwesen eingebracht hat, ist wieder in das Landgut hineingeflossen.“ Vielleicht hätte er sich all die Jahre doch ein Gehalt auszahlen lassen sollen. Aber wenn er das getan hätte, wäre das Anwesen nie aufgeblüht.
Das war sein Verdienst und dieser Ort gehörte ihm. Die Witwe des Earls konnte ihm das nicht nehmen.
Er hatte zwei Wochen Zeit, bevor ihre Anwälte hier eintrafen.
Die Entscheidung war gefallen. Er schob sich Tilly von den Füßen und stand auf, wobei er das irritierte Kläffen des Hundes und den üblen Gestank ignorierte. Malcolm nickte seinem Freund entschlossen zu. „Es war wie immer ein Vergnügen, dich hier zu haben, aber jetzt verschwinde und lass dir Zeit, bis du zurückkommst.“ Nachdem Cam seine Bemerkung mit einem Grinsen und einem Salut quittiert hatte, wandte sich Malcolm an seine Mutter. „Eines der Dienstmädchen soll meine Koffer packen. Ich reise gleich morgen früh nach Hatwaring.“
Die kleine Frau richtete sich auf. „Tilly und ich werden dich begleiten.“
„Nein, das werdet ihr nicht.“ Er wollte verdammt sein, bevor er mit diesem stinkenden, mopsnasigen Knäuel ein Zugabteil teilte. Doch Tilly wählte eben jenen Moment, um sich neben Mutter niederzulassen, die dies offenbar als Unterstützung auffasste. Sie reckte trotzig das Kinn vor und nickte entschlossen. „Und ob wir das werden, Malcolm. Das hier ist genauso unser Zuhause wie deines und wir werden mit allem, was wir haben, in die Schlacht ziehen.“
Nun vielleicht …
Malcolm musterte die beiden und fragte sich, ob ein stinkender, sabbernder Hund und die Ex-Geliebte ihres Mannes Violet nicht vielleicht doch davon überzeugen könnten, das Grundstück zu behalten.
Vielleicht würde sie dieser Schachzug so verwirren, dass sie allem zustimmte.
Jetzt konnte er nur hoffen, dass es keine ähnliche Wirkung auf ihn hätte, sie nach so langer Zeit zum ersten Mal wiederzusehen.
Sie versucht, ohne Vorwarnung dein eigenes Haus zu verkaufen!
Nun, sie hat versucht, mich zu warnen …
Jetzt ist nicht die Zeit für Logik, Mann! Bleib wütend auf die verschrumpfte böse Hexe!
Verschrumpfte böse Hexe?
Richard der Dritte, erster Aufzug, dritte Szene.
Verdammt nochmal …!
Selbst sein Unterbewusstsein konnte sich besser ausdrücken als er selbst!
So ein Mist! Er hob den Kopf und blickte sie alle der Reihe nach an, sogar den verfluchten Hund. „Wir gehen nach Hatwaring. Um für unser Zuhause zu kämpfen.“
Selbst wenn das hieß, der Frau gegenüberzutreten, von der er vermutete, dass er sie immer noch liebte.
Zeus stehe ihm bei.