Leseprobe Winter auf Schwedisch

Kapitel 1 – Fabian

15. Dezember

Fabian dachte nach. Allerdings nur kurz. Dann nickte er. „Einverstanden. Einen Geländewagen nach Skandinavien zu fahren und einige Wochen den Chauffeur zu spielen, hört sich nach einem entspannten Übergangsjob an.“

„Finde ich auch! Außerdem hast du auf dem Grundstück deines Arbeitgebers eine schnuckelige Mini-Hütte zur Verfügung. Klingt das nicht beinahe wie Urlaub?“. Seine ehemalige Klassenkameradin Denise lächelte ihn von der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches aus an. „Bestimmt wirst du am Ende der Welt ausreichend Gelegenheit haben, im Internet nach einer passenden Stelle für die Zukunft zu suchen. Immerhin ist es in Mittelschweden zu dieser Jahreszeit nur für wenige Stunden am Tag halbwegs hell und davon abgesehen ist dort der Hund begraben. Natürlich werde ich mich ebenfalls für dich umhören.“

Durch ihren um Zustimmung heischenden Blick fühlte sich Fabian genötigt, ein beifälliges Brummen von sich zu geben. Gedankenverloren ließ er den Blick durch das Büro der Zeitarbeitsfirma gleiten.

Denise und er kannten sich noch aus der Oberstufe des Gymnasiums und obwohl sie sich in den vergangenen zehn Jahren nur sporadisch über den Weg gelaufen waren, war sie ihm nach der Kündigung als Erste in den Sinn gekommen. Sofort nach dem unerfreulichen Gespräch mit dem Firmenchef, der Fabian aufgrund der schwächelnden Weltkonjunktur und der daraus resultierenden schlechten Auftragslage entlassen musste, war er deshalb in die Stuttgarter Innenstadt gefahren und hatte sie aufgesucht.

Mitten in seine Gedanken hinein räusperte sich Denise, brachte ihre Brille in Stellung und rückte näher an den PC heran. „Ich schlage vor, wir machen uns gleich an die Formalitäten. Gut, dass du sofort zu mir gekommen bist.“

Während ihre Finger über die Tastatur sausten, versuchte er, sich auf ihre Fragen zu konzentrieren.

Eine Kündigung hatte Fabian bis zu diesem Tag nie erhalten und obwohl er nachvollziehen konnte, dass er als neuer Mitarbeiter und kinderloser Single zu den ersten gehörte, die dem Sozialplan zum Opfer fielen, wurmte ihn der Verlust seines Arbeitsplatzes. Zwar war die Stelle als Manager für grenzüberschreitende Aktivitäten und Standardisierungen in dem mittelständischen Maschinenbauunternehmen aufgrund der mauen Wirtschaftslage nicht sonderlich herausfordernd gewesen, seine Pläne durchkreuzte die kurzfristige Freistellung unmittelbar vor Weihnachten dennoch.

Trotzdem hatte er sein inneres Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden, als er den von Denise ausgedruckten Zeitarbeitsvertrag unterschrieb.

Hartmann Industries ist ein international tätiges Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien. Soweit ich weiß, verbringt der Inhaber die Weihnachtszeit regelmäßig in Schweden. Und da der festangestellte Chauffeur krankheitsbedingt ausfällt, suchen sie für sechs Wochen einen Ersatzfahrer, der den nagelneuen Geländewagen mit der Sonderausstattung nach Jämtland und Ende Januar wieder zurück nach Baden-Württemberg kutschiert.“

Gedankenverloren schob Fabian Stift und Papier zu Denise hinüber.

„Wichtig ist, dass du nach deiner Ankunft in Südschweden als Erstes hier stoppst.“ Eindringlich wedelte sie mit einem Zettel vor seinem Gesicht herum.

Das knatternde Geräusch holte Fabian endgültig in die Realität zurück. Er nickte gehorsam.

„Stärkere Scheinwerfer sind bereits eingebaut, aber zusätzlich werden die deutschen Winterreifen für sechs Wochen in der Werkstatt in Helsingborg eingelagert und gegen schwedische getauscht, die besser für Eis und Schnee geeignet sind.“

Er versprach, den Reifenwechsel einzuplanen und bedankte sich bei Denise für ihre Hilfe.

Das Packen seiner Habseligkeiten sowie die Übernahme des Geländewagens in der Firmenzentrale von Hartmann Industries im benachbarten Böblingen waren binnen weniger Stunden erledigt und so schickte Fabian abends kurze Nachrichten an seine Eltern und Brüder, damit ihn niemand vermisste. Außerdem bat er seinen besten Freund per WhatsApp, ihn beim alljährlichen Jahrgangsstufentreffen am 22. Dezember zu entschuldigen.

Die Weihnachtstage mit seiner Familie und das Wiedersehen mit den alten Kumpels zu verpassen, bedauerte Fabian zwar, andererseits verspürte er wenig Lust, mit allen, die ihm nahestanden, seine Kündigung zu diskutieren, bevor er eine neue Anstellung vorweisen konnte.

Bei einem Blick aus dem Fenster erschien es ihm beinahe verlockend, dem deutschen Schmuddelwetter für eine Weile zu entfliehen. Warum sollte er seinem angekratzten Ego nicht eine kleine Verschnaufpause gönnen? Weiße Weihnachten unter Polarlichtern waren sicher eine Erfahrung wert – besonders bei wenig in Aussicht stehender Arbeit und guter Entlohnung. Hatte Denise nicht gesagt, sein Interims-Arbeitgeber mache in Schweden hauptsächlich Urlaub? Das ließ Fabian hoffen, er würde genug Freizeit haben, um die Natur zu genießen und Bewerbungen zu schreiben.

Kapitel 2 – Fabian

18. Dezember

Als Fabian am dritten Reisetag in Malung, etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Stockholm, aufbrach, folgte er zunächst der E45 Richtung Norden. Erst nachdem die Region um den See Storsjön hinter ihm lag, verließ er nördlich von Hammerdal die gut ausgeschilderte Europastraße in westlicher Richtung. Während er durch das schwedische Winterwunderland fuhr, lernte er die nordischen Winterreifen zu schätzen, die auf den glatten und verschneiten Straßen deutlich mehr Halt boten als die mitteleuropäischen, die in Helsingborg eingelagert worden waren.

Als sich seine Reise dem Ziel näherte, staunte er über die Einsamkeit und Weite abseits der Hauptrouten. Sobald die tiefstehende Dezembersonne ihre morgendliche Kraft entfaltete, klappte Fabian blinzelnd die Blenden herunter und angelte, wann immer die Straße von der nördlichen Richtung abwich, mit tränenden Augen nach seiner Sonnenbrille.

Inmitten der verschneiten Landschaft stachen die roten, weißen und gelben Holzhäuser wie überdimensionale Farbklekse aus dem winterlichen Weiß hervor. Mit ihren schneebedeckten Dächern fügten sie sich jedoch harmonisch ins Gesamtbild ein. Einsame Briefkästen am Straßenrand und scheinbar ins Nirgendwo führende Nebenwege wiesen auf versteckt liegende Gehöfte hin. Die Anzahl der Gebäude und Briefkästen nahm indessen kontinuierlich ab, je weiter Fabian in die Mitte des Landes vordrang. Außerdem wurde die Umgebung während des letzten Reiseabschnitts zusehends hügeliger.

Im Internet hatte er gelesen, dass es zur Zeit der Wintersonnenwende in der schwedischen Hauptstadt nur etwa sechs Stunden am Tag hell sei. Und sein Ziel lag noch um einiges näher am Polarkreis!

Fabian hatte deshalb für die nördlichste Teilstrecke die wenigsten Kilometer eingeplant, um spätestens in der Dämmerung bei seinem vorübergehenden Arbeitgeber, Jo Hartmann, einzutreffen. Zumal es dessen Grundstück in der Provinz Jämtland zuerst zu finden galt.

Während der letzten Etappe spürte er eine kribbelige Vorfreude in sich aufsteigen. Nicht nur, dass das Ende seiner dreitägigen Reise in greifbare Nähe rückte: Der Schnee auf Wiesen und Feldern, Bäumen und Dächern versetzte Fabian zunehmend in Weihnachtsstimmung. Angesichts der winterlichen Landschaft begann er, sich auf die bevorstehenden Feiertage zu freuen. Auch wenn er Weihnachten aufgrund seines Singledaseins gewöhnlich mit seinen Eltern, Brüdern und deren Familien in Stuttgart feierte, bereute er seine Entscheidung für den Aushilfsjob fern der Heimat bisher nicht. Im Gegenteil: Das Fest und den Jahreswechsel in dieser wunderschönen Region zu verbringen und möglicherweise Elchen und Rentieren zu begegnen, die er bisher nur aus Zoos und von Bildern kannte, erschien ihm sehr inspirierend. Am meisten jedoch sehnte Fabian den Anblick der berühmten Nordlichter herbei. Die Reise in die Nähe des Polarkreises erschien ihm bereits jetzt wie eine Expedition ins Ungewisse und selbst der Gedanke, die Weihnachtszeit mit Wildfremden zu verbringen, schreckte ihn nicht. Da er im kommenden Jahr ohnehin einen beruflichen Neuanfang wagen musste, konnte er ebenso gut gleich damit beginnen, sein Leben umzukrempeln.

Tief in Gedanken versunken lenkte Fabian das Auto seines neuen Arbeitgebers auf eine sanft ansteigende Schotterpiste, die laut Wegbeschreibung direkt zum Anwesen führen sollte. Schon seit einer Weile hatte er keine anderen Häuser mehr gesehen. Hier sagten sich definitiv Fuchs und Hase ‚Gute Nacht‘ – oder vielleicht sogar Wolf und Bär.

Gerade als Fabian darüber philosophierte, sah er in geringer Entfernung ein riesiges Tier auf einer verschneiten Freifläche stehen. Unwillkürlich drosselte er die Geschwindigkeit. Es war ein Elch: Sein erster in freier Wildbahn! Zwar hatte Fabian innerhalb der sechs Wochen in Jämtland auf eine solche Begegnung gehofft, am ersten Tag jedoch nicht damit gerechnet.

Überraschenderweise schien der Bulle mit dem imposanten Schaufelgeweih den Geländewagen ebenso interessant zu finden wie Fabian ihn. Zumindest folgte er der Bewegung des Fahrzeugs mit seinem mächtigen Kopf. Fabian brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen, öffnete das Fenster und zoomte den Elch mit seiner Handykamera heran. Kurzentschlossen schickte er eines der Fotos an seine Eltern.

Gerne hätte er das Tier länger betrachtet, doch der Bulle hatte das Interesse verloren und schritt majestätisch auf den nahegelegenen Wald zu.

Aufgrund der inzwischen fast waagerecht stehenden Sonnenstrahlen musste Fabian blinzeln. Fast schienen sie sich mit aller Kraft gegen die beginnende Polarnacht aufzubäumen.

Pünktlich zum Einsetzen der Dämmerung näherte er sich einem Abzweig. Vorsichtig bremste er ab, um die leicht verwitterten Holzschilder in Augenschein zu nehmen, die in unterschiedliche Richtungen wiesen. Skogshuggarens Stuga stand auf dem linken, Skogshuggarens Villa auf dem rechten.

Er entschied sich für letzteren Wegweiser, da er sich an das Wort „Villa“ auf der Anfahrtsskizze erinnerte, die man ihm bei Hartmann Industries drei Tage zuvor in die Hand gedrückt hatte. Ein Blick zum Beifahrersitz, wo das Blatt lag, bestätigte seine Vermutung. Was auch immer das lange Wort und Stuga bedeuten mochten, eine Villa passte besser zu seinem Bild von dem Ferienhaus eines reichen Industriellen.

Nur wenige hundert Meter weiter erreichte Fabian schließlich eine idyllische Lichtung mit mehreren verschneiten Gebäuden und hohen Tannen, deren Äste vom Gewicht des Schnees nach unten gedrückt wurden. Er war am Ziel!

Vorsichtig hielt er vor den hell erleuchteten Erdgeschossfenstern eines unerwartet prächtigen Domizils an und stieg aus. Kaum der wohligen Wärme der Sitzheizung entronnen, wurde Fabian von einem Schwall klarer, kalter Winterluft begrüßt. Bei jedem Ausatmen bildete sich eine Nebelwolke vor seinem Mund. Eilig schloss er die Jacke und sah sich um.

Er stand auf einem Platz, um den sich außer dem Haupthaus mehrere Nebengebäude gruppierten. Alle erstrahlten im schwindenden Tageslicht in demselben typisch schwedischen Rotton. Außer Fabian war keine Menschenseele zu sehen. Es herrschte Stille. Lediglich der Schnee unter seinen Schuhen knirschte leise.

Als er die Fahrertür des Geländewagens zuschlug, erschien eine junge Frau auf der zum Wohnhaus gehörenden Veranda. Sie trug Jeans und einen naturfarbenen Strickpullover. Ihre Füße steckten in pelzgefütterten Stiefeln und das lange braune Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten. Während sie die wenigen Stufen zu ihm hinunterstieg, schlüpfte sie in eine Winterjacke. Sie war in seinem Alter und ihm auf den ersten Blick sympathisch.

Hej!“, sagte sie und reichte ihm die Hand. „Ich bin Hanna.“

„Hi! Ich heiße Fabian und bringe deinem Vater das neue Auto.“

„Meinem Vater?“ Die junge Frau runzelte die Stirn.

„Jo Hartmann.“

„Jo Hartmann hat keine Kinder.“

„Oh, sorry.“ Fabian musterte sie peinlich berührt. Das ging ja gut los!

„Du bist also der Aushilfschauffeur.“

„Genau.“

„Na, dann komm mal mit.“

Hanna führte ihn zu einer kleinen Hütte, die neben der ebenfalls rotgestrichenen Mehrfachgarage beinahe wie ein Spielhaus wirkte. Sie drückte die Klinke herunter. „Bitte schön: Dein Reich.“

Neugierig trat Fabian ein. Von einer winzigen Diele mit rundum verlaufender, weißer Holzverkleidung, über der geschmiedete Garderobenhaken angebracht waren und vor der eine hölzerne Truhenbank stand, führten zwei offenstehende Zimmertüren ab. Hinter einer lag das Wohn-Schlafzimmer mit einer weißen Pantryküche, einem gleichfarbigen Tisch mit zwei Stühlen und einem Kiefernbett mit mehreren rotkarierten Kissen darauf, hinter der anderen das hellgeflieste Duschbad. In einer Ecke des Hauptraums standen ein niedriges Bücherregal und ein Sessel aus dunklem Rohrgeflecht, auf dem sich weiße Polster und eine ordentlich zusammengelegte Decke türmten. Auf dem Fußboden aus gebeizten Naturholzdielen lag ein schlichter, beiger Webteppich. Ein schlanker, hoch aufragender Kachelofen bullerte neben dem Sessel vor sich hin.

Auf Fabians Stirn bildeten sich Schweißperlen und der erneute Temperaturwechsel fühlte sich erdrückend an. Schnell streifte er seine Jacke ab und stellte die Winterschuhe auf eine naturfarbene Fußmatte mit der geschwungenen Aufschrift „Välkomna“ direkt neben der Eingangstür.

„Klein, aber fein“, sagte er.

„Klein, aber dein“, erwiderte Hanna lächelnd. „Zumindest für die nächsten Wochen.“ Sie ging hinaus. Bevor sie die Tür schloss, sagte sie: „Richte dich ein und komm anschließend ins Haupthaus. In einer halben Stunde gibt es Essen! Und fahr das Auto bitte in die linke Garage, bevor es wieder anfängt zu schneien! Sie ist nicht verschlossen.“

Pünktlich klopfte Fabian an die weihnachtlich geschmückte Tür des Wohnhauses und öffnete sie vorsichtig.

Im großzügig geschnittenen Eingangsbereich zog er seine nassen Winterschuhe aus, stellte sie auf eine ähnliche Matte wie in seiner Hütte und durchschritt den Flur, der eher einer Halle glich und außer einem weißgetünchten, geschwungenen Treppenaufgang ins Obergeschoss fünf gleichfarbige Zimmertüren aufwies. Jo Hartmanns Ferienhaus entpuppte sich als eine stattliche Immobilie, die in einem ähnlichen Stil wie seine Unterkunft eingerichtet war. Schon in der geräumigen Diele und im Treppenhaus sah Fabian viel Weiß und helles Holz, große Bilderrahmen mit offenbar regionalen Landschaftsaufnahmen und mit leuchtenden Lichterketten gesäumte Sprossenfenster. Die Wände und Decke waren abgesehen von einigen hölzernen Stützbalken ebenfalls weißgestrichen. Die augenscheinlich alten Bodendielen hatte man naturfarben gebeizt.

Die erste Tür zu seiner Linken stand als einzige offen. Das Geräusch von klapperndem Geschirr drang heraus und es duftete verführerisch nach Essen.

„Komm rein!“, rief Hanna und Fabian folgte der Aufforderung.

Ein rustikaler Holztisch mit passenden Stühlen und einer Bank, an dem bequem acht Menschen Platz finden konnten, bildete das Zentrum der äußerst geräumigen Küche. Arbeitsflächen und Schränke waren mit gebührendem Abstand an den Außenwänden platziert worden. Auf dem Tisch lag eine mit glitzernden Schneeflocken verzierte Decke. In mehreren Leuchtern brannten Kerzen. Gedeckt hatte Hanna für zwei.

„Setz dich“, sagte sie und machte eine einladende Handbewegung. „Ich habe für uns gekocht und hoffe, du hast Hunger.“ Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Vielen Dank. Den habe ich tatsächlich. Aber wo sind denn die anderen?“, fragte Fabian.

„Welche anderen?“

„Na, die Angestellten. Sofern Jo Hartmann selbst nicht mit dem niederen Volk isst …“

Für einen Moment betrachtete Hanna ihn mit ausdrucksloser Miene, dann erwiderte sie: „Alva und Olof Gunnarsson, die Verwalter, wohnen etwas abseits. Sie essen nie hier, aber manchmal laden sie mich zu sich ein. Der Gärtner kommt von außerhalb, wenn seine Dienste benötigt werden. Tobi, der festangestellte Chauffeur, hatte einen Unfall, weshalb du eingesprungen bist und ich bin hier …“, sie zögerte kurz, „… das Mädchen für alles“, fügte sie schließlich hinzu.

„Aha“, sagte Fabian. Unschlüssig stand er in der gemütlichen Küche herum. Das altmodische Wort heimelig kam ihm in den Sinn. „Brauchst du Hilfe, Mädchen für alles? Kann ich mich irgendwie nützlich machen?“

„In diesem Moment nicht. Danke. Aber in den nächsten Wochen werden wir sicher einige Aufgaben für dich finden.“ Ein feines Lächeln umspielte Hannas Lippen. „Gleich morgen sollten wir zum Beispiel Einkaufen fahren.“

„Natürlich, dafür wurde ich ja eingestellt.“

„So ist es.“

Mit zwei gigantischen, zur Tischdecke passenden Handschuhen holte Hanna einen dampfenden Auflauf aus dem Ofen und platzierte ihn mitten auf dem Tisch.

„Das riecht super. Aber bei der Portion sollte man meinen, du erwartest noch weitere Gäste“, stellte Fabian fest. „Hast du ein paar hungrige Bären eingeladen?“

„Bären zu füttern, wäre ein gefährlicher Fehler. Aber einen Elch, der jeden Morgen zum Frühstück vorbeischaut, gibt es hier“, erklärte Hanna mit ernster Miene.

Fabian hielt diese Bemerkung für einen Scherz und ging nicht näher darauf ein. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Beim Anblick des Inhalts der Auflaufform wurde ihm schlagartig klar, wie hungrig er war.

„Weshalb hast du so kurzfristig diesen Job übernommen?“, erkundigte sich Hanna ohne Umschweife, sobald er eine Gabel voll des köstlichen Gerichts probiert hatte. Sie selbst musterte ihn, ohne ihren dampfenden Teller zu beachten.

Er hatte den Eindruck, dass sie erst essen würde, wenn er ihre Frage beantwortet hatte.

Diskretion schien nicht gerade ihre Stärke zu sein.

Fabian zuckte die Schultern. Er hatte nichts zu verbergen.

„Als mein letzter Arbeitgeber in finanzielle Schieflage geriet, wurde ich von einer Stunde auf die andere an die Luft gesetzt, weil ich noch in der Probezeit war.“

„Das ist ärgerlich. Wie kam es dazu?“

„Die Maschinenbaubranche ist generell sehr exportlastig. Als die Weltkonjunktur schwächelte, rutschten wir relativ schnell in die roten Zahlen.“

„Welche Aufgabe hattest du dort?“, wollte Hanna wissen, während sie endlich ebenfalls zu essen begann.

„Ich habe in Mannheim BWL studiert und einen Master im internationalen Management gemacht. Mein Fokus liegt auf der globalen Perspektive.“

„Interessant. Welche Sprachen sprichst du?“

„Deutsch, Englisch und Spanisch. Einen Teil meines Studiums habe ich in Madrid absolviert.“

Hanna musterte ihn erneut. „Wie geht es dir nach der Kündigung?“

„Ich kann es verkraften. Der Job entpuppte sich als weniger attraktiv als gedacht. Vermutlich hätte ich mir über kurz oder lang sowieso etwas Anspruchsvolleres gesucht.“

Sie nickte. „Und in welcher Region oder welchem Land möchtest du leben?“

„Zuletzt habe ich in Stuttgart in der Nähe meiner Familie gewohnt. Dort habe ich vor elf Jahren auch mein Abi gemacht. Aber was den Ort angeht, bin ich flexibel. Ich habe meinen Laptop dabei und werde in meiner Freizeit auf die Suche nach einer neuen Stelle gehen.“

„Wenn du eine anspruchsvolle, international ausgerichtete Arbeit suchst, schick eine Initiativbewerbung an Hartmann Industries. Die erneuerbaren Energien sind eine zukunftsträchtige Branche und gute Leute bekommen immer eine Chance“, schlug Hanna vor. „Falls es klappt, müsstest du nicht einmal umziehen. Stuttgart und Böblingen liegen ja nur wenige Kilometer voneinander entfernt.“

Ihr ernsthafter Gesichtsausdruck amüsierte Fabian.

„Ich arbeite doch bereits für Hartmann Industries.“

„Als Aushilfsfahrer. Sobald Tobi wieder fit ist, bist du den Job los. Schick deinen Lebenslauf, deine Zeugnisse und das Anschreiben einfach per Mail an Dieter Kunze, er managt das Personal.“

„Du scheinst dich ja bestens auszukennen.“

Hanna lachte, erwiderte aber nichts.

„Wie lange arbeitest du schon für Jo Hartmann?“, hakte Fabian nach.

„Ich habe noch nirgends anders gearbeitet als bei Hartmann Industries.“

Er musterte Hanna eindringlich und kam zu dem Schluss, sie könne, trotz der Ernsthaftigkeit, die sie ausstrahlte, höchstens Mitte bis Ende Zwanzig sein. „Willst du nicht irgendwann wechseln? Flexibilität ist heutzutage extrem wichtig.“

„Nein, das kommt für mich nicht in Frage.“

Ihre feste Stimme und der kompromisslose Blick ließen in Fabian einen Verdacht aufkeimen.

„Du hast doch nicht etwa …?“

„Was?“

„Na ja, ich meine … bist du mit dem Chef liiert?“ Verstohlen warf Fabian einen Blick zur Tür, als erwarte er, Jo Hartmann könne in diesem Augenblick die Küche betreten.

Für einen Moment sah Hanna ihn mit großen Augen an.

Was dann folgte, war ein immenser Heiterkeitsausbruch.

Fabian kam sich schlagartig ziemlich albern vor. Er hätte die Frage besser unterdrücken sollen, aber nun war es zu spät.

„Ich bin Single!“, sagte Hanna bestimmt, sobald sie wieder Luft bekam. Und mehr Auskünfte schien sie nicht erteilen zu wollen. Stattdessen bot sie ihm eine zweite Portion an.