Leseprobe Wintercafé der Herzen

1

Lucy

Der würzige Duft von Glühwein zog durch die Luft und vermischte sich mit dem der frischen Tannenzweige in meinen Händen. Ich pflückte einen der Äste aus dem Strauß, platzierte ihn am Dach der Hütte und klammerte ihn mit dem Tacker am Holz fest, sobald ich mit der genauen Position zufrieden war. Dann folgte der nächste Zweig und der übernächste, bis nur noch einer übrig war.

Inzwischen war ich seit mehr als vier Stunden mit dem Aufbau beschäftigt, und langsam nahm meine Bude Form an, wie ich mit einer gewissen Erleichterung feststellte. Den halben Tag hatte ich gewerkelt, gezurrt und getackert, und meine Finger, die in Handschuhen steckten, fühlten sich mittlerweile an wie Eiszapfen. Es war bitterkalt an diesem Tag, und das Schneegestöber wurde immer dichter. Gerade wollte ich die Leiter hinabsteigen, um mir den nächsten Schwung Zweige zu schnappen, als ich aus dem Augenwinkel etwas Weißes auf mich zufliegen sah, erst winzig, doch rasch größer werdend.

Es geschah innerhalb von Sekundenbruchteilen. In dem Augenblick, als ich verstand, dass es sich um einen Schneeball handelte, war es bereits zu spät. Er klatschte mir so hart ins Gesicht, dass ich aufkeuchte und für einen Moment nur noch verschwommen sah. Eiskaltes Wasser rann über meine Wangen und mit den Händen fuhr ich reflexartig zu meinen Augen, die brannten wie Feuer. Ich geriet ins Taumeln.

Ich blinzelte heftig und versuchte verzweifelt, mit einer Hand nach dem Dach der Bude zu greifen, um das Gleichgewicht zu halten, doch meine Finger tasteten ins Leere. Die Leiter unter mir schwankte so sehr nach links, dass sie schließlich wegrutschte.

Mein Magen machte einen Satz, als ich stürzte. Im selben Moment schaffte ich es endlich wieder, meine Lider zu öffnen und sah aus dem Augenwinkel ein paar Kinder auf dem Marktplatz, die erschrocken die Augen aufrissen und dann wegrannten. Unter mir ertönte ein Fluch, den ich jedoch niemandem zuordnen konnte.

Der harte Aufprall, auf den ich mich innerlich einstellte, blieb jedoch aus.

Stattdessen stieß ich mit dem Rücken gegen etwas Weiches. Starke Arme schlossen sich um meine Mitte, eine dunkle Stimme keuchte „Hab dich!“

Gemeinsam stolperten wir zwei Schritte rückwärts, dann fanden wir unser Gleichgewicht wieder und der Mann entließ mich aus seinem Griff. Ich wirbelte herum, blickte in ein Paar grauer Augen, die mich hinter einer schwarzumrandeten Brille aufmerksam musterten. Haselnussbraune Locken lugten unter einer roten Strickmütze hervor, die über und über mit Schnee bedeckt war – wie meine eigene. Mit rasendem Puls starrte ich den Mann an, der mich aufgefangen hatte. Er kam mir vage bekannt vor.

„Alles okay?“, fragte er mit tiefer, leicht atemloser Stimme. Ein schiefes Lächeln formte sich auf seinem Gesicht. Kleine Grübchen erschienen auf seinen Wangen, während sein Atem weißen Dampf in die Luft stieß.

Ich blinzelte. Der Schnee auf meinen Wimpern schmolz langsam, was dazu führte, dass meine Sicht erneut verschwamm. Ungeduldig wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen.

„Ja, ich … ich denke schon.“ Meine Stimme klang viel zittriger als sonst; kein Wunder. Mein Körper hatte noch nicht begriffen, dass ich mir nichts gebrochen hatte – im schlimmsten Fall das Genick.

„Du hast da noch ein wenig …“

Der Fremde deutete auf meine Wange, worauf ich mir hastig den restlichen Schnee aus dem Gesicht rieb. Für einen Augenblick war ich heilfroh, dass ich mich am Morgen nicht geschminkt hatte, sonst hätte ich nun ausgesehen wie ein Waschbär in seiner Emo-Phase.

„Mir geht’s gut“, sagte ich. „Und danke fürs Auffangen.“

„Keine Ursache.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich hätte es schlimmer treffen können, ehrlich gesagt. Sag mal, trinkst du einen Glühwein mit mir? Ich lade dich ein. Ich wollte gerade versuchen, den Kerl da hinten zu überreden, mir einen zu verkaufen, auch wenn er offiziell noch nicht geöffnet hat.“

Er deutete in Richtung einer halbfertigen Bude, deren Besitzer gerade dabei war, Regale im Inneren der Hütte aufzubauen.

„Glühwein?“ Ich lachte zittrig. Mein Herz raste noch immer. „Ich könnte einen vertragen, ja. Aber ich bezweifle, dass irgendjemand hier schon Ware dabeihat.“

„Auch wahr. Warte hier, ich bin gleich wieder da!“

Damit verschwand mein Retter um die Ecke in Richtung Hafengasse. Schmunzelnd blickte ich ihm nach. Ich gab mir noch ein paar Minuten und atmete einige Male tief durch, dann machte ich mich wieder an die Arbeit. Schließlich musste ich fertig werden, die Zeit drängte. In wenigen Tagen sollte der Weihnachtsmarkt eröffnen und pünktlich zum Wochenende wurden große Besucherströme erwartet – wie jedes Jahr. Da ich in meiner Bäckerei auch noch einiges vorzubereiten hatte, wollte ich mit dem Aufbau der Bude so schnell wie möglich fertig werden.

Es dauerte etwa zwanzig Minuten, in denen ich gute Fortschritte machte, da hörte ich den Fremden wieder am Ende der Leiter.

„Hier bin ich wieder! Mein Glühwein-Angebot steht noch!“

„Moment!“, rief ich zurück und brachte rasch den letzten Zweig an. Dann stieg ich lächelnd die Leiter hinab und wischte mir, unten angekommen, mit der behandschuhten Hand ein paar schneenasse blonde Strähnen aus dem Gesicht.

„Du warst also wirklich erfolgreich“, stellte ich fest.

„Klar.“

Er grinste und reichte mir einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit.

„Hätte nicht eher ich dich einladen sollen?“, fragte ich. „Immerhin habe ich es dir zu verdanken, dass ich den Rest des Tages nicht in der Notaufnahme verbringen muss.“

„Ach was.“ Er winkte ab. „Haarspalterei.“

„Na dann. Prost.“ Ich nahm den Becher entgegen, in dem bereits einige Schneeflocken schmolzen, stieß gegen seinen und nippte anschließend vorsichtig daran. Der Glühwein war großartig. Kräftige Noten von Zimt und Nelken vermischten sich mit der feinen Süße von Orangen und Honig, und bereits nach einem Schluck breitete sich eine wohlige Wärme in meinem Magen aus.

Zufrieden ließ ich meinen Blick über das Verkaufshäuschen schweifen. Es war noch früh am Nachmittag, aber ich war heute gut vorangekommen. Inzwischen war meine Bude ordentlich mit den Zweigen dekoriert, nur zwei Seiten fehlten noch. Ich war froh, dass der größte Teil der Aufbauarbeit inzwischen bereits hinter mir lag. So sehr ich den Winter und alles, was dazugehörte, liebte, so sehr sehnte ich mich nach stundenlanger Arbeit in der Kälte in die Wärme meiner Backstube zurück – spätestens seit dem Schneeball-Attentat, von dem mir immer noch das Gesicht brannte.

„Ich bin übrigens Nick“, stellte sich der Mann vor, der mir den Glühwein ausgegeben hatte. Er deutete vage in Richtung der Jakobskirche.

„Mein Stand ist weiter hinten, am Kirchplatz.“

„Lucy.“ Ich lächelte und wandte den Blick von meiner Bude ab. „Du bist zum ersten Mal dabei, oder? Ich habe dich noch nie hier gesehen.“

Erst jetzt betrachtete ich ihn genauer. In den letzten Tagen waren wir uns schon häufiger über den Weg gelaufen, aber beim Aufbauen war jeder mit sich selbst beschäftigt, jeder wollte schnell fertig werden, um für den großen Ansturm am ersten Dezember gewappnet zu sein. Mehr als ein paar kurze höfliche Worte und Begrüßungsfloskeln hatten wir deswegen noch nicht miteinander gewechselt, was schade war, wie ich jetzt feststellte. Nick hatte nicht nur sympathische Grübchen, wenn er lächelte, sondern unter seiner modischen Brille auch wache graue Augen, in denen der Schalk wohnte. Er war fast zwei Köpfe größer als ich, was bei meinen einen Meter sechzig allerdings nicht ungewöhnlich war, und wirkte sportlich – das konnte auch die unförmige Flanelljacke nicht verbergen, die er trug. Ein leichter Bartschatten lag auf seinem kantigen Kiefer, gerade so viel, dass es ein wenig verwegen, doch nicht ungepflegt wirkte. Unwillkürlich überlegte ich, was für Waren er an seinem Stand wohl verkaufte. Seinem Aussehen nach tippte ich auf Kunsthandwerk. Ich beschloss, ihn nicht zu fragen, sondern mich am Sonntag überraschen zu lassen.

„Ja“, sagte er jetzt. „Ich komme eigentlich aus Würzburg. Ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst vor dem, was mich erwartet. Ich habe die wildesten Geschichten gehört.“

Nun musste ich lachen. „Es ist alles halb so schlimm“, versuchte ich, ihn zu trösten. „Die Wochenenden können heftig sein, aber unter der Woche geht es. Warst du denn schon mal als Besucher hier?“

Er schüttelte den Kopf. „Weder auf dem Markt noch in der Stadt selbst.“

„Du warst noch nie in Rothenburg?!“ Gespielt entsetzt schlug ich mir die Hand vor den Mund. „Mein Gott! Und ich dachte immer, diese Menschen wären ein Mythos …“

Er zuckte mit den Schultern und lächelte schief. „Da habe ich wohl echt eine Bildungslücke, oder?“

„O ja, allerdings!“, behauptete ich. „Es hat einen Grund, dass die Leute aus aller Welt hierherkommen, um Urlaub zu machen.“

„Na ja, ich habe ja die nächsten paar Wochen Zeit, um alles nachzuholen, was ich verpasst habe.“ Seine Augen hinter der Brille funkelten. „Wo soll ich anfangen, was würdest du mir empfehlen? Mit zwei Litern Wein die Stadt retten?“ Grinsend wedelte er mit dem Becher in seiner Hand.

Ich verstand die Anspielung auf Georg Nusch. Die Legende darüber, wie der damalige Bürgermeister im Dreißigjährigen Krieg durch das Trinken von Wein die Stadt vor einem Einmarsch der Schweden bewahrt hat, kannten wohl auch die Leute, die nie hier gewesen waren. Ich schüttelte den Kopf, musste jedoch lachen. „Es waren dreieinhalb Liter“, belehrte ich ihn. „Und nein. Glaub mir, die Stadt hat mehr zu bieten als den Meistertrunk. Auch wenn die Aufführungen wirklich cool sind und du sie dir unbedingt mal ansehen solltest.“

Ich nippte erneut an meinem Becher. Der Inhalt war schon fast kalt, obwohl erst wenige Minuten verstrichen waren. Es schneite allerdings auch so heftig, dass vermutlich die Hälfte der Flüssigkeit in meiner Tasse inzwischen aus geschmolzenen Schneeflocken bestand.

„Also, du solltest auf jeden Fall …“, setzte ich an, doch dann stockte ich. Kurz überlegte ich, bevor mir eine Idee kam. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Weißt du was?“, fragte ich. „Rothenburg kann man eigentlich nicht beschreiben, die Stadt muss man erleben. Und ich kenne sie in- und auswendig. Wenn du Lust hast, gebe ich dir eine Führung. Als Dankeschön für deine Rettungsaktion, wenn du so willst.“

„Ein Dankeschön ist zwar nicht nötig, aber ich würde total gern. Allerdings kann ich hier nicht weg, ich muss noch ein paar Stunden durchhalten.“

„Ist nicht so schlimm, ich sollte ohnehin zurück in meinen Laden“, sagte ich und trank den letzten Schluck, der inzwischen bereits eiskalt war und fast nur noch nach Wasser schmeckte. „Wie wäre es mit morgen Mittag? Als kleine Pause für dich, als Belohnung für mich. Bis dahin bin ich nämlich hoffentlich hier fertig.“

„Ich würde mich freuen.“ Er nahm mir den leeren Becher ab und wandte sich zum Gehen. „Dann bis morgen, Lucy.“

Ich winkte ihm nach, während er wieder in Richtung Kirchplatz lief. Die Schneeflocken wirbelten durch die Luft und es dauerte nicht lange, bis Nick hinter dem weißen Schleier verschwunden war. Unwillkürlich musste ich lächeln. Er war nett. Wer hätte gedacht, dass die mühselige Zeit des Standaufbaus noch eine solche Wendung nehmen würde?

Ich gab mir einen Augenblick, bevor ich mich wieder zu meiner Bude umdrehte und seufzte. Für heute reichte es, der Rest würde bis morgen warten müssen. Meine Fingerspitzen waren trotz der Handschuhe und des Glühweins halb erfroren, außerdem arbeitete Akiko nur halbtags im Laden und wollte bald Feierabend machen. Bis dahin musste ich zurück sein.

Ich brachte schnell alles in Ordnung und packte meine Tasche, bevor ich mich schließlich an den Rückweg machte.

2

Nick

Mit gefrorenen Fingern versuchte ich, mein laut bimmelndes Handy aus der Jackentasche zu bekommen. Es gestaltete sich schwieriger als gedacht. Mein Anrufer war jedoch zum Glück hartnäckig, was nur zwei Schlüsse zuließ: Es war entweder Charlie oder Anton. Jeder andere hätte längst aufgegeben.

Endlich bekam ich mein Telefon zu fassen und konnte einen Blick auf das Display werfen. Schnell drückte ich die Annehmen-Taste.

„Nick?“, ertönte es aus dem Hörer. „Bist du da?“

„Ich bin da“, sagte ich.

„Das rauscht hier so komisch, kannst du mich hören?“

„Das liegt am Wetter“, erklärte ich. Noch immer schneite es wie verrückt, in der letzten Stunde war jedoch auch noch ein scheußlicher beißender Wind hinzugekommen. Selbst ich nahm wahr, wie er durch mein Handy pfiff, und stellte mich näher an meine Bude. „Ist es so besser?“

Anton lachte. „Du hast dir echt ein Scheißwetter ausgesucht für den Job.“

Ich schnaubte. Als hätte ich mir das selbst ausgesucht. Anton hätte auch Jan damit beauftragen können, den Stand aufzubauen, immerhin war ich für Organisatorisches nach Rothenburg gekommen und nicht, um auf dem Markt zu arbeiten. Aber er stand auf Machtspielchen, das wusste ich. Es war nichts Neues, dass Anton spontan seine Pläne änderte, und wenn ich den Job in der neuen Filiale haben wollte, spielte ich das Spiel besser mit. Immerhin waren es nur noch ein paar Tage und wenn es erst so weit wäre, würde ich meine Ruhe vor ihm und seinen Launen haben. Er blieb in Würzburg und würde vermutlich nur alle paar Wochen mal nach Rothenburg kommen, um zu sehen, wie es in der neuen Niederlassung lief. Ich konnte es kaum erwarten.

„Hör mal, eigentlich wollte ich das selbst machen, aber ich schaffe es nicht“, erklärte Anton. „Ich stecke im Stau. Jetzt ist die eine Baustelle auf der A7 endlich fertig, schon machen diese Idioten die nächste auf. Hier ist alles verstopft.“ Er stieß einen Fluch aus. „Das Navi sagt, ich hänge hier noch mindestens eine halbe Stunde lang fest, der Termin ist aber schon um drei. Kannst du den vielleicht für mich wahrnehmen?“

„Um was geht es denn?“, hakte ich nach.

„Ein Termin beim Gewerbeamt.“ Nun klang er ungeduldig. Ich konnte seine Finger auf das Lenkrad trommeln hören. „Wegen der Eröffnung. Nur ein paar Unterschriften und Formulare, das kannst du auch machen. Geht das? Du kannst doch lesen, oder?“

Ich verkniff mir eine bissige Erwiderung und warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits halb drei. Eigentlich hatte ich noch bis vier am Stand arbeiten wollen, bei dem Wetter hatte ich allerdings nichts dagegen, heute früher aufzuhören.

„Klar, das kann ich machen“, sagte ich deshalb.

„Guter Junge. Ich sollte gegen vier hier sein, dann treffen wir uns. Es gibt noch einiges zu besprechen und für heute Abend habe ich einen Tisch im Reichsküchenmeister reserviert.“

„Heute Abend ist …“, setzte ich an, doch bevor ich weitersprechen konnte, hatte Anton bereits aufgelegt.

***

Zwanzig Minuten später saß ich im Vorraum des Gewerbeamtes und wartete darauf, dass die Ampel über der Tür auf Grün sprang. Außer mir war nur eine weitere Besucherin da. Sie hatte üppige braune Locken, die ihr herzförmiges Gesicht umrahmten, trug ein Kostüm in einem Beerenton und war vollkommen in einen Stapel Unterlagen auf ihrem Schoß vertieft.

Nachdem ich mein Handy einige Minuten lang in den Händen gehalten und auf das schwarze Display gestarrt hatte, gab ich mir schließlich einen Ruck. Es ging nicht anders. Wenn ich wollte, dass sich etwas änderte, musste ich diese letzten paar Wochen noch irgendwie überstehen, danach würde es besser werden. Aber ich durfte Anton jetzt nicht verärgern, denn ich wusste, wie impulsiv er sein konnte und wie schnell er seine Meinung änderte, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte. Er war der größte Sturkopf, den ich kannte, und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, wurde es genau so umgesetzt.

Seufzend wählte ich die Nummer. Es klingelte nur zweimal, bis ein dünnes Stimmchen am anderen Ende ertönte.

„Papa! Weißt du, was ich heute gemacht habe? Wir machen jetzt Zumba im Kindergarten! Marie hat gesagt, dass ich richtig gut darin bin!“

Unwillkürlich musste ich lächeln, auch wenn ich mich gleichzeitig mit einem Mal furchtbar müde fühlte. Charlies Stimme zu hören, war immer wieder wie Urlaub. Wie ein warmer Sommerwind, Balsam für die Seele. Doch sie erinnerte mich gleichzeitig auch schmerzhaft daran, auf wie vieles ich in den vergangenen Jahren verzichtet hatte. Wie viele Fehler ich gemacht habe.

„Das ist ja großartig, mein Schatz“, sagte ich.

„Und ich hab was gemalt! Ich hab dich in der Backstube gemalt, in deinem neuen Laden! Wenn wir uns später sehen, dann zeige ich es dir. Du kannst das Bild in deinem neuen Haus aufhängen, Papa. Dann hast du schon ein Bild für die Wand, aber ich kann dir auch noch ganz viele andere malen. Ich hab auch eins von dem Hund gemalt, den Mama mir kaufen wird!“

Im Hintergrund hörte ich Laura protestieren und obwohl ich lachen musste, bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Das war es, mein Stichwort.

„Hör mal, Schatz, ich weiß, ich habe gesagt, dass wir zwei uns heute einen gemütlichen Abend machen, aber …“ Ich schluckte. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden, weil ich meine Tochter in den vergangenen Jahren und Monaten schon so oft versetzt, sie so oft enttäuscht hatte. Und ich hatte ihr versprochen, es würde besser werden, wenn ich erst die neue Filiale führte, wenn ich in der Nähe war. Und nun war der erste Tag, an dem sie mich in der neuen Stadt besuchen kommen wollte – in der Pension, in der ich mich für die nächsten Wochen eingemietet hatte, denn ich hatte noch immer keine Wohnung gefunden –, und ich musste sie schon wieder versetzen, weil mein Chef andere Pläne für meinen Abend hatte.

„Ich kann heute leider doch nicht“, presste ich unter größter Anstrengung hervor. „Es tut mir wahnsinnig leid, Charlie. Ich mache es wieder gut, versprochen.“

Einen kurzen Moment lang herrschte Stille am anderen Ende. Sie dehnte sich aus, zog sich in die Länge, bis ich es fast nicht mehr aushielt. Dann hörte ich ein zartes „Okay“. Viel zu leise, viel zu distanziert. Ich hatte mich vor ihrem Protest gefürchtet, doch nun stellte ich fest, dass ich diese stille Resignation viel schlimmer fand; als hätte sie bereits mit meiner Absage gerechnet. Als hätte sie es gewusst – weil es eben immer so war. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

„Wir treffen uns an einem anderen Tag, ja?“, versuchte ich es noch einmal. „Ich verspreche es dir. Ich rede später mit meinem Chef und dann können wir einen neuen Termin ausmachen, an einem Tag, an dem ich ganz sicher frei habe, ja?“

„Ja, ist gut“, sagte Charlie. Mit einem Mal klang sie viel zu ernst, viel zu erwachsen für ihre fünf Jahre, und mein Herz wurde ganz schwer. „Ich muss jetzt aufhören. Tschüss, Papa.“

Bevor ich mich richtig verabschieden konnte, war sie bereits weg, und im nächsten Augenblick sprang die Ampel auf Grün und die Tür zum Gewerbeamt flog auf. Eine blonde Frau mit streng zurückgekämmtem Haar erschien in der Tür.

„Sind sie Nicholas Bernauer von Crumb Factory?“, fragte sie. „Dem Schneeballengeschäft in der Oberen Schmiedgasse?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Blick der anderen Besucherin nach oben schoss, dann erhob ich mich. „Ja, der bin ich“, sagte ich und folgte der Frau in das Büro. Während ich auf dem Stuhl gegenüber ihres Schreibtisches Platz nahm, versuchte ich, das scheußliche Gefühl zu verdrängen, das das Telefonat mit Charlie in mir zurückgelassen hatte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Ich würde es wiedergutmachen. Und wenn ich erst eine Wohnung gefunden hätte und in meinem neuen Job angekommen wäre, dann könnte ich meine Tochter endlich so oft treffen, wie ich wollte – ohne dass mir dabei die ganze Zeit Anton im Nacken saß und immer wieder meine Pläne über den Haufen warf.

3

Lucy

Die Tür meines Ladens flog auf und Mayla stürmte herein. Es war später Nachmittag und Akiko hatte sich bereits verabschiedet. In der Stadt war es ruhig, typisch für den November, wenn die Sommertouristen längst abgereist waren und der Weihnachtstourismus noch nicht richtig angelaufen war. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

So hatte ich auch an diesem Nachmittag keine Gäste mehr in der Schneeballmanufaktur. Draußen dämmerte es bereits. Noch immer fielen dicke weiße Flocken vom Himmel, doch hier drin war es wohlig warm. Das Feuer im Kamin knisterte, es duftete nach den frischgebackenen Schneeballen und Puderzucker, und leise Weihnachtsmusik tönte aus den Lautsprechern – „Neon Christmas“ von Mitchell Tenpenny. Ich nutzte die Ruhe, um schon einmal die erste Weihnachtsdeko im Café anzubringen, und hängte gerade Tannengirlanden hinter dem Tresen auf, während Muffin, mein getigerter Kater, auf der Fensterbank schlief und schnarchte.

Nun allerdings riss mich das Hereinplatzen meiner besten Freundin aus meinem Tun. Die dunklen Locken standen ihr wild in alle Richtungen, sie war über und über mit Schnee bedeckt, doch das schien sie nicht zu stören. Ihre nussbraunen Augen waren weit aufgerissen.

„Ich weiß, welcher Laden gegenüber einzieht!“, stieß sie hervor. Sie ließ sich auf einen freien Stuhl fallen und schälte sich aus ihrem Mantel. Wie immer war sie unglaublich hübsch angezogen. Heute trug sie ein dunkellila Kostüm mit großen goldenen Knöpfen, dazu schicke schwarze Stiefel in Samtoptik. Neben ihr kam ich mir in meinen Leggins und den dicken Norwegerpullovern immer vollkommen underdressed vor, aber in der Backstube hatte es einfach wenig Sinn, sich herauszuputzen. Meist dauerte es nicht lange, bis sich die ersten Mehlflecken auf meiner Kleidung zeigten.

„Komm erst mal richtig an.“ Ich lachte. „Möchtest du einen Kaffee?“

Meine Freundinnen und ich spekulierten bereits seit Wochen, welches Geschäft gegenüber aufmachen würde. Seit einem Jahr stand der Laden nun leer und es wurde höchste Zeit, dass wieder etwas Neues eröffnete. Das Ladensterben in der Altstadt war schon seit einigen Jahren ein Problem. Nichts wirkte trostloser als die leerstehenden Geschäfte, doch die Leute kauften inzwischen einfach lieber online oder in den größeren Einkaufsparks und -zentren außerhalb ein. Deswegen hatten wir uns sehr darüber gefreut, als wir gehört hatten, dass die Fläche gegenüber wieder vermietet worden war.

Noch wussten wir allerdings nicht, an wen. Deswegen war ich neugierig auf das, was Mayla mir gleich berichten würde, doch Zeit für einen Kaffee musste trotzdem sein.

„Ja, schwarz bitte“, sagte sie. Noch immer wirkte sie vollkommen durch den Wind.

„Das weiß ich doch“, sagte ich. Immerhin kannte ich meine Freundin inzwischen seit mehr als fünf Jahren und ihre Kaffeegewohnheiten hatten sich seitdem nicht geändert: Dunkel und stark und davon bestenfalls mehrere Tassen pro Tag. Ich selbst trank hingegen lieber Früchtetees, oder, noch besser, Punsch. Wobei der Glühwein am Nachmittag auch nicht schlecht gewesen war.

Kurz blitzten Nicks graue Augen und sein verschmitztes Lächeln vor meinem inneren Auge auf, und die Vorfreude auf den nächsten Tag ließ meine Fingerspitzen kribbeln.

Ich stellte Maylas Kaffee zusammen mit einem Kännchen Waldbeerentee und einer Tasse für mich auf ein Tablett, brachte es zum Tisch und nahm ihr gegenüber Platz. Nun konnte ich meine Neugierde allerdings nicht mehr im Zaum halten. Ich lehnte mich nach vorn.

„Okay, nun bin ich ganz Ohr“, sagte ich. „Wer oder was wird gegenüber einziehen? Und woher weißt du das überhaupt?“

„Ich hatte heute Nachmittag einen Termin beim Gewerbeamt“, erzählte sie. „Du weißt schon, wegen der geplanten Umbaumaßnahmen in meinem Hotel, ich musste dafür noch ein paar Sachen regeln. Und da war er zufällig auch, der neue Ladenbesitzer!“

Sie nippte vorsichtig an ihrem Kaffee. Nun erkannte ich, dass neben der Aufregung noch etwas anderes in ihrem Blick schwang. Ich konnte es nicht recht deuten; war es Unbehagen? Aber wieso?

„Nun spann mich nicht so auf die Folter“, sagte ich. „Was wird es sein? Kunst? Ein weiteres Souvenirgeschäft? Vielleicht was ganz anderes?“

Im Kopf überschlug ich erneut die Möglichkeiten. Jedes Mal, wenn wieder eine Ladenfläche neu vermietet wurde, schloss ich mit Mayla und Akiko Wetten ab, was dieses Mal in unsere kleine Stadt ziehen würde, und jedes Mal hofften wir auf unterschiedliche Dinge. Mayla hatte sich auch jetzt wieder eine neue Boutique gewünscht. Davon gab es zwar bereits einige in der Stadt, doch meine Freundin konnte nicht genug bekommen von schicker italienischer Mode. Akiko hingegen hoffte eher auf Kinderkleidung oder Spielzeug, während ich selbst seit Jahren von einem zweiten Lebensmittelgeschäft träumte. Es gab zwar bereits eins, doch ein wenig mehr Auswahl wäre nett gewesen, zumal es immer ein bisschen umständlich war, außerhalb einkaufen zu gehen, wenn man, wie ich, in der Altstadt lebte.

Maylas düsterer Blick und die Art und Weise, wie sie herumdruckste, sagten mir jedoch, dass es nichts von alledem war.

„Schneeballen!“, platzte sie schließlich hervor. „Dort soll ein Schneeballenladen aufmachen!“

Einen kurzen Augenblick lang schaffte ich es nur, sie wortlos anzustarren. Dann endlich kam das Gesagte bei mir an – doch ich verstand es nicht.

„Schneeballen?“, fragte ich verwirrt. „Wieso das denn? Es gibt doch hier schon ein Schneeballencafé.“ Das stimmte. Nämlich meins. „Bist du dir sicher, dass du das richtig verstanden hast?“

Mayla nickte, dann schüttelte sie den Kopf. Gleichzeitig zuckte sie die Schultern.

„Eigentlich schon, ja“, sagte sie. „Ich verstehe es auch nicht so richtig, aber es soll wohl eine neue Filiale von Crumb Factory werden.“

„Crumb Factory? Diese Bäckereikette aus Würzburg?“ Ich runzelte die Stirn. „Die machen doch gar keine Schneeballen, oder?“ Mein Hirn arbeitete fieberhaft. Bei besagter Bäckerei war ich nur einmal gewesen und sie verkauften wirklich gute Sachen, aber die klassischen Rothenburger Schneeballen waren nicht Teil ihres Angebots. Und warum sollten sie das auch sein? Es war eine regionale Spezialität, hier in der Stadt gab es neben meinem bereits einen anderen Laden, der das Gebäck herstellte und verkaufte, und Crumb Factory war eher spezialisiert auf Alltagsbackwaren zu günstigen Preisen. Es war Fließbandware: Die Rohlinge wurden fabrikweise in automatisierten Mischmaschinen vorbereitet und dann zum Aufbacken an die einzelnen Filialen geschickt.

Mayla zuckte erneut die Schultern. „Das kann ich dir leider nicht beantworten, ich bin mir aber ganz sicher, dass ich richtig gehört habe. Die Worte Crumb Factory und Schneeballenladen in der Oberen Schmiedgasse sind ganz sicher gefallen.“

„Hat sie vielleicht gesagt gegenüber des Schneeballenladens?“, überlegte ich. „Vielleicht hat sie mein Geschäft gemeint.“

Nun war sich Mayla doch nicht mehr ganz so sicher. „Das kann natürlich auch sein“, sagte sie langsam. „Je länger ich darüber nachdenke …“ Gedankenverloren griff sie nach ihrer Tasse und nahm noch einen Schluck. Wirklich überzeugt sah sie allerdings nicht aus.

„Das macht mehr Sinn, oder?“, fragte ich und wusste dabei nicht, ob ich das tatsächlich glaubte, oder ob ich nur versuchen wollte, mich selbst zu beruhigen. Wenn es nämlich wirklich stimmte und ein Schneeballengeschäft von Crumb Factory gegenüber eröffnen würde, dann wäre das so was wie der Super-GAU für meinen Laden. Das Geschäft lief nicht schlecht, aber kämpfen musste ich schon, vor allem in den ruhigeren Monaten des Jahres. Und ich war mir nicht sicher, ob ich eine so starke Konkurrenz überleben würde. Vermutlich eher nicht.

„Du hast recht“, sagte Mayla mit fester Stimme und schüttelte leicht den Kopf, wobei ihre Locken hin und her wippten. „Ich habe mich da sicher verhört, oder die Frau vom Amt hat sich ein wenig umständlich ausgedrückt. Es ist bestimmt alles halb so wild, bitte entschuldige, dass ich hier reinplatze und dich verrücktmache.“

„Das macht nichts.“ Ich musste grinsen. „Immerhin ist das Geheimnis jetzt gelüftet. Und Geschäfte mit günstigen Lebensmitteln braucht es hier ohnehin viel mehr, es hätte uns also wirklich schlechter treffen können.“

„Da hast du recht. Auch wenn ich einen Prada-Store besser gefunden hätte.“ Mayla stieß ein theatralisches Seufzen aus.

Ich musste lachen. „Das war von Anfang an ein unrealistischer Wunsch, und das weißt du genau.“

„Der erste Schritt zum Erreichen deiner Träume besteht darin, zu glauben, dass sie möglich sind“, erklärte sie altklug und ich lachte erneut.

„Okay, verstehe, Frau Dalai Lama. Na ja, vielleicht hast du beim nächsten Mal mehr Glück.“

„Das hoffe ich.“ Sie kippte den Rest ihres Kaffees hinunter und erhob sich. „Na gut, ich muss dich jetzt leider wieder allein lassen. Ich muss rüber, es warten noch ein paar Buchhaltungsangelegenheiten auf mich. Und Hannes hat mich heute Abend zum Essen eingeladen, wir haben Jahrestag. Wir zwei sehen uns morgen?“

„Natürlich“, sagte ich. „Wie jeden Tag.“

Mayla verabschiedete sich mit einer festen Umarmung, bevor sie wieder aus meinem Café verschwand. Nachdem sie weg war, fühlte sich die Stille plötzlich ohrenbetäubend an. Aus irgendeinem Grund war die Musik ausgegangen, der Kamin war fast heruntergebrannt und draußen war es inzwischen stockdunkel. Muffin hüpfte von der Fensterbank und sprang auf meinen Schoß, wo er sich zu einer kleinen flauschigen Kugel zusammenrollte und laut zu schnurren begann. Geistesabwesend streichelte ich ihm durch das dichte Fell.

Ganz so überzeugt, wie ich mich vor meiner Freundin gegeben hatte, war ich nicht. Was, wenn sie sich wirklich nicht verhört hatte? Was, wenn Crumb Factory wirklich Schneeballen verkaufen würde? Dann müsste ich meinen Laden innerhalb kürzester Zeit dichtmachen, das wusste ich. Mit den Dumpingpreisen einer solchen Kette könnte ich nicht einmal mithalten, wenn ich meine Gewinnspanne halbieren würde.

„Ich hoffe, dass sich Mayla verhört hat“, murmelte ich.

Muffin rollte sich noch ein wenig enger zusammen und stieß ein leises Brummeln aus, als würde er mir zustimmen.

„Du hast ja recht“, sagte ich zu dem Kater, als könnte er mich verstehen. „Es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen. Noch wissen wir es nicht. Und Probleme löst man am besten erst dann, wenn sie auch wirklich da sind.“