Leseprobe Winterliebe auf Umwegen

Alessa

Herrgott! Da soll ich mich jetzt echt anstellen? Grob überschlage ich die Anzahl der Kunden in der Schlange beim Mietwagenverleih und komme geschätzt auf eine zweistellige Zahl. Das dauert sicher ewig. Und was, wenn die mir dann sagen, dass ich die Kaution nicht bar bezahlen kann? Dann hätte ich mindestens eine Stunde meines Lebens vergeudet … Ehrlich gesagt habe ich aber schon viel zu viel Zeit meines Lebens verschwendet.

Daher kämpfe ich mich an den Wartenden vorbei in Richtung Schalter. Leider ist mein Trolley, den ich hinter mir herziehe, ziemlich wackelig, sodass ich Schwierigkeiten habe, mit dem störrischen Koffer auf diesen Monster-High Heels überhaupt vernünftig geradeaus zu laufen. Ich kann noch nicht einmal in normalem Zustand auf den Dingern laufen, geschweige denn bei Schnee und Glätte. Aber Ben zuliebe hatte ich sie gestern Abend angezogen.

Ben.

Der Arsch.

War ja klar, dass so etwas mal wieder passieren musste. Aber wenn ich ehrlich bin, hatte ich es doch schon gespürt. Die Zeichen waren klar und deutlich gewesen, nur ich dumme Nuss hatte sie wie immer verdrängt.

Energisch setze ich meinen Weg fort, kann aber nicht ignorieren, dass ich auf den Pfennigabsätzen nicht nur wie ein Storch im Salat stakse, sondern auch, dass meine Zehen sich bereits so anfühlen, als seien sie abgestorben. Vielleicht war es wirklich nicht klug von mir, einfach so Hals über Kopf abzuhauen. Ich hätte mich zumindest umziehen sollen.

Entschlossen kämpfe ich mich an den Leuten vorbei und bemerke ungefähr auf der Hälfte der Strecke, wie mir der Trolley ausbricht. Dabei rempele ich aus Versehen einen älteren Herrn mit Zeitung an.

„Hey, passen Sie doch auf!“, knurrt er unwirsch.

Ich werfe einen besorgten Blick über die Schulter und zucke zusammen. Hinter ihm steht ein großer Typ in Bundeswehrklamotten. Abrupt bleibe ich stehen. Mein Blick huscht zu seinem Abzeichen – Hauptfeldwebel!

Mein Magen krampft sich zusammen. Wie immer, wenn ich an Mirko denke. Ich muss zudem schwer schlucken, weil plötzlich ein Kloß in meinem Hals steckt, den ich nicht einfach so ignorieren kann. Mirko. Mein Gott, ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Er fehlt mir. So sehr.

Bevor ich in Tränen ausbreche, dränge ich die Gedanken schnell beiseite. Ich muss zusehen, dass ich einen Mietwagen bekomme, egal wie. Und wenn nicht, werde ich schon einen anderen Weg finden, ins Ruhrgebiet zu kommen.

„Tschuldigung“, rufe ich schnell und wende hastig den Blick von dem Bild ab, das sich gerade schmerzhaft in meine Netzhaut frisst. Doch selbst dann noch, als ich mich bis zum Schalter vorgearbeitet habe, sehe ich den Soldaten in Tarnkleidung vor mir stehen. Allerdings ist es nicht das Gesicht des Hauptfeldwebels aus der Schlange, sondern das Gesicht von Mirko.

Sandro

Seufzend rücke ich in der Schlange ein Stückchen auf. Eigentlich hätte ich schon vor Stunden auf dem Weg in Richtung Bochum sein sollen. Aber kurz hinter München hat es meinem Cherokee auf der Autobahn dank eines fetten Kiesels die Frontscheibe zerschlagen. In der Werkstatt hatten sie mir auch keine großen Hoffnungen gemacht, den Wagen noch am gleichen Tag wiederzubekommen. Schließlich sei Heiligabend. Deshalb blieb mir nur die Alternative eines Mietwagens.

Die andere Möglichkeit wäre, meine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass ich nicht kommen würde. Doch da wäre es vermutlich angenehmer, mit bloßen Händen einem Alligator am Amazonas den Hals umzudrehen. Heute wird Mutter keine meiner sonstigen Ausreden gelten lassen. Sicherlich nicht einmal den Verlust beider Beine durch eine Tretmine. Vor allem, weil es dieses Weihnachten einen besonderen Anlass gibt, dem ich notgedrungen beiwohnen muss: der Hochzeit meines Stiefbruders Damian. Deshalb stehe ich mir hier bei der Autovermietung gerade seit einer gefühlten Ewigkeit die Beine in den Bauch, obwohl ich eigentlich viel lieber woanders wäre.

Unsanft werde ich plötzlich zur Seite geschubst. Eine junge Frau drängelt sich an mir vorbei. Ich weiß nicht, ob es ihr Haar ist, dessen Farbe irgendetwas zwischen honigfarben und rot gleicht. Es könnten aber auch die schmalen Schultern sein, die nur von einem dünnen Trenchcoat bedeckt sind und der knapp über ihren Knien endet. Jedenfalls zieht sie meinen Blick wie magisch an.

„Hey, passen Sie doch auf“, mault der ältere Herr vor mir.

Ich sehe, wie die Remplerin sich erschrocken zu ihm umdreht und ihm einen gehetzten Blick zuwirft. Ihre Augen sind so tiefblau wie der Ozean. Faszinierend. Fast meine ich, sogar das Meer rauschen zu hören.

Ihr Blick fällt nun von der Seite aus zu mir, kehrt dann aber hastig wieder zurück zu dem Meckerheini. „Tschuldigung“, ruft sie ihm laut zu und stöckelt energisch weiter. Dabei drängelt sie sich noch an den anderen Wartenden vorbei, sodass ein leises Raunen durch die Schlange geht.

In diesem Moment fällt mein Blick auf ihren schwarzen Minirock, aus dem von dünnen Nylonstrümpfen bedeckte schlanke Beine herausragen, an deren Ende sich wiederum knallrote High Heels befinden. Für die Wetterlage von zehn Zentimetern Neuschnee sicher alles andere als passend.

Der Kerl vor mir vergräbt sich murmelnd wieder hinter seiner Zeitung, während im selben Augenblick mein Handy in der Innentasche meiner Feldjacke vibriert. Seufzend hole ich es hervor und werfe einen Blick auf das Display – Mutter. Verdammt!

„Und Sandro? Wo bist du?“, vernehmen meine Ohren, gleich nachdem ich das Gespräch angenommen habe.

„Ich stehe noch in Kranzberg bei Sixt.“

„Junge. Was bitte machst du in Kranzberg bei Sixt? Und wo ist das Kaff überhaupt?“ Ihre Stimme hat einen schrillen Tonfall angenommen. Sicherlich glaubt sie, ich sage meinen Besuch ab, so wie jedes Mal in den letzten neun Monaten.

„Was man bei Sixt eben so macht Mutter, sich einen Mietwagen leihen.“

„Aber warum leihst du dir denn einen Mietwagen?“

Seufzend wechsele ich das Handy von rechts nach links und schiebe den Gurt meines Rucksacks zurück, der mir von der Schulter zu rutschen droht. Die Hübsche mit den Meeresaugen hat sich derweil bis ganz nach vorne zur Theke durchgekämpft.

„Sagen wir so, es gab einen kleinen Zwischenfall.“ Vorsorglich erspare ich ihr nähere Details, die sie eh nur aufregen würden.

Am anderen Ende stöhnt Mutter leise auf. „Wirst du dann überhaupt noch pünktlich zum Mittagessen da sein?“

Schnell unterdrücke ich ein weiteres tiefes Aufseufzen. Am liebsten würde ich ihr gerne sagen, dass mir das Mittagessen eigentlich schnurzpiepegal ist. Ich werde in Gegenwart meines Stiefbruders und seiner Verlobten ohnehin keinen Bissen herunterbekommen.

„Sobald ich den Mietwagen habe, fahre ich gleich los und bin vermutlich …“, ich werfe schnell einen Blick auf meine Striker am Handgelenk, „… so gegen achtzehnhundert bei euch. Zwar schaffe ich es dann nicht mehr zum Mittagessen, aber zumindest noch pünktlich zum Abendessen.“

Mein Blick gleitet über die Schlange, die nur unwesentlich kürzer geworden ist. Die Hübsche hält den Betrieb nun durch eine hitzige Diskussion mit der Dame vom Auto-Verleih zusätzlich auf.

Vielleicht drehe ich doch besser wieder um. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich doch sowieso keinen Bock auf diese geschauspielerte Ringelpitz-mit-Anfassen-Familienharmonie-Scheiße. Da würde ich mir schon lieber einen Fünfzig- Kilometer-Marsch durch die Wüste ohne Wasser antun.

Just ändert sich der Tonfall in Mutters Stimme, so, als habe sie meine Gedanken erraten. Sie klingt flehend. „Aber du kommst doch noch, oder? Sandro, bitte, ich habe dich eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

Mit meiner bettelnden Mutter ist es wie mit diesen netten Vertretern, die einem so sympathisch sind, dass man es nicht fertigbringt, sie einfach abzuwürgen.

„Keine Sorge“, räuspere ich mich, weil ich bereits einen Kloß in meinem Hals verspüre. Meine Mutter kann ja nichts dafür, dass Damian ein Arsch und Nadja ein Miststück ist. „Ich werde der Hinrichtung schon beiwohnen. Aber erwarte nicht, dass ich die beiden auch noch beglückwünsche.“

Schnell drücke ich das Gespräch weg, um jede weitere Frage im Keim zu ersticken. Wenn ich nachher in Bochum bin, muss ich sicher noch genügend unangenehme Fragen über mich ergehen lassen. Wie zum Beispiel, warum ich mich einfach vor neun Monaten nach München habe versetzen lassen, ohne jemandem davon zu erzählen.

Alessa

Eigentlich hätte ich es mir denken können. Keine Kreditkarte – kein Mietwagen. Auf Barzahlung wollte die blöde Schnepfe vom Verleih sich leider auch nicht einlassen. Egal. Fahre ich halt mit dem Zug.

Wütend lasse ich Mietwagen Mietwagen sein und verlasse den Laden. Den Koffer hinter mir herziehend, überquere ich die Straße, um mich nur wenige Sekunden später seufzend auf die Metallbank an der Bushaltestelle sinken zu lassen. Dann stelle ich meine Füße auf den Trolley, damit die Kälte des Bodens nicht noch weiter durch meine Schuhe dringt. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper, doch es nützt nichts. Kalt ist mir trotzdem. Am Hintern wie an den Füßen.

Meine Gedanken schweifen während des stumpfsinnigen Wartens unweigerlich ab. Dabei durchströmt mich plötzlich eine innere Wärme, die mich sogar die Kälte für einen Moment vergessen lässt. Heute ist Heiligabend – Weihnachten!

Ich sehe, wie Mirko und ich uns als Kinder immer gegenseitig geschubst haben, weil jeder der Erste bei den Geschenken sein wollte. Sehe den Haufen zerfetzten Weihnachtspapiers, der nach dem Auspacken unter dem geschmückten Tannenbaum lag. Meine Eltern, die gemeinsam Händchen haltend auf der Couch gesessen und uns beim Spielen beobachtet haben. Warum auch immer rieche ich in diesem Moment sogar einen Hauch von Zimt. Das ist der Duft von Muttis selbst gebackenen Zimtsternen, die Mirko und ich so lieben. Ich bin mir sicher, es muss eine Halluzination meiner unterkühlten Riechzellen sein.

Unvermittelt überfällt mich die Sehnsucht nach meiner Familie wie ein Angreifer. Sticht mir das Messer voll ins Herz, sodass ich einen heftigen Schmerz verspüre. Den letzten Heiligabend haben wir gemeinsam gefeiert. Mama, Papa, Mirko und ich. Doch so wie damals wird es nie wieder sein. Das ist schon schlimm genug. Aber schlimmer noch ist – ich bin schuld daran.

Tränen steigen mir in die Augen, aber ich versuche, sie mir tunlichst zu verkneifen. Bei diesen Temperaturen würden sie vermutlich nur auf der Haut meiner Wange gefrieren und es reicht doch, dass bereits mein Hintern und die Füße gefühllos sind.

Sandro

Als ich endlich an der Reihe bin, dauert es auch nicht lange, bis alle Formalitäten erledigt sind und ich mein Gepäck im Kofferraum eines gemieteten SUVs verfrachtet habe. Ich entledige mich meines Bundeswehrparkas, steige ein, programmiere das Navi und rolle im Schritttempo vom Parkplatz herunter.

Als ich an der Kreuzung stehe und links in Richtung Autobahn abbiegen will, fällt mein Blick unvermittelt auf die Bushaltestelle ein paar Meter weiter. Ich bin überrascht. Dort sitzt unverkennbar die Hübsche mit den Meeresaugen.

Vorhin hat sie noch für einen kleinen Tumult am Tresen gesorgt, worum es ging, habe ich aber nicht mitbekommen. Schließlich war sie wütend mit ihrem Koffer im Schlepptau wieder abgerauscht.

Nun sitzt sie dort zusammengekauert auf der Bank. Ihre Füße mit den roten High Heels hat sie auf den Trolley gestellt und die Arme eng um ihren zierlichen Körper geschlungen.

Hinter mir hupt jemand. Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel und sehe den Fahrer des Wagens wild gestikulieren. Es ist der mürrische Alte mit der Zeitung, der scheinbar will, dass ich weiterfahre.

Also biege ich links ab, beschleunige den Wagen und werfe im Vorbeifahren einen letzten Blick auf die zusammengekauerte Gestalt auf der Bank. Ich hoffe für sie, dass gleich der Bus kommt.

Alessa

Mittlerweile zittere ich am ganzen Körper so sehr, dass sogar meine Zähne aufeinander klappern. Ach hätte ich mir zumindest noch die Zeit genommen, mich umzuziehen. Aber dann wäre ich womöglich noch Ben über den Weg gelaufen.

Ben.

Der Riesenbaustelle in meinem Leben.

Wenn man das überhaupt noch Leben nennen darf. Ich wohne bei einem Typen, der Fremdgehen für so normal hält wie schlafen oder essen, habe keinen Kontakt mehr zu meiner Familie und halte mich dazu mit einem schlecht bezahlten Job über Wasser. Was ist bloß aus meinem Traum geworden, Medizin zu studieren und die Welt zu retten?

Ich hatte ihn über Bord geworfen. Weil ich meine Schuld begleichen wollte. Dabei habe ich kläglich versagt. Wieder schießen mir die Tränen in die Augen.

Verdammt. Ich muss endlich hier weg.