Leseprobe Wir zwei am Wintermorgen

Kapitel 1

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Wie so oft in letzter Zeit weckt mich auch heute Georges vertrautes Schnurren pünktlich um sieben. Obwohl George mit seinen mittlerweile stolzen zwölf Jahren schon zu den älteren Katern gehört, besteht er immer noch darauf, pünktlich um sieben Uhr morgens auf unserem kleinen Balkon frische Luft zu schnappen. Bei den niedrigen Temperaturen bekommt mich nur George dazu, aufzustehen und mit ihm auf den Balkon zu gehen. Langsam quäle ich mich aus meinem warmen Bett. Eigentlich stelle ich mir meinen Wecker immer so, dass ich ein paar Minuten vor George wach bin, um in Ruhe aufstehen zu können. Aber das ist mit meinem Radiowecker seit fast einem Monat nicht mehr möglich, denn sobald das Radio angeht, wird man zugedröhnt mit kitschigen Weihnachtsmelodien. Ich weiß, ich könnte statt meinem Radio- auch meinen Handywecker stellen, aber der schaltet sich manchmal von selbst aus. Daher ist auch das keine Option für mich. Mom wollte mir einen neuen Wecker andrehen, aber da ich nicht von schrillen Tönen geweckt werden will und ich ohnehin nicht an feste Arbeitszeiten gebunden bin, lehnte ich lieber ab.

 

Draußen begrüßen schon die ersten Sonnenstrahlen den neuen Tag, während ich George die Balkontür öffne. Ich bin froh, dass ich mir meine graue Strickweste übergeworfen habe, denn ich spüre sofort die eisige Kälte, die sich um meinen Körper schlingt. George scheint das Ganze nichts auszumachen. Er tapst gemütlich von einem Ende zum anderen, nicht, ohne hin und wieder durch die Gitterstäbe zu blicken, um ein paar vorbeifliegende Vögel zu beobachten.

»Manchmal wünsche ich mir, ich hätte auch so ein kuscheliges Fell«, sage ich und streichle ihn sanft am Kopf, bis er zufrieden schnurrt.

 

Nach ein paar Minuten hat George genug und er schleicht sich wieder zurück in unsere Wohnung. Ich bleibe noch einen Moment stehen und schaue in den Himmel, der langsam immer grauer wird. Jetzt ist er also da, der Dezember. Ich habe die ganze Zeit versucht, es zu verdrängen und aufgrund der Weihnachtsdekorationen überall, habe ich kaum noch die Wohnung verlassen. Aber jetzt kann ich nicht mehr davonlaufen. Weihnachten wird kommen, egal wie sehr ich versuche, mich dagegen zu wehren. Ich hatte ein Jahr lang Zeit, mich darauf vorzubereiten und bis eben dachte ich, dass ich das auch schaffen würde. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher, denn mit dem Dezember kommen die Erinnerungen zurück. Eine kleine Träne rinnt mir über das Gesicht. »Reiß dich zusammen, Caitlyn«, versuche ich, mich selbst zu beruhigen, und äußerlich bekomme ich das auch ganz gut hin. In meinem Inneren herrscht jedoch ein Sturm aus Angst, Trauer und Verzweiflung. Ich wische mir die Träne weg und folge George zurück in die warme Wohnung.

Bevor ich mir wie jeden Morgen meinen Kaffee mache, husche ich schnell nach unten zum Briefkasten. Um diese Uhrzeit werden noch nicht so viele Leute auf den Straßen sein, die einem ihre grässliche Weihnachtsstimmung aufzwingen. Einen besseren Moment, um die Post zu holen, gibt es nicht. Zum Glück ist unser Postbote immer sehr früh unterwegs.

Leider habe ich heute kein Glück. In unserer sonst so ruhigen Straße sind tatsächlich ein paar Fußgänger und Radfahrer unterwegs. Während sie durch die nassen Straßen eilen, wende ich mich meinem Briefkasten zu, um so schnell wie möglich die Post zu holen.

Plötzlich ertönt ein gewaltiger Schlag. Bei dem Geräusch zucke ich sofort zusammen und lasse beinahe meinen Schlüssel fallen.

Gegenüber auf der anderen Straßenseite scheint ein Typ die Kontrolle über sein Fahrrad verloren zu haben, denn jetzt liegt er auf dem kalten Boden unter seinem blaugrünen Rad. Ein paar der vorbeigehenden Leute drehen sich kurz um, schauen was passiert ist und gehen dann einfach weiter. Keiner macht Anstalten, ihm zu helfen. Langsam schiebt er sein Fahrrad von sich und steht auf. Er scheint zwar wohlauf zu sein, trotzdem wird mir von so wenig Hilfsbereitschaft schlecht. Ich lebe schon fast neun Jahre in Rochester im Südosten Englands und habe hier schon so einiges erlebt, aber die Leute schaffen es immer wieder, mich von Neuem zu überraschen. Dieses Mal im negativen Sinne.

Obwohl ich nicht wirklich Lust habe, mich mit jemandem zu unterhalten und mein Katzenpyjama mehr als peinlich ist, gehe ich zu dem Typ rüber, um ihm zu helfen. Mit seinen verstrubbelten Haaren und den zerrissenen Jeans schätze ich ihn auf Anfang zwanzig.

»Hey, ist alles in Ordnung?«, frage ich und helfe ihm, sein Fahrrad aufzuheben.

Er schenkt mir einen schnellen Blick und wendet sich gleich wieder seinem Fahrrad zu.

»Mir geht’s gut«, sagt er knapp und will weiterlaufen.

»Bist du dir sicher? Du bist ganz blass im Gesicht«, frage ich sicherheitshalber nach.

»Ja, wirklich. Alles in Ordnung. Danke fürs Helfen.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, steigt er auf sein Rad und fährt eilig davon. Kurz ärgere ich mich über sein unhöfliches Benehmen, aber immerhin hat er sich bedankt. Dann fällt mir wieder ein, dass ich immer noch mitten auf der Straße im Katzenpyjama stehe und mich die Leute schon komisch anstarren. Langsam fange ich an, zu zittern und verliere das Gefühl in den Füßen, die lediglich in meinen Hausschuhen stecken. So schnell es geht, hole ich die Post aus dem Briefkasten und verschwinde wieder im Haus.

Zurück in meiner Wohnung schalte ich die Kaffeemaschine an und setze mich an den Tisch, um die Post durchzugehen. Der Dezember hat gerade erst begonnen und schon halte ich die ersten Weihnachtsgrüße in den Händen. Ich muss dringend einen Bitte-Keine-Werbung-Aufkleber auf den Briefkasten kleben, sonst drehe ich bei dem ganzen Weihnachtszeugs noch durch.

Nachdem ich die Post nach wichtigen Briefen durchsucht habe, werfe ich den gesamten Stapel in den Mülleimer. Zum Glück ist schon mein Kaffee fertig. Mit meiner dampfenden Tasse setze ich mich ins Wohnzimmer zu George. Er hat es sich, faul wie er ist, auf seinem Katzenbett bequem gemacht. Es muss schön sein, sich so unbeschwert wie eine Katze fühlen zu dürfen. Ich weiß, George hatte es nicht immer leicht, aber jetzt gerade beneide ich ihn um sein sorgenfreies Leben.

Während ich vorsichtig meinen Kaffee schlürfe, werfe ich einen Blick auf die alte Uhr über dem Kamin. Es ist schon nach acht. Mom wird jeden Moment anrufen oder vorbeikommen. Wenn sie nicht anruft, steht sie so gut wie immer vor der Tür. Neuerdings hat sie immer auch Dad im Schlepptau. Ich liebe meine Eltern und verbringe gerne Zeit mit ihnen. Deshalb habe ich mich so riesig gefreut, dass sich Dad beruflich ein wenig zurückzieht und mehr Zeit mit uns verbringen will, aber jetzt haben wir Dezember und da will ich meine Ruhe haben. Ich bin mir sicher, sie würden das auch verstehen, aber ich will sie nicht verletzen. Letztendlich wollen sie mir nur helfen und für mich da sein. Darüber bin ich sehr dankbar, aber am liebsten würde ich jetzt alleine sein und mich in meiner vertrauten Wohnung verkriechen. Jedenfalls für die nächste Zeit, bis der 24. Dezember überstanden ist. Wie ich das anstellen soll, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich spüre jetzt schon dieses panische Kribbeln in meiner Magengegend, wenn ich an letztes Weihnachten zurückdenke. Bevor ich noch mehr über das vergangene Jahr nachdenken kann und wieder anfange zu heulen wie ein Schlosshund, klingelt zum Glück mein Telefon. Schnell schlucke ich die heraufkommende Trauer hinunter und atme tief durch.

»Hey, Mom«, sage ich so normal wie möglich, nachdem ich auf den grünen Hörer meines Displays gedrückt habe.

»Hallo, mein Schatz. Wie geht es dir?« War ja klar, dass sie heute ihre überfürsorgliche Stimme einsetzt.

»Mir geht’s gut, Mom. Wie geht’s euch?« Sicherheitshalber trinke ich einen großen Schluck Kaffee. Wer weiß, was noch alles auf mich zukommt.

»Oh, uns geht’s bestens. Dein Vater beschäftigt sich mit irgendwelchen Bauplänen. Du weißt ja, wie er ist.«

Bei dem Gedanken daran, dass ich Dad früher immer zugeschaut habe, wie er in seinem überfüllten Büro stundenlang Baupläne entwarf, schleicht sich mir ein kleines Lächeln auf die Lippen. Ich habe es geliebt, ihn dabei zu beobachten. Deshalb habe ich mir zum Geburtstag immer Lego statt Barbiepuppen gewünscht. Ich wollte auch so tolle Häuser erschaffen wie er. Leider habe ich bald feststellen müssen, wie unbegabt ich in der Hinsicht bin, und so habe ich angefangen zu malen und zu zeichnen und meine wahre Begabung gefunden. So kam ich später dazu, Kunst an der Universität in Hamburg zu studieren. Bis vor einem Jahr war ich ziemlich erfolgreich als Illustratorin von Kinder- und Jugendbüchern tätig. Das änderte sich am 24. Dezember 2015, als mein Leben schlagartig auf den Kopf gestellt wurde. Seitdem habe ich nicht eine einzige Zeichnung zustande bekommen, nicht einmal eine grobe Skizze. Meine Eltern und Mina, meine beste Freundin, sprechen mir immer wieder Mut zu. Besonders Mom ist ziemlich hartnäckig, aber ich kann es einfach nicht. Irgendetwas in mir weigert sich, einen Stift in die Hand zu nehmen, geschweige denn etwas auf’s Papier zu bringen. Mina meint, irgendwann ginge das wieder von ganz alleine, aber im Moment kann ich mir das nur schwer vorstellen.

»Soll ich vielleicht kurz vorbeikommen?«, fragt Mom besorgt.

»Nein, es ist wirklich alles in Ordnung. Ich will mir heute einfach nur einen gemütlichen Tag zuhause machen.«

»Bist du dir sicher?«, fragt sie noch einmal. Manchmal kann sie ganz schön nerven, auch wenn sie es nur gut meint.

»Ja, Mom. Ich bin sicher.« Genervt verdrehe ich die Augen, was sie zum Glück nicht sehen kann.

»Dann ist ja gut. Leider muss ich jetzt zur Arbeit. Ich wollte mich nur vorher kurz bei dir melden.«

»Danke, Mom.«

»Aber wenn irgendwas ist oder du mich oder deinen Vater brauchst, dann meldest du dich. Du weißt, wir sind immer für dich da.« Jetzt übertreibt sie es wirklich.

»Ich weiß, Mom.«

»Gut, dann mach ich mich auf den Weg. Mach’s gut, Cate.«

»Du auch, Mom. Bye.« Kaum habe ich aufgelegt, muss ich erst mal tief durchatmen. Ich hatte mir schon gedacht, dass sie, sobald Dezember ist, mit ihrer Fürsorge ein bisschen übertreiben würde, aber es war trotzdem irgendwie komisch.

Nachdem ich meinen Kaffee leer getrunken habe, mache ich das, was ich immer mache, wenn ich mich ablenken will. Ich putze. Und zwar so lange, bis ich nicht mehr kann.

 

Ein paar Stunden später ist alles sauber, aber von meinem Tag ist immer noch zu viel übrig. Also schnappe ich mir meinen Kater und kuschle mich zusammen mit ihm auf die Couch. Ich bin froh, dass ich ihn habe. Die Vorstellung, Tag für Tag allein in dieser großen Wohnung zu sein, lässt mich erschaudern. Es ist sowieso schon still hier drin geworden, wenn ich jetzt nicht George bei mir hätte, wäre ich vermutlich völlig verloren. Falls ich das nicht ohnehin schon bin. Immerhin habe ich heute, bis auf die kleine Träne auf dem Balkon, noch nicht geweint. Und das, obwohl Dezember ist. Vielleicht stimmt es doch, was die Leute sagen und die Zeit heilt wirklich alle Wunden.

Da George irgendwann keine Lust mehr hat, zu kuscheln und mir aus den Armen springt, gehe ich in die Küche und mache mir eine Kleinigkeit zu essen. Und mit eine Kleinigkeit zu essen meine ich, eine Pizza in den Ofen zu schieben und fertig. Während die Pizza vor sich hin backt, schreibe ich kurz mit Mina. Auch sie weiß, was für mich der Dezember bedeutet und erkundigt sich ebenfalls nach meinem Zustand. Wie heute Morgen schon Mom, versichere ich auch ihr, dass es mir gut geht. Eigentlich wollte sie anrufen, aber in einem Monat findet ihre Galerie statt, und dafür muss sie noch ein paar Bilder fertigstellen. Und wenn Mina malt, darf sie nichts und niemand stören. Ein Wunder, dass sie überhaupt ihr Handy einschaltet. Normalerweise ist sie in ihrer kreativen Phase unerreichbar. Und zwar wirklich unerreichbar. Selbst per Festnetz ist sie nicht zu sprechen, da sie immer den Stecker zieht. Deshalb weiß ich es auch zu schätzen, dass sie ihre Arbeit für mich unterbricht. Jeder sollte eine Freundin wie sie haben. Ich wünschte, ich hätte sie schon eher kennengelernt, leider musste das bis zur Uni warten. Genau dort sind wir uns vor einer gefühlten Ewigkeit zum ersten Mal über den Weg gelaufen. Seitdem sind wir unzertrennlich, und das ist auch gut so. Ich war schon oft froh, so eine tolle Freundin wie sie zu haben. Vor allem letztes Jahr. Sie hatte gleich den ersten Flug nach England genommen, als sie hörte, was passiert war und ist ein halbes Jahr bei mir geblieben. In dieser schweren Zeit sind wir noch enger zusammengewachsen.

Mittlerweile ist sie ihrer Arbeit wegen wieder zurück in Paris, aber sie ruft regelmäßig an. Einmal kam sie sogar übers Wochenende zu mir, weil ich kurz vor einem Zusammenbruch stand.

Nachdem ich mit meiner Pizza fertig bin, räume ich die Spülmaschine ein, schrubbe den Backofen und hole mir anschließend ein Buch aus meinem Regal. Aber egal, wie lange ich auf die Seiten starre, ich kann mir einfach nicht merken, was dort steht. Ich dachte, ich hätte mein Leben langsam wieder im Griff, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Es ist beinahe so, als würde alles wieder von vorne anfangen und ich in ein tiefes Loch fallen.

Eine Stunde später gebe ich es auf. Da George abends nochmal auf den Balkon will, stehen wir für eine Viertelstunde in der eisigen Kälte, bis ich irgendwann anfange zu zittern und George wieder in die Wohnung flüchtet. Da ich nicht weiß, was ich sonst noch mit diesem Abend anfangen soll, gehe ich früh ins Bett und schalte das Licht aus. Einen Tag habe ich geschafft. Jetzt sind es nur noch dreiundzwanzig weitere. Für andere ist die Adventszeit ein Countdown für Weihnachten. Für mich ist es der Countdown zum schrecklichsten Tag meines Lebens. Denn am 24. Dezember 2016 ist es genau ein Jahr her, dass Finn gestorben ist.

Kapitel 2

Freitag, 2. Dezember 2016

Am nächsten Morgen brauche ich eine Weile bis ich begreife, dass wir tatsächlich Dezember haben. George hat mich ausnahmsweise nicht geweckt, da ich vor ihm wach wurde. Kein Wunder, so früh, wie ich gestern ins Bett gegangen bin. Langsam richte ich mich auf und blicke mich in meinem Schlafzimmer um. Heute vermisse ich Finn noch mehr als gestern. Es fängt wirklich wieder von vorne an. Ich weiß nicht, ob ich das ein weiteres Mal durchstehen kann. Deshalb beschließe ich, Finn heute auf dem Friedhof zu besuchen. Friedhof. Ich hasse dieses Wort. Sobald ich es höre oder nur daran denke, kommen mir Trauer und Schmerz in den Sinn. Wer hat sich dieses schreckliche Wort nur ausgedacht? Aber vermutlich ist es ganz egal, wie dieser Ort genannt wird. Es wäre immer ein schlimmer Ort und doch ist es der einzige, an dem ich Finn etwas näher sein kann.

Schnell ziehe ich mich an und während George frische Luft schnappt, schlürfe ich meinen morgendlichen Kaffee. Dann mache ich mich auf den Weg zu Finn, in der Hoffnung, meine Sehnsucht nach ihm zu besänftigen, wenn auch nur für kurze Zeit.

 

Zum Glück ist der Friedhof nicht weit entfernt, sodass ich ihn gut zu Fuß erreichen kann. So muss ich wenigstens nicht in einen Bus steigen, in dem ein Weihnachtssong nach dem anderen die Fahrgäste beschallt. Nie hätte ich gedacht, dass das Fest der Liebe mal zu meiner schrecklichsten Erinnerung wird.

Einer der Vorteile im Südosten Englands zu leben, ist, dass es an Weihnachten so gut wie nie schneit. Der schneidend kalte Wind und das triste Regenwetter kommen mir gerade recht. Ich weiß, normalerweise freut man sich über Schnee an Weihnachten, aber ich bin froh, wenn keine einzige Flocke den Boden weiß färbt. Früher habe ich mich geärgert, dass wir hier nie weiße Weihnachten haben, aber jetzt kommt es mir mehr als gelegen. Je weniger Weihnachtsstimmung herrscht, desto wohler fühle ich mich. Mein einziges Problem sind die Dekorationen und davon haben meine Nachbarn leider mehr als genug. Überall hängen leuchtende Sterne, blinkende Lichter und hier und da hängt auch mal ein Weihnachtsmann von einem der vielen Balkone herab. Um nicht allzu viel von dem ganzen Kitsch mitzubekommen, ziehe ich mir meine Mütze noch ein bisschen tiefer ins Gesicht. Ich bin kaum fünf Meter gelaufen, da weiß ich, was ich vergessen habe. Handschuhe. Weil ich nicht noch einmal zurücklaufen will, ziehe ich die Ärmel meiner Winterjacke ein bisschen nach unten, sodass ich die kalten Hände darin verbergen kann.

Gute fünf Minuten später stehe ich vor Fairyflower. Ich weiß, dass Mom heute arbeiten muss, aber mit mir rechnet sie ganz bestimmt nicht. Bevor ich den kleinen Blumenladen betrete, atme ich tief durch und bereite mich auf den ganzen weihnachtlichen Kram vor, der mir dort drin begegnen wird, dann öffne ich die Tür und flüchte ins Warme. Es dauert keine zwei Sekunden, da zieht sich mir auch schon der Magen zusammen. Aus einem alten Radio hinter dem Verkaufstresen ertönt fröhlich Rudolph, the Red-Nosed Reindeer. Vielleicht sollte ich das nächste Mal, wenn ich das Haus verlasse, Ohrschützer oder noch besser Ohrstöpsel mitnehmen.

»Cate, Schatz. Was machst du denn hier? Warum sagst du denn nicht, dass du heute vorbeikommst?«, höre ich meine Mom, die auf mich zu kommt.

»Hey, Mom. Sorry, ich hätte dir Bescheid gegeben, aber das Ganze war ziemlich spontan.« Entschuldigend zucke ich mit den Schultern und weiche ihrem Blick aus.

»Na dann. Ich freue mich immer, dich zu sehen, das weißt du ja. Wir können kurz nach hinten ins Büro gehen, dann können wir ungestört reden.«

»Nein, schon gut. Ich bin eigentlich auf dem Weg zu Finn. Hast du vielleicht ein paar schöne Blumen, die ich ihm mitbringen kann?« Finn. Es ist komisch, seinen Namen zu sagen, seit er nicht mehr da ist. Die ersten Monate nach seinem Tod konnte ich ihn überhaupt nicht aussprechen, ohne gleich einen Heulkrampf zu bekommen. Irgendwann ging es wieder, aber es fühlt sich nicht mehr so an wie früher. Wenn ich früher seinen Namen gesagt habe, war er erfüllt von Liebe. Das ist zwar immer noch so, aber es klingt eher traurig als liebevoll.

»Ach so. Da haben wir bestimmt was Schönes. Dort drüben sind ganz frische Blumen, die eben erst geliefert wurden.« Gemeinsam gehen wir zu den Blumen am Fenster. Glücklicherweise ist hier nichts dekoriert. Sofort fallen mir die hellblauen Rosen ins Auge.

»Die sind ja schön. Kannst du mir vielleicht mit denen einen Strauß machen?«

Sofort fängt Mom an zu strahlen. »Aber natürlich. Ich nehme noch ein paar weiße dazu, dann sieht das Ganze nicht so eintönig aus.« Sie nimmt ein paar hellblaue und weiße Rosen und geht nach hinten, um einen Strauß zu binden. Vorher dreht sie die Musik am Radio etwas leiser. Genau dafür liebe ich sie. Sie weiß genau, was mir zu schaffen macht, und auch wenn mich manchmal ihre übertriebene Fürsorge stört, bin ich froh, dass ich sie habe und sie immer alles dafür tut, um mir zu helfen. Ein paar Minuten später, in denen ich nur auf den Boden gestarrt habe, damit ich die strahlenden Lichterketten nicht allzu deutlich wahrnehme, kommt sie wieder zurück.

»Hier, wie findest du’s? Gefällt er dir?« Sie überreicht mir einen hinreißenden Blumenstrauß aus hellblauen und weißen Rosen, vermischt mit ein paar Zweigen und ein bisschen Bindegrün.

»Der ist wirklich wunderschön. Danke, Mom«, sage ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Da meine Mom nie Geld von mir annimmt, wenn ich bei ihr irgendwelche Blumen kaufe und schon gar nicht, wenn sie für Finn sind, verlasse ich den Blumenladen, ohne auch nur einen Penny zu zahlen. Früher hatte ich deswegen immer ein schlechtes Gewissen, aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt.

 

Zusätzlich zu der eisigen Kälte weht jetzt auch noch ein schneidend kalter Wind, sodass ich mich noch mehr in meine Jacke kuschle. Schnell mache ich mich auf den Weg zum Friedhof, der zum Glück gleich um die Ecke liegt.

Wenn man bei diesem Wetter vor den großen schwarzen Toren steht, könnte man auf die Idee kommen, dass es hier spukt. Alles ist groß, düster und sehr alt. Für andere Leute mag es unheimlich sein, einen solchen Friedhof zu betreten. Für mich ist er mittlerweile zu meinem zweiten Zuhause geworden. Denn hier bin ich niemals allein. Und damit meine ich nicht die vielen Leichen, die hier begraben sind oder die Angehörigen, die hier um ihre Liebsten trauern. Damit meine ich Finn. Ich weiß, das klingt verrückt, dass ich mich ausgerechnet hier so sehr mit ihm verbunden fühle, aber wenn ich vor seinem Grab stehe und mit ihm rede, fühlt es sich beinahe so an, als könnte er mich tatsächlich hören.

Jedes Mal, wenn ich hier bin und an den anderen Gräbern vorbeilaufe, sehe ich mir diese genau an. Ich weiß nicht, ob ich die Einzige bin, die das macht. Vielleicht bin ich auch einfach nur total verrückt, aber ich sehe mir an, welche Menschen das waren, die unsere Erde verlassen mussten. Manche sind früher gegangen, andere später. Auf manchen Gräbern sind ganze Blumenbeete angelegt worden, auf wieder anderen ist lediglich ein Holzkreuz angebracht. Finns Grab liegt im hinteren Teil des Friedhofs, weshalb ich das gesamte Feld durchqueren muss. Je länger ich durch den Friedhof laufe, desto ruhiger werde ich. Hier gibt es keine Festtagsbeleuchtungen, keine aufdringlichen Weihnachtslieder, die man nicht mehr aus dem Ohr bekommt und auch keine leckeren Düfte nach Orangen, Mandarinen oder Zimt. Das einzige Geräusch, das ich wahrnehmen kann, ist der Wind, der durch die Äste weht und mir leise um die Ohren pfeift. Außerdem sieht alles normal aus. Für einen Friedhof jedenfalls. Hier und da haben manche Leute einen Weihnachtsstern oder einen Engel aufgestellt, aber das stört mich nicht besonders.

Bevor ich in den hinteren Teil zu Finns Grab gelange, bemerke ich einen jungen Mann an einem der Gräber, die leicht versteckt hinter einer kleinen Hecke liegen. Ich will schon weiterlaufen, als er den Kopf in meine Richtung dreht. Schnell zieht er ihn wieder zurück und wischt sich mit seinem linken Ärmel über das Gesicht. Ich bin ihm schon einmal begegnet, und zwar gestern vor meiner Haustür, als ich die Post holen wollte. Seine zerrissenen Jeans und die unordentlichen Haare sind unverkennbar. Verwundert schaue ich ihn an. Kurz überlege ich, ob ich zu ihm hingehen sollte, aber das wäre vermutlich unangebracht. Niemand weiß besser als ich, wie sehr es schmerzt, einen geliebten Menschen zu verlieren, und wie nervig und anstrengend es sein kann, wenn einem unzählige Menschen ihr Beileid wünschen und die überflüssige Frage stellen, wie es einem geht. Wie sollte es einem bei solch einem Verlust schon gehen? Konnte man sich das nicht denken? Ich habe diese Frage mehr als alles andere gehasst und werde mich hüten, einer der Menschen zu werden, der genau diesen Fehler macht. Also nicke ich dem jungen Mann, als er mich erneut ansieht, nur kurz zu und gehe dann weiter. Ich schätze, hier auf dem Friedhof fühlen wir alle dasselbe und sind wie eine große Familie voll Unbekannter.

Als ich schließlich vor Finns Grab stehe, bleibe ich verwundert stehen. Irgendjemand muss bei ihm gewesen sein, denn die Blumen, die auf seinem Grab liegen, habe nicht ich dort hingelegt. Meine Eltern sicher auch nicht, sonst hätte Mom mir davon erzählt, spätestens als ich ihr heute gesagt habe, dass ich ihn besuche. Mina ist nicht mal in England. Ansonsten besucht niemand Finn. Mit seiner Familie war er zerstritten. Es war ein Wunder, dass seine Eltern und sein kleiner Bruder überhaupt auf der Beerdigung erschienen sind. Ethan kann es auch nicht gewesen sein, seine Blumen sehen nicht so, na ja, sagen wir mal jämmerlich aus. Er kauft immer nur, wie ich sie bezeichne »Designer-Blumensträuße«. Vielleicht hat jemand das Grab verwechselt? Ach quatsch, so verwirrt ist keiner. Außer vielleicht eine ältere Dame oder ein älterer Herr? Aber normalerweise finden selbst die das richtige Grab, wenn sie einen Angehörigen besuchen kommen. Noch dazu liegt Finns Grab am Ende des Friedhofs, das heißt, man müsste das ganze Gelände durchqueren. Neugierig schaue ich mich um, kann aber niemanden entdecken. Dann beuge ich mich hinab zu den Blumen, um sie etwas genauer zu betrachten. Vielleicht finde ich ja irgendwo einen Hinweis, wer sie dort abgelegt hat. Fünf Minuten später gebe ich es auf. Egal, wie oft ich den Strauß in meiner Hand drehe und wende, ich kann einfach nichts finden. Komisch ist auch, dass die Blumen nicht aus einem Blumenladen zu kommen scheinen. Von Fairyflower sind sie jedenfalls nicht, so viel erkenne mittlerweile sogar ich und ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet. Die Blumen passen überhaupt nicht zueinander und sehen aus, als wären sie wahllos irgendwo am Straßenrand herausgerissen worden. Wobei um diese Jahreszeit in ganz England keine Blumen mehr wachsen, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Einige von ihnen lassen schon die Köpfe hängen und nicht eine einzige kann man als wirklich schön bezeichnen. Wenn Mom das sieht, wird ihr das Herz bluten. Sie liebt Blumen über alles. Als ich klein war, hat sie mir mal eine Orchidee geschenkt. Da ich im Gegensatz zu ihr aber keinen grünen Daumen habe, ist sie mir natürlich eingegangen. Sie war ein paar Wochen lang wütend auf mich, weil ich das Leben einer so kostbaren Pflanze beendet hätte. Man hätte fast meinen können, sie wollte mich des Mordes bezichtigen. Irgendwann hat Dad es geschafft, sie zu beruhigen, und seitdem habe ich nur noch künstliche Blumen von ihr geschenkt bekommen. Nicht einmal einen Kaktus vertraut sie mir noch an. Aber das ist in Ordnung, ich bin nicht so ein Pflanzenfreak wie sie.

Bevor ich meine Blumen dazulege, mache ich noch schnell ein Foto von den anderen, dann lege ich sie ein bisschen zur Seite und stelle meinen Strauß in die dafür vorgesehene Grabvase.

»Ich hoffe, dir gefallen die Blumen, Finn.« Sanft streiche ich über seinen kalten Grabstein, in der Hoffnung ihm noch ein bisschen näher zu sein.

»Du fehlst mir … Vor allem jetzt.« Eine kleine Träne kullert mir über das Gesicht, aber bevor weitere nachkommen können, schüttle ich mich kurz und reiße mich wieder zusammen.

»Ich wüsste zu gern, wer dir die Blumen gebracht hat … Ich wünschte, du könntest es mir sagen.« Erneut fließt eine Träne über mein Gesicht und dieses Mal fange ich an, zu schniefen. »Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll ohne dich. Ich brauche dich doch. Ich liebe dich.« Langsam verschwimmt Finns Grab vor meinen Augen und ich muss mir mehrmals meine Tränen abwischen, um wieder klar sehen zu können.

»Mom will für mich da sein, aber ich kann sie einfach nicht an mich ranlassen. Niemanden. Und ihr geht es ja nicht anders. Du warst wie ein Sohn für sie. Sie vermisst dich genauso sehr wie ich … Ich wünschte, ich könnte auch so stark sein.« Erneut spüre ich, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. Ich versuche, sie wegzublinzeln, aber es gelingt mir nicht, also lasse ich ihnen freien Lauf. Hier darf ich das, ohne mich komisch oder beobachtet zu fühlen. Bei Finn darf ich sein, wer ich bin und muss mich nicht verstellen.

»Du hast mir mal gesagt, dass ich stark bin und ich nur einen Anstoß brauche, um meine Schwächen zu besiegen. Dieser Anstoß warst du … Und ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder einen zu finden, der mich so stark werden lässt wie du. Ich weiß, du hättest nicht gewollt, dass ich mich aufgebe, aber ich habe einfach keinen Halt mehr … Ich habe gar nichts mehr.« Meine Stimme bricht und für ein paar Minuten weine ich leise vor mich hin.

Als ich mich wieder ein bisschen beruhigt habe, richte ich mich auf und trockne mir mit meinem Schal die Tränen.

»Ich werde herausfinden, von wem die Blumen kommen und mich bei ihr oder ihm bedanken. Versprochen.« Ich hauche einen kleinen Kuss auf meinen Zeige- und Mittelfinger und halte ihn anschließend an den kalten Grabstein.

»Ich liebe dich, Finn.«