Leseprobe Witches of Stanhope

Kapitel 1

Der Oktober war angebrochen. Stanhope wurde bereits seit zwei Wochen vom Herbst geküsst, sodass die Kleinstadt umgeben war von einem Meer aus goldenen und roten Baumkronen. Obwohl sich eine schwere Wolkendecke über die schiefen Dächer legte, leuchtete die Stadt und war erfüllt vom Treiben der Menschen, die über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen eilten.

Der Wind trieb den Geruch der feuchten Erde gemeinsam mit dem Duft der Cafés und Bäckereien durch die Straßen, um den Brunnen im Ortskern mit den Altbauten herum. Stanhopes Parfum tanzte mit den rotgefärbten Blättern an den Gewürz- und Geschenkeläden vorbei, wehte die Gassen und Straßen hinauf. Auf einer Anhöhe in der Nähe des Zentrums befand sich die Turner Hall Community School, die beinahe ebenso alt war wie die Eichen, die sie umgaben. Ihre knorrigen Äste bogen sich schützend über den Innenhof.

Ihren Tagträumen nachhängend schlenderte Emilia durch die langen Korridore zu ihrem Geschichtskurs. Gerade hatte die letzte Stunde begonnen. Der Flur leerte sich und Stille nahm den Platz des steten Lärms der Schüler ein, bis das Geräusch von zu Boden fallenden Büchern Emilia aus ihren Gedanken riss. Sie fuhr herum und sah Oliver am Ende des Flurs. Seine hagere Gestalt bückte sich. Er schob sich die Brille zurück auf die Nase und klaubte die Bücher unter dem höhnischen Gelächter von Sophie Hall, Brianna Turner und ihren Freunden Ethan Combs und Jacob Smith zusammen.

„Was ist los, Oli, sind die Bücher zu schwer?“ Sophie warf sich kichernd ihr schwarzes Haar über die Schulter. Ihre karamellfarbenen Augen fixierten das Buch, das Oliver mit all seiner Kraft aufzuheben versuchte. Es schien, als klebte es am Boden fest.

Emilia biss die Zähne aufeinander, krampfte die Finger um ihre Umhängetasche und eilte ihrem besten Freund zur Hilfe. Je näher sie der Truppe kam, desto deutlicher flimmerte die Magie in der Luft. Emilia liebte den Oktober, denn dann besaß sie wieder ihre Kräfte und konnte diesen Idioten auch magisch die Stirn bieten.

Dem Kribbeln in den Fingern folgend, löste Emilia Sophies Zauber auf. Oliver, der über dem Buch hockte und es vom Boden zu reißen versuchte, fiel mit einem Schlag hintenüber. Ganz zur Belustigung der vier.

Sophie sah wenig überrascht auf und hob eine Braue. „Walsh, war ja klar, dass du deinem kleinen Freund zur Seite springst.“

„War ja klar, dass du dich wieder an Schwächeren vergreifst, damit du dich besser fühlst, Hall“, gab Emilia zurück und half Oliver auf die Beine.

Dieser strich sich sein blondes Haar glatt und schluckte. „Danke.“ Augenblicklich löste er sich von ihr.

Sophie schnaubte und baute sich mit verschränkten Armen vor Emilia auf. „Die Schwachen und die Starken, Walsh, er stand mir im Weg. Die Schwachen müssen weichen.“

Emilia kniff die Augen zusammen. „Du bist ekelhaft.“

Sophie musterte sie von oben bis unten, ehe sie ihr wieder in die Augen sah. „Du könntest zu den Starken gehören, wählst aber immer die Schwachen … und die Menschen.“ Ihre Augen glommen auf, sodass sie wie pures Gold schimmerten. „Du weißt ja, was wir davon halten, nicht wahr? Weiß Roxanne davon?“ Sie wandte sich zu ihren Anhängern um. „Kommt.“ Und zu Emilia sagte sie: „Wir sehen uns gleich in Geschichte.“

Damit rauschten sie an Emilia vorbei. Während Brianna sie keines Blickes würdigte und an Sophies Hintern zu kleben schien, bohrten sich Ethans eisblaue Augen in Emilias Haut, ehe Jacob einen kleinen Wirbelsturm heraufbeschwor.

Ein weiteres Mal flogen Olivers Bücher durch die Luft und flatterten zu Boden.

„Arschlöcher!“, schrie sie ihnen hinterher und sah zu Oliver, der sich auf die Knie fallen ließ, um noch einmal die Bücher vom Boden zu klauben. „Es tut mir so leid“, seufzte Emilia und half ihm. „Warum lässt du dir das immer gefallen? Warum setzt du nicht deine Magie ein?“, wisperte sie.

Oliver schob wieder seine Brille auf die Nase. „I-ich halte mich an die Regeln.“

Der vorwurfsvolle Blick war ihr nicht entgangen. Sie verdrehte die Augen. „Oli, sie brechen ebenfalls die Regeln. Wenn es keiner der Menschen bemerkt, solltest du dich wehren.“

Oliver öffnete den Mund, doch bevor er antworten konnte, kam Ryan auf sie zugelaufen.

Augenblicklich setzte Emilias Herz einen Schlag aus. Ihr Hals wurde trocken und die Handflächen feucht. Sie hatte sich letztes Jahr in ihn verliebt. An dem Tag, an dem sein bester Freund Cole Emilia mit einem Ball die Nase blutig geschossen hatte. Ryan hatte nicht eine Sekunde gezögert, die orientierungslose Emilia zum Spielfeldrand getragen und sein Shirt ausgezogen. Das Erste, das Emilia nach seinem Sixpack wahrgenommen hatte, waren seine braunen Augen gewesen. Sanft hatte er ihr über die Wange gestrichen, während er ihr sein T-Shirt unter die Nase gedrückt hatte.

Bei dieser Erinnerung strömte wieder der volle Waldgeruch in Emilias Nase. Sie genoss das Flattern in ihrer Brust. Seit diesem Vorfall waren sie Freunde. Freunde, die sich dieser besonderen Anziehung zwischen ihnen bewusst waren. Aber keiner traute sich, den ersten Schritt zu wagen.

„Was ist passiert?“, fragte Ryan, hob das letzte Buch auf, klappte es zusammen und legte es auf Olivers Stapel, von dem er ihm die Hälfte abnahm.

„Bin ausgerutscht“, murmelte Oliver, bevor Emilia für ihn antworten konnte.

Sie erhob sich langsam und spürte die Hitze in sich aufwallen. „Danke.“

„I-ich muss zum Matheunterricht“, sagte Oliver und verstaute die Bücher im Spind, nahm Ryan den Stapel ab und sah zu Emilia. „Wir sehen uns.“ In geduckter Haltung verschwand er.

Mit einem Seufzen sah Emilia ihm nach und fuhr sich durch das rote Haar. Dabei dachte sie an den letzten Sommer zurück, in dem ihre Freundschaft noch so unbeschwert gewesen war. Doch seit diesem besonderen Tag im Oktober hatte Oliver sich schlagartig verändert. Ihr gegenüber war er ausweichend geworden, verschlossen. Nun wirkte er auf Emilia wie eine Tür, die plötzlich zu klemmen schien und die sie nicht mehr öffnen konnte, egal wie fest sie rüttelte.

„Es waren wieder Sophie und ihre Truppe, oder?“, sagte Ryan und riss Emilia aus ihren Gedanken. Er lehnte am Spind, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Emilia nickte und sah ihm in die Augen. Sein Blick schien immer mitfühlend und so intensiv, als tauchte er durch sie zum Grund ihrer Seele. Emilia verhakte ihre Finger ineinander. „Oh – wir – der Unterricht hat angefangen“, sagte sie, kurz bevor sie drohte, sich in diesem Moment zu verlieren.

Sie spürte die Luft, die wie eine angenehme Frühlingsbrise um sie herumschlich. Gerade wollte sie loseilen, als sich Ryans Finger um ihr Handgelenk schlossen. Die Wärme seiner Haut durchdrang sie. „Warte.“

Emilia stoppte und wandte sich um. „Was ist?“

Ryan senkte den Blick und starrte auf seine Schuhe. Er tat einen Schritt auf sie zu, sodass sie nur wenige Zentimeter voneinander entfernt standen. Auf seinen Lippen zuckte ein nervöses Grinsen. Sein Duft umhüllte Emilia. Sie fühlte sich gefangen. Gefangen in diesem kribbelnden Gefühl, das jede Faser ihres Seins durchfuhr.

Ryan öffnete den Mund, seine Finger lösten sich von ihrem Handgelenk. Er war nun genauso nah wie damals in der Sporthalle. „Ich habe mich gefragt, ob wir –“ Er hielt inne und holte tief Luft. Der sonst lässige Ryan wirkte verunsichert. „Was ich dich schon seit Wochen fragen wollte –“

„Ms Walsh und Mr Miller, Sie sind ganze zehn Minuten zu spät!“, donnerte die Stimme von Mr Finnigan durch den inzwischen leeren Korridor.

Emilia und Ryan stoben auseinander und eilten zum Klassenraum. Gerade als sie sich an Mr Finnigan vorbeistehlen wollten, knallte der die Tür vor ihren Nasen zu. Er stellte sich zwischen Emilia und Ryan. „Ms Walsh“, polterte er und blickte über seine runde Brille auf sie hinab. „Ich dulde es nicht, wenn man zu spät zu meinem Unterricht erscheint.“

Emilias Mund öffnete sich, schloss sich aber gleich wieder, als sie bemerkte, dass Mr Finnigan noch nicht fertig war. „Sie besuchen jetzt schon über zwei Jahre meinen Kurs.“ Emilias Blick glitt an Mr Finnigan vorbei zu Ryan, der direkt hinter ihm stand und ihn nachäffte. Er zog Grimassen und bewegte die Lippen, wenn Mr Finnigan sprach. Emilia konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.

Ihr Lehrer schnaubte empört und wirbelte herum. „Und Sie, Mr Miller, kommen Sie noch einmal zu spät, lasse ich Sie nachsitzen.“ Damit riss er die Tür auf.

Ryan, der Probleme hatte, seinen Lachanfall zu unterdrücken, nickte und gewährte Emilia den Vortritt.

Normalerweise fiel sie nie negativ auf, was ihr nun die Hitze ins Gesicht jagte. Unter den missbilligenden Blicken von Sophie und Ethan setzte sie sich auf ihren Platz, ohne die beiden aus den Augen zu lassen. Sie saßen dicht hintereinander. Ethan hatte sich zu Sophie vorgebeugt und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Jetzt, da alle da sind, können wir ja mit dem Unterricht beginnen“, verkündete Mr Finnigan und kritzelte das Thema an die Tafel.

Währenddessen schweifte Emilia in ihre Tagträume ab, die sich nun um Ryan drehten. Aus dem Augenwinkel konnte sie ihn sehen. Er saß weiter vorn, den Kopf auf eine Hand gestützt und die langen Beine ausgestreckt. Emilia hatte sich schon oft in Schwärmereien für andere Jungs verloren, doch diese war anders, tiefer, intensiver und es machte sie ganz hibbelig, sodass es ihr nicht möglich war, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

Sie versuchte es dennoch und starrte auf Mr Finnigan, der wild fuchtelnd vom Mittelalter schwärmte.

Nach wenigen Minuten gelang es ihr, Ryan größtenteils aus ihrem Kopf zu verbannen, als ein Zettel auf ihrem Tisch landete. Blinzelnd sah Emilia zu ihm herüber. Ihre Blicke trafen sich, als er verstohlen über seine Schulter spähte.

Mit zittrigen Fingern entfaltete Emilia das Papier.

Was ich dich gerade fragen wollte: Willst du mit mir nach der Schule einen Kaffee trinken gehen? (Wenigstens stottere ich nicht so dämlich beim Schreiben)

Das breite Lächeln ließ sich nicht mehr unterdrücken. Ohne Kontrolle darüber zu haben, spannte es sich zwischen ihren heißen Ohren. In ihrem Magen flatterten Hunderte Kolibris.

Ryan, der sie zu beobachten schien, grinste schief, wobei sich Lachfältchen um seine Augen bildeten. Dabei fiel ihm sein wildes Haar in die Stirn. Emilia nickte, während sie den Zettel in ihrem Etui verschwinden ließ.

Obwohl sie um das Verbot wusste, stimmte sie zu und verschwendete in dieser Sekunde keinen Gedanken daran.

Ryan formte ein Danke mit den Lippen, dann richtete er seinen Blick wieder nach vorn.

Nun war es vollkommen um Emilia geschehen. Die Nervosität, die nun wie Tante Roxannes Froschsuppe in ihrem Inneren brodelte, machte es ihr unmöglich, ein Wort von Mr Finnigan aufzunehmen. In ihrem Kopf wirbelten Tausende Fragen umher. Worüber würden sie reden? Als Freunde hatten sie immer ein Thema gefunden, aber das schien nun über Freundschaft hinaus zu gehen. Was wenn nur peinliche Stille zwischen ihnen herrschen würde?

Ein weiterer Zettel, der wie ein Schmetterling auf ihren Tisch flatterte und sich automatisch entfaltete, riss Emilia aus ihren Gedanken. Sie sah zu Sophie. Zorn wütete in ihren Augen.

Das aufgeregte Beben ließ nach und ihre Stimmung kühlte ab. Sie hasste es, wenn Sophie ihre Magie vor Menschen benutzte, auch wenn sie darauf achtete, dass niemand sie sah. Emilia fand, es war arrogant.

Widerwillig las sie die filigran geschriebenen Worte:

Man riecht aus zehn Metern Entfernung, was zwischen euch ist. Was würde der Zirkel sagen, wenn er davon erfahren würde? Du solltest dich von deinen Menschenfreunden fernhalten. Von ihm und von Tara.

Emilias bebende Hand zerdrückte den Zettel. Doch sie ließ es sich nicht nehmen, eine Antwort zu schreiben.

Misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein. Du solltest besser aufhören, die Mitglieder des Zirkels zu schikanieren.

PS: Lass deine Tricks.

Mit einem Schnauben warf sie ihn Sophie zu. Diese schnappte ihn aus der Luft und entfaltete ihn mit einem selbstgefälligen Schmunzeln.

Die Antwort folgte prompt.

Die Menschen sind blind. Sie würden Magie nicht einmal erkennen, wenn sie ihre Hintern in Flammen aufgehen lassen würde.

Deine engen Beziehungen zu Menschen gehen mich sehr wohl etwas an. Jeden von uns. Und wenn du den Grund für das Verbot kennen würdest, würdest du es verstehen.

Aber das wirst du. Deine Zeremonie findet Ende dieser Woche statt. Freust du dich schon?

Der letzte Satz triefte vor Ironie. Die Kolibris in Emilias Magen hatten sich schon längst in Luft aufgelöst. Was blieb, war Wut, die sich wie heißes Metall durch sämtliche Organe fraß. Sie wusste von dem Verbot. Jede Hexe und jeder Hexer wusste davon. Doch den Grund dafür erfuhr man erst mit der vollen Aufnahme, der Weihe. Emilia hatte schon mehrmals ihrer Tante gegenüber erwähnt, wie bescheuert sie diese Regel fand. Doch die Gesetze des Zirkels waren eisern.

Warum sagst du mir nicht, warum es diese Regel gibt? Was passiert, wenn ich dagegen verstoße?

Sophie sah Emilia ernst an, ehe sie eine Antwort kritzelte.

Auch wenn ich dürfte, würde ich dir den Grund nicht verraten. Du wirst es bei der Zeremonie erfahren. Du willst die Strafe nicht erleben, die dir blüht, wenn du das Gesetz brichst.

Es fühlte sich an, als hielte der Winter in Emilias Brust Einzug. Ihr Herz schien so zerbrechlich wie hauchdünnes Eis. Sie umschloss den Zettel mit ihrer Hand und ließ mit unscheinbarer Magie die Worte verschwinden, als hätten sie nie existiert. Aber sie existierten in Emilias Kopf. Und das genügte, um sie aus dem Konzept zu bringen, auch, wenn sie sich weiter zwang, Mr Finnigans Unterricht zu folgen.

In ihr schmolz die Wut auf den Zirkel das Eis der Angst fort. Emilia war sich sicher, dass dieses Verbot von der Arroganz der Hexen von Stanhope herrührte. Sie wollten unter ihresgleichen bleiben. Sie waren überheblich und voreingenommen. Besonders die älteren Hexen und Hexer hielten die Menschen für schwache niedere Wesen. Und Emilia hasste dieses Denken, dieses Verhalten. Schließlich waren sie nicht besser. Sie waren wie Menschen, nur mit besonderen Fähigkeiten gesegnet. Das war alles.

Kapitel 2

„Emilia“, hallte Taras Stimme über den Lärm der Schüler hinweg.

Emilia wandte sich um und winkte ihrer besten Freundin zu, die sich durch eine Gruppe Jungs auf dem Korridor quetschte. „Hey.“

Tara sortierte ihr lockiges Haar und schnaubte. „Bin ich froh, dass dieser Montag vorbei ist. Was ist, gehen wir zusammen nach Hause?“ Sie stupste ihr in die Seite.

Emilia nestelte an der Knopfleiste ihrer Bluse. Die Flammen der Aufregung züngelten in ihrer Brust. „Heute nicht“, sagte sie, wobei sie sich das breite Grinsen nicht verkneifen konnte. „Ich treffe mich mit Ryan.“

Tara blieb stehen und sah ihre Freundin mit großen Augen an. „Is’ nicht wahr.“ Sie lachte. „Habt ihr euch endlich einen Ruck gegeben? War ja nicht auszuhalten. Ich dachte schon, dass ihr ewig in dieser Friendzone stecken bleibt.“

Emilia knuffte Tara auf den Oberarm. „Er hat mich heute gefragt.“

„Das freut mich so für dich.“ Tara schlang einen Arm um Emilias Schulter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ruf mich später auf jeden Fall an.“

„Mach ich.“

Damit verabschiedete Tara sich und verschwand in der Schülermenge, die durch die große Tür nach draußen drängte.

Dort wartete Ryan bereits, an das Treppengeländer gelehnt, die Arme verschränkt. Als er Emilia erblickte, verzogen sich seine vollen Lippen zu einem breiten Lächeln.

Emilia löste sich aus der Menge und trat auf ihn zu. Sie verhakte ihre Finger ineinander, da sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sollte sie ihn umarmen? Einen freundschaftlichen Stups geben?

Doch noch bevor sie sich für etwas entscheiden konnte, zog Ryan sie in seine Arme, umhüllte sie mit seinem schweren beruhigenden Duft und der Wärme seines Körpers. Diese Umarmung war anders als die, die er ihr sonst gab. Diese Umarmung war innig und lang. „Ich bin froh, dass du zugesagt hast“, murmelte er in ihr Haar.

„Ich auch.“ Das Kribbeln auf Emilias Kopfhaut breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Sie drohte, vor Aufregung zu zerspringen, und wünschte sich, Ryan würde sie weiter zusammenhalten. „Wollen wir?“

Sie folgten den mit Kopfstein gepflasterten Straßen in Richtung Ortskern. Reihenhäuser, die sich lediglich durch die Farbe ihrer Türen unterschieden, säumten ihren Weg. In der Stadt wechselte das Bild. Stanhope war verschlafen. Hier gab es mehrere kleine, aber unabhängige Bäckereien, deren Duft über den Marktplatz mit der alten Kirche schwebte. Es gab gut besuchte Buchhandlungen, Schreibwarenläden und Cafés. Manchmal fühlte Emilia sich, als stünde in Stanhope die Zeit still. Kein Tesco oder andere Supermarktketten verirrten sich hierher, was das Zusammenleben ruhiger und idyllischer gestaltete.

Aber Emilia und Ryan blieben nicht im Zentrum. Sie verschwanden in eine der vielen Seitenstraßen, in denen sich ebenfalls Cafés und Süßwarengeschäfte aneinanderquetschten. In ihrem Lieblingscafé holten sie sich einen Coffee to go und schlenderten durch die verlassenen Gassen, die am Rand des Waldes vorbeiführten. Dieser umgab Stanhope und war älter als die Stadt selbst.

Ryan ging neben Emilia, eine Hand in die Tasche seiner Hose vergraben. Die Krawatte seiner Uniform hatte er bereits gelöst und die ersten Knöpfe seines Hemds geöffnet. „Ich kann nicht atmen in diesen Dingern“, stöhnte er.

Emilia kicherte. „Ja, es gibt Bequemeres. Eine Jogginghose und Schlabberpulli.“ Sie trank einen Schluck ihres Pumpkin Spice Lattes.

Ryan schaute mit einem Schmunzeln zu ihr herunter. „Jetzt fällt mir ein, dass ich dich noch nie ohne Uniform gesehen habe. “Sein Blick wurde durchdringend, als wollte er ihre Gedanken lesen. „Doch, einmal.“

Emilia sah auf. „So?“

„Im Buchladen deiner Tante.“ Kurz kniff er die Augen zusammen, als er sich zu erinnern versuchte. „Eine Jeans und diese blau-karierte Bluse, die dir so gut steht.“

Emilia zog beeindruckt die Mundwinkel nach unten. „Dir scheint nichts zu entgehen, Sherlock. Aber ich habe dich noch nie in unserem Laden gesehen.“

Ryan schmunzelte. Dabei blickte er die Straße hinab. „Ich habe ihn nicht betreten. Hab dich vom Fenster aus gesehen. Ich war zu schüchtern.“

Emilia gluckste ungläubig. „Ja, klar.“

Ryan sah ihr in die Augen. „Nein, ehrlich. Ich kann dich nicht einmal fragen, ob du mit mir einen Kaffee trinken gehen willst. Wie soll ich dir da sagen, was für ein Buch ich haben will?“

Emilia lachte laut auf, dass es von den Hauswänden widerhallte. „Du liest Bücher?“, fragte Emilia dann, ehe sie sich die Hand vor den Mund schlug. „Oh, tut mir leid, ich wollte nicht … Das sollte nicht –“

„Ja, ich lese Bücher. Ich kann zwar nicht sprechen, aber lesen kann ich“, witzelte Ryan und stupste sanft ihre Schulter. Ihre Handrücken streiften sich.

Emilia spürte, wie die Muskeln ihres Herzens zitterten. Ryans Mundwinkel zuckten, als bemerkte er, welche Wirkung er auf sie hatte.

„So schüchtern wirkst du auf mich aber gar nicht“, sagte sie dann und reckte frech das Kinn.

Ryan gluckste und legte den Kopf in den Nacken, ehe er sie wieder ansah. „Ja, da bin ich wohl so ein bisschen wie Jekyll und Hyde. Wenn wir als Freunde miteinander reden, traue ich mich mehr, als wenn wir …“ Er brach ab.

„Ich höre?“, bohrte Emilia nach, wissentlich, dass sie ihn damit in Verlegenheit brachte.

„Ich habe vergessen, was ich sagen wollte.“ Ryan zwinkerte.

Emilia sah die leichte Röte, die seine Wangen überzog, was sie dazu veranlasste, das Thema zu wechseln. „Also“, sagte sie und trank den letzten Schluck ihres Kaffees, ehe sie den Becher in einer Mülltonne versenkte. „Was möchtest du über mich wissen, um mich noch besser kennenzulernen?“

Sie spazierten immer weiter durch die verwinkelten Gassen Stanhopes. So konnte Emilia etwas aufatmen und ihr normales Leben genießen, ohne fürchten zu müssen, dass ihnen ein Zirkelmitglied über den Weg lief. Die meisten, besonders die älteren, hielten sich unter ihresgleichen auf; also in den von Hexen und Hexern geführten Läden.

Ryan schnaubte amüsiert und schob seine Hände in die Hosentaschen. „Ich denke, ich kenne dich inzwischen sehr gut.“

Emilia konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Sie wirbelte herum. Rückwärts lief sie vor Ryan her und hob erwartungsvoll die Brauen. „Bist du dir da sicher, Miller?“

Ryans Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. „Ziemlich, ja“, gab er zurück und machte einen Satz auf sie zu.

Emilia trat einen Schritt zurück, doch Ryan folgte ihr auf den Fuß. Sie stieg in das Spiel ein, wich ihm aus, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Er überwand den letzten Meter zwischen ihnen und stützte sich mit einer Hand neben ihrem Kopf ab.

Er sah zu ihr herunter, sodass sich ihre Nasen beinahe berührten. „Ich kenne dein Wesen“, sagte er und sein Blick fixierte ihren. „Du bist ein guter Mensch. Humorvoll, klug, bescheiden und …“ Sein Zeigefinger glitt über die zarte Linie ihres Unterkiefers.

Emilia hielt die Luft an. „Und?“

Ryan verengte die Augen und schmunzelte, dann stieß er sich ab. „Geheimnisvoll.“

Emilia versuchte, diesen leichten Stich in ihrer Brust zu ignorieren, nachdem sie wieder einige Schritte mehr von Ryan getrennt war. Sie genoss die Wärme seiner Nähe. „Also kennst du mich doch nicht so gut, wie du denkst.“ Da war sich Emilia mehr als sicher.

Ryan kickte einen Stein gegen die Hauswand. „Ich sagte, ich kenne dein Wesen. Ich habe nicht gesagt, dass ich all deine Geheimnisse kenne. Und das ist auch nicht wichtig, oder?“ Seine Augen glänzten. Er sah so verletzlich, so ehrlich aus. „Ich mag dich wegen dem, was du bist, nicht wegen dem, was du verbirgst.“

Emilia, die noch immer an der Wand lehnte, verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken. „Wer sagt, dass ich etwas vor dir verberge?“

Ryan lachte leise und kam wieder näher. „Jeder verbirgt etwas. Und ganz besonders du. Was geht in deinem Kopf vor, Emilia Walsh?“

„In meinem Kopf?“

„Ja, in deinem Kopf. Ich wüsste zu gern, was da los ist. Manchmal wirkst du so gedankenverloren oder weichst aus. Manchmal verschwindest du einfach so oder tuschelst mit Oliver.“

Emilias Nervosität steigerte sich augenblicklich ins Unermessliche. Sie vertraute Ryan und zu gern hätte sie ihm all ihre wahren Gedanken offengelegt, aber sie musste das tun, was sie schon seit Jahren tat: lügen. Inzwischen war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie tat es nicht gern, denn es sorgte immer für eine gewisse Distanz. Und jetzt, da sie Ryan so nah war, wollte sie keine Distanz schaffen. Aber ihr blieb keine andere Wahl. „Ach, das Übliche“, sagte sie mit einem Achselzucken und wich seinem Blick aus. „Die Schule, die Zukunft.“

Ryan zupfte an Emilias roter Locke, die ihr in die Stirn gefallen war. Sie fürchtete, er könnte ihr Herz hämmern hören. Also hielt sie die Luft an, während Ryans Blick den ihren suchte. „Wie soll deine Zukunft aussehen? Was sind deine Träume?“

Träume. Noch nie hatte jemand nach Emilias Träumen gefragt. Für die Mitglieder des Hexenzirkels war es selbstverständlich und eine Pflicht, ein Leben lang in Stanhope zu bleiben. Wen interessierten da schon ihre Wünsche und Träume für die Zukunft? Emilia würde nicht studieren können wie andere oder die Stadt verlassen oder das Land, zumindest nicht für immer. Dabei war es genau das, was sie sich wünschte: Sie wollte reisen, in eine Großstadt ziehen, wo sie Archäologie studieren würde. Aber das war nicht möglich, weshalb sie diese Dinge für sich behielt.

Sie zuckte mit den Schultern und blickte auf ihre verschränkten Finger. „Ich werde irgendwann den Buchladen von meiner Tante Roxanne übernehmen.“

Ryan verengte die Augen zu Schlitzen, als glaubte er ihr nicht. Zärtlich steckte er die verirrte Strähne hinter ihr Ohr und presste die Lippen aufeinander.

„Und du?“, fragte Emilia.

„Hm.“ Er legte den Kopf in den Nacken. Emilia sah die leicht gebräunte Haut seines Halses und den regelmäßigen Puls pochen.

In ihr regte sich das Bedürfnis, das Ohr an seine Brust zu legen und seinem Herzschlag zu lauschen. Das Zittern der Luft zwischen ihnen war inzwischen nicht mehr zu ignorieren. Es kribbelte auf ihrer Haut und elektrisierte ihre Muskeln.

Ryan sah sie wieder an und stand dicht bei ihr. Sie spürte die Wärme seiner Hände und seiner Beine. „Ich will später Autor werden und vom Schreiben leben können.“

„Du schreibst Geschichten?“, fragte Emilia und ihre Augen leuchteten. „Warum hast du nie davon erzählt?“

Ryan, dessen selbstbewusstes Lächeln einem erschrockenen Ausdruck wich, so als hätte er nicht gemerkt, was er da gesagt hatte, wollte wieder zurückweichen, doch Emilia hielt ihn fest. „Ich … ja …“, stammelte er und rieb sich den Nacken. „Ich behalte es eigentlich eher für mich.“

„Ich würde gern etwas von dir lesen.“

Ryan wurde blass. „Ich … ich habe noch nie jemandem gezeigt, woran ich schreibe.“

Emilia spürte, wie unangenehm ihm das zu sein schien, und zuckte mit den Schultern. „Du musst es mir nicht zeigen.“ Sie kaute auf der Unterlippe. „Was ist dein Lieblingsessen?“

Ryan, der sie nun mit einer Mischung aus Amüsement und Dankbarkeit betrachtete, prustete los. „Das ist der schlechteste Themenwechsel, den ich je gehört habe.“

Emilia räusperte sich. „Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“

Ryan beugte sich etwas zu ihr hinab, sodass sein Gesicht näher an ihrem war. Seine dunklen Augen schimmerten in der goldenen Nachmittagssonne. „Du bringst mich nicht in Verlegenheit, eher um den Verstand.“

Seine Lippen näherten sich ihren. Emilias Finger krampften sich um seine Unterarme, sie lehnte sich ihm entgegen, begierig seine Lippen zu kosten. Sein Atem kitzelte ihre Haut und sein Duft ließ sie glauben, in einem tiefen Wald zu stehen, nicht an eine kalte Hauswand gelehnt.

Doch noch bevor ihre Münder miteinander verschmelzen konnten, ließen Gespräche jüngerer Schüler Emilia zurückweichen. Sie wirbelte herum. Ihr Herz raste. Sie hoffte, dass es niemand vom Zirkel war.

Drei Jungen im Alter von elf trotteten die Gasse entlang. Jede ihrer Stupsnasen klebte an einem leuchtenden Display. „Mann, jetzt hast du mich gekillt“, fluchte der rothaarige Junge in der Mitte.

Es war Max, ausgerechnet Max.

Emilia packte Ryan am Kragen und riss ihn mit sich bis zum Ende der Straße, wo sie um eine Ecke bog.

„Hey“, gluckste Ryan und löste sanft ihre verkrampften Finger von seinem Kragen. „Was ist los? Hast du Angst davor, dass drei kleine Jungs sehen, wie wir uns küssen?“

Emilia biss sich fest auf die Unterlippe und trat auf der Stelle, während ihr Blick immer wieder an Ryan vorbei glitt.

In der Zwischenzeit verdunkelte sich Ryans Gesichtsausdruck. Er hob nachdenklich einen Finger. „Oder … hast du vielleicht … Angst –“

„Das war mein Bruder Max“, krächzte Emilia atemlos. „I-Ich habe die Zeit ganz … vergessen. Ich muss … gehen … muss los.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Es war sehr schön“, sagte sie und drückte seine Hand.

Ryan fiel es offensichtlich schwer, seine Enttäuschung zu verbergen, und zwang sich zu einem Lächeln. Bevor Emilia sich losreißen konnte, zog er sie noch einmal zurück. „Du hast ein Geheimnis.“ Er streichelte zärtlich ihre Wange. „Aber vergiss nicht, ich mag dich für das, was du bist.“ Er grinste breit, dann ließ er sie los und Emilia machte sich auf den Weg nach Hause.

 

Der Laubmatsch unter ihren Schuhen schmatzte. Emilia ließ die Hand an dem gusseisernen Zaun entlangfahren. Dabei glitt ihr Blick über den Friedhof mit den unzähligen Grabsteinen, die wie trostlose Gestalten in der Erde steckten, krumm und schief. Die zwei großen Eichen, die die einzigen Bäume auf dem Gelände waren, hatten ihre Blätter bereits abgeworfen, sodass sie ihre knorrigen Finger gen Himmel streckten. Emilia spürte die Energien der Geister, die zwischen den Gräbern spazierten. Durch ihre Ruhelosigkeit schien es, als würde den ganzen Tag eine dichte Nebelsuppe über dem Friedhof wabern.

Emilia lief an einigen kleinen Häusern vorbei, ehe sie das Cottage ihrer Tante erreichte, direkt gegenüber von dem Tor, das auf den Friedhof führte. Emilia betrachtete den Garten, den Roxanne mit Blumen und Kräutern verschiedenster Arten überwuchern ließ. Eine Brise strich über ihr Gesicht und ein Gefühl von zu Hause erfüllte sie wie ein warmes Getränk im Winter.

Emilia öffnete das Tor, das zusammenzubrechen drohte, wenn man es auch nur schief ansah, und schritt den von Unkraut überwachsenen Weg entlang. Auf der Treppe befanden sich bereits die festlich geschnitzten Kürbisse für Emilias Weihe. Sie grinsten ihr zu. „Da kommt ja der Star der Woche“, krächzte einer der Kürbisse.

„Kämm dir mal die Haare“, rief ein anderer.

Emilia ignorierte das sprechende Gemüse und stampfte die Stufen zur Veranda hinauf, wobei sie einem der Gewächse zu nah kam, sodass dieses nach ihrem Stiefel schnappte. Gerade noch rechtzeitig zog sie den Fuß zurück.

Der Kürbis machte heisere Laute wie ein Hund, dem man die Stimmbänder entfernt hatte.

„Kleines, was ziehst du denn für ein Gesicht?“, grunzte ein anderer. Emilia musste den Drang unterdrücken, dem Kürbis einen Tritt zu verpassen, (damit er die Stufen hinunterkullerte.) Wenn sie das täte, würde sie nicht nur Roxannes Wut auf sich ziehen, sondern auch eine Pechsträhne riskieren, wenn der Kürbis sie verfluchte.

Unter Rufen wie „Schätzchen, gib mir ein Küsschen“ oder „Ich fühle mich so leer und ausgehöhlt“, gefolgt von Gelächter, das wie das Scheppern mehrerer Töpfe klang, schloss Emilia die Tür auf und trat in das Haus ein.

Sie war nicht einmal ganz in den geräumigen Eingangsbereich mit den Orientteppichen und den knarrenden Holzdielen getreten, da schlug ihr schon der Duft der Kürbissuppe entgegen.

„Die Schlampe kocht unser Innerstes!“, kreischte einer der Kürbisköpfe.

„Mörder!“, schrien die anderen, ehe Emilia mit einem genervten Schnauben die Tür zuschlug, was allerdings nicht das laute Gegacker der aufgedrehten Kürbisse ersticken konnte.

Sie ging geradeaus an der Treppe vorbei und betrat die Küche, aus der der herrliche Duft strömte. Emilia ließ den Blick über die Herdplatte gleiten, auf der verschieden große Töpfe standen, in denen je ein anderes Gericht brodelte. Von der Decke baumelten Kräuterbündel, die die Luft mit ihrem würzigen Geruch schwängerten. Die weiße Küche im Landhausstil wirkte wie ein Schlachtfeld.

Während Roxanne um die Kochinsel herumwuselte, wuschen sich die unzähligen Töpfe und Teller selbst. Sie tauchten in das Schaumwasser, während eine Bürste sie bearbeitete, ehe sie abtropften und dann von einem Handtuch getrocknet wurden. Dann stapelte sich das saubere Geschirr auf der anderen Seite.

„Emilia“, rief Roxanne mit dem gewohnt herzlichen Lächeln auf den Lippen. Heute jedoch verrieten die zuckenden Mundwinkel ihre Anspannung.

„Hey, Tante Rox.“ Emilia stützte sich mit den Händen auf der Kücheninsel ab und nickte in Richtung Haustür. „Die Kürbisse haben sich wieder aus ihrem Lähmzauber befreit.“

Tante Rox schloss mit einem Stöhnen die Lider. „Verdammte Quälgeister“, zischte sie. „Ich kümmere mich gleich darum.“ Sie winkte ab.

Emilia schmunzelte vor sich hin. Tante Rox belegte die Kürbisse mehrmals in der Woche mit einem Lähmzauber, damit sie kein Aufsehen bei den Menschen erregten. Es kamen nicht oft welche an ihrem Garten vorbei. Das Problem bestand vielmehr darin, dass die Kürbisse kein Gespür dafür hatten, ihre Magie zu verbergen. Besser gesagt: Es war ihnen egal.

„Wie war die Schule, Schätzchen?“, riss Tante Rox Emilia aus ihren Gedanken. Ihr langes rotbraunes Haar hatte Roxanne zu einem unordentlichen Dutt geknotet, der ihre hohen Wangenknochen noch besser zur Geltung brachte. Sommersprossen übersäten ihr Gesicht. Roxanne musterte Emilia mit ihren grauen Augen, während sie sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn wischte.

Emilia vermutete, dass Roxanne nervöser war als sie selbst. Da sie keine Kinder hatte, war es für sie das erste Mal, dass sie eine Weihe vorbereitete, was einige Tage in Anspruch nahm.

Für Jason, Emilias großen Bruder, hatten es noch ihre Eltern gemacht, bevor sie gestorben waren. Bei diesem Gedanken zog sich Emilias Herz zusammen wie an dem Tag, an dem sie es erfahren hatte. Hastig schüttelte sie den Kopf. „Gut“, antwortete sie knapp, da ihr trockener Mund nicht mehr Worte entlassen wollte. Ihre Gedanken kreisten immer noch um Ryan und ihren Beinahe-Kuss … und Max. Sie hoffte so sehr, dass er sie nicht gesehen hatte.

Roxanne wuselte in Richtung Esstisch, auf dem bereits die Kürbissuppe stand. „Los, setz dich.“ Sie zwinkerte Emilia zu. „Ich bin mir sicher, dass deine Nervosität mit einem vollen Magen vorübergehen wird.“

Emilia ließ sich auf einen der Holzstühle sinken und starrte in ihre Suppe, die Roxanne mit einem Fingerwisch in die Teller füllte.

„Jason! Max!“, dröhnte ihre Stimme durch das Cottage.

Wenige Sekunden darauf erschien Max, wie immer mit seinem Smartphone in den Händen. Konzentriert starrte er auf den Bildschirm.

Emilia beneidete seine Sorglosigkeit. Er hatte noch fünf Jahre bis zu seiner eigenen Weihe. Obwohl das Ritual eine große Ehre bedeutete, war es gleichzeitig eine schwere Bürde. So sagte es zumindest jede wichtigtuerische Hexe.

„Max, bitte! Dein Handy!“ Mit einem Schnipsen ließ Roxanne das Smartphone verschwinden. Stattdessen erschien ein Löffel in Max’ Hand, was ihn endlich dazu veranlasste, aufzusehen.

Er besaß dieselben blauen Augen, die Emilia und er von ihrer Mutter geerbt hatten, ebenso wie das feuerrote Haar und die von Sommersprossen übersäte Haut. Viele in Stanhope dachten, dass Roxanne ihre leibliche Tante war, da sie sich nicht unähnlich sahen. Doch dem war nicht so. Sie waren nicht blutsverwandt und dennoch band sie ein Blutschwur an die Verantwortung für drei Teenager.

Während Max sich seiner Suppe widmete – seit dem Tod ihrer Eltern sprach er nicht mehr viel – marschierte Jason mit stolz erhobenem Kinn in die Küche. Manchmal schmerzte es Emilia, wenn sie ihn sah, denn mit seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen ähnelte er ihrem Vater. In seiner Hand hielt er eine Flasche mit einer grün-blauen Flüssigkeit, die er zwischen den Fingern schwenkte. Dabei lag ein verschmitztes Grinsen auf seinen Lippen. Er schnippte mit dem Finger, sodass ein bläulicher Dunst aus dem Flacon emporstieg. „Endlich Oktober!“ Er prostete Emilia, Roxanne und Max, der nicht aufsah, zu.

Roxanne verengte die Augen. Kein gutes Omen. „Was ist das, Schätzchen?“, fragte sie, wobei das Misstrauen ihre Stimme um drei Oktaven hochschnellen ließ.

„Das, meine liebe ahnungslose Familie, ist der Armor-Trank“, verkündete Jason feierlich und machte eine alberne Handbewegung über dem Glas wie ein Zauberer, der im Begriff war, ein Kaninchen aus dem Hut zu ziehen.

Gut, dachte Emilia, war er ja streng genommen auch. Sie verdrehte die Augen, während Roxanne die Hände in die Hüften stemmte und die Brauen hob. „Jason Walsh.“ Ihre Stimme war binnen Sekunden von butterweich zu schneidend gewechselt. „Was habe ich dir zu solchen Dingen gesagt?“

Jason stöhnte auf. „Tantchen.“

Emilia stützte den Kopf auf die Hand und reckte das Kinn. „Roxanne mag es einfach nicht, wenn du versuchst, Mädels mit Magie flachzulegen.“

Roxanne schnippte, sodass im nächsten Moment Emilia die Krawatte ihrer Schuluniform ins Gesicht schlug.

„Tante Rox“, schnaubte Emilia.

„Rede nicht so.“ Roxanne richtete den Finger nun auf Jason. „Und du kippst das weg. Sofort.“

Jason schlurfte murrend zum Spülbecken, wo er die dickflüssige Pampe entsorgte. Dann setzte er sich.

Emilia kicherte. „Bist du so ein Loser, dass du einen Zaubertrank trinken musst, damit Mädchen auf dich abfahren?“ Blitzschnell wich sie einer weiteren Klatsche des Schlipses aus.

Jason lachte ein humorloses Lachen. „Nein, aber mein Äußeres wirkt eher einschüchternd.“

Emilia hob die Brauen. „Oh, so sagt man das heute, wenn man hässlich ist?“ Ein Lachen entrang sich ihrer Kehle, was ihr jedoch augenblicklich stecken blieb, als ein weiteres Schnipsen ertönte. Mit einem festen Ruck zog sich die Krawatte zu. Erschrocken röchelte Emilia nach Luft.

„Ihr wisst doch ganz genau, dass ihr eure Kräfte nicht dafür missbrauchen dürft.“ Roxanne schob ihren Teller von sich, als hätten Jason und Emilia ihr den Appetit verdorben.

„Tante Rox, ich bin froh, dass du deine Kräfte fürs Kochen missbrauchst“, feixte Jason, der sich das freche Grinsen nicht verkneifen konnte.

Es ertönte kein Schnipsen, aber dafür ein dumpfes Klatschen, als Roxanne ihm mit der flachen Hand einen Klaps auf den Hinterkopf gab. „Du solltest nicht so große Töne spucken, sonst erzähle ich Samantha, was du treibst.“ Dann musterte sie Jason. „Außerdem solltest du die Finger von Menschen lassen, du kennst die Regel.“

Jasons Gesichtsausdruck verfinsterte sich, während er sich einen Löffel Suppe in den Mund schob.

„Wer war dann dieser Junge?“, fragte Max und blickte Emilia direkt in die Augen.

Es fühlte sich an, als schnürte die Krawatte ihr erneut die Luft ab. Emilia schluckte schwer und blickte zu Roxanne, die ihren Blick fragend erwiderte. Emilia spürte die Wut in der Luft flimmern. In diesem Moment hasste sie ihren kleinen Bruder. „Ich weiß nicht, was du meinst“, stammelte sie, blinzelte und widmete sich ihrer Suppe.

Doch Roxanne ließ sich weder abwimmeln noch mit irgendwelchen Taktiken der Verleugnung abspeisen. Geräuschvoll knallte sie den Löffel auf die Seite. „Welcher Junge?“

Emilia atmete tief ein und warf Max einen vernichtenden Blick zu. Noch wütender machte sie die Tatsache, dass sie ihm nicht einmal böse sein konnte. Inzwischen hatte er sich wieder seinem Teller Kürbissuppe gewidmet.

Nach Worten ringend wandte sich Emilia Roxanne zu. „Niemand. Ein Freund aus der Schule, nichts weiter.“

„Sie haben sich fast geküsst.“

„Max!“, stieß Emilia hervor und sprang auf, die Hände zu Fäusten geballt.

Max hielt den Blick gesenkt und zauberte sein Smartphone hervor, um sein Spiel zu spielen.

Roxanne hatte sich ebenfalls erhoben. „Fast geküsst?“ Es war deutlich zu hören, dass sie den schrillen Unterton zu unterdrücken versuchte. „Emilia, sag, dass das nicht wahr ist.“

Emilia sah zu Jason, der schuldbewusst die Lippen schürzte, als hätte er die Bombe platzen lassen.

Die Anspannung knisterte in der Luft, sodass sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. „Es ist wahr.“

Roxanne schlug sich die Hände vor das Gesicht. „Emilia.“

„Was? Ihr lasst uns auf normale Schulen gehen und erwartet, dass wir unter uns bleiben? Wie soll das funktionieren? Ich bin sechzehn, natürlich verliebe ich mich.“ Sie schnaubte. Normalerweise keifte sie Roxanne nicht so an. Doch mit den letzten Jahren hatten sich die Ketten des Zirkels fester und fester um ihre Gelenke geschnürt, denn je älter sie geworden war, desto strenger behandelte man sie. Aber sie wollte sich nicht bevormunden lassen.

Roxanne fuhr sich durch das rotbraune Haar und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht von Belang!“ Ihr Blick war eisern. „Es sind ganz einfache Regeln: Lasst euch nicht auf die Menschen ein. Bleibt unter euch.“

Emilia spürte die Magie wie Funken um ihre Finger springen. „Ihr stellt diese bescheuerten Regeln auf und erklärt nicht einmal, warum.“

Roxanne schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Selten hatte Emilia sie so wütend gesehen und wenn, war es nie gegen sie oder ihre Geschwister gerichtet gewesen. „Verdammt, Emilia. Brauchst du einen Grund, um Regeln zu gehorchen? Du wirst ihn am Ende der Woche bei deiner heiligen Weihe erfahren.“

„Ich will ihn nicht erfahren. Weil ich mich dieser blöden Regel nicht beugen will. Ich habe mich verliebt, ja, und ich kann es nicht abstellen.“ Dass Emilias beste Freundin noch dazu ein Mensch war, ließ sie unerwähnt.

Ihre Worte schienen Roxanne bereits jetzt an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Sie packte Emilia an den Schultern. „Du musst!“

Emilia schnaubte. „Nicht jeder kann sich einfach jedem Gefühl entziehen wie du“, platzte es aus ihr heraus.

Mit Wirkung. Als hätte Emilia sie mit einem Messer verletzt, zuckte Roxanne zurück und sah sie mit großen Augen an. Ihre Wut verpuffte und sie schluckte.

Bevor sie etwas entgegnen konnte, schob sich Jason dazwischen. „Okay, das reicht. Bevor jetzt noch etwas gesagt wird, was ihr beide bereut, solltet ihr euch erst einmal beruhigen.“

„Fein“, sagte Emilia, wirbelte herum und stampfte die Treppen empor in ihr Zimmer, wo sie die Tür mit voller Wucht hinter sich zuknallte.

Sie schleuderte ihre Schultasche auf den Schreibtisch in der Ecke und warf sich auf ihr großes Bett, auf dem eine mit Blumen bestickte Tagesdecke lag.

Emilia legte ihre noch immer zu Fäusten geballten Hände überkreuzt auf ihren Bauch, um nicht die nächstbeste Vase zerspringen zu lassen. Sie hatte in den letzten Jahren die Regeln nicht mehr so ernst genommen und sich mit Menschen angefreundet. Und mit den Monaten kamen die Zweifel am System des Zirkels. Was sollte das alles bewirken? Vollkommene Isolation. Wozu? Hielten sie sich für etwas Besseres oder lag es daran, dass die Geheimhaltung eine hohe Priorität hatte? Mit diesen Zweifeln und Gedanken, die seit einiger Zeit Wurzeln in ihrem Kopf schlugen, fühlte sie sich einsamer als je zuvor. Noch schlimmer war, dass sie sich niemandem anvertrauen konnte, außer Oliver, der es allerdings nicht wagte, irgendeine Regel infrage zu stellen.

Emilia blickte aus dem Fenster, das auf den Friedhof hinausging, und dachte an ihre Weihe. Von den anderen Hexen im Zirkel wusste Emilia, dass es eine ehrenvolle Sache war, geweiht zu werden. Von Oliver wusste sie, dass es jedes Jahr im Oktober einen Auserwählten gab, der die wichtigste Aufgabe in der Neumondnacht übernahm. Was auch immer sie dann in dem Wald taten. Angeblich handelte es sich um eine schmerzvolle Bürde, auserwählt zu werden. Zwar wusste sie noch nichts von diesem Verfahren, denn dieses Wissen wurde strikt vor den Nicht-Geweihten verborgen. Am Ende dieser Woche würde sie es erfahren. Doch nun war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie es noch wollte.

Wie so oft in ihrem Leben wünschte Emilia sich, normal zu sein. Was auch immer das bedeutete. Menschlich sein. Ohne magische Fähigkeiten, ohne dämliche Regeln. Die letzten Monate vor diesem Oktober waren ihre letzten gewesen, in denen sie ihre Magie nicht nutzen konnte. Denn alle Hexen und Hexer vor der Weihe hatten nur im Oktober magische Kräfte. Nach ihrer Weihe ging die Magie vollständig auf sie über. Dennoch war der Oktober der Monat, in dem die Magie sich wie eine Blume entfaltete, kräftiger, stärker, ehe sie am Ende verblasste.

Das Summen ihres Handys riss Emilia aus ihren Gedanken. Eine Nachricht von Ryan.

Hey Emilia, es war sehr schön heute mit dir. Du bist nur so schnell verschwunden. Lag es an mir? Habe ich etwas falsch gemacht?

Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf Emilias Lippen. Gleichzeitig bohrte sich eine Speerspitze in ihre Brust, als sie an Roxannes Worte dachte. Sie schüttelte sie ab und tippte eine Antwort.

Ryan, es tut mir leid, dass ich so schnell losmusste. Es hat nichts mit dir zu tun. Ich hätte dich sehr gern geküsst …

Noch einmal dachte sie daran zurück, wie nah sie sich gewesen waren. Seine Lippen hatten beinahe ihre berührt. Sein Duft, der sie in eine andere Welt entführt hatte. In diesem Moment hatte es nur sie beide gegeben. Nur sie. Zwei Menschen.

Ein weiteres Summen.

Dann hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal nicht gestört werden.

Emilia grinste breit. Ein weiteres Summen.

Ich mag dich echt gern, Em. Wirklich sehr.

Emilia rollte sich auf den Rücken und genoss das Flattern in der Brust, das sich wie ein Frühlingssturm anfühlte, welcher Tausende Blütenblätter mit sich trug, die sie wie Schmetterlingsflügel kitzelten. Sie seufzte verliebt, ehe sie Jasons und Roxannes Stimmen vernahm.

Sofort sprang sie auf und öffnete die Tür einen Spalt. Ihr Bruder und Roxanne standen im Eingangsbereich vor der Treppe und diskutierten.

„… mach dir keine Sorgen, sie wird es verstehen“, wisperte Jason. „Du kennst sie doch auch. Sie würde nie zulassen, dass so etwas geschehen würde.“

„Ich kann dieses Risiko nicht eingehen. Nicht noch einmal“, zischte Roxanne. „Du wirst herausfinden, mit wem sie sich trifft, und diese Beziehung torpedieren.“

Eine erneute Welle des Zorns schwappte über Emilia und sie bohrte ihre Finger in den Türrahmen.

„Roxanne, bist du übergeschnappt?“ Ihm fiel es schwer, das Beben in seiner Stimme zu dämpfen. „Weißt du, was du da von mir verlangst?“

Kurze Stille, in der Emilia die Luft anhielt, da sie fürchtete, sie könnten ihre schnelle Atmung hören.

„Es tut mir leid“, seufzte Roxanne dann. „Die Weihe ist nicht mehr weit und bis zur Neumondnacht sind es noch einige Tage. Vielleicht fügt es sich von alleine.“

„Ich gehe davon aus. Sie mag Oliver. Das wird es leichter machen.“

Emilia runzelte die Stirn. Was hatte das nun zu bedeuten? Doch noch bevor sie sich in Grübeleien stürzen konnte, hörte sie, wie Jason die Treppe emporstieg.

Hastig drückte sie die Tür wieder zu und warf sich auf ihr Bett. Das Handy schob sie vorsichtshalber unter das Kopfkissen.

In derselben Sekunde klopfte es an der Tür und Jason steckte den Kopf durch den Spalt. „Hey“, sagte er. Seine Mundwinkel zuckten.

Emilia setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett und nestelte an ihren Ringen. „Hey.“

Auch wenn Jason ein ziemlicher Spaßvogel war, so war er auch der beste große Bruder, den Emilia sich je hätte wünschen können. Er fand immer die richtigen Worte, um sie zu besänftigen, ließ ihr allerdings auch den Freiraum, den sie brauchte, um ihre Gefühle auszuleben.

„Alles okay?“, fragte er und öffnete die Tür ein Stück mehr, um sich an den Rahmen zu lehnen.

Er sah gut aus mit seinen markanten Gesichtszügen und gleichzeitig kindlichen Augen, die von dunklen Wimpern umrahmt wurden. Seine Haut war zwar blass, aber seine Wangen immer etwas gerötet. Auf seinen Lippen trug er stets ein Schmunzeln, als könnte nichts und niemand ihm etwas anhaben. In der Schule war er der Mädchenschwarm schlechthin gewesen, was es für Emilia noch schwieriger zu begreifen machte, wie er sich nie in eines dieser Mädchen hatte verlieben können.

„Was geht dir durch den Kopf?“, fragte er.

Emilia verhakte die Finger ineinander. „Warst du jemals verliebt … in einen Menschen?“

Jason sah kurz über seine Schulter, schloss die Tür und setzte sich dann neben Emilia. „Ja“, sagte er und streckte die langen muskulösen Glieder. „Einmal.“ Er grinste sie schief an.

„Und was ist passiert?“, fragte sie und wandte sich ihm neugierig zu. Es war selten, dass Jason Dinge über sich offenbarte.

Jason zuckte mit den Schultern. „Nichts. Sie … sie wollte mich nicht, also war ich ein paar Monate traurig und hab sie dann irgendwann vergessen.“

Emilia kniff die Augen zusammen. Etwas in ihr zweifelte an dieser Version der Geschichte. Aber sie stellte es nicht infrage. „Und jetzt bist du mit Samantha zusammen.“

Samantha Shannon war ebenso hübsch wie Jason und ebenfalls eine Hexe des Zirkels. Allerdings trafen die beiden sich nicht oft und Jason hatte bereits angedeutet, dass sie so etwas wie eine offene Beziehung führten. Es passte zu ihm. Er war nicht der Typ, der sich band. Noch nicht, das sagte zumindest immer Roxanne, gefolgt von: „Er muss sich nur ein bisschen die Hörner abstoßen.“

„Ja“, sagte Jason und wirkte dabei so gefühlvoll wie ein Roboter.

„Bist du nicht glücklich?“

Jason musterte Emilia, dann setzte er ein schiefes Grinsen auf. „Klar.“ Er sprang auf. „Und wenn ich dir einen Rat geben darf, dann halte dich von Menschen fern. Sie werden dich nicht glücklich machen.“

„Woher willst du das wissen?“

Jason drehte sich vor der Tür noch einmal um. „Ich weiß es einfach.“ Dann seufzte er traurig. „Aber es ist deine Entscheidung. Nicht meine, nicht Roxannes. Es ist deine.“ Zur Verabschiedung klopfte er gegen den Türrahmen, sodass der Ring an seinem Finger ein hölzernes Geräusch abgab.

Emilia ließ sich rücklings ins Bett fallen. Typisch Jungs, dachte sie. Ein Menschenmädchen bricht ihm das Herz und er schiebt es auf die gesamte Menschheit.

Um sich vom Streit mit Roxanne zu erholen, lenkte Emilia sich den Rest des Tages mit Hausaufgaben ab, ehe sie in einem Buch schmökerte, während sie am geöffneten Fenster saß. Sie genoss den Wind, der mit den Blättern spielte, das Knarzen der Bäume und zuckte zusammen, wenn die Kürbisköpfe wieder einmal der Katze in den Schwanz bissen. Das lautstarke Fauchen schallte durch den gesamten Garten.

Ein ganz normaler Oktobertag also.

Wenig später riss ein Klopfen Emilia aus der Fantasiewelt, in die sie zwischen den Zeilen ihres Buches eingetaucht war. Sie blickte auf und Roxanne steckte den Kopf durch die Tür. „Kann ich reinkommen?“

Emilia ließ ihr Buch sinken und nickte.

Als würde sie ein Löwengehege betreten, schob Roxanne sich durch den Spalt und stellte sich vor das Bett. Ihre schlanken Finger trommelten auf dem Bettpfosten.

Emilia deutete aus dem Fenster. „Die Kürbisse -“, begann sie, um die Stille zu füllen.

„Ich weiß“, seufzte Roxanne. „Ich kümmere mich gleich um diese Biester.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, blinzelte. „Deswegen bin ich nicht hier. Ich wollte … Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich war etwas forsch und unsensibel und …“ Sie suchte nach einem Wort.

„Wütend?“

Roxanne blinzelte. „Nein“, sagte sie und trat um das Bett herum auf das Fenster zu. „Nein, wie könnte ich wütend sein? Ich habe Angst.“ Sie ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. „Um dich.“

Emilias Muskeln entspannten sich, sie lehnte sich vor. „Aber warum?“

Roxanne presste die Lippen zusammen.

Emilia atmete geräuschvoll ein und verdrehte die Augen. „Ich verstehe schon.“ Langsam ging es ihr auf die Nerven, dass niemand sagen konnte oder wollte, was das alles zu bedeuten hatte.

„Ich möchte einfach nicht, dass du unglücklich wirst.“

„Der Zirkel macht mich unglücklich.“

„Emilia“, sagte Roxanne mahnend, als fürchtete sie, eine alte Kräuterhexe des Zirkels könnte unter dem Fenster stehen und lauschen. „Der Zirkel will nur das Beste für uns.“

Emilia schnaubte. Die Luft, die vorher noch so angenehm frisch gerochen hatte, wurde säuerlich und schwer.

„Du wirst es verstehen“, sagte Roxanne wie auch die anderen vor ihr. Versöhnlich legte sie eine Hand auf Emilias Knie und lächelte. „Ich will nur das Beste für dich. Das glaubst du mir doch, oder?“

Emilia blickte ihr in die Augen, die in der Nachmittagssonne glänzten. Sie vertraute Roxanne. Seit dem Tod ihrer Eltern war sie es gewesen, die sich ein Bein ausgerissen hatte, um sich um sie und ihre beiden Brüder zu kümmern. Soweit Emilia wusste, war das ein weiterer Kodex des Zirkels, der sich damit brüstete, für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Roxanne war die beste Freundin ihrer Mutter und damit auch die Patin für sie alle gewesen. Niemals würde Roxanne Emilia oder Max und Jason etwas Böses wollen. „Natürlich glaube ich dir“, sagte Emilia und erwiderte Roxannes Lächeln. Und dennoch krampfte sich ihr Magen zu einer harten Kugel zusammen, wenn sie an den Zirkel, die Regeln und ihre Weihe dachte.

Draußen erklang ein Scheppern, gefolgt von dem erneuten Fauchen der Katze und dem dreckigen Lachen der Kürbisse.

Roxanne warf die Hände in die Luft. „Ich knöpf sie mir vor.“