Leseprobe Zeit der Orangenblüte

1

Guadalmina – Ortsteil von San Pedro de Alcántara

Juni 2008

Schreie schreckten Carlota auf. Mit rasendem Herzschlag sprang sie aus dem Bett und eilte barfuß auf die überdachte Terrasse. Eine Möwe erhob sich kreischend von der Brüstung und flog davon. Suchend sah Carlota hinunter auf die weiten Rasenflächen ihres Grundstücks, doch sie entdeckte nichts Außergewöhnliches. Langsam normalisierte sich ihr Pulsschlag. Sie blickte über das Meer. Frachter schoben sich wie Kinderspielzeuge am Horizont entlang. Palmenblätter raschelten neben dem Balkon im Wind. Ein ebenso herrlicher Tag wie damals. Schwungvoll wandte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück. Freudig öffnete sie die Verbindungstür und betrat das Schlafzimmer ihres Mannes. Es war leer, das Bett unbenutzt. War Niklas selbst an diesem Tag in die Kanzlei gefahren? Seltsam. Wahrscheinlich hatte er sich nach der durchfeierten Nacht nicht schlafen gelegt, sondern wartete unten auf sie. Carlota eilte ins Bad und öffnete das vom Vortag hochgesteckte Haar.

Unter der Dusche ließ sie ausgiebig kaltes Wasser über ihren schlanken Körper laufen und versuchte, dadurch das Hämmern in ihrem Kopf zu vertreiben. »Das war ein Gläschen zu viel Champagner, liebe Carlota«, sagte sie vergnügt.

Das grüne Satinabendkleid, das sie zum Fest getragen hatte, lag wie eine Ziehharmonika auf dem Boden ihres Ankleidezimmers. Sie nahm es auf, warf es über einen Stuhl und zog das neue Seidenkleid vom Bügel, das sie für diesen Tag in Madrid gekauft hatte. Statt der üblichen Perlenohrringe wählte sie tropfenförmige Brillanten und schminkte ihre schmalen Lippen entsprechend der Kleiderfarbe rosé. Die Schatulle mit dem Smaragdschmuck, den sie am Vorabend getragen hatte, legte sie zurück in den Safe im Wandschrank und verließ den Schlaftrakt.

Singend sprang Carlota die Stufen der ausladenden Treppe hinunter und durchquerte die säulengetragene Halle. Im Vorübergehen blickte sie hinaus in den Patio. Keinerlei Spuren von den fast hundert Gästen am Vorabend waren mehr zu entdecken. Sie betrat das Esszimmer. Eine leichte Brise vom Meer wehte durch die geöffneten Terrassentüren herein und blähte die Seidengardinen auf.

»Buenas tardes, Doña Carlota.«

»Hola, Maria, ich bin überrascht. Die letzten Gäste sind doch erst gegen sieben Uhr gegangen und alles ist sauber und aufgeräumt. Habt ihr nicht geschlafen?« Maria schüttelte den Kopf. »Und richte bitte allen meinen herzlichen Dank aus, falls ich ihnen heute nicht begegne. Ihr wart die letzten Tage und während der Feier so engagiert und aufmerksam. Danke vor allem deinem José und den beiden Mädchen. Eine großartige Idee von euch, die Rasenflächen in ein Lichtermeer zu verwandeln. Das war eine gelungene Überraschung und Freude für uns.«

»Haben wir gern getan«, antwortete Maria erfreut.

»Danke, Maria. Stell dir vor, heute bin ich fast so aufgeregt wie vor zehn Jahren«, sagte Carlota, lachte und sah die rundliche Haushälterin liebevoll an. Maria hatte bereits lange Zeit vor ihrer Geburt bei der Familie gearbeitet und war für sie die zweite Mutter. Wie schön Maria den Tisch mit dem alten Meißner Porzellan gedeckt und mit einem Rosenbouquet vom Vorabend geschmückt hatte. Genauso wie es Mutter früher zu Festtagen angeordnet hatte. Bei dem Gedanken an ihre verstorbenen Eltern spürte sie einen Hauch von Wehmut. Schade, dass beide diesen Tag nicht mehr erleben durften.

»Sitzt mein Mann auf der Terrasse oder ist er am Strand?«

Maria wandte sich ihr zu und sah sie skeptisch an, zögerte – und verließ wortlos den Raum.

Verwundert schüttelte Carlota den Kopf und ging auf den gedeckten Tisch zu. Kein verräterisches Päckchen lag dort. Hatte Niklas diesen Tag vergessen? Erst jetzt entdeckte sie den Briefumschlag, der verborgen durch den Blumenschmuck an einem der Gläser vor ihrem Gedeck lehnte. Sie griff danach. Erwartungsvoll betrachtete sie den Brief von allen Seiten und rätselte, was sich Niklas Besonderes hatte einfallen lassen. Ihr Herz schlug schneller. Sie sah sich um. Wo blieb er? Wollte er nicht zusehen, wie sie sich freute? Sie stellte das Kuvert zurück. Das Öffnen konnte warten. Obwohl Niklas selten Freude zeigte, würde es ihr ein Glücksgefühl bereiten, sein überraschtes Gesicht zu sehen, sobald er sein Geschenk aus der Schatulle befreite. Sie sah auf ihre Armbanduhr und ging hinaus auf die Terrasse. Doch weder dort noch im Garten oder an dem menschenleeren Strand entdeckte sie Niklas. Betrübt kehrte sie in den Raum zurück und stellte das liebevoll verpackte Kästchen mit dem Schlüssel für einen Oldtimer neben seinen Teller. Für dieses seltene Stück war sie extra nach Amsterdam geflogen. Das Auto war erst am Vortag mit dem Transporter in Málaga eingetroffen. Sie blickte erneut auf die Uhr. Zwanzig nach zwei. Erst wenige Minuten waren verstrichen. Carlota zögerte. Sollte sie weiter auf ihn warten? Doch ihre Neugier überwog. Sie riss das Kuvert auf, zog den Briefbogen heraus und faltete ihn auseinander. Kein Geschenk. Lediglich drei Worte, hingekritzelt mit schwarzer Tinte auf dem Briefpapier seiner Kanzlei. Carlota las ein weiteres Mal. Sie hielt den Briefbogen mit beiden Händen und starrte auf die Worte, als könnte sie diese vertreiben. Tränen füllten ihre Augen. Tropfen fielen auf das Blatt. Die Buchstaben zerflossen. Graue Schleier blieben zurück. Sie ließ das Papier zu Boden gleiten. Ein Windhauch trieb es wie ein welkes Blatt vor sich her. Taumelnd verließ sie das Esszimmer und betrat erneut die Terrasse. Ihre Hände zitterten. Die Kraft ihrer Beine schwand. Mit Mühe erreichte sie das schmiedeeiserne Geländer, klammerte sich daran und ließ sich auf den von der Sonne gewärmten Boden gleiten. Sie kauerte sich an das warme Eisen und schloss die Augen. Ihre stillen Tränen gingen in einen Weinkrampf über.

Kam das Rauschen vom Meer, das derart laut in ihrem Kopf dröhnte? Schlief sie und träumte? Carlota öffnete die Augen. Nein, der Brief war Realität. Lediglich drei hingekritzelte Worte – Ich verlasse dich – standen dort, keine Begründung.

Ein Gefühl der Ohnmacht breitete sich in ihr aus. Nach und nach versiegten die Tränen, als fehlte ihr die Kraft. Ihr Körper fühlte sich an wie eine leblose Hülle. Ihr Blick fiel auf den Ring an ihrem Finger. Der Brillant funkelte im Sonnenlicht. Seit zehn Jahren trug sie ihn. Hatte es Warnzeichen gegeben, die sie nie bemerkt oder ignoriert hatte, genau wie am Vorabend, als sie das ungute Gefühl beiseitegeschoben hatte? Eigentlich war es nie Niklas’ Art gewesen, Mandanten nach Hause einzuladen. Und gewiss nicht zu dieser privaten Feier, die lange geplant und vorbereitet worden war. Weshalb war sie nicht stutzig geworden? Niklas war derart spät erschienen, dass er sich dem Anlass entsprechend nicht mehr hatte umziehen können. Hatte er das Fest vergessen? Unsinn. Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich erschien er gleich und überraschte sie mit einem ausgefallenen Geschenk und erklärte ihr, dass dieser Brief ein Scherz gewesen sei. Manchmal konnte Niklas skurril sein. Nein, er verließ keine Frau, die ihn trotz des Widerstandes ihrer Eltern geheiratet hatte. Und mit Sicherheit wäre ihr aufgefallen, wenn er dazu Vorbereitungen getroffen hätte.

Seit ihrer Heirat hatte er nie Koffer gepackt. Das war Marias Aufgabe. Carlota stand auf und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer. Aus dem Esszimmer kam leises Geschirrgeklapper. Weshalb räumte Maria ab? Sobald Niklas kommt, essen wir. Kopfschüttelnd ging sie ins Haus zurück und betrat den Salon. Egal, sollte sich die alte Frau beschäftigen. Vermutlich war Maria traurig, dass das von ihr liebevoll zubereitete Festessen verbrutzelte. Carlota warf sich rücklings auf das Ledersofa. Sie starrte zur Decke und zählte die Gardinenringe an den Messingstangen. Aber es half nichts. Wieder tauchten die Gedanken an den Festabend auf. Niklas war nicht nur verspätet erschienen, sondern während des Festes kaum fröhlich gewesen und hatte sich mehr um seine Gäste als um ihre gemeinsamen Freunde gekümmert. Immerhin war er während des Feuerwerks am Strand vor ihrem Grundstück an ihrer Seite gewesen. Gemeinsam hatten sie den Sternenregen bestaunt, der vom Nachthimmel fiel und im silbrig glitzernden Meer versank. In immer kürzeren Abständen sah Carlota auf ihre Armbanduhr und lauschte auf jedes Geräusch. Niklas erschien nicht. Die Sonne stand bereits tief im Westen. Vereinzelte Strahlen zwängten sich durch das Blattwerk der mächtigen Gummibäume, und die Palmen warfen lange Schatten auf die Rasenfläche.

Maria betrat den Salon und unterbrach sie bei der Grübelei. »Doña Carlota, im Esszimmer habe ich kaltes Roastbeef mit Remoulade, das Sie so gerne essen, und den restlichen Hummer vom Fest vorbereitet. Oder soll ich es Ihnen hier servieren?«

Carlota schüttelte den Kopf. »Nein danke, Maria, im Moment habe ich keinen Appetit. Bitte räume alles ab.«

»Aber Sie müssen etwas essen! Es ist nach neun, Don Niklas kommt nicht zurück«, antwortete Maria und sah dabei so schuldbewusst aus, als wären ihr die Worte herausgerutscht. Carlota starrte sie so ungläubig an, dass Maria weitersprach: »Bevor Don Niklas heute Morgen das Haus verlassen hat, rief er mir zu, dass er seine Sachen abholen lässt. Dann habe ich die Tür ins Schloss fallen hören.« Schnell fügte Maria hinzu: »Aber vielleicht habe ich mich getäuscht. Im Innenhof haben die Männer vom Catering gerade die Tischplatten über den Terracottaboden gerollt.«

»Weshalb hast du mir das heute Mittag nicht gesagt?«

Maria zuckte mit den Schultern und erwiderte leise: »Weil es mich nichts angeht.«

»Maria, bitte, du kennst mich seit meiner Geburt! Rede nicht so einen Unsinn!«

»Ich hab es nicht übers Herz gebracht. Als Sie herunterkamen, sahen Sie so glücklich aus. Dann habe ich gehofft, dass ich mich geirrt hätte und Don Niklas nur in die Kanzlei gefahren ist und er andere Sachen meinte. Wozu sollte ich Sie unnötig aufregen?«, sagte Maria kaum hörbar und verließ den Raum.

Carlota brauchte eine Weile, bis sie den Sinn der Worte erfasste. Sie sprang auf, nahm ein Glas vom Silbertablett, goss Brandy hinein, ließ den goldfarbenen Inhalt kreisen und leerte es in einem Zug. Sofort schenkte sie sich nach. Sie lehnte sich an den Rahmen der Terrassentür und trank es abermals ohne abzusetzen. Die Flüssigkeit rann ihr warm die Kehle hinunter. Was war mit Niklas los? Weshalb gab er ihr keine Erklärung, sondern schlich sich klammheimlich davon? Und aus welchem Grund wählte er dafür ausgerechnet ihren zehnten Hochzeitstag? Nach und nach kehrte Leben in ihren Körper zurück. Für wen hielt er sich? Mit Schwung warf sie das Glas durch den Raum. Es zerschellte. Scherben spritzten über den Terracottaboden. Unbeeindruckt verfolgte sie, wie einige Tropfen die Seidentapete bis zum Sockel hinunterliefen und sich auf den Steinen sammelten. Carlota rutschte zu Boden und lehnte den Kopf gegen den Türrahmen. Erneut ließ sie in Gedanken die Bilder des Abends Revue passieren. Wer waren die beiden fremden Herren und die rothaarige Frau gewesen, die Niklas ohne Vorankündigung mitgebracht hatte? Lag hier die Ursache für sein Verschwinden?

Die Dunkelheit senkte sich über das Land. Carlota stand auf, ging hinaus auf die Terrasse und betrachtete das im Mondschein glitzernde Meer. Eine Brise spielte in ihrem Haar. In der langgestreckten Bucht von Marbella flimmerten unzählige Lichtpunkte. Rotierende Laserstrahlen einer Diskothek durchtrennten wie Blitze die Schwärze. »Was denkst du dir?«, schrie sie in den Nachthimmel, als trügen Mond und Sterne die Schuld für ihre Misere. Doch außer dem Anbranden der Wellen erhielt sie keine Antwort. »Niklas, komm zurück und erkläre mir wenigstens, weshalb und gerade an diesem Tag?«

Natürlich stritten sie wie andere Ehepaare auch, meist über Nichtigkeiten, aber war das ein Grund, seinen Partner zu verlassen?

Das gleichmäßige Rauschen des Meeres beruhigte ihre Nerven. Sie schüttelte den Kopf. Niklas hatte sie nie verlassen. Vielleicht waren die Zeilen für jemand anderes bestimmt und er hatte das Kuvert auf dem Tisch vergessen. Möglicherweise hatte er wegen des Festes das Datum verwechselt und war, anstatt ins Bett zu gehen, in die Kanzlei gefahren und hatte wie so oft in letzter Zeit eines seiner unaufschiebbaren Geschäftsessen. Der Wind trug Musikfetzen aus dem nahegelegenen Chiringuito zu ihr herüber. »Unsinn, denk an Marias Worte, und es ist nach Mitternacht«, sagte sie in die klare Nacht. Sie fröstelte, obwohl noch fast dreißig Grad herrschten. Sich die nackten Oberarme reibend, ging sie ins Haus zurück und schloss die Flügeltüren. Hier war es still bis auf das Ticken der Kaminuhr und das Geräusch des Ventilators an der Decke. Seltsam, war Maria heute ohne Gruß verschwunden? Carlota lief zur Tür, öffnete sie und rief in den dunklen Flur: »Maria!« Doch weder Maria noch eines der beiden Hausmädchen erschien.

Carlota wanderte durch die hohen Räume. Mondlicht fiel durch die bis zum Boden reichenden, vergitterten Fenster und tauchte sie in gespenstisches Licht. Noch nie hatte sie sich in diesem riesigen Haus so einsam, so verlassen gefühlt. Sie betrat den Fernsehraum, lief zum Fenster, lehnte die Stirn an das Glas und sah hinaus in den Garten. Draußen auf dem Meer tanzten rote und grüne Lichtpunkte der Fischerboote auf den Wellen. Vom fahlen Mondschein erhellt, drehte der Mann vom Sicherheitsdienst mit beiden Riesenschnauzern seine Runden auf ihrem Grundstück. Sie löste sich von dem Fenster und schlenderte weiter in das Esszimmer. Dort stand noch ihr Abendessen, obwohl sie Maria gebeten hatte, alles abzuräumen. Ohne Licht einzuschalten, setzte sich Carlota an den Tisch. Sie schenkte sich aus der Karaffe ein Glas Wasser ein. Es war lauwarm geworden und schmeckte abgestanden. Sie stand auf, stellte alles Verderbliche auf das Tablett, trug es in die Küche und brachte die Platten in den Kühlraum. Bleierne Müdigkeit überfiel sie. Carlota gähnte. Möglicherweise überlegte es sich Niklas und kehrte während der Nacht zurück. Die Standuhr in der Halle schlug zwei. Vor dem ausladenden Treppenaufgang blieb sie stehen. Irgendetwas hinderte sie daran, die breiten Stufen hinaufzusteigen. Dort oben wartete ein Bett auf sie, in dem sie Leidenschaft, aber auch traurige Nächte erlebt hatte, sobald ihr Traum von einem Kind erneut im Nichts versunken war. Trug die Schwangere, die Niklas zum Fest eingeladen hatte, Schuld an seinem Verschwinden? Hatte der Anblick einer werdenden Mutter diese spontane Reaktion bei ihm ausgelöst? Konnte sich Niklas mit ihrer Kinderlosigkeit nicht abfinden? War das ein Grund, sie zu verlassen? Galt sie in seinen Augen als Versagerin oder hatte er sich vernachlässigt gefühlt, wenn sie abends früher zu Bett gegangen war, sobald er unvorhergesehene Geschäftsessen ankündigte? Erwartete er, dass sie wie viele spanische Frauen aufblieb, bis der Herr nach Hause kam, und sich dann für seinen Tagesablauf interessierte? Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Gerade aus gegenseitiger Rücksichtnahme hatten sie vor mehr als einem Jahr getrennte Schlafzimmer eingerichtet. Letzten Endes war es sein Vorschlag gewesen, da sie morgens gerne länger schlief. Ein Wort von ihm hätte genügt, denn seit ihrer Kindheit befolgte sie, was andere für sie entschieden oder von ihr erwarteten. Selbst damals hatte sie es widerspruchslos hingenommen, als ihr Vater, ihrem Stand entsprechend, von ihr verlangt hatte, dass sie keiner Arbeit nachging, so wie es inzwischen für so viele Frauen auf der Welt üblich war. Genau wie ihre Mutter sollte sie die spanische Tradition bewahren, sich um die Familie kümmern und das gesellschaftliche Leben pflegen. Katharina hatte sich nie damit abgefunden und sich in ihre Migräne und Depression geflüchtet. Carlota sah wieder Richtung Obergeschoss. Mit Herzklopfen wandte sie sich von der Treppe ab. Sie ging hinüber in den Gästetrakt, öffnete die Tür eines der Gästezimmer und warf sich dort auf das Bett.

Das Morgenkonzert der Vögel weckte Carlota. Sie blickte durch den schummrigen Raum. Weshalb lag sie in diesem Bett? Gedanken so zart wie die Morgenröte brachten die Erinnerung zurück. Rasch zog sie sich das Laken über den Kopf, das ihr als Zudecke diente. Sie wollte keinen neuen Tag erleben. Sie sehnte sich nach Düsterkeit, nach Ruhe, nach Geborgenheit. Und wenn Niklas während der Nacht zurückgekehrt war? Carlota riss sich das Betttuch vom Kopf und lauschte. Doch außer Meeresrauschen und Vogelgezwitscher vernahm sie keine Geräusche. Sie schlüpfte aus dem Bett und schloss die bis zum Boden reichenden Fensterflügel. Am Horizont kündigte ein heller Streif den neuen Tag an. Carlota ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und horchte. Im Haus herrschte Stille. Sollte sie in seinem Schlafzimmer nachsehen? Unsinn, vermutlich hätte er sie gesucht, wenn er hier wäre. Sie verkroch sich wieder im Bett. Hoffnungsvoll griff sie nach ihrem Mobiltelefon, das neben ihr auf dem Nachttisch lag. Nichts – keine Nachricht.

Es klopfte.

»Niklas, bist du es?«, rief sie.

»Nein, Doña Carlota«, antwortete Maria. »Ich habe Sie überall gesucht. Es ist fast Mittag, ich bringe Ihnen das Frühstück.«

»Maria, bitte, ich möchte nicht gestört werden«, erwiderte Carlota und wandte ihr den Rücken zu.

»Aber Sie müssen etwas essen oder wenigstens trinken. Gestern haben Sie schon nichts angerührt.« Die Tür wurde geöffnet. Maria stellte ein Tablett neben sie auf das Doppelbett und verschwand wortlos.

Carlota setzte sich auf die Bettkante, griff nach der Kaffeetasse und blickte hinaus in den Garten. Das Croissant ließ sie unberührt. Jetzt war sie allein. Außer Maria hatte sie niemanden mehr. Alle Menschen, die sie liebte, verließen sie. Zuerst ihr Bruder, dann die Eltern – jetzt Niklas. Selbst Antonio … Rasch verdrängte sie den Gedanken an ihn und lauschte dem Krakeelen der Papageien in den Palmen neben dem Fenster. Weshalb dieses Schicksal? War es eine Strafe, da sie bisher so sorglos in den Tag gelebt hatte und sich selten um etwas kümmern musste? Sie sprang auf und zog ihr Kleid vom Vortag an. Mit dem Tablett in den Händen lief sie barfuß über den kühlen Terracottaboden zur Küche.

Dort stellte sie das Tablett auf dem Holztisch ab und setzte sich. Gedankenverloren strich sie über die blank gescheuerte Tischplatte. Als Kind hatte sie oft hier gespielt.

Maria betrachtete sie einen Moment. »Ich könnte Ihnen eine Hühnerbrühe kochen, so wie früher, wenn Sie geglaubt haben, Ihre Kinderwelt ginge unter?«

Ja, früher. Da hatte die Haushälterin dichtes schwarzes Haar gehabt. Jetzt war Maria grau und nicht mehr so wendig wie in Carlotas Kindertagen. Und kleiner schien sie geworden zu sein. Aber an ihrer Nähe und Zuneigung hatte sich kaum etwas geändert. Auch nicht, als Carlota die neue Hausherrin geworden war.

»Danke, Maria, bitte nur einen Kaffee. Ich habe rasende Kopfschmerzen. Außerdem ist es dein freies Wochenende. Du hast in den letzten Tagen wegen des Festes viel zu viel gearbeitet. Geh nur, ich komme zurecht.«

»Ich bereite noch den Lunch und das Abendessen vor und sehe heute Abend nach Ihnen«, erwiderte Maria und schaltete die Kaffeemaschine ein.

»Maria, hast du gesehen, ob mein Mann Gepäck bei sich hatte, als er das Haus verließ?«

»Nein, Doña Carlota, ich war gerade hier beschäftigt und nicht schnell genug in der Halle.« Maria stellte ihr die Tasse mit dem Kaffee und ein Kännchen mit heißer Milch auf den Tisch.

»Wie spät war es?«

»Möglicherweise gegen zehn? Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.« Maria drehte ihr den Rücken zu und machte sich am Spülbecken zu schaffen.

Carlota trank einige Schlückchen des heißen Kaffees, doch die Tasse aus hauchdünnem Porzellan schien plötzlich zentnerschwer zu werden und sie glaubte, sie nicht länger halten zu können. Mit zittrigen Händen stellte Carlota sie auf die Untertasse zurück. Ein dumpfer Schmerz überzog ihr Herz. Auf ihrem Magen lastete ein Betonklotz. »Weißt du Maria, eigentlich hatte ich mir meinen zehnten Hochzeitstag fröhlicher vorgestellt.« Ihre brüchige Stimme verriet aufsteigende Tränen. Nachdem sie sich gefasst hatte, sprach sie weiter: »Ich habe keine Familie mehr – nur noch dich.«

»Sie vergessen Ihre Frau Tante, die Baronin Sophia, und die restliche Verwandtschaft in Deutschland – Sie sind nicht allein.«

»Du hast recht, aber nach der Beerdigung meiner Eltern habe ich mich nie mehr um sie gekümmert, weder angerufen noch geschrieben. Zuerst habe ich dafür keine Kraft gefunden, und dann?« Carlota zuckte mit den Schultern. Es fiel ihr kein vernünftiger Grund ein. Sie schwieg beschämt. Sie hätte jederzeit Tante Sophia und Cousin Constantin mit Familie hierher auf das riesige Anwesen einladen können. Die hätten sich sicherlich gefreut.

Maria drehte sich um. Ihre glanzlosen schwarzen Augen sahen Carlota erstaunt an, als erwartete sie eine weitere Erklärung.

War Maria nur müde oder war ihr bisher das schlechte Aussehen der alten Frau nie aufgefallen, wie in letzter Zeit wohl vieles nicht? Marias gelbliche Haut glich einem schrumpeligen Pfirsich.

»Das sollte ich umgehend ändern«, sagte Carlota. »Hoffentlich ist es nicht zu spät. Ich mag Conrad sehr gerne. Weißt du noch Maria, als ich einmal die Ferien bei Großmutter in Baden-Baden verbracht habe und er und ich im Garten ihre sämtlichen Rosen gepflückt und in einem Dampftopf für sie Rosenöl hergestellt haben? Die Großmutter hat sich überhaupt nicht gefreut, nicht nur wegen des geplünderten Gartens, sondern der Topf ist explodiert und hat die halbe Küche zerstört. Conrad hat am nächsten Tag eine Destille bekommen und mich hat sie nach Andalusien geschickt. Großmutter mochte mich nie.« Sie schluckte. »Meinst du, Maria, mein Mann hat mich wegen meiner Kinderlosigkeit verlassen? Vielleicht …« Sie beendete den Satz nicht, denn in diesem Augenblick glaubte sie selbst nicht, was sie sagen wollte.

»Entschuldigen Sie bitte, aber das ist Unsinn.« Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Das wird einen anderen Grund haben. Statt zu grübeln, sollten Sie besser ans Meer gehen. Bewegung und frische Luft werden Ihnen guttun. Soll ich Sie begleiten?«

Carlota strich sich mit den Mittelfingern über ihre Augenbrauen, als könnte sie dadurch ihre kreisenden Gedanken vertreiben. »Nein danke, Maria, geh nur. Nicht, dass dein Mann ebenfalls auf dumme Gedanken kommt.« Es sollte spaßig klingen, aber das misslang. Eine bedrückende Stille entstand.

Rasch wusch sich Maria geräuschvoll die Hände, band ihre weiße Schürze ab, die sie stets über dem schwarzen Dienstbotenkleid trug, faltete sie korrekt zusammen und legte sie auf das Wandregal. Anschließend nahm sie ihre abgewetzte schwarze Handtasche.

Es berührte Carlota zu sehen, dass die treue Frau die Tasche noch benutzte. Sie war ein Geschenk ihrer verstorbenen Mutter gewesen. Das Teil musste über zwanzig Jahre alt sein. Zeit, ihr eine neue zu schenken. Warum war ihr das früher nie aufgefallen?

»Ich geh dann. Falls Sie mich brauchen, ich bin drüben im Personalhaus!«

Carlota stand auf und umarmte Maria. »Danke, Maria, für alles.« Sie setzte sich zurück an den Küchentisch, legte den Kopf in ihre Hände und kämpfte erneut mit den Tränen. Dieses Mal ließ sie ihnen freien Lauf. Nach einer Weile beruhigte sie sich, stand auf und betrat die Terrasse vor der Küche.

Sie blickte über das ruhig daliegende Meer. In der Ferne dümpelte eine Segeljacht. Sollte sie Niklas anrufen? Nein, eine weitere Demütigung würde sie nicht verkraften.

Sie ging in das Haus zurück, schloss die Tür und durchstreifte die Räume. In der Eingangshalle suchte sie aus einem Wandschrank eine Packung Schlaftabletten, die dort seit dem Tod ihrer Eltern lag. Das Verfallsdatum war überschritten. Irgendeine Wirkung würden die Dinger noch haben. Wie eine alte Frau stieg sie die Treppen hinauf.

Trotz der draußen herrschenden Hitze öffnete Carlota in ihrem Schlaftrakt alle Fenster. Durch die von außen eindringenden Geräusche fühlte sie sich weniger einsam. Sie ging zu dem Tischchen mit der Wasserkaraffe, goss ein Glas halbvoll und warf drei Tabletten in das Mineralwasser. Sie schlenderte zum Bett, stellte das Glas auf den Nachttisch, warf sich auf die Matratze und beobachtete, wie in der milchig werdenden Flüssigkeit die Perlen der Kohlensäure aufstiegen. Dann schloss sie die Augen und lauschte dem Dröhnen der Motorjachten draußen auf dem Meer. Falls Niklas tatsächlich zurückkehren sollte, würde sie ihm nie verzeihen. Egal welchen Grund er anführte. Seine Frau am zehnten Hochzeitstag zu verlassen war unentschuldbar.

Jetzt lag sie hier und bemitleidete sich, genau wie es ihre Mutter oft getan und was sie so verabscheut hatte. »Steh auf und lass dich nicht gehen«, rief sie und sprang vom Bett. Sie lief ins Bad, duschte und band ihr Haar zu einem Zopf. »Du hast Haare wie der Schweif eines eurer Pferde«, hatte Antonio einmal lachend zu ihr gesagt. Weshalb erinnerte sie sich gerade jetzt daran? Sie schüttelte sich, als könnte sie dadurch Gedanken an damals abstreifen, riss ein Sommerkleid vom Bügel und schlüpfte hinein. Sie wollte zum Strand gehen, ihre Enttäuschung, ihre Wut über das Meer schreien – Niklas einfach vergessen.

Von diesem Wunsch getrieben sprang sie die Stufen hinunter und eilte durch die Halle. Dort stieß sie beinahe mit Lolita, dem Hausmädchen, zusammen, das einen Stapel Bügelwäsche ins Haus trug. Carlota bat um Entschuldigung und rannte zur Tür hinaus in den Innenhof und weiter an den Strand. Erst an der Begrenzung ihres Grundstücks blieb sie stehen und holte Luft. Nach links oder rechts? Nach rechts. Bloß nicht nach San Pedro, womöglich traf sie dort Bekannte auf dem Paseo.

Der Strandspaziergang gab ihr Zuversicht. Erst nach über einer Stunde kehrte sie zum Haus zurück. Ein winziger Funke Hoffnung ließ sie nachsehen, ob Niklas zurückgekehrt war. Vergebens. »Dann bleib, wo du bist«, rief sie in die Stille der Halle, stieg die Treppe hinauf und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.

Carlota schloss die blaugestrichenen Klappläden und warf sich angezogen auf das Bett. Bei dem kleinsten Geräusch schreckte sie hoch.

Erst nach Mitternacht stand sie auf und ging in die Küche. Sie nahm eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank. Das von Maria vorbereitete Abendessen ließ sie unberührt. Allein der Anblick bereitete ihr Übelkeit.

Aus dem Glasschrank im Wohnzimmer nahm sie einen Sektkelch, ging hinaus auf die Terrasse und setzte sich in einen der Korbsessel. Die leichte Brise trug Fetzen von Musik und Gelächter aus dem nahen Strandlokal zu ihr herüber. Waren erst zwei Tage vergangen, seit sie fröhlich getanzt und gesungen hatte? Carlota goss sich von der perlenden Flüssigkeit ein. Sofort beschlug das Glas. Ihr Blick folgte einem Tröpfchen, das den Kelch herabrann. Sie leerte das Glas in einem Zug und goss nach. Bereits nach dem zweiten Glas spürte sie, wie ein Schleier die Ereignisse der vergangenen Tage umhüllte. Der Schmerz in ihrer Brust und der Druck in der Magengegend verschwanden. Sie blickte zum Himmel. Ob ihre Eltern sie sahen? Was würde ihr Vater sagen, der Niklas nie gemocht und ihrer Heirat nur widerwillig zugestimmt hatte? Nur dieses eine Mal hatte sie sich durchgesetzt. Plötzlich sehnte sie sich nach seinen tröstenden Worten und nach seiner Hand, die ihr als Kind und noch viele Jahre später liebevoll über den Kopf gestreichelt hatte. Carlota sprang auf und rannte in die Bibliothek.

Sie schaltete die Wandleuchten ein. Hier, in diesem spärlich beleuchteten Zimmer, fühlte sie sich geborgen und ihrem Vater nahe. Der Raum war sein Reich gewesen. Carlota hatte nie etwas verändert. Und sie glaubte, noch den Rauch seiner Zigarren in den Brokatgardinen zu riechen. Die klobigen Ledersessel und der Mahagonischreibtisch mit den Messingbeschlägen hatten an derselben Stelle gestanden, so lange sie denken konnte. Früher, sobald sie und ihr Bruder Ferien bekamen und es auf dem Land oder in Sevilla unerträglich heiß wurde, waren sie hierher in die weitläufige, Finca ähnliche Villa am Meer übergesiedelt, nur wenige Kilometer vom Städtchen San Pedro entfernt. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der es hier immer langweilig fand, liebte sie dieses Haus von Kindheit an. Hier konnte sie schon vor dem Frühstück am Strand herumtollen. Und manchmal durfte sogar Antonio für ein oder zwei Wochen mitfahren. Zu ihrer großen Freude war dieses Anwesen das Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern an sie gewesen. Die Bibliothek war ihr Reich geblieben. Niklas verabscheute diesen düsteren Raum, der selbst an grellen Sommertagen durch die vorgebaute, gedeckte Terrasse schummrig blieb. Er betrat ihn lediglich, um an den Saferaum hinter den wandhohen Bücherregalen zu gelangen. Carlota lief zu dem Regal mit der Schallplattensammlung, fächerte nach ihrer Lieblingsplatte La Bohème, nahm sie und zog die Scheibe aus der Papphülle. Mit einem Tuch entfernte sie winzige Staubpartikel und legte die Schellackplatte auf den Plattenspieler. Vorsichtig senkte sie den Tonkopf. Sofort erklang die zauberhafte Stimme der Maria Callas. Carlota setzte sich in den Schreibtischsessel und betrachtete die silbergerahmten Fotografien ihrer Eltern und ihres Bruders. Sie griff nach dem Bild des Vaters und strich über das Glas, als wollte sie Staub entfernen. »Was würdest du mir raten?«, flüsterte sie. Sorgsam stellte sie das Bild zurück und zog die Schreibtischschublade auf. Hier lagen in Leder gebundene Aufzeichnungen ihres Vaters. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie ab sofort die Verantwortung für ihre sämtlichen Besitztümer trug. Allein der Gedanke daran erschreckte sie. Sie stieß die Schublade zurück, als könnte sie damit das Unvermeidbare verhindern. Sie stand auf und setzte die Nadel an eine andere Stelle der Schallplatte. Bei der Arie Mi chiamano Mimì schaltete sie das Licht aus und verließ den Raum, durchquerte die Halle, stieg die Treppe hinauf und ging zu Bett.

Barfuß und mit einem Strandkleid bekleidet lief Carlota am nächsten Morgen in die Küche. Ratlos sah sie sich um. All die Jahre hatte Maria dafür gesorgt, dass auch sonntags vor dem Kirchgang einer der Angestellten das spärliche spanische Frühstück vorbereitete. Doch an diesem Morgen waren keine Geräusche aus der Küche zu hören gewesen. Vermutlich hatte sie zu tief geschlafen, da sie vor dem Zubettgehen das Glas mit dem aufgelösten Schlafmittel vom Nachmittag getrunken hatte. Obwohl sie den neuen Kaffeeautomaten nicht kannte, gelang es ihr, einen Kaffee zu brühen.

Mit der Tasse in der Hand betrat sie die von Säulen getragene, überdachte Terrasse, setzte sich und nippte an ihrem Getränk. Sie schüttelte sich. Die lauwarme Plörre schmeckte scheußlich. Sie stand auf, goss den Inhalt der Tasse über die Brüstung ins Blumenbeet und setzte sich zurück in den Sessel. »Verwöhnte Göre, zu dämlich, um Kaffee zu kochen«, schimpfte sie und lehnte sich zurück. Außer Möwengeschrei, das Kinderweinen glich, hörte sie lediglich das Schlagen der Wellen. Ungewollt erschien vor ihrem inneren Auge Niklas. Wohin war er verschwunden? Hatte er sie nur wegen ihres Namens oder ihres Vermögens geheiratet? Unsinn. Niklas war ein gefragter Anwalt, wie er bei jeder Gelegenheit betonte, obwohl sie ihn nie danach gefragt hatte. Sicherlich verdiente er ausgezeichnet. Er brauchte ihr Geld nicht. Durch den Bauboom der vergangenen Jahre, an dem auch Anwälte und Notare prächtig verdienten, erst recht nicht. Eigenartigerweise hatten sie nie über seine Honorare oder Vermögensverhältnisse gesprochen. Aber irgendetwas musste vorgefallen sein. Tränen füllten ihre Augen. »Heul nicht wie eine Memme, dadurch änderst du nichts. Nimm endlich dein Leben selbst in die Hand!«, schimpfte sie erneut und hoffte, dadurch Kraft und Mut zu schöpfen. Zuerst hatten ihre Eltern und später Niklas ihr Leben bestimmt – ihr sämtliche Entscheidungen abgenommen. Selbst um den Haushalt kümmerte sich seit jeher Maria. Sie blickte zu Boden und beobachtete eine Amsel, die vor ihren Füßen herumspazierte.

»Hast du keine Angst?«

Die Amsel blieb stehen, sah sie mit schräggestelltem Kopf an und hüpfte weiter.

Wenn die Hindus recht hatten und es tatsächlich ein Leben nach dem Tode gäbe, könnte das ihr Vater sein. Denn Verstorbene, so hieß es, konnten als Tier wiedergeboren werden. »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Carlota, stand auf und lief in die Bibliothek.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und nahm die in Leder gebundenen Notizbücher aus der Schublade. Neugierig öffnete sie das dickere. Vaters Aufzeichnungen für Carlota stand auf der ersten Seite des schwarzen Buches. Wie penibel. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. Seit seinem Tod hatte sie selten hier gesessen und diese Bücher ignoriert, da sie glaubte, es wäre Verrat, in seinen Sachen zu schnüffeln. In Gedanken an ihn fuhr Carlota mit dem Finger über den Rand der Lederauflage des Schreibtisches. Seine Sachen? Wie lange lagen diese Aufzeichnungen hier? Hatte ihr Vater seine Niederschriften bei einem seiner Besuche bewusst hierhergelegt oder sie vergessen, wie so vieles? Seine unzähligen Bücher in den raumhohen Regalen, die Schallplattensammlung, Möbel und Porzellan und … mehr fiel ihr im Augenblick nicht ein. Wahrscheinlich war es den Eltern zu lästig gewesen, ihre Sachen in das Stadthaus nach Sevilla, zum Stadtpalais der Bodega nach Jerez de la Frontera, in das Gutshaus bei Medina Sidonia oder gar zur Ölmühle bei Montilla transportieren zu lassen. Vor allem waren all diese Häuser seit Ewigkeiten in der Familie und üppig ausgestattet. Da fand sich kaum Platz für Weiteres. Nach ihrer Hochzeit hatte sie sich darüber gefreut, denn dadurch blieb sie eng mit dem Elternhaus verbunden. Und was die Einrichtung betraf, besaß Niklas einen völlig anderen Geschmack. Auf diese Weise waren ihnen lästige Auseinandersetzungen erspart geblieben. Sie stand auf und lief im Zimmer hin und her. In dem Buch stand doch für Carlota, weshalb zierte sie sich? Hatte er ihre Abneigung gegenüber geschäftlichen Dingen geahnt? Mit Sicherheit, sonst hätte er sie kaum zu dem Betriebswirtschaftsstudium gezwungen, obwohl er wusste, dass sie lieber Biologin geworden wäre. In Gedanken hörte sie seine damaligen Argumente: »Dein Bruder ist tot. Irgendwann bist du die Erbin, da brauchst du außer Geschäftssinn vor allem fundierte Kenntnisse und Erfahrung. Du wirst mir später dankbar sein.« Seine Worte über den Tod des Bruders hatten für sie hart, fast verbittert geklungen. Ihren Protest hatte er mit einer Handbewegung weggewischt. Er hatte keine Widerrede geduldet, der alte Macho. Geschäftssinn, der fehlte ihr völlig. Und jetzt rächte sich, dass sie damals heimlich nach vier Semestern das Betriebswirtschaftsstudium abgebrochen und Biologie belegt hatte. Als er durch Zufall von dieser Tatsache erfahren hatte, war es mit dem Studium vorbei. Sie musste nach Andalusien zurückkehren. Bei dem Gedanken an ihren damaligen Ungehorsam und ihre Ausreden schämte sie sich. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Wer sie verraten hatte, blieb ein Geheimnis. Rasch setzte sie sich zurück in den Schreibtischsessel und schlug erneut die Aufzeichnung auf. Enttäuscht blätterte sie. Keine geschäftlichen Anweisungen oder Geheimnisse für die Stierzucht standen dort, lediglich ihre Familiengeschichte. Sie schloss das Buch, warf es zurück in die Schublade und stieß sie zu. Im Augenblick interessierte sie vieles, aber keine Familiengeschichte. Wichtiger waren Dinge, die erledigt werden mussten. Am besten erstellte sie einen Plan für ihre Vorgehensweise. Sie benötigte Papier, lehnte sich zur Seite und öffnete das Türchen unterhalb der Schreibtischplatte. Woher kam die Metallkassette? Hatte die seit jeher dort gestanden oder gehörte sie Niklas? Carlota nahm den schweren Gegenstand hoch. Verschlossen. In der Schublade befand sich kein Schlüssel. Lag er im Safe oder hier unter der Tischplatte in dem Geheimfach? Sie hob die Platte an. Nichts. Mit Sicherheit stand das schwarze Teil seit ewigen Zeiten am selben Platz und war ihr in der Düsterheit nie aufgefallen. Vermutlich enthielt die Kassette nichts Weltbewegendes, sonst wäre sie im Safe aufbewahrt worden. Um sie zu öffnen, brauchte sie einen Schraubenzieher. Aber wo Werkzeug aufbewahrt wurde, wusste sie nicht. Die Kassette musste warten. Sie stellte sie zurück und nahm einige Papierbögen aus dem obersten Fach. Sie griff nach dem goldenen Füllfederhalter ihres Vaters, der in der Schale vor ihr lag, und notierte: Besuche und Durchsicht der Bücher der Sherrybodega, des Zuchtbetriebes und der Ölmühle. Was war mit der Villa in Sevilla, war die vermietet? Türschlösser auswechseln! Kombination des Safes ändern, Geschäftsunterlagen zurechtlegen. Sie hielt inne. Wo bewahrte Niklas die Kontoauszüge und die Unterlagen für ihre Besitztümer auf? Unterlagen suchen, fügte sie unterstrichen hinzu. Es folgte: Höhe aller Aktienbestände erfragen. Sicherlich befand sich alles im Hauptsafe hinter der Bücherwand. Sie stand auf und klappte die Geheimtür zur Seite. Konzentriert drückte sie den Code an der mächtigen Stahltür und stellte anschließend mit dem Zahlenrad die Nummernkombination ein. Nichts. Hatte Niklas den Safe zusätzlich mit dem Schlüssel gesichert? So ein Unsinn, das Haus wurde schließlich bewacht. Sie eilte hinauf in ihren Schlaftrakt.

In ihrem Ankleidezimmer öffnete sie den kleinen Safe, nahm den Schlüssel und ihren wertvollen Schmuck, der seit dem Fest dort lag, und verschloss den Safe sorgfältig.

Sie kehrte zurück in die Bibliothek, betrat den Saferaum, steckte den Spezialschlüssel in das Sicherheitsschloss und drehte ihn wie vorgegeben. Die Stahltür glitt zur Seite.

Kein Bargeld, keine Unterlagen – nur ein großes Kuvert und Schatullen mit weiteren Schmuckstücken lagen dort. Bewahrte Niklas die Unterlagen in seiner Kanzlei auf? Verärgert griff sie nach dem Briefumschlag. Abogado Niklas Bloomfield – treuhänderisch – stand mit steilen Buchstaben darauf. Unverschämtheit, weshalb bewahrte Niklas seinen Bürokram in ihrem privaten Safe auf und ihre persönlichen Unterlagen lagen in seiner Kanzlei, für jedermann zugänglich? Sie legte das Kuvert zurück. Wo waren ihre Goldmünzen, die Erbstücke ihrer Großmutter, geblieben? Hatte Niklas sie ohne ihre Zustimmung in einen Banksafe gebracht? So weit gingen seine Befugnisse nicht. Wenigstens hätte er sie informieren können. Weshalb dieses Tamtam mit dem zusätzlichen Schlüssel, wenn der Safe außer ihrem Schmuck und diesem Brief nichts enthielt? Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Oder hatte sie etwas übersehen? Nichts. Verärgert änderte sie die Zahlenkombinationen und verschloss die Panzertür. Diese Kombination hatten ihre Eltern benutzt, Niklas kannte sie nicht. Carlota beschloss, den Umschlag am nächsten Tag in seiner Kanzlei abzugeben und dort ihre gesamten Unterlagen einzufordern. Am besten nahm sie gleich seine persönlichen Dinge mit und warf sie ihm vor die Füße.

Wie er wohl bei einem Zusammentreffen reagierte? Sollte sie ihn ignorieren oder eine Erklärung für sein skandalöses Verhalten fordern? Allein bei dem Gedanken spürte Carlota wieder den Druck, der auf ihrem Magen lastete. War es sinnvoller, José, ihren Chauffeur und Gärtner, damit zu beauftragen? Sie zögerte. Nein, das sollte sie gefälligst selbst erledigen und sich nie wieder auf andere verlassen. Wohin das blinde Vertrauen führte, erlebte sie gerade. Sie drückte das Kreuz durch, warf den Kopf in den Nacken und verließ den Raum.

2

In der Nacht fand Carlota keine Ruhe. Immer wieder stand sie auf und lief im Schlafzimmer auf und ab. Zwischendurch betrat sie die Terrasse vor ihrem Zimmer und blickte über das im Mondlicht glänzende Meer. Die Last ihrer zukünftigen Verantwortung wog von Stunde zu Stunde schwerer. Vor langer Zeit hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, dass der Mond Wünsche erfüllte, sofern man fest daran glaubte. Jetzt konnte sie sich von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugen. Aber womit auf ihrer Liste sollte sie beginnen? Vorerst mussten ihr in dieser Männerdomäne der Stierzüchter Durchsetzungsvermögen und Ausdauer für die kommende Aufgabe genügen. Jetzt rächte sich, dass sie nie aufmerksam zugehört hatte, wenn sie früher mit ihrem Vater die Besitzungen besuchte. Damals hatte sie meistens interessiert getan, aber in Gedanken war sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Nur der Sherrybodega hatte von klein auf ihre Begeisterung gehört. Die hohen, düsteren Hallen mit den in vier bis fünf Reihen aufeinandergeschichteten und nummerierten Fässern tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Selbst den Geruch nach Feuchtigkeit, Vergorenem und altem Eichenholz spürte sie in der Nase. Verzweifelt versuchte sie, sich die damaligen Gespräche ihres Vaters mit den Verwaltern ins Gedächtnis zu rufen. Gesprächsfetzen tauchten auf – Stierbestand. Allein der Gedanke an die Stierzucht ließ sie erschaudern, denn im Gegensatz zu ihrem Vater und Bruder verabscheute sie den Stierkampf. Seine Begründung, die Fortführung andalusischer Traditionen wäre wichtig, hatte sie nie umstimmen können. Sie mochte den ungleichen Kampf zwischen Mensch und Tier nicht. Und daran würde sich nichts ändern. Aber sie wollte seinen Wunsch respektieren und die familiäre Tradition in seinem Sinne fortführen. Schließlich gab es Mitarbeiter, und ihre Aufgabe bestand lediglich darin, den Betrieb profitabel zu leiten. Mit Sicherheit wäre es sinnvoller gewesen, nach dem abgebrochenen Studium im väterlichen Betrieb praktische Erfahrung zu sammeln, so wie es ihr Vater auf ihren Wunsch hin, berufstätig zu sein, vorgeschlagen hatte. Ihr Herz schlug schneller, als sie sich an ihre zahllosen Ausreden erinnerte. Unter keinen Umständen hatte sie in Andalusien arbeiten wollen, sondern in Deutschland, weit weg von zu Hause und vor allem von Antonio. Noch einmal hatte sie ihn gebeten, geradezu angefleht, sie als Assistentin in einer Fabrik für Naturkosmetik in Baden-Baden arbeiten zu lassen, denn dort war Conrad inzwischen beschäftigt. Sie hatte gehofft, auf diese Weise ihr Studium in Freiburg zu beenden, denn als Kinder hatten sie während der Ferien geplant, später etwas gemeinsam aufzubauen. Er wollte Chemiker und sie Biologin werden. Aber dafür hatte der alte Macho seine Zustimmung verweigert. War es deshalb zu der überstürzten Heirat mit Niklas gekommen? Oder hatte sie Antonio beweisen wollen, dass es andere Männer gab, die sich für sie interessierten? Sie spürte einen Stich im Herzen. Kindische Reaktion. Sie versuchte, den Gedanken an Antonio zu verdrängen. »Lass alte Zeiten ruhen. Konzentriere dich auf das Erforderliche«, motivierte sie sich. Ihre Zeit als Studentin lag mehr als zwölf Jahre zurück. Das Wenige, das sie sich angeeignet hatte, war längst vergessen. Obwohl sich seither vieles verändert hatte, sollte sie sich mit ihren Lehrbüchern und alten Aufzeichnungen beschäftigen. Ob es die noch gab? Mit Sicherheit. Katharina hatte alles aufbewahrt. Als Ausrede hatte ihre Mutter die schlechten Zeiten der Nachkriegsjahre angeführt. Danach folgte die leidige Geschichte ihrer Flucht, und als Folge die Verarmung ihrer adeligen Familie. Carlota hatte es damals nicht mehr hören können und sich darüber lustig gemacht. Und jetzt hoffte sie, dass sich die Bücher in der Villa in Sevilla oder in dem Gutshaus bei Medina Sidonia befanden. Aber vordringlicher war der Besuch bei der Bank, um Niklas die Vollmacht ihrer Konten zu entziehen. Niklas. Allein der Gedanke an ihn verstärkte ihre Entschlossenheit.

Langsam zeigte sich ein heller Streif in der Ferne. Carlota lehnte sich an den Rahmen der offenstehenden Glastür und lauschte dem Gezwitscher der Vögel, die den kommenden Tag begrüßten. Sie bewunderte das Naturschauspiel, wie sich der Himmel zuerst karminrot, danach mehr und mehr rotgolden verfärbte, bis der glühende Ball sich hinter der Hügelkette emporschob und seine goldenen Strahlen über das Meer schickte. Die Feuchtigkeit der Nacht lag schwer auf den Blättern der Bananenstaude und tropfte glasperlenartig zur Erde. Die Rasenflächen bedeckte ein gräulicher Schleier. Sie lauschte dem Tuckern zurückkehrender Fischerboote. Längst hatte sie vergessen, wie schön der anbrechende Tag war. Sie atmete mehrmals tief durch und lief ins Bad.

»Niklas, du wirst deine Entscheidung bereuen«, zischte sie und verschwand unter der Dusche.

Trotz der zu erwartenden Hitze wählte sie ein elegantes Kleid, kämmte und schminkte sich sorgfältig.

Anschließend stieg sie vorsichtig in ihren hochhackigen Sandaletten die Treppe hinab und lief zur Küche.

»Guten Morgen, Maria. Puh, ist es hier heiß.«

Erschrocken drehte sich die Haushälterin zu ihr um. »Entschuldigung, Doña Carlota, so früh habe ich Sie nicht erwartet.« Maria schaltete die Kaffeemaschine ein und zog an der Strippe des Deckenventilators. »Das Frühstück ist sofort fertig.« Aus dem Küchenschrank nahm sie Geschirr und stellte es auf ein Tablett. »Sie sehen heute Morgen so elegant aus«, bemerkte Maria, doch ihre Worte klangen eher fragend als bewundernd.

Carlota zog den Stuhl zurück und setzte sich. »Ja, Maria, ab jetzt werde ich mich selbst um alles kümmern müssen.« Sie schluckte. »Vorab muss ich mir einen Überblick verschaffen, deshalb fahre ich als Erstes zur Bank. Und aus der Kanzlei brauche ich Unterlagen.« Gerne hätte sie über ihre Idee gesprochen, die Kanzlei aufzusuchen, aber die gutmütige Maria war dafür die ungeeignetste Person. Maria würde wie immer ihre Absichten unkritisch befürworten.

»Wo möchten Sie frühstücken, im Esszimmer oder auf der Terrasse?«, riss Maria sie aus ihren Gedanken.

»Stell mir bitte den Kaffee hierher.« Sie deutete auf die Tischplatte. »Essen möchte ich nichts.«

Die alte Frau sah sie entsetzt an. »Aber Sie haben seit Tagen nichts angerührt. Alles steht noch in der Kühlkammer.«

»Ich war auswärts zum Essen«, antwortete Carlota. Doch der Blick der alten Frau verriet ihr, dass sie ihr nicht glaubte. Die Haushälterin kannte sie viel zu gut. Um über ihre Lüge hinwegzugehen, sprach Carlota weiter: »Nach und nach werde ich die Geschäftsführung übernehmen – auch wenn mir die Erfahrung fehlt. Leider habe ich früher kaum zugehört, wenn Vater mich gezwungen hat, ihn auf seinen Inspektionsreisen zu begleiten. Ich konnte mir nie vorstellen, dass er mal nicht mehr da sein würde.«

»Ach ja, der selige Don, der wollte immer nur Ihr Bestes, und seit Ihr Bruder mit dem komischen Ding abgestürzt ist …« Die alte Frau bekreuzigte sich und seufzte hörbar. »Doña Carlota, Sie schaffen das!«

Carlota glaubte, dass Maria etwas hinzufügen wollte, aber diese schwieg. Wahrscheinlich dachten beide das Gleiche. Damals war die Haushälterin häufig bei Tisch unfreiwillig Zeugin unsäglicher Streitereien zwischen ihren Eltern und ihr geworden, wenn es um Niklas oder das Thema Heirat ging. Ihr Vater hatte sich als Schwiegersohn Fernando gewünscht, Herzog von Montemajor y Santodomingo, den Sohn seines besten Freundes und ebenfalls Großgrundbesitzer. Und keinen Ausländer. Vor allem keinen Engländer aus Gibraltar. Er hatte gern verdrängt, dass er selbst mit einer Deutschen verheiratet war. Wie recht Vater im Nachhinein hatte. Damals hatte sie die Abneigung ihrer Eltern Niklas gegenüber nicht verstanden. Was hieß Eltern? Ihre Mutter hatte, wie sie selbst, nie eine eigene Meinung vertreten dürfen. Beide hatten sich den Wünschen und Anordnungen des Ehemannes gebeugt. Niklas kam aus gutem Haus, sah blendend aus mit seinen blauen Augen, dem blonden Haar und dem kantigen Gesicht. Er war Jurist und besaß beste Manieren. Zweifellos der perfekte Schwiegersohn – nur für ihren Vater nicht. Niklas hatte sie damals in Barcelona getröstet, als ihre große Liebe Antonio verschwunden war. Bei dem Gedanken an Antonio spürte sie, wie sich ihr Magen verkrampfte. Vermutlich war Vater eifersüchtig gewesen und hätte keinen anderen Schwiegersohn als Fernando akzeptiert. Rasch griff sie nach der Tasse, trank sie leer und stand auf.

»Maria, ich fahre jetzt. Ich bin spätestens gegen zwei Uhr zurück.«

»Und was soll ich vorbereiten? Haben Sie einen besonderen Wunsch?«

»Ist mir egal, koch was du magst«, rief sie Maria über die Schulter zu.

Carlota ging in die Bibliothek. Dort holte sie aus dem Safe das braune Kuvert und schob es in ihre Handtasche.

Beim Hinausgehen nahm sie in der Halle den Autoschlüssel aus der Silberschale, die auf der Kommode stand.

Obwohl es windstill und sonnig war, ließ Carlota während der Fahrt nach San Pedro das Verdeck ihres Cabriolets geschlossen.

Den Porsche parkte sie in einer wenig befahrenen Seitenstraße in der Nähe der Bank. In ihrer Situation hatte sie keinerlei Verlangen, Freunden oder Bekannten zu begegnen. Sie öffnete die Autotür, stieg aus und blieb neben dem Wagen stehen. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Kurz nach zehn. Sollte sie zuerst in der Bank Niklas die Vollmacht entziehen und sich mit Geld versorgen oder in der Kanzlei darum bitten, dass ihre Unterlagen zu ihr nach Hause gebracht wurden? Kanzlei, entschied sie. Um diese Zeit war es wahrscheinlicher, dass sie Niklas dort antraf. Vor allem musste sie den Brief loswerden. In Zeiten wie diesen war es sicherer, mit wenig Bargeld in der Tasche durch die Stadt zu spazieren. Zielstrebig passierte sie den Durchgang. Sie blieb in der Parallelstraße vor dem dreistöckigen Wohn- und Geschäftsgebäude stehen. Über dem Messingschild an der Hauswand klebte ein vom Wind zerzaustes Plakat. Die ehemals schwarzen Buchstaben waren verblasst und kaum mehr lesbar: Die Kanzlei Niklas Bloomfield ist seit dem 1. Juni 2008 geschlossen. Informationen unter 952 6… Der restliche Teil der Telefonnummer war abgerissen. Carlota drückte den Klingelknopf. Nichts. Sie drückte erneut – nichts. Eine alte Frau verließ mit ihrem Einkaufswagen das Haus. Carlota hielt ihr die Tür auf und schlüpfte anschließend hinein. Sie stieg die Treppen hinauf in den zweiten Stock. Hier klebte an der Holztür der gleiche Hinweis – ohne Telefonnummer. Sie schwankte. Um nicht zu stürzen, lehnte sie sich rasch an die Wand. Sein Verschwinden war kein Spontanakt, sondern vorbereitet gewesen. Mühsam ging sie zur Treppe und setzte sich auf eine Stufe. Wieder fühlte sie diese Ohnmacht, diese Leere in sich. Wer war dieser Mann, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war? Fahrstuhlgeräusche. Eilig stand sie auf. Niemand sollte sie hier antreffen. Aller Illusionen beraubt, stieg sie die Treppen hinunter und verließ das Haus.

Vor dem Gebäude zog Carlota die Sonnenbrille mit den großen Gläsern aus dem Haar und auf ihre Nase. Mit gesenktem Kopf schlich sie an den Häuserwänden entlang.

Auf einem winzigen, mit Gummibäumen bepflanzten Platz blieb sie im Schatten stehen. Was sollte mit dem Umschlag geschehen? Mit zittrigen Händen griff sie in ihre Handtasche. Sollte sie ihn öffnen? Eventuell enthielt er die Erklärung für Niklas’ Verschwinden. Sie setzte sich auf die mit Kacheln verzierte Bank, legte den Brief auf ihren Schoß und löste mit dem Fingernagel das undurchsichtige Klebeband über der Lasche. Nichts, kein Vermerk. Carlota steckte den Umschlag zurück in ihre Tasche. Zu Hause würde sie ihn öffnen. Das war ihr gutes Recht, immerhin hatte er in ihrem privaten Safe gelegen. Sie stand auf und lief in Richtung Bank.

Ohne in der Halle der Bank nach rechts oder links zu sehen, ging sie direkt auf die Tür des Direktors zu. Sie klopfte, wartete die Antwort nicht ab und öffnete. Eisige Luft schlug ihr entgegen. »Guten Tag, Paco, entschuldige bitte, dass ich unangemeldet hereinplatze – es ist dringend.« War es die Kühle oder das hypermodern gestaltete Büro, was sie frösteln ließ? War sie so lange nicht mehr hier gewesen, dass sie den Umbau nicht mitgekommen hatte?

»Carlota, hui, das ist aber eine Überraschung.« Eilig erhob sich der grauhaarige Herr von seinem unbequem wirkenden Schreibtischsessel aus Stahl und Leder. »Ich hatte dich schon länger erwartet.« Er deutete auf den zum Ensemble passenden Sessel vor dem gläsernen Schreibtisch. »Bitte nimm Platz! Möchtest du ein Glas Wasser oder Kaffee?«

Carlota schüttelte den Kopf. Irgendwie wirkte der ältere Herr wie ein Fremdkörper in diesem Raum. »Paco, ich bin gekommen, um meinem Mann die Vollmacht für meine sämtlichen Konten zu entziehen. Ab sofort!«, fügte sie betonter hinzu, als sie beabsichtigte. »Er hat mich verlassen.«

Der in dunklem Anzug gekleidete Herr betrachtete sie schweigend. Plötzlich schob er seinen Zeigefinger zwischen Oberhemd und Krawatte, nestelte daran, als sei alles zu eng geworden, und sagte: »Schön, Carlota, dass du endlich den Weg hierher gefunden hast. Ich hatte dich ja schon vor Wochen um diesen Besuch gebeten.« Bei seinen Worten betrachtete er die gepflegten Fingernägel seiner linken Hand.

»Aus welchem Grund, Paco? Ich habe nie einen Brief von dir erhalten, jedenfalls nicht in letzter Zeit. Wie lange ist das her?«

Der Direktor zuckte mit den Schultern. »Entschuldige, da müsste ich in den Unterlagen nachsehen. Vermutlich vier, fünf Monate. Ich habe mich gewundert, dass du nicht darauf reagiert hast – bei der Dringlichkeit der Lage.«

»Was verstehst du unter Dringlichkeit der Lage?«

»Carlota, du bist derart im Rückstand mit den Zahlungen, dass ich das dem Bankvorstand gegenüber nicht länger verantworten konnte. Die wollen Zinsen sehen, oder …« Er sprach nicht weiter, sondern betrachtete die Nägel seiner anderen Hand.

Verzögerte er bewusst das Gespräch? »Bitte, Paco, wofür sollte ich Zinsen zahlen? Bisher habe ich meine Konten nie überzogen. Da muss ein Versehen vorliegen.«

»Nein, Carlota, kein Versehen, du bist derart hoch verschuldet, dass du wahrscheinlich kein Bein mehr auf den Boden bringst. Entschuldige, dass ich so direkt werde, aber es hat keinen Sinn, den Sachverhalt zu beschönigen. Du besitzt keinen Cent mehr.«

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, Schweiß trat ihr aus allen Poren, obwohl in diesem Raum sicherlich keine achtzehn Grad herrschten. Sie atmete mehrmals tief durch. »Ich verstehe das nicht, weshalb habe ich nie davon erfahren?«

»Carlota, weil du deinem Mann nach dem Tod deiner Eltern die notarielle Generalvollmacht erteilt hattest. Und dein Mann, der Herr Anwalt, mir ausdrücklich jegliche Einmischung untersagt und mit gerichtlichen Konsequenzen gedroht hat. Und das mehrfach! Trotzdem habe ich es gewagt und dir diesen Brief geschrieben.«

»Du bist der Freund meines Vaters gewesen, warum hast du mich nie angerufen oder mich in meinem Haus aufgesucht und informiert?«

»Das habe ich dir eben versucht zu erklären. Eine Generalvollmacht ist eine Generalvollmacht. Und bitte verstehe, ich bin Direktor einer Bank und kein Denunziant. Vor allem kannte ich eure geschäftlichen Vereinbarungen nicht. Es war durchaus möglich, dass du seinen immensen Immobilienspekulationen zugestimmt hast. Und ich hätte wie ein Trottel dagestanden. Viele sind auf eine solche Weise reich oder noch reicher geworden, aber seit …« Er räusperte sich. »Erinnere dich bitte, Carlota, ich habe dich damals vor dem Schritt einer notariell bestätigten Generalvollmacht gewarnt. Bei dem Gespräch habe ich dir alle möglichen Szenarien aufgezeigt und versucht, dir zu empfehlen, nur eine beschränkte Vollmacht zu erteilen. Aber ich vermute, du wolltest damals die Tragweite nicht erkennen. Du bist einfach zu gutgläubig. Jedenfalls war das früher die Sorge deines Vaters, wie er mir mehrfach versichert hat. Lediglich in seinem Sinne habe ich versucht, dich zu beeinflussen – ergebnislos. Jetzt ist eingetreten, was ich befürchtet habe. Alle deine Besitztümer sind bis unter die Decke mit Hypotheken belastet, Bargeld und Aktien sind kaum mehr vorhanden, sofern mir bekannt ist. Aber die gleichen Informationen kamen aus unseren Filialen Sevilla und Jerez de la Frontera.«

»Aber um Hypotheken zu erhalten, müssen meines Wissens vorher Gutachten erstellt werden. Das wäre mir aufgefallen, wenn …« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen füllten ihre Augen. Carlota versuchte krampfhaft, sie zu unterdrücken. Sie senkte den Kopf und wühlte in der Handtasche nach einem Taschentuch. Vergebens. Die Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Tuscheverfärbte Tränenflüssigkeit tropfte auf das Rockteil ihres weißen Kleides. Verstohlen zog sie die Nase hoch. Sie kam sich wie ein dummes Kind vor.

»Carlota, alles hatte seine Ordnung. Die Bewertungen der Objekte wurden erstellt. Du müsstest Kopien besitzen. Ob dein Wohnhaus belastet ist, weiß ich nicht. Hier jedenfalls liegt kein Gutachten darüber vor. Genaueres erfährst du im Grundbuchamt.«

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte sie.

Ihr Gegenüber zuckte erneut die Schultern. »Dabei kann ich dir kaum helfen. Aber als Erstes solltest du einen Notar aufsuchen und deine Vollmacht für ungültig erklären lassen, soweit das möglich ist. Das Einzige, was ich dir anbieten könnte, wäre bei mir befreundeten Bankern – vor allem in Gibraltar – nachzufragen, ob dein Mann irgendwo Geld gebunkert hat. Natürlich inoffiziell.« Er zog die linke Augenbraue hoch. »Mehr leider nicht. Angeblich soll dein Mann kürzlich ein Penthouse in Estepona direkt am Meer auf den Namen einer Frau gekauft haben, mit der er seit längerem zusammen gesehen wurde – munkelt man in Immobilienkreisen. Wenn das stimmt und du Glück hast, wurde die Wohnung bisher nicht im Grundbuch eingetragen. Vielleicht lässt es sich mithilfe eines Anwaltes verhindern. Sofern du noch Geld für einen Anwalt auftreiben kannst. Notfalls könnte …« Auch dieses Satzende blieb in der Kälte des Raumes verborgen.

»Aber ich habe vor wenigen Wochen neunzigtausend Euro per Kreditkarte für einen Oldtimer bezahlt. Mein Geschenk zum zehnten Hochzeitstag.«

»Das waren wohl deine letzten Euro, mehr kann ich dir leider nicht sagen.«

Zum Zeichen, dass für ihn das Gespräch beendet war, stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie. »Carlota, es tut mir leid, dass es keine erfreulicheren Nachrichten gibt. Adiós.«

Carlota glaubte, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. Sie nahm alle Kraft zusammen, stand mit weichen Knien auf und verließ eilig den Raum. Im Hinausgehen brachte sie knapp ein »Danke, Paco. Adiós« heraus. Wie betäubt wankte sie zu ihrem Auto.

Bereits aus einigen Metern Entfernung öffnete Carlota die Verriegelung. Sie riss die Autotür auf und ließ sich in den Ledersitz fallen. Wo verflixt waren diese Unterlagen versteckt? Sie schlug gegen das Lenkrad und bedachte Niklas mit sämtlichen Schimpfwörtern, die ihr einfielen. Als ihr Zorn verraucht war, verschränkte sie die Arme und ließ ihren Kopf auf das Lenkrad sinken. Erschöpft blieb sie so sitzen und verlor sämtliches Zeitgefühl. Als eine Passantin an die halbgeöffnete Scheibe klopfte und fragte, ob sie ihr helfen könne, hob Carlota erschrocken den Kopf. Sie sah die Frau kopfschüttelnd an und lächelte gequält. Nur weg. Sie startete den Sportwagen und fuhr auf Umwegen nach Hause.

Nachdem sie auf das Grundstück gerollt war, wartete Carlota nicht wie üblich, bis sich das Tor hinter ihr geschlossen hatte, sondern raste die Einfahrt entlang, ohne sich im Rückspiegel davon zu überzeugen, ob ihr jemand folgte. Der Kies unter den Reifen spritzte zur Seite. Direkt vor der Haustür stoppte sie den Wagen, stellte den Motor aus und stieß die Tür auf. Schreiend sprang sie aus dem Auto und rannte durch die geöffnete Haustür in die Halle. Diese Nachrichten waren zu viel für ihre Nerven. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick überzuschnappen.

Maria eilte ihr mit einem Salatsieb in der Hand entgegen. Wasser tropfte von ihren Armen auf den Steinboden. »Was ist denn los, Doña Carlota, haben Sie einen Unfall gebaut?«

»Viel schlimmer«, rief Carlota, kickte die Schuhe in die Ecke und senkte den Kopf an den mächtigen Busen der Haushälterin. »Niklas hat mich nicht nur verlassen, sondern völlig ruiniert. Ich war mit einem Betrüger verheiratet.«

»¡Dios les bendiga!«, rief die alte Frau und strich ihr tröstend über den Rücken, so wie sie es bei Carlota als Kind getan hatte. »Setzen Sie sich erst einmal.« Maria zog den Ohrensessel aus der Ecke und drückte Carlota hinein. »Ich bringe Ihnen sofort ein Glas Wasser. Oder Kaffee?«

Carlota holte tief Luft und sagte: »Nein, bitte bleib bei mir! Ich fasse es nicht, wie konnte mir so etwas passieren? Ich schäme mich unendlich«, fügte sie kaum hörbar hinzu. »Und das Schlimmste ist, ich kann niemanden mehr bezahlen. Auch dich nicht – nach mehr als vierzig Jahren in unserem Haus. Weshalb habe ich diesem Mann blindlings vertraut?«

»Weil es völlig normal ist, seinem Partner zu vertrauen, Doña Carlota.«

»Wenn er Schwierigkeiten hatte, warum hat er nie mit mir darüber gesprochen? Meinst du, dass er erpresst wurde?«

Die Haushälterin zuckte mit den Schultern. »Aber um mich brauchen Sie sich keine Gedanken machen. Hier in diesem Haus hatte ich alles, was ich zum Leben brauchte, und konnte viel sparen.« Sie räusperte sich. Dann fügte sie leiser hinzu: »Doña Carlota, ich verlasse Sie nicht.«

Carlota sah Maria dankbar an und bemerkte Marias Tränen. Sie erhob sich und strich der Frau über die Schulter. Mit letzter Kraft stieg sie die Treppe hinauf und ging in ihr Schlafzimmer.

Dort öffnete sie einen Fensterflügel, lehnte ihren Kopf daran und blickte über das Meer. Wie sollte alles weitergehen? Seit sie die Bank verlassen hatte, drehten sich ihre Gedanken wie ein Brummkreisel. Trotz größter Anstrengung gelang es ihr nicht, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Was hielt sie auf dieser Welt? Es gab kein Kind, das sie umsorgen musste, keine Verpflichtungen mehr. Gleichgültigkeit überfiel sie. Plötzlich war alles ganz einfach. Sie brauchte lediglich den Wellen Richtung Horizont entgegenzuschwimmen. Irgendwann würden ihre Kräfte sie verlassen. Dann fand sie Ruhe in Neptuns Reich – am besten nachts, wenn niemand sie beobachtete. Von diesem Gedanken beseelt, schloss sie das Fenster und legte sich angekleidet auf das Bett. Doch der eben gefasste Entschluss brachte ihr kaum Ruhe. Sie wälzte sich umher. Verflixt noch mal, lass dich nicht gehen, steh auf und zeig, was in dir steckt, befahl eine innere Stimme. Streif endlich dein bequemes Leben ab und rette, was zu retten ist! Aber wie konnte sie das bewerkstelligen? Dazu brauchte sie Unterlagen! Carlota sprang vom Bett, riss sich das teure Kleid vom Körper, zog ein buntes Sommerkleid an und steckte das Haar zum Knoten zusammen. Irgendwie musste sie es schaffen, wenigstens das Wichtigste zu erhalten. Sollte sie nochmals zur Bank fahren und dort Duplikate der Kontoauszüge und der Hypothekengutachten erbitten? Ohne den Schuldenstand der einzelnen Besitzungen brauchte sie nicht beginnen. Aus welchem Grund hatte sie nicht gleich daran gedacht? Na ja, wer dachte bei solchen Ungeheuerlichkeiten schon an Sachliches? Sie verließ den Schlaftrakt und ging in das Erdgeschoss.

»Maria, koch mir bitte eine Hühnersuppe«, rief sie aus der Halle und betrat die Bibliothek. Allein der Gedanke an Essen erzeugte bei ihr Übelkeit. Doch sie würde sich zum Essen zwingen. Um das Unvermeidliche durchzustehen, brauchte sie Kraft. Sie trug die Verantwortung für ihre Angestellten, die Frauen und Kinder besaßen. Niklas, du wirst für alles büßen. Aber wie? Sie wusste nicht einmal, wo er sich aufhielt. Carlota öffnete die bis zum Boden reichenden Fenster. Zum Denken brauchte sie das Meeresrauschen, das Kreischen der Möwen, und sie musste den Wind spüren und die salzige Luft schmecken.

In der Halle nahm sie ihre Handtasche, die Maria oder José aus dem Auto geholt und dort abgestellt hatte. Sie zog den Brief heraus und zögerte. Sollte sie ihn öffnen? Später, sobald niemand mehr im Haus ist, entschied Carlota, öffnete den Safe und legte den Umschlag hinein. Verzweifelt lief sie in dem Raum hin und her und versuchte, sich an die damaligen Gespräche ihres Vaters mit den Verwaltern zu erinnern. Unfug, sie musste sich vor Ort ein Bild machen. Womöglich war dieses Wohnhaus auch mit einer Hypothek belastet. Allein der Gedanke daran erschien ihr abwegig. Niklas hätte niemals ihr gemeinsames Heim aufs Spiel gesetzt. Was hatte Paco ihr zum Schluss geraten? Verzweifelt versuchte sie, sich an seine Worte zu erinnern. Aber über diese Ungeheuerlichkeit war sie derart geschockt gewesen, dass sie ihm nicht mehr richtig zugehört hatte. Irgendetwas vom Grundbuchamt. Richtig, dort sollte sie versuchen, den Eintrag einer Wohnung zu verhindern. Carlota schüttelte den Kopf. Natürlich! Auf dem Grundbuchamt in Marbella konnte sie erfahren, ob dieses Wohnhaus mit einer Hypothek belastet war. Gleichmorgen sollte sie zuerst nach Marbella und anschließend nach Estepona fahren. Vielleicht gelang es ihr, diesen Eintrag auch ohne Anwalt zu verhindern oder wenigstens zu verzögern, bis feststand, von wessen Konto die Zahlung für das Objekt erfolgt war. Sollte Niklas allerdings nur ein halb so gerissener Anwalt sein, wie er behauptete, hatte er bestimmt jedes Detail bedacht. Aber einen Versuch war es wert. Und nach ihrem Besuch in Estepona könnte sie das Gut in Medina Sidonia inspizieren. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie das Klopfen überhörte.

Maria erschien in der geöffneten Tür und sagte: »Entschuldigung, Doña Carlota, ich habe geklopft, aber Sie haben nicht geantwortet. Ich dachte …« Sie hielt inne.

»Dass ich mir etwas angetan habe.« Carlota schüttelte den Kopf und lächelte. »Danke, Maria. Den Gedanken daran habe ich mit meinem alten Leben soeben abgestreift! Ich habe dich einfach nicht gehört.«

»Die Suppe ist fertig, ich habe den Tisch im Esszimmer gedeckt. Ist es recht?«

»Danke, Maria.« Carlota stand auf und folgte der alten Frau. Maria trug noch die blitzblanken schwarzen Halbschuhe, die ihr schon als Kind aufgefallen waren. Sie musste sparsam sein. Der köstliche Geruch nach Hühnersuppe durchzog den riesigen Raum, und überraschenderweise spürte Carlota Appetit. Sie ging zu dem Lehnstuhl am Kopfende des ausladenden Tisches und setzte sich aufrecht hin, die Hände an der Tischkante. Dies war der Platz des Familienoberhauptes. Zuerst hatte der Großvater und später ihr Vater dort gesessen.

Maria stutzte. Wortlos platzierte sie das Gedeck neu, schöpfte Carlota die geliebte Suppe mit Grießklößchen in den Teller und verschwand.

Das würde ab sofort ihr Platz sein. Nur musste sie, anders als ihre Vorfahren, künftig auch die gesamte Haus- und Gartenarbeit übernehmen. »Auf den Beginn meines neuen Lebens«, sagte sie laut und griff nach dem Glas Weißwein, das ihr Maria bereitgestellt hatte.

Wie gewohnt trank Carlota nach dem Essen ihren Cortado auf der Terrasse. Es wurde Zeit, zu einem geordneten Leben zurückzukehren. Gedankenversunken blieb sie dort in dem gepolsterten Sessel sitzen. Sie wartete, bis sich der blaue Himmel am Horizont über zart Rosa zu Grau verfärbte. Behutsam stülpte sich die Dunkelheit über die Erde. Selbst die Abendbrise brachte kaum Abkühlung. In einem entfernten Teich begannen Frösche ihr Nachtkonzert und versuchten, das Zirpen der Zikaden zu übertreffen. Carlota stand auf, kehrte ins Haus zurück und verschloss die Türen. Maria war gegangen. Jetzt war es Zeit, den Brief zu öffnen.

Carlota betrat die Bibliothek. Sie schloss den Saferaum auf und griff nach dem Kuvert. Sie stutzte. Sollte sie wie ein Heimlichtuer zum Öffnen Wasserdampf verwenden? Überflüssig. Der Brief lag in ihrem Haus. Treuhänderisch – Herr Anwalt hätte ihn mitnehmen können. Es war ihr gutes Recht zu erfahren, was er verbarg oder wem er gehörte. Sie griff nach dem Brieföffner und schob ihn unter die Lasche. Mit einem Ratsch durchtrennte sie das braune Papier und griff hinein. Euroscheine kamen zum Vorschein, aber kein Hinweis auf den Besitzer. Carlota zählte die Fünfhunderteuroscheine. Ihr Herz schlug schneller. Für einen Moment meinte sie, der Versuchung nicht widerstehen zu können. Energisch schob sie das Geld zurück. Nein, sie würde sich trotz der Notlage nicht an fremdem Eigentum vergreifen, jedenfalls nicht, bevor andere Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Sie legte das Kuvert zur Seite. Jetzt kam die schwarze Kassette dran. Sie bückte sich, zog das schwere Teil aus dem Fach und stellte es vor sich ab. Vorsichtig schob sie den Brieföffner in den Metallfalz und hebelte. Klack. Die Spitze war abgebrochen. »Mist«, sagte sie in die Stille des Raumes und stellte die Kassette zurück. Warum hatte sie nicht José darum gebeten? Enttäuscht schloss sie das Kuvert wieder ein. Sie löschte das Licht und verließ die Bibliothek.

Sie stieg die Treppe hinauf. Bevor sie sich mit unnützen Dingen beschäftigte, sollte sie besser Niklas’ Sachen zusammenpacken und in der Garage verstauen.

Vor der Tür zu seinem Schlafzimmer blieb sie stehen. War es nicht sinnvoller, Maria diese Aufgabe zu übertragen? Blick den Tatsachen ins Auge, bald hast du kein Personal mehr. Sie drückte entschlossen die Klinke herunter. Nicht nur der Gedanke an diese unerfreuliche Aufgabe trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, sondern auch die Gewissheit, dass sie José und den beiden Mädchen mindestens drei weitere Gehälter mit Sozialabgaben zahlen musste. Sie dachte an das Geld im Safe.

Carlota holte aus der Dachkammer Lederkoffer, die aus der Jugendzeit ihrer Mutter stammten. Eigentlich sollte sie die Dinger säubern, bevor sie die Kleidung darin einpackte. Sie zögerte – nein, für ihn nicht. Sie legte den ersten Koffer geöffnet auf das Bett. Wahllos griff sie seine Kleidungsstücke aus den Einbauschränken und warf sie hinein. Zum Schluss drückte sie den Deckel zu und kniete sich darauf. Die verrosteten Schlösser schnappten zu.

Vier verstaubte Koffer standen zum Abtransport bereit. Den Rest seiner persönlichen Sachen legte Carlota auf sein breites Bett. Das würde sie ihm morgen in schäbige Kartons packen und mit Strippe umwickeln. Sollte sich der Herr blamieren, wenn er alles in sein neues Heim trug. Eigenartigerweise spürte sie während des Packens keinerlei Traurigkeit, keine Wehmut, noch nicht einmal mehr Zorn. In diesem Augenblick lag sein Verschwinden Jahre zurück. Wie befreit öffnete Carlota die Verbindungstür zu ihrem Schlafzimmer und ging zu Bett.

Vor ihrem inneren Auge tauchte der Inhalt des Kuverts auf. Morgen wollte sie entscheiden, was damit geschah. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Sie lag unbekleidet in einem motorlosen, defekten Fischerkahn, der wild über gischtweiße Wellen tanzte und sich dabei weiter und weiter von der Küste entfernte. Das in Nebel gehüllte Land war kaum mehr zu erkennen. Ein Knall schreckte sie auf. Ihr Körper, das Haar und Bettlaken waren schweißnass. Ihre Zunge klebte wie ein vertrocknetes Blatt an ihrem Gaumen. Schon mehrfach hatte sie den gleichen Traum gehabt. Als er das erste Mal aufgetaucht war, hatte er nichts Gutes verheißen. In der folgenden Nacht waren ihre Eltern tödlich verunglückt. Mit Herzrasen knipste sie die Nachttischlampe an. Sie sah auf die Uhr. Kurz nach vier. Draußen stürmte es, das Meer tobte. Carlota stand auf und verriegelte die Fensterflügel. Am Tischchen goss sie sich Wasser aus der Karaffe in ein Glas und stürzte es hinunter. In diesem Moment schmeckte selbst dieses lauwarme Wasser köstlich. Der Brillant ihres Hochzeitsringes betrug mehr als drei Karat. Verkaufe ihn an einen Diamantenhändler in Gibraltar, riet eine innere Stimme. Wie elektrisiert fischte Carlota nach dem Ring, der sich noch in der Tasche ihres Kleides befand. Aus der Schublade ihres Frisiertisches nahm sie die mit blauer Seide ausgekleidete Schachtel und öffnete sie. Der Name des Diamantenhändlers stand im Deckel in Silberlettern eingedruckt. Weshalb nahm sie nicht gleich die Diamantohrringe mit? Geschenke von Niklas. Eine seiner obligatorischen Gaben der vergangenen Jahre zum Hochzeitstag. In Gibraltar – dem zollfreien Gebiet des britischen Königreichs auf spanischem Territorium – herrschte keine Krise wie in Spanien. Dort könnte sie Erfolg haben. Es handelte sich um lupenreine Steine, beste, reinweiße Qualität. Was war mit dem pinkfarbenen Diamanten aus der Brosche ihrer Großmutter, die sie nie gemocht hatte? Durfte sie auch dieses außergewöhnliche Stück zu Geld machen? Selbstverständlich. Sie musste jede Möglichkeit nutzen. Es war zu spät für Sentimentalitäten.

Noch im Nachthemd rief Carlota am nächsten Morgen auf dem Grundbuchamt an. Sie musste herausfinden, ob auch das Wohnhaus belastet war.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, hörte sie eine freundliche Stimme.

»Könnten Sie mir darüber Auskunft geben, ob mein Haus durch eine Hypothek belastet ist, oder muss ich persönlich erscheinen?«

»Ja, Señora, tut mir leid, Sie müssten vorbeikommen und die entsprechenden Unterlagen vorlegen. Leider, das ist seit drei Jahren Pflicht.«

»Danke, ich komme vorbei.«

Entsprechende Unterlagen. Genau die fehlten ihr. Sicherlich wollten sie dort die Escritura sehen, den notariell beglaubigten Eigentumsvertrag. Ohne diesen brauchte sie kein Grundbuchamt aufsuchen. Aber vermieten könnte sie das Haus. Jetzt, während der Sommermonate, fanden sich bestimmt gut zahlende Mieter. Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich ab. Vor längerer Zeit hatte sie von Freunden gehört, die in derselben Gegend Häuser besaßen, dass sie diese ab dreißigtausend Euro pro Monat vermieten konnten, zumindest in der Sommerzeit. Sollte sie einen Makler beauftragen? Sie verwarf den Gedanken. Der verlangte mindestens zehn Prozent des Mietpreises für seine Dienste. Eventuell wusste Paco Möglichkeiten? Zuerst könnte sie ihn um Kopien aller Auszüge und Hypothekenanträge bitten und nebenbei danach fragen. Sie griff zum Telefon. Glücklicherweise besaß sie seine Durchwahl. Nach wenigen Klingelzeichen hörte sie die sonore Stimme des Direktors. Sie trug ihm ihre Bitte vor.

»Ja, Carlota, nach deinem Besuch habe ich geahnt, dass dein Mann diese Unterlagen nicht hat herumliegen lassen. Geht in Ordnung. Der Bote bringt dir Duplikate. Aber irgendwie klingt es, als hättest du mehr auf dem Herzen.«

»Bist du Hellseher? Ich brauche einen Mieter für die Villa hier, wenigstens für die Sommermonate. Kennst du jemanden? Wenn ich …« Carlota sprach nicht weiter. Die Bitte war ihr peinlich.

»Ich höre mich mal um, aber versprechen kann ich nichts. Schade, Chica, dass du dich nicht früher bei mir gemeldet hast. Adiós.«

Carlota war so aufgewühlt, dass sie kaum antworten konnte. Krächzend brachte sie ein missglücktes Adiós heraus. Ärgerlich über ihre aufkommende Traurigkeit, wischte sie sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange und gab sich Mühe, das Gespräch zu verdrängen. Jetzt war es wichtiger, sich auf Kommendes zu konzentrieren. Für ihr Vorhaben in Gibraltar sollte sie sich eleganter kleiden, sonst glaubte der Händler womöglich, sie hätte den Schmuck gestohlen. Carlota wählte das schwarz-weiße Jackenkleid von Chanel. Sie packte ihre Reisetasche.

Spätestens nach dem Frühstück sollte sie aufbrechen, sonst konnte sie an diesem Tag kaum etwas erreichen. Sich in Estepona auf dem Grundbuchamt nach einem Eintrag zu erkundigen, von dessen Besitzer sie weder Namen noch Lage des Objektes kannte, war sinnlos. Den Weg konnte sie sich sparen.

Eilig sprang Carlota die Treppe hinunter und lief zur Küche. »Maria, könntest du mir bitte einen Picknickkorb vorbereiten? Ich fahre sofort nach Medina Sidonia und möchte unterwegs nicht einkehren.« Unsinnige Ausrede. »Ist José im Garten?

Maria nickte. »Soll ich ihn rufen?«

»Ja. Er möchte zu mir auf die Terrasse kommen. Aber dazu brauche ich bitte eine Tasse Kaffee, sonst nichts.« Carlota ging nach draußen und setzte sich.

Der Gärtner kam über den Rasen und stieg die wenigen Stufen zur Terrasse herauf. Er betrachtete seine Schuhsohlen. Sie schienen sauber zu sein. »Doña Carlota, Sie wollten mich sprechen.«

»Bitte, José, setz dich. Möchtest du einen Kaffee?«

Er schüttelte den Kopf und blieb stehen.

»Komm, setz dich!«, forderte sie den alten Mann erneut auf.

Er wischte den vermeintlichen Schmutz von seiner Arbeitshose und setzte sich zögerlich auf die Korbsesselkante.

»José, ich habe Aufträge für dich. Zuerst lasse bitte alle Schlösser auswechseln, auch die der Garagentore und dann …« Sie zögerte. Es fielen ihr keine passenden Worte ein. Sie atmete tief durch. »Ich möchte ehrlich sein. Ich muss mich von den Autos trennen, und da ich keine Ahnung davon habe, wollte ich dich damit beauftragen. Nur den Range Rover behalte ich vorläufig. Könntest du versuchen, die Wagen im Autohaus Romero schätzen zu lassen und anschließend zu verkaufen?«

José blickte sie erstaunt an. »Ich?«

»Ja, du kennst und pflegst die Wagen seit Jahren. Du kannst mit den Angestellten auf Augenhöhe verhandeln. Nimm, was du erzielen kannst. Mich als Frau nehmen sie nicht ernst. Vor allen Dingen biete den neuen Oldtimer an.« Wie albern sich das anhörte, den neuen Oldtimer. Sollte sie sagen, was sie dafür bezahlt hatte? Besser nicht. Wieder holte Carlota Luft. »Ich …« Tränen füllten ihre Augen. Krampfhaft versuchte sie, sie zurückzuhalten. Eine Träne lief über ihre Wange.

Der glatzköpfige Mann schaute verlegen zur Seite. »Ja, Doña Carlota, wir wissen, dass Sie uns entlassen müssen. Maria hat es gesagt«, beendete er ihren Satz. »Bis ich andere Arbeit habe, bleibe ich und kümmere mich um alles, Sie können sich auf mich verlassen. Maria und ich haben gespart.« Jetzt konnte Carlota die Tränen nicht länger zurückhalten. Der schlanke Mann stand auf und verließ schweigend die Terrasse.

Carlota wollte sich ablenken und beruhigen. Sie schniefte. Um ihr Weinen zu übertünchen, rief sie extra laut durch die geöffnete Küchentür:

»Maria, sind die Mädchen im Haus?«

»Nein, Doña Carlota, entschuldigen Sie bitte, aber Ana kann vielleicht eine Stelle hier in der Nähe bei Belgiern finden, und da habe ich sie heute hingeschickt. José hat es gestern von deren Gärtner an der Mülltonne erfahren. Ich dachte, es ist in Ihrem Sinne. Und die Kleine hat heute frei.«

»Vielen Dank, Maria«, sagte Carlota und freute sich, dass Maria ihr diese unangenehme Aufgabe abgenommen hatte.

Im Schlafzimmer verstaute sie den Schmuck in ihrer Handtasche, schob den Ring auf ihren Finger, griff nach der Reisetasche und verließ den Raum. Es war das erste Mal, dass keiner der Angestellten ihr Gepäck zum Auto trug. Sie durfte nicht vergessen, den Pass und die Expertisen aus dem Safe zu nehmen. Vor allem sollte sie sich beeilen, es war bereits kurz vor elf.