Kapitel 1
Der Märzregen verwandelte die Dorfstraße in Schlamm und natürlich klebte er jedem, aber auch wirklich jedem an den Stiefeln, der George Fletcher’s Inn an diesem Morgen betrat. Zuerst, in aller Frühe, kam Brewster. Was der Kammerdiener des Barons von ihrem Ziehvater wollte, hörte Phine nicht, weil beide Männer ins Kontor gingen. Sie reimte sich aber zusammen, dass Newberry wahrscheinlich wieder einmal Gäste zum Dinner in den Gasthof eingeladen hatte. Phine packte Eimer und Lappen, beseitigte alle Fußspuren und hoffte, dass die schönen Schachbrettfliesen im Flur vor Gaststube und Herrenzimmer jetzt eine Weile sauber blieben. Aber schon fünf Minuten später trug Ned Hunter, der beste Freund ihres Ziehvaters, neuen Schmutz herein.
„Josephine, wo ist der Wirt? Im Kontor? Du brauchst mich nicht anzumelden.“ Er marschierte mit grimmiger Miene an ihr vorbei und verteilte eine Spur aus Lehm und Pferdemist einmal quer durchs ganze Haus. Phine seufzte und machte sich erneut ans Werk.
Als sie eine halbe Stunde später das Wischwasser in die Büsche vor dem Hühnerstall kippte, kamen auch die Männer nach draußen und jetzt wirkte Hunter bester Laune. Er winkte sie näher.
„Josephine, George Fletcher und ich, wir können einen Whisky gebrauchen.“
„Jawohl, Mister Hunter. Zu Diensten.“
Sie knickste. Von der Straße her drangen die Hufschläge eines Reitpferdes in den Hof. Nun, sie hätte sich denken können, dass es das heute mit dem Putzen nicht gewesen war. Außerdem durfte sie jetzt auch noch den Unwillen der Tante Wirtin ertragen, wenn sie um die Flasche und Gläser bitten musste. Ihre Ziehmutter hielt die Kriegskameraden ihres Mannes durch die Bank für Schnorrer und dabei wusste sie längst nicht die Hälfte von dem, was ihnen der Onkel Wirt alles zusteckte. Erst letzten Monat hatte ihr Ziehvater wieder jedem der Männer beim Verlassen der Gaststube einen handlichen, aber schweren Lederbeutel in die Hand gedrückt. Sie nahm nicht an, dass sie Kieselsteine darin nach Hause trugen. Phine kehrte zum Hintereingang des Gasthofs zurück und prallte dort fast mit ihrer Ziehmutter zusammen.
„Oh Verzeihung, Tante Wirtin.“
„Schon gut! Stell den Eimer hin und sag Fletcher, dass mein Bruder gekommen ist. Wir erwarten ihn im Kontor.“
„Der Squire ist da? Weiß Suzan …?“
„Nein.“ Ihre Ziehmutter wehrte ab. „Und du hältst gefälligst auch den Mund. Sie erfährt es noch früh genug. Wenn sie von oben herunterkommt, richtest du ihr aus, dass sie in der Küche das Silber putzen soll. Davon abgesehen bleibt meine Nichte für dich immer noch Miss Suzan und dass du meinen Bruder einfach den Squire nennst statt Sir John, wie es sich für dich gehört, will ich nicht noch einmal hören!“
„Nein, Tante Wirtin. Ich bitte um Verzeihung.“
„Das will ich dir aber auch geraten haben! Jetzt geh!“
„Zu Diensten, Tante Wirtin.“
Phine knickste. Sie wunderte sich, was der Squire im Gasthof wollte, er kam doch sonst nie unter der Woche. Ned Hunter lachte laut heraus, als sie die Botschaft ausrichtete.
„Tja, George, dann wird es wohl nichts mit dem Whisky! Viel Glück mit dem Squire. Oder sollte ich lieber sagen: mit seiner Schwester?“
Er schlug dem Onkel Wirt auf den Rücken und verließ, immer noch lachend, den Hof. Phine hörte, wie er draußen auf der Straße den Pferden seines Fuhrwerks pfiff. Wenigstens einer, der ihr nicht noch einmal Schmutz ins Haus trug! Sie ließ ihrem Ziehvater den Vortritt und schloss die Tür.
Draußen klarte es langsam auf. Vorne im schönen Flur brach helles Licht durch die bunten Glasscheiben im Bogenfeld über der Haustür. Leuchtend rote, blaue und grüne Sonnenflecken verwandelten das Schachbrettmuster in Porphyr, Lapislazuli und Malachit. Kleine Stücke davon hatte ihr Ziehvater aus dem Anglo‑Afghanischen Krieg mitgebracht. Sie wischte feucht nach hinten zum Dienstboteneingang durch und von dort noch einmal nach vorn. Dabei klapperte sie absichtlich laut mit dem Eimer, ein geheimes Zeichen zwischen ihr und Miss Suzan, damit diese in der Küche blieb.
Heute kam Phine dadurch allerdings dem Befehl der Tante Wirtin nach und verschaffte damit Sir John freie Bahn. Der Squire verließ das Kontor schweigend, bedeutsam einen Finger auf die Lippen gelegt, und ging zum Hinterausgang. Sie machte stumm einen höflichen Knicks. Wenn ihn Suzan jetzt durch das Küchenfenster aus dem Hof gehen sah, konnte sie niemand dafür verantwortlich machen. Phine putzte wieder den hinteren Flur und brachte den Eimer in den Hof, dankbar für die Atempause.
Dort blies der Wind neue Regenwolken zu den Bergen. Es war für die Jahreszeit noch fast zu kühl. Aber die Spatzen, die rund um die Pfützen hüpften, kümmerte das nicht. Sie balzten.
Phine leerte das Schmutzwasser an den Holunderstrauch. Sie hoffte, dass ihre Ziehmutter langsam ein Einsehen haben, endlich das Schild geschlossene Gesellschaft ins Fenster hängen und sie damit von der fruchtlosen Putzerei erlösen würde. Bis zum Eintreffen des Barons und seiner Gäste blieb im Haus schließlich noch genug zu tun.
Aber die Tante Wirtin fand eine andere Aufgabe. „Du bringst jetzt mit Suzan die jungen Gänse auf die Weide. Geschwind, in der nächsten Stunde will ich keine von euch beiden hier im Gasthof sehen!“
Ihre Ziehmutter hatte es so eilig, sie aus dem Haus zu scheuchen, dass ihr nicht einmal Suzans gutes seidenes Schultertuch und die neuen Knopfstiefelchen auffielen.
„Seit wann schickt mich Tante Wilhelmina mit dir zum Gänsehüten?“
Phine zuckte mit den Schultern. Es ging sie nichts an, aber sie machte sich Sorgen. Zuerst der Besuch des Squires und nun dieser plötzliche Befehl ihrer Ziehmutter ‒ das roch verdächtig danach, dass Sir John und Lady Gilbert einen passenden Bräutigam für Suzan gefunden hatten. Das Pferdegespann, das sie in diesem Augenblick auf der Straße vor George Fletcher’s Inn traben hörte, gehörte schon einmal nicht dem Baron. Newberry ließ seinen Kutscher immer mit der Peitsche knallen, damit auch ja niemand seine Ankunft überhörte. Außerdem kam er nie vor Sonnenuntergang.
Arme Suzan! Sie wollte mit dem Seidentuch und den neuen Stiefelchen sicher Ruben gefallen, dem Schankknecht ihres Onkels. Er kam nur leider überhaupt nicht infrage. Ruben war ein armer Schlucker, sie dagegen Miss Gilbert. Es stimmte zwar, dass Wolle nicht mehr das einbrachte wie früher. Aber Sir John hatte neben der Schafzucht schon früh mit dem Anbau von Früchten und Gemüse unter Glas begonnen und verkaufte heute Erdbeeren, Ananas und Artischocken bis nach Glasgow und Edinburgh. Darüber hinaus sollte Suzan später einmal den Gasthof erben. Phine schätzte, dass der Squire mindestens auf einen Viscount als Schwiegersohn zielte. Ruben schlug sich Suzan also besser aus dem Kopf.
Er wuchtete gerade ein volles Fass die steile Kellertreppe hinauf, als sie mit rauschenden Röcken an ihm vorbei durch den hinteren Flur zum Dienstbotenausgang ging. Phine fand es gemein, sie sah seinen waidwunden Blick. Aber er blieb stumm. Ruben wusste, dass er es niemals wagen durfte, auch nur den Blick auf Suzan zu richten. Er war der Tante Wirtin seit dem Tag, da ihn der Onkel als Schankknecht geholt hatte, ein Dorn im Auge. Weil er, genau wie Phine, seinen Vater nicht nennen konnte. Ruben konnte nur ebenso wie sie den Mund halten und beten, dass ihrer Ziehmutter Suzans Schwärmerei für ihn nicht eines Tages doch noch auffiel.
„Josephine! Wo bleibst du?“
Suzans blondes Haar leuchtete in der Sonne. Sie wartete im offenen Hinterausgang. Es zog furchtbar, der Wind jammerte wie eine gefangene Banshee durch den Flur und die Tante Wirtin riss die Küchentür auf.
„Seid ihr immer noch da? Jetzt aber flott, Josephine!“
„Auweia!“ Suzan wurde ein bisschen rot.
Phine schlüpfte eilig vor der Waschküche aus den Strohpantoffeln in die Holzschuhe, wickelte sich in ihr eigenes, weit schlichteres Schultertuch aus Wolle und folgte Suzan in den Hof.
Dort waren früher Postkutschen und die vier‑ bis sechsspännigen Kutschen der Vornehmen eingefahren, aber das wusste Phine nur aus Erzählungen. Die Mautstraße, die in Bailersgate begann, war lange Zeit die kürzeste und im Westen auch die einzige Verbindung nach Baldorran, dem Stammsitz der Herzöge von Belfort gewesen. Die Reise dauerte mit Kutsche oder Fuhrwerk nach wie vor mindestens einen halben Tag, darum hatte früher jedermann in George Fletcher’s Inn Station gemacht, bis die Stallburschen ihres Ziehvaters die Pferde gewechselt hatten. Manchmal war für das anstrengende Steilstück bis zur Fuhrmannshöhe hinauf sogar noch ein zusätzliches Paar Zugtiere eingespannt worden.
Aber seit dem Tod des letzten Herzogs lag die Residenz im Hochland im Dornröschenschlaf. Die Mautstraße war durch die vielen Überfälle auf die Goldtransporte in Verruf geraten und zuletzt hatte der Bau der Eisenbahnstrecke bis nach Baldorran dem Gasthof ihres Ziehvaters fast den Gnadenstoß versetzt. Stallungen und Remise standen schon seit Phines frühester Kindheit leer und wenn doch einmal frische Zugtiere gebraucht wurden, borgte sie Ned Hunter vom Squire.
Viele im Dorf hofften jetzt, dass wenigstens die Händler nach der Fertigstellung des letzten Teilstücks der Eisenbahntrasse wieder den Weg durch Bailersgate nehmen würden. Die Schienen sollten bis direkt zu den Goldminen hinaufführen und die Mautstraße damit wieder sicher machen. Aber Phine glaubte nicht daran. Sie lockte die jungen Gänse, die alle noch das gelbe Daunenkleid trugen, über den Hof und auf die Bleichwiese am Ende des Dorfs.
Dort stand auch das Epitaph für den letzten Herzog von Belfort. Das Unglück, mit dem sein Geschlecht erloschen war, hatte sich an der Fuhrmannshöhe über dem Dorf ereignet. Gerald St. Martin war nach Bailersgate gekommen, weil er von dort aus mit einem Heißluftballon aufsteigen wollte, um seiner jungen Gemahlin seine Ländereien zu zeigen. Dabei war das hohe Paar dann umgekommen. Einige im Dorf sagten, der Ballon des Herzogs habe Feuer gefangen. Andere behaupteten, die Zugpferde seiner Kutsche wären vom Schuss eines Wilderers erschreckt durchgegangen und hätten St. Martin überrannt.
Sein Bronzeprofil blickte auf alle Fälle für immer zur Mautstraße, voller Sehnsucht, wie die Tante Wirtin sagte. Denn der Leichnam der persischen Prinzessin, die der Herzog erst wenige Tage zuvor auf sein Stammschloss Belfort Castle heimgeführt hatte, war niemals gefunden worden. Phine schlug ein Kreuz und wischte sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Suzan bibberte neben ihr im kalten Wind.
„Warum müssen wir die Gänse gerade heute an das Weiden gewöhnen? Es ist doch noch viel zu früh dafür.“ Sie schlang das Seidentuch enger um sich.
„Ich weiß nicht. Vielleicht weil Brewster heute schon in aller Frühe hier war.“ Phine sprach ihre wirkliche Befürchtung eines Bewerbers um Suzans Hand lieber nicht aus.
„Na schön, der Baron kommt. Und?“
„Sir Francis ist bereits hier.“
„Stimmt, wenn Newberrys Kammerdiener bei Onkel George war … sag nicht, Rubens Mutter konnte wieder einmal nicht zahlen …“
Phine verschlug es die Sprache. Suzan glaubte scheinbar wirklich, dass der Baron wegen der paar Schillinge Pacht höchstpersönlich bei der Hebamme anklopfte. Dabei wusste das ganze Tal, was Sir Francis wirklich in ihre Kate zog ‒ und nicht nur ihn. Die Tante Wirtin hielt sich zurück, wenn ihre Nichte in Hörweite war, aber wenn sie mit Phine in der Küche allein war, nahm sie kein Blatt vor den Mund und nannte Rubens Schwester Martha eine Hure.
Wie die Mutter, so die Tochter.
Dabei blieb Catriona Selkirk kaum eine Wahl. Die Wochenbetten der Pächterfrauen allein hätten Rubens Mutter nicht über den Winter gebracht und er trug als Schankknecht auch keine Reichtümer mit nach Hause. Sie war auf jeden Sack Mehl oder Kartoffeln und die Schillinge angewiesen, die Marthas Kunden bei ihr ließen.
Die meisten waren Offiziere der Garnison in Baldorran, aber leider nicht nur. Phine musste frühmorgens oft zum Müller, um feines Mehl für Scones oder andere Backwaren zu holen. Die Kate der Hebamme lag direkt neben der Mühle und sie konnte nicht mehr zählen, wie viele Male sie schnell hinter der Hecke verschwunden war, um nicht einem der Männer aus dem Dorf zu begegnen. Einmal war sie zu ihrem größten Schrecken sogar beinahe Suzans Vater in die Arme gelaufen. Aber das hätte sie ihr nie im Leben verraten.
Phine nahm ein Gänschen hoch, das auf einem Fuß hinkte, und hörte Suzan nur mit einem Ohr zu.
„Also, ich verstehe nicht, warum wir unbedingt aus dem Haus mussten. Sonst hat uns die Tante doch auch einfach in die Küche befohlen, wenn Newberry kam. Einmal durften wir sogar vor dem Baron knicksen.“
„Da warst du zehn und hast noch einen kurzen Rock getragen.“
„Oh …“ Auf der Wiese entstand eine unbehagliche Pause.
Suzan stieg Röte in die Wangen. Scheinbar wusste sie doch, welch üblen Ruf der Baron in Bailersgate und den Nachbardörfern genoss. Dass er mehr als einer Tochter eines Pächters einen dicken Bauch gemacht hatte.
Suzan sah zu Boden. „Ich müsste dann wohl einen Soldaten zum Mann nehmen. Oder einen Witwer, was glaubst du?“
Phine zuckte mit den Schultern. Wenn Ruben Suzan wirklich liebte, gab er ihr auch im Unglück seinen Namen und zog ihr Kind als seines groß. Er war stark und geschickt und verstand sein Geschäft. Sie hätte mit ihm einen guten Wirt für den Gasthof bekommen. Während irgendein feiner Gentleman aus Baldorran zweifellos nur ihre Mitgift sehen, den Gasthof verpachten und dann über den mageren Profit stöhnen würde.
Suzan seufzte. „Weißt du, ich wünschte … Vater sagt immer, Newberry solle seine Gäste lieber in sein Herrenhaus in Port Belfort einladen, statt immer Tante Wilhelmina Arbeit zu machen. Aber der Baron kann es wahrscheinlich deshalb nicht tun, weil seine Frau spinnt.“
„Wie bitte?“
„Ja. Alle sagen, dass sie geistesgestört ist. Deshalb sind die Fenster des Haupthauses auch vergittert. Bis hinauf in die Mansarden! Unser Kutscher hat es selbst gesehen.“
Suzan rückte näher. „Lady Newberry soll sehr schön sein und stumm. Aber so verrückt, dass sie ganze Briefe mit Kringeln vollkritzelt, die kein Mensch entziffern kann.“ Suzan ergriff Phines Arm. „Einmal soll sie sogar versucht haben, ihr Geschreibsel aus dem Haus zu schmuggeln. Stell dir vor! Wie fürchterlich peinlich für den Baron!“
Zwanzig junge Gänse konnten nicht so viel schnattern wie Suzan, wenn sie einmal ihrer Zunge freien Lauf lassen durfte. Im Gasthof erlaubte ihre Tante bei der Arbeit höchstens Singen und Phine musste ganz schweigen. Sie sang entweder zu tief oder viel zu hoch und als Findelkind hatte sie ohnehin nichts zu sagen. Aber sie konnte lesen, schreiben und sehr gut rechnen. Suzans Erbe würde nicht so großartig ausfallen, wie der Squire wahrscheinlich hoffte. Phine wusste, wie dringend ihre Ziehmutter die rund zehn Pfund Sterling brauchte, die sie aus zwanzig im Herbst geschlachteten Gänsen erlösen würde. Es stand schlecht um den Gasthof und wenn Newberry nicht immer wieder Gäste dorthin eingeladen hätte, hätte es noch schlechter ausgesehen.
Aber auch der Baron merkte als Eigentümer der Mautstraße, dass Kaufleute und andere Reisende, die sich die Fahrt mit der Eisenbahn nicht leisten konnten, jetzt lieber den Umweg um das Moor auf der anderen Seite des Roten Berges in Kauf nahmen. Ned Hunter, der oft in Baldorran zu tun hatte, war beinahe der einzige der Pächter des Barons, der noch regelmäßig mit seinem Fuhrwerk die Passstrecke benutzte.
Das aufgeregte Gackern einer jungen Gans, die eifrig an den schwarzen Lederknöpfen von Suzans rechtem Stiefel knabberte, brachte Phine in die Gegenwart zurück. Sie bückte sich und schob den dunklen Schnabel fort. „Die mag dich, Suzan.“
„Deshalb werden wir sie im Herbst auch schlachten und rupfen.“
„Du nicht, Miss Suzan. Seit wann macht sich die Tochter des Squires die Finger mit nassen Federn schmutzig?“ Phine musste lachen.
„Reib mir das auch noch unter die Nase! Ich habe mir das Bett nicht ausgesucht, in dem ich geboren wurde!“
Phine sah Suzan nur an.
Diese legte erschrocken eine Hand auf den Mund. „Oh, Gott … entschuldige! Sei mir bitte nicht böse. Ich habe es nicht so gemeint.“
Sie sah so kläglich drein, dass Phine ihr den Arm um die Taille legte und sie drückte. Als Findelkind musste sie für alles dankbar sein. Ob es nun Suzans abgelegte Kleidung war oder der Verschlag auf dem Dachboden des Gasthofs, in dem sie schlief. Im Sommer herrschte dort oft brütende Hitze, während sie im Winter manchmal mit Reif auf dem Federbett erwachte. Aber es hätte schlimmer kommen können. Sie hätte auch verhungern können.
Damals, im Wald.
„An was denkst du, Phine? Du bist so still.“
„Dass die Gänseküken frieren.“
„Komm, wir kehren um. Mir egal, was Tante Wilhelmina sagt.“
Suzan hatte recht, die jungen Gänse drängten sich unter Phines Rock eng um ihre Knöchel und die am Rand der Schar reckten leise klagend die Hälse Richtung warmen Stall. Außerdem war das ein klarer Befehl, auf den sie sich zur Not herausreden konnte. Phine hielt es ohnehin für ungefährlich, dass sie zurückkehrten. Das Gespann, das sie vorhin gehört hatte, stand nicht im Hof und wenn der Baron doch früher gekommen wäre, hätten sie seinen Kutscher durch das halbe Dorf mit der Peitsche knallen gehört. Sollte Suzans künftiger Bräutigam dagegen zu Fuß gekommen sein, war das natürlich Pech. Aber welcher Mann aus gutem Haus tat das schon. Phine stellte sich vor, dass Suzans Bräutigam mindestens ein Reitpferd besitzen musste.
„Und dafür hat uns die Tante nun in die Kälte gejagt! Du mit deinen Holzpantinen hast es natürlich gut. Aber mir frieren in den Knopfstiefeln langsam die Zehen ab.“
Das brachte auch nur Suzan fertig, in Seidenstrümpfen und Knopfstiefelchen auf derbe Wollsocken und Holzpantinen neidisch zu sein. Phine musste lachen.
„Geh schon voraus. Ich schaffe es mit den jungen Gänsen auch allein.“
Sie trieb die Küken durch den Hof, verfrachtete die ganze Schar in den Stall und wechselte auf der Schwelle zum Gasthof wieder in die Strohpantoffeln. Phine hatte schon die Hand auf der Türklinke der Küche, um sich bei ihrer Ziehmutter zurückzumelden, als sie vom schönen Flur her eine fremde Männerstimme hörte.
„Hallo? Bedienung? Ist hier jemand?“
Phine lauschte. Ihr Ziehvater schien nicht in der Nähe zu sein. Er wäre sonst längst aus dem Kontor getreten, um den Gast zu begrüßen. Auch die Küche war leer. Wahrscheinlich war Suzan beim Hereinkommen ihrer Tante in die Arme gelaufen und durfte sich nun im ersten Stock eine Strafpredigt wegen des Seidentuchs anhören. Phine glaubte, dass von oben wirklich schwach die ärgerliche Stimme ihrer Ziehmutter herunterdrang. Arme Suzan, doch was sollte sie mit dem Gast tun? Sie rieb die kalten Zehen unter dem Rock am Bein.
Suzan und ihr war es eigentlich nicht erlaubt, die Gaststube zu betreten. Die war das Reich ihres Ziehvaters oder höchstens noch von Ruben. Aber wie es das Schicksal wollte, schien der Schankknecht auch unterwegs zu sein und irgendwer musste den Fremden willkommen heißen. Phine durfte ihn nicht ohne Bedienung auf den schwarz‑weißen Fliesen vor der Gaststube stehen lassen. Der Onkel Wirt hätte ihr das niemals verziehen.
Sie ging in die Küche und von dort in den angrenzenden Schankraum. Wenn sie hinter der Theke stehen blieb, konnte sie von dort aus durch das Schankfenster in den schönen Flur blicken, ohne dass sie der Gast sofort bemerkte. Tatsächlich wartete vor der Gaststube ein Mann in einem eleganten, dunklen Anzug. Ob das Suzans künftiger Bräutigam war? Phine holte tief Luft, ging zum Schankfenster und schob es hoch.
„Guten Tag, der Herr. Was wird gewünscht?“
Sie sah zuerst nur die Tressenschnüre auf seinem schwarzen Rock und dachte sofort an eine fremde Uniform. Es gab aber im ganzen Hochland kein ausländisches Regiment. Jedenfalls nicht dass sie wusste.
„Bonjour, Mademoiselle.“
Der Fremde lüpfte lächelnd einen modisch hohen Biberhut. Doch kein Soldat, aber bestimmt ein Ausländer. Phine verwarf, dass er der Bräutigam für Suzan war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Squire etwas anderes als einen Schotten für seine einzige Tochter akzeptiert hätte. Sie musterte den Fremden verstohlen. Sein Haar war noch dunkler als ihres, kohlschwarz, und er trug es sehr kurz, als hätte er erst vor kurzem Typhus überstanden oder Kopfläuse gehabt. Er war auch vollkommen glatt rasiert, obwohl die gängige Mode für Herren mindestens einen Schnurrbart und lange Koteletten verlangte. So stand es wenigstens in dem Journal, das Lady Gilbert monatlich bezog und an Phines Ziehmutter weiterreichte, wenn sie mit der Lektüre fertig war.
„Nun, Mademoiselle, ich hätte gerne den Wirt gesprochen, George Fletcher heißt er wohl.“ Der Fremde zwinkerte ihr aus dunklen Augen zu. Er besaß einen angenehmen Bariton und sprach sehr gepflegt, wie ein Adeliger. Er konnte natürlich trotz allem Engländer sein, aber sie glaubte es eigentlich nicht.
Hoffentlich hatte ihn nicht die Hohe Pforte in Istanbul nach Baldorran geschickt. Es war schon einmal ein Emissär des Osmanischen Reichs gekommen, um die herzoglichen Goldminen zu inspizieren, deren Besitzverhältnisse kompliziert waren und verhinderten, dass das vakante Herzogtum, wie in solchen Fällen sonst üblich, an die Krone überging. Phine unterdrückte ein Seufzen. Ausgerechnet jetzt musste der Onkel Wirt nicht da sein, um den Fremden würdig zu empfangen. Sie knickste.
„Sehr wohl, der Herr. Ich werde den Herrn Onkel, den Wirt, sogleich holen. Möchtet Ihr einstweilen in die Gaststube eintreten? Äh … bitte, mich zu entschuldigen. Ich müsste …“
Sie knickste erneut.
„Natürlich, Mademoiselle. Sie hat meine Erlaubnis, Ihren Herrn Onkel zu suchen. Ich nehme einstweilen mit mir selbst vorlieb.“ Der Fremde lachte leise.
Es war ein schönes Lachen, das in Phines Bauch ein ganz merkwürdiges Kribbeln auslöste. Sie flog in den Schankraum, öffnete die Küchentür – und landete in den Armen ihrer Ziehmutter. Die war einen Kopf kleiner als sie, aber doppelt so breit. Die Tante Wirtin packte sie hart.
„Was hast du hier zu suchen?“
„Nichts! Ich habe nichts Unrechtes getan.“
Wilhelmina Fletcher schüttelte sie. „Lüg nicht! Wer hat dir erlaubt, mit einem fremden Mann zu sprechen? Dass du dich nicht schämst!“
Sie versuchte, ihrer Ziehmutter Zeichen zu geben. Der Gast war inzwischen durch die Tür der Gaststube eingetreten und stand nun vor dem Schanktisch. Aber da lüftete er schon wieder den Hut. „Guten Tag! Sie ist Mrs Fletcher, nehme ich an?“
Der Fremde wirkte unter der niedrigen Zimmerdecke der Gaststube fast noch größer als draußen im Flur.
„Was geht hier vor?“ Endlich trat auch Phines Ziehvater ein. Er verbeugte sich.
„Bitte um Vergebung, Euer Gnaden. Womit können wir dienen?“
„Mit einer Auskunft.“
Der Unterschied zwischen ihrem rothaarigen, stämmigen Ziehvater und dem hochgewachsenen Fremden hätte nicht deutlicher sein können. Sein Gesicht und seine Hände wirkten durch ihre tiefe Bräune wie die eine Bronzestatue und der schwarze, mit eisengrauer Kordel verschnürte Gehrock verstärkte den Eindruck noch. Der Gast hüstelte. „Will er mir die junge Dame hinter der Theke nicht vorstellen, Herr Wirt?“
„Das ist nur unser Mädchen für alles – Josephine.“ Ihre Ziehmutter zog sie halb hinter sich.
„Ein sehr schöner Name für ein schönes Mädchen.“ Der Fremde lächelte.
Phine blickte zu Boden. Es klang in ihren Ohren jedes Mal falsch, wenn sie die Tante Wirtin Josephine rief. Phine, wie sie der Onkel Wirt nannte, wenn sie allein waren, gefiel ihr weit besser. Sie hörte es nur in letzter Zeit immer seltener. Darauf, dass ihr keine Muße blieb, zum Beispiel mit dem Onkel Wirt in den Wald zu gehen, sah schon ihre Ziehmutter. Sie presste die Hand unbarmherzig auf ihren Rücken.
„Der Herr entschuldigt uns nun bitte. Für heute Abend ist ein Dinner bestellt und wir haben noch viel zu richten.“
Sie schob Phine grob durch die offene Tür in die Küche, wo Suzan mit rotgeweinten Augen am Tisch saß und Kartoffeln schälte.