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Fraislach, 2019
Siebenhunderteinunddreißig Schritte waren es von der Busstation an der Hauptstraße die Gasse bergauf bis zu dem Metalltor, das das Grundstück ihrer Familie vom Rest der Welt trennte. Charlotte zählte die Schritte wie schon als Kind, während sie an der Bordsteinkante entlangbalancierte und den Kopf gesenkt hielt. Braun und gelb gefärbte Blätter verdeckten den Asphalt zu ihren Füßen und immer wieder kickte sie kleine Laubhaufen zur Seite, um ihren Weg fortzusetzen.
Sie atmete schwer, als sie die Hälfte des Weges hinter sich gelassen hatte und stemmte die Arme in die Hüfte. Als Kind war der Anstieg kein Problem gewesen, doch jetzt fehlte ihr die Kondition.
Fünfhunderteins, fünfhundertzwei, zählte sie im Kopf und warf einen Blick nach hinten. Kein Mensch war heute unterwegs, aber das war kein Wunder – hier galt es als Menschenansammlung, wenn mehr als drei Leute zusammenstanden und sprachen. Bis auf die Vögel, die am Himmel ihre Kreise zogen und sich zwitschernd auf den Ästen der Bäume am Straßenrand niederließen, war kein Geräusch zu hören.
Charlotte genoss die kühle Herbstluft, die ihr in die Nase stieg, den Geruch nach Blättern und Wald, der ihr bis unter die Haut kroch und sie beruhigte. Es half ihr, nicht an morgen zu denken, sondern nur daran, wie sie heute zum ersten und einzigen Mal allein in dem Haus ihrer Eltern übernachten würde.
Wobei, ganz allein würde sie nicht sein, die Haushälterin, die schon seit Charlottes Geburt für ihre Familie gearbeitet hatte, wohnte nach wie vor im Haupthaus.
Sechshunderteinundneunzig, sechshundertzweiundneunzig. Als Charlotte den Kopf hob, sah sie schon die dichte Ligusterhecke, die nachgeschnitten werden musste und die das Eingangstor zum Grundstück ihrer Eltern verdeckte. Die letzten Schritte zählte sie nicht mehr, denn hinter der Hecke konnte sie die Villa ausmachen, die einmal ihr zu Hause gewesen war.
Als sie am Tor ankam, legte Charlotte die Hände auf das kühle Metall und starrte auf das Anwesen vor ihr. Ein Schotterweg führte vom Tor aus zu der symmetrisch geschwungenen Steintreppe vor dem Haus, die sich in zwei Arme aufteilte und auf dem Balkon wieder zusammentraf.
Charlotte hatte die Treppe nur zweimal in ihrem Leben benutzt. Einmal, als sie Fangen und Verstecken mit ihrer Zwillingsschwester Valerie gespielt hatte, über die Stufen gestolpert war und sich den Fuß gebrochen hatte. Und noch mal, als sie ihre Schwester vor fünf Monaten das letzte Mal gesehen hatte.
Valerie war während eines Abendessens mit der Familie wutentbrannt über die Treppe aus dem Haus geflüchtet und Charlotte war ihr nachgelaufen, hatte versucht, sie aufzuhalten. Aber sie hatte ihre Schwester nicht einholen können und Valerie war in ihrem Sportwagen Richtung Flughafen davongerast, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
„Wenn du noch länger gaffst, frieren deine Augen ein.“
Charlotte zuckte zusammen und ließ die Gitterstäbe des Tors los, als ob sie sich daran verbrannt hätte. Sie fuhr herum und sah die Haushälterin Ruth hinter sich, die eine stämmige Figur hatte und gut einen Kopf kleiner war als Charlotte. Krähenfüße umrandeten ihre mandelförmigen Augen und ihre Haare waren unter einer Wollmütze versteckt, die sie tief in die Stirn gezogen hatte. Sie musterte Charlotte gründlich, schüttelte den Kopf und holte dann einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche.
„Du siehst müde aus. Wenn du noch weniger schläfst, fällst du irgendwann um und kommst nicht mehr auf“, bemerkte Ruth mit dem Fingerspitzgefühl eines Nashorns und hielt Charlotte das Tor auf. „Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie weiter, während Charlotte das Tor hinter sich schloss und den frisch gemähten Rasen vor dem Haus betrachtete.
Hier hatte ihre Mutter Inga jeden Sommer ihre Staffelei platziert und gemalt, am liebsten zu Tagesanbruch, wenn das Licht der Sonne das Haus von vorn traf, und der neubarocke Stil des Gebäudes zur Geltung kam. Charlotte hatte nicht gezählt, wie oft ihre Mutter das Haus gezeichnet hatte, doch die bemalten Leinwände hatten sich in ihrem Arbeitszimmer gestapelt wie Bücher in einer Bibliothek.
Der Gedanke daran versetzte Charlotte einen Stich ins Herz und sie kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Seit dem Begräbnis ihrer Mutter vor fünf Monaten hatte Charlotte das Haus nicht mehr betreten und obwohl die Trauer mit der Zeit erträglicher geworden war, traf die Erinnerung sie hier wie kaltes Wasser im Gesicht.
Sie zog die Schultern hoch und versuchte, sich auf das Gespräch mit Ruth zu konzentrieren, um sich abzulenken. „Zwei Minuten höchstens. Die letzte Woche war stressig, da habe ich nicht sehr viel Schlaf abbekommen“, erklärte sie bestimmt. Sie warf der Haushälterin einen Blick von der Seite zu und war trotz der schroffen Begrüßung froh, sie wiederzusehen. Wenn Valerie morgen in aller Herrgottsfrühe aus Paris kam, dann würde das Chaos ausbrechen – umso mehr genoss Charlotte die Zeit, die sie mit Ruth allein verbringen konnte.
Der Kiesweg zum Gebäude war ebenso mit farbigen Blättern bedeckt wie der Rasen und Charlotte fuhr ein Lächeln über das Gesicht. Wenn es an diesem Ort eines im Überfluss gab, dann war es Natur.
„Da du jetzt hier bist, kann ich dafür sorgen, dass du wieder zu Kräften kommst. Heute gibt es Kürbiscremesuppe … die habe ich gerade selbst geerntet.“ Ruth holte ein Weidenkörbchen unter ihrer Jacke hervor und präsentierte Charlotte drei handballgroße Kürbisse.
„Wo hast du die gefunden?“
„Sie sind zwischen den Zaunlatten durchgewachsen, sodass ich sie von unserem Grundstück aus nicht mehr ernten konnte. Ich bin außerhalb des Zauns entlang bis zu den Bäumen gegangen. Und es liegen noch einige dort.“
Charlotte wusste, wo Ruth die Kürbisse gefunden haben musste. Vor dem Wald oberhalb der Straße hatte sie sich als Kind in der Nacht immer gefürchtet, wenn der Wind durch die Äste fuhr und die Zweige rascheln ließ.
„Wie war die Fahrt?“, erkundigte sich Ruth, während sie in einen watschelnden Gang fiel und sich abmühte, um mit Charlotte Schritt zu halten. Wie früher umrundeten sie das Haupthaus und kamen an den hohen Fenstern im Erdgeschoss vorbei, die vergittert waren.
Ruth schloss eine Hintertür auf, die vom Hof neben dem Haus in das Treppenhaus des Gebäudes führte. Von drinnen kam Charlotte ein Schwall kalte Luft entgegen und sie verschränkte fröstelnd die Arme.
Als Kind hatte sie immerzu gefroren, die Kälte, die sich hartnäckig im Haus hielt wie ein Pilz an einem Baum, war ihr ständiger Begleiter gewesen.
Ruth griff Charlotte an den Arm und hob mahnend ihren Zeigefinger. „Zu wenig Schlaf, deshalb ist dir kalt.“ Sie lächelte versöhnlich und schob ihren Schützling in die Küche, wo ein Feuer im Kamin brannte und schon zwei andere große Kürbisse auf der Arbeitsplatte lagen und darauf warteten, verarbeitet zu werden. „Jetzt koche ich dir mal Tee.“
Die Küche war vollgeräumt mit Töpfen, Pfannen und Kochgeschirr jeglicher Art und war seit jeher Ruths Refugium, in das sie nur selten Besucher einlud.
„Valerie ist übrigens vor zwei Stunden angekommen und schon in ihrem Zimmer“, bemerkte Ruth, während sie Wasser in den Teekocher füllte und es dann erhitzte.
Charlottes Kopf fuhr in die Höhe. „Sie sollte erst morgen landen!“
Ruth runzelte die Stirn, stemmte ihre Hände in die Hüfte und musterte Charlotte abschätzend. „Sie hat einen früheren Flug genommen. Ist das ein Problem?“ Provokant hob Ruth eine Augenbraue, dann legte sie eine bunt gefleckte Kochschürze um und griff nach ihrem Weidenkörbchen.
Charlotte biss sich auf die Lippe und knetete ihre Finger. Ihr Blick verlor sich im Zimmer und für einen Moment hatte sie ihre schöne Schwester mit ihrer kastanienbraunen Mähne vor Augen, die ihr eine Verwünschung zubrüllte und aus dem Haus flüchtete. Danach war sie nicht wiedergekommen, weder zu einer Aussprache noch zum Begräbnis ihrer Mutter.
„Valerie und ich … haben schon lang nicht mehr miteinander gesprochen.“
Ruth zuckte mit den Schultern, goss den Tee auf und seufzte. „Ich bin nicht eure Mutter, aber ich finde es traurig, dass ihr keinen Kontakt mehr habt. Egal, was geschehen ist – ihr seid Geschwister, um Himmels willen.“ Sie holte die frisch geernteten Kürbisse aus dem Körbchen und legte sie neben sich ab.
Charlotte rang mit sich, der Gedanke an ein Wiedersehen mit ihrer Schwester jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie noch eine Nacht Schonfrist hatte, und Valerie erst morgen hier aufkreuzen würde … aber so?
„Warum beziehst du nicht dein Zimmer, während ich das Abendessen zubereite? Dann kannst du Valerie gleich begrüßen und dich frisch machen“, schlug Ruth vor, ohne den Blick von den Kürbissen abzuwenden.
„Hm“, machte Charlotte, aber ihr fiel keine Ausrede ein, durch die sie das Treffen mit Valerie hätte herauszögern können, deshalb griff sie nach ihrer Tasche und überließ Ruth die Küche.
In das Treppenhaus vor ihr drang nur wenig Licht von draußen und die Lampen, die an der Wand montiert worden waren, waren zu schwach, um die Treppe gänzlich auszuleuchten. Charlotte zog ihre Jacke enger um ihre Schultern und machte sich auf den Weg in den dritten Stock.
Seit ihr Vater ihr die Geschichte des Hausgeistes Gustav erzählt hatte, der durch die Gemäuer des Hauses wandelte und im Treppenhaus, sowie im angrenzenden Keller hauste, war Charlotte dieser Teil des Gebäudes unheimlich. Selbst heute, zwanzig Jahre später und mit dem Wissen, dass es keine Geister und Gespenster gab, war sie aufmerksam, ob sie eine Tür knarzen hörte, oder einen Schatten flüchten sah.
Reiß dich zusammen, du bist erwachsen, schalt sie sich in Gedanken und atmete tief durch. Anstatt Angst vor einer Erfindung ihres Vaters zu haben, sollte sie sich lieber auf das Treffen mit Valerie vorbereiten.
Als sie im dritten Stockwerk ankam und auf den Flur starrte, der ihr Zimmer von dem ihrer Schwester trennte, hatte sie einen Kloß im Hals. Wie oft hatte sie sich als Kind gewünscht, dass Valerie an ihre Tür klopfte, und fragte, ob sie etwas gemeinsam unternehmen wollten. Aber ihre Schwester war nie mitgekommen.
Charlotte machte einen Schritt auf ihr Zimmer zu und lauschte, ob sie Valerie hören konnte. Gegen ihre helle Sopranstimme waren die Mauern des Hauses früher nicht resistent gewesen, doch heute kam kein Laut durch ihre Tür.
Ist sie wieder verschwunden?
Valerie hatte schon als Kind die Angewohnheit gehabt, sich von Zeit zu Zeit in Luft aufzulösen, was ihre Eltern und Charlotte in den Wahnsinn getrieben hatte. Wohin Valerie dann gelaufen war und was sie dort gemacht hatte – das war bis heute ihr Geheimnis geblieben.
Charlotte schüttelte den Kopf; ihre Zwillingsschwester musste irgendwo in diesem Haus sein, so wie Ruth es gesagt hatte. Sie stellte die Tasche auf dem Flur ab, der mit einem Teppich ausgelegt war, und klopfte an die Tür, die zum Zimmer ihrer Schwester führte. Es war ein zögerliches Klopfen, aber trotzdem laut genug, um nicht überhört zu werden.
Charlotte wartete, doch es kam keine Reaktion.
Noch einmal klopfte sie, dann legte sie ihre Hand auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt breit, um einen Blick in das Zimmer zu werfen.
Die Vorhänge waren zugezogen und die Luft war stickig, als ob die Fenster seit dem letzten Besuch ihrer Schwester nicht mehr geöffnet worden wären. Drei Schalenkoffer standen in der Raummitte und der Inhalt, größtenteils Designerkleider und eine Sammlung an Kosmetikprodukten, war wild im Zimmer verteilt worden. Das Chaos trug Valeries Handschrift, denn die Koffer waren nur halb ausgeräumt und die Kleider, die keine Falten bekommen sollten, lagen ausgebreitet auf dem Bett und hingen nicht im Schrank, wo sie hingehörten.
Wo ist sie?
Wohin ihre Schwester auch verschwunden war, sie hatte es nicht für angebracht gehalten, ihr Zimmer in einem vorzeigbaren Zustand zu hinterlassen. Es juckte Charlotte in den Fingern, Ordnung zu schaffen und die Koffer leer zu räumen, aber sie hielt sich zurück. Wenn sie die wenigen Tage, die Valerie hier verbringen würde, friedlich überstehen wollte, durfte sie nicht schon am ersten Abend in ihre Privatsphäre eindringen.
Seufzend machte Charlotte kehrt und beschloss, zuerst ihr Zimmer zu beziehen, bevor sie nach ihrer Schwester suchte. Im Gegensatz zu Valeries Koffern war Charlottes Sporttasche nur mit dem Nötigsten gepackt, ein Kleid oder gar eine Bluse hatte sie nicht mitgenommen.
Als sie die Tür zu ihrem Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs öffnete, fand sie alles so vor, wie sie es nach dem Begräbnis ihrer Mutter verlassen hatte. Das Bett in der Ecke war frisch bezogen, auf dem Schreibtisch am Fenster lag noch die Zeitung, die Charlotte damals vor ihrer Abreise gelesen hatte. Nur die Pflanze, die normalerweise neben der Tür vertrocknete, war verschwunden.
Charlotte vermutete, dass Ruth bei einem Streifzug durch die Räume des Hauses auf die Blume mit den hängenden Blättern gestoßen war und sie entsorgt hatte.
Sie warf ihre Sporttasche auf das Bett und lief dann zum Fenster, das einen Blick auf die Rückseite des Anwesens offenbarte.
Der Garten, der an das Haus angrenzte, zeigte sich in denselben kräftigen Herbsttönen, die Charlotte schon an den Bäumen entlang der Straße beeindruckt hatten. Einen Augenblick lang verlor sie sich in der Betrachtung der Natur, dann riss sie der schwache Geruch von Rauch aus ihren Gedanken.
Zuerst war es nur eine Brise, die ihr in die Nase stieg, aber als sie das Fenster öffnete, fuhr eine Wolke des süßlich nach Holz stinkenden Rauchs in ihr Zimmer und Charlotte verzog das Gesicht. Sie warf einen Blick nach draußen und erkannte eine Rauchsäule hinter den Tannen im Garten, die vom Wind Richtung Villa getragen wurde.
Sie formte ihre Hände zu einem Trichter und lehnte sich weit aus dem Fenster. „Valerie?!“
Jetzt konnte sie nicht nur den Rauch spüren, der sie in der Nase kratzte, sondern auch das Knistern des Feuers hören, das hinter den Tannen brannte.
Es konnte nur Valeries Werk sein, wer sonst würde auf die Idee kommen, ein Feuer im Garten zu entzünden?
Aber warum?
Eine Sekunde lang starrte Charlotte noch aus dem Fenster, dann lief sie los, über den Flur zurück ins Treppenhaus, wo sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, bis sie im Erdgeschoss ankam.
Von dort gelangte sie auf den Hof, der vom Haupthaus auf der einen Seite und dem Wirtschaftsgebäude auf der anderen eingegrenzt wurde. Letzteres, in dem früher die Pferde der Familie untergebracht waren, zog sich bis an die Grundstücksgrenze und war heute eine Ruine mit morschem Dachstuhl und einem einsturzgefährdeten Heuboden über den Stallungen.
Charlotte legte die Hände an ihre Taille und kämpfte gegen das Seitenstechen an, das ihr beim Laufen gekommen war, indem sie sich auf ihren Atem konzentrierte und ihren Schritt verlangsamte. Wieder wurde sie von einer Rauchwolke eingefangen, die vom Garten über das Anwesen getragen wurde, und erneut überlegte Charlotte, warum in aller Welt Valerie ein Feuer gemacht hatte.
Aber die Frage, was im Kopf ihrer Schwester vorging, stellte sich Charlotte schon ihr ganzes Leben lang und allmählich hatte sie es satt, über Valeries verrückte Einfälle zu grübeln.
Sobald das Seitenstechen nachließ, ließ Charlotte den Schotterweg hinter sich, der um das Haus führte und lief über den Rasen an den ersten Bäumen vorbei.
Noch zehn Schritte, dann hatte Charlotte die Tannen umrundet, die die Sicht aus ihrem Fenster verdeckt hatten, und sah, was sie gesucht hatte: Lange und kurze Äste, die zu einem Haufen zusammengetragen worden waren und lichterloh brannten. Die Flammen fraßen sich durch das Holz und der Rauch bahnte sich einen Weg Richtung Himmel.
Vor dem Feuer stand Valerie; in Stiefeln mit hohen Absätzen und einem Wollkleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Ihren Mantel hatte sie ausgezogen und zur Seite ins Gras gelegt, wo er nicht von den umherfliegenden Funken erwischt werden konnte. Neben ihr stand eine Tragetasche, aus der sie nach und nach Gegenstände holte, für einen Moment in der Hand hielt und dann in das Feuer vor ihr warf.
Charlotte beobachtete ihre Schwester von hinten und wusste nicht, wie sie sie ansprechen sollte. Valerie schien nicht wütend zu sein, zumindest warf sie nicht mit Gegenständen um sich. Stattdessen holte sie sie aus der Tasche und überließ sie erst dem Feuer, nachdem sie sie eingehend betrachtet hatte.
Was verbrennt sie?
Charlottes Neugierde zwang sie dazu, näher zu kommen, doch Valeries Rücken verdeckte die Sicht. Was es auch war, jedes Mal, wenn Valerie einen Gegenstand aus der Tasche ins Feuer warf, stoben Funken in die Luft. Dann knackste das Holz und die Flammen schlugen für einige Sekunden höher, bis sie sich beruhigten und den Gegenstand in ihrer Mitte einschlossen.
Valerie wartete, bis das Schauspiel zu Ende war, bevor sie es von Neuem heraufbeschwor, immer wieder, bis Charlotte ihren Mut zusammennahm und sich räusperte.
Ihre Schwester fuhr herum, entdeckte Charlotte und fixierte sie wie ein Habicht, der seine Beute ins Visier nahm. Als Charlotte Valeries Gesicht sah, die dunklen Schatten unter ihren Augen, die Wangenknochen, die hervorstanden und die Sorgenfalten, die sich über ihre Stirn zogen, verschlug es ihr die Sprache.
Das war nicht die Valerie aus ihrer Kindheit. Ihre Schwester, die vor Energie immer gezappelt hatte, sah aus, als wäre sie mit ihrer Kraft am Ende.
Valerie verschränkte die Arme und richtete sich auf, als müsse sie sich verteidigen. „Geh weg!“, rief sie gegen das Knistern des Feuers an und nickte in Richtung Haus. „Geh und lass mich allein.“
„Ich freue mich auch, dass du da bist“, murmelte Charlotte und machte einen Schritt auf sie zu.
Was ist nur geschehen?
Valerie stellte sich vor ihre Tasche und hob ihre Hand. „Ich sagte, du sollst verschwinden.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Bitte“, schob sie nach und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Charlotte dachte nicht daran, jetzt zu gehen. Stattdessen starrte sie auf das Feuer vor ihren Augen. „Was machst du? Was ist passiert?“
Zwei der Äste, die den brennenden Holzhaufen gestützt hatten, knickten ein und Valerie zuckte zusammen. Sie drehte sich zum Feuer, sah den Flammen zu, wie sie auf den Scheiten tanzten und wandte sich wieder um.
„Lass mich allein“, wiederholte sie mit fester Stimme.
Die Gedanken fuhren Achterbahn in Charlottes Kopf, sie überlegte, was Valerie so aus der Bahn geworfen hatte. Wer oder was hatte das zu verantworten?
„Bitte sag mir, was los ist. Kann ich etwas für dich tun?“, fragte Charlotte und erntete dafür einen vernichtenden Blick.
Valerie packte die Tasche am Boden, hob sie hoch und warf sie ins Feuer, sodass die Funken stoben. Die Tasche schlug mitten in den Holzhaufen ein und die Flammen verschlangen das Polyester, bis es nicht mehr von den Ästen und Zweigen zu unterscheiden war. „Nein, kannst du nicht. Es geht mir ausgezeichnet!“ Valerie lachte, ihre Stimme schnellte in die Höhe und kurz befürchtete Charlotte, dass ihre Schwester nun endgültig den Verstand verloren hatte.
Aber dann verfinsterte sich Valeries Miene wieder. Sie warf ihre Haare zurück, griff nach dem Mantel und kam auf Charlotte zu, bis sie ihrer Schwester direkt gegenüberstand. Dabei fiel Charlotte auf, dass Valerie ihr linkes Bein nicht vollständig belasten konnte – sie humpelte. Hatte sie sich verletzt?
Als Charlotte den Mund öffnen wollte, kam ihr Valerie zuvor, indem sie ihren Finger hob und ihr deutete, leise zu sein. „Hör mir gut zu. Jetzt ist weder der richtige Moment, um mir auf die Nerven zu gehen, noch, um hier einen Aufstand zu machen. Ich will allein sein, verstehst du das?“ Sie packte Charlotte bei den Schultern, drehte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war und gab ihr einen Schubs. „Wir sehen uns beim Abendessen.“
Charlotte stolperte nach vorn, Valeries Stoß war kräftiger gewesen, als sie erwartet hatte. Die Sorge um ihre Schwester ließ sie zögern, aber sie wusste, dass sie hier nicht weiterkommen würde, jede Frage, die sie stellte, würde Valerie gegen sie aufbringen.
Früher hatte sie immer Geduld gebraucht, wenn sie etwas von Valerie wissen wollte. Ihre Schwester war wie ein Wildpferd, das sich nicht zähmen ließ und ausbrach, sobald man näherkommen wollte.
Am liebsten hätte Charlotte sie in den Arm genommen, sie gedrückt und ihr gesagt, dass alles gut werden würde. Doch so blieb ihr für den Moment nichts anderes übrig, als zu tun, was Valerie verlangte und den Rückzug anzutreten.