Kapitel 1
München, Sedantag 1913
Ein Schuss peitschte durch die gespannte Stille. Der Knall war so laut, dass Elsa den Druck der Schallwelle dumpf auf ihrer Brust spürte. Eine Erinnerung blitzte vor ihrem inneren Auge auf: Sie auf der Veranda der Farm in Afrika, ihre Tochter Hilde, ein Messer an der Kehle, zwei Männer, die schreiend zu Boden gingen. Sie blinzelte und das Bild verschwand.
Die Menge auf den Tribünen der Galopprennbahn in Riem schrie und jubelte, während die Masse der Pferde bereits auseinanderstrebte und die Tiere sich nach der Geschwindigkeit aufreihten wie Perlen an einer Kette.
„Wer führt? Wer führt?“
Die Stimme ihrer Tochter vertrieb jeden Rest der furchtbaren Erinnerung aus Elsas Bewusstsein. Sie sah zu Hilde hinüber. Wie groß sie geworden war! Mit ihren 13 Jahren war sie beinahe selbst schon eine kleine Dame. Elsa hob das Opernglas an ihre Augen und versuchte, die Spitze des Feldes in den Fokus zu nehmen. Ein Rappe galoppierte voran, dicht gefolgt von einem Apfelschimmel.
„Er ist zweiter. Eine halbe Länge“, sagte Elsa.
Hilde klatschte in die Hände. „Das ist großartig. Lauf, Mondschein, lauf!“
Die Pferde hatten die erste Kurve erreicht. Die Zuschauer auf der dortigen Tribüne feuerten Reiter und Rösser an. Und schon bogen sie in die Gegengerade ein. Der Abstand der beiden Führenden zueinander war gleichgeblieben, doch ihre Verfolger hatten sie abgehängt.
„Wer ist denn dieser Rappe, der das Feld anführt?“, fragte Hilde.
„Das ist Nero, das Pferd von Hugo von Lampeck“, erwiderte Elsa. Sie bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen. Doch gelang es ihr nicht, ein leichtes Beben aus ihrer Stimme zu verbannen.
„Von Lampeck?“, fragte Hilde. „Ist das nicht dieser Bankier?“
Elsa nickte. „Einer, dem Geld und Einfluss das Wichtigste im Leben sind.“
Die Pferde hatten das Ende der Gegengerade erreicht und waren nur noch als weiße, schwarze und braune Punkte zu erkennen, die sich rasch bewegten. Es war weiterhin ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Nero und Mondschein. Der Jubel der Menge unten an den Absperrungen am Rand der Bahn war ohrenbetäubend. Aber auch die Honoratioren in den Logen hielt es nun nicht mehr auf ihren Sitzen und einige der feinen Damen schwenkten begeistert ihre wagenradgroßen Hüte.
„Lauf, Mondschein, gib alles!“, rief Hilde. Als ob er sie gehört hätte, legte der Schimmel an Tempo zu und verkürzte den Abstand zu Nero. Elsa führte erneut das Opernglas an ihre Augen und sah, dass die beiden Führungspferde nun gleichauf waren. Die Aufregung der Menge steckte sie an wie ein Fieber. Sie umklammerte das Glas fester, doch das Okular zitterte so stark, dass sie kaum noch etwas erkennen konnte.
„Los, Mondschein!“, hörte sie sich aus voller Kehle rufen. Und wieder schien es so, als ob das Pferd sie verstanden hätte. Die beiden Führenden waren nur noch wenige Längen von der Ziellinie entfernt. Die Jockeys trieben ihre Tiere mit den kurzen Reitpeitschen an. Auf dem Rücken des Apfelschimmels sah Elsa den Sattel, den sie angefertigt hatte. Er war der Grund für ihre Anwesenheit bei diesem Rennen. Etwas blitzte und blinkte im Sonnenlicht. Das musste das mit Goldfaden eingestickte Monogramm von Herrn Brünig, Mondscheins Besitzer, sein. Die Pferde rasten die Gerade entlang. Der Schimmel schob sich nach vorne. Elsa hielt den Atem an, als Neros Reiter fester mit der Peitsche auf das Hinterteil des Rappen einhieb. Würde er sich noch vordrängen? Dann passierten sie die Ziellinie. Mondschein war der Sieger. Ohrenbetäubender Jubel brach aus, gemischt mit Rufen der Enttäuschung und derben Flüchen. Nicht wenige hatten wohl auf Nero gewettet. Nun, da würde Hugo von Lampeck vor Wut kochen. Der Gedanke löste ein Gefühl der Befriedigung in Elsa aus. Sie hatte die Konfrontation mit dem Vater ihres verstorbenen Mannes immer gescheut. Doch heute hatte es sich nicht vermeiden lassen, und das Ergebnis war eindeutig zu ihren Gunsten ausgefallen. Sie senkte das Opernglas.
„Komm, wir gehen dem Sieger gratulieren.“ Sie nahm Hilde bei der Hand und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinab und auf das Tor zu, das zu den Stallungen führte.
„Das ist wunderbar!“, rief Hilde. „Unser Pferd hat gewonnen.“ Sie strahlte und ihre Augen glänzten.
„Es ist nicht unser Pferd“, sagte Elsa. „Es gehört Herrn Brünig, aber unser Sattel hat zum Sieg beigetragen.“
Sie hatten den Auslauf erreicht, in dem die verschwitzten und dampfenden Tiere darauf warteten, dass die Pferdeknechte ihren Reitern beim Absteigen halfen. Ein großer, stämmiger Mann in einem grauen Anzug klopfte dem um gut zwei Köpfe kleineren Jockey von Mondschein so kräftig auf die Schulter, dass er zusammenzuckte.
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Brünig. Und Ihnen natürlich auch, Herr Weissenberger“, sagte Elsa.
Die beiden Männer drehten sich um, und nun sah Elsa, dass Mondscheins Besitzer breit grinste. Brünig streckte ihr die Hand entgegen. „Herzlichen Dank! Wie ich von Herrn Weissenberger höre, hatten Sie einen entscheidenden Anteil an Mondscheins Sieg.“
„Ja“, bestätigte der Jockey. „Ihr Sattel ist ein Meisterstück. Er gibt mir das Gefühl, mit dem Pferd verwachsen zu sein. Jede meiner Körperbewegungen wird sofort auf das Tier übertragen. Und er erlaubt mir, eine Haltung einzunehmen, in der wir nur so durch den Wind pflügen. Aber nun müssen Sie uns entschuldigen. Wir werden bei der Siegerehrung erwartet.“
Elsa sah ihnen hinterher. „Die viele Arbeit scheint sich gelohnt zu haben“, sagte sie zu Hilde.
„Was treiben Sie denn hier?“, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie wandte sich um und sah Hugo von Lampeck vor sich. Alt war er geworden. Er ging gebeugt, stützte sich auf einen Stock. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht. Schnurrbart und Haare waren schlohweiß. Doch Elsas Augen ruhten nur kurz auf ihm, ehe sie von dem jüngeren Mann angezogen wurden, der neben seinem Großvater stand. Er war einen Kopf größer als Hugo von Lampeck und seine Haltung war kerzengerade. Die blonden Haare waren akkurat gescheitelt, die blauen Augen ohne eine erkennbare Gefühlsregung auf sie gerichtet. Waren tatsächlich schon dreizehn Jahre vergangen, seitdem sie ihrem Sohn Hermann so nahegekommen war? In drei Monaten würde er seinen siebzehnten Geburtstag feiern. Wie die Zeit verging!
„Meine Mutter hat den Sattel gebaut, auf dem der Jockey von Mondschein zum Sieg geritten ist“, sagte Hilde.
Von Lampeck verzog das Gesicht. „So so“, zischte er. „Ich dachte, Ihr Gewerbe würde sich darauf beschränken, Damensättel zu bauen und sie mit allerhand Kitsch zu verzieren.“
Es kostete Elsa einige Mühe, ihre Aufmerksamkeit von Hermann auf seinen Großvater zu lenken. „Da haben Sie wohl falsch gedacht“, sagte sie und versuchte dabei, so kühl und gelassen zu klingen, wie es der Aufruhr in ihrem Innern zuließ. „Ich bin in der Lage, ausgezeichnete Sättel für jede Gelegenheit herzustellen. Auch für den Sieger des Bayern-Preises.“
„Dann wollen wir einmal hoffen, dass Sie dabei niemandem auf die Füße treten, der es Ihnen heimzahlen könnte“, stieß der alte Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Er drehte sich grußlos um. Auf Hermanns Stirn erschienen kleine Falten. Er sah Elsa und Hilde einen Moment lang an, dann folgt er seinem Großvater.
Elsa spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte.
„Was war denn das?“, fragte Hilde.
„Das, meine Liebe, war eine Drohung“, flüsterte sie.
***
„Nein, doch nicht so!“
Wiehler griff nach Isoldes Handgelenk. Ihr Blick ruhte noch einen Augenblick auf der Schneide des Skalpells. Ein Blutstropfen fiel von der Spitze des Instruments auf den angeschwollenen Blinddarm, den sie zuvor durch einen Schnitt schräg unterhalb des Nabels aus der Bauchhöhle des Patienten gezogen hatte.
„Was soll das?“, fragte sie. Sie wollte den entzündeten Appendix abtrennen, der dem Mann drei Tage lang höllische Schmerzen bereitet hatte. Der Patient war ihnen gerade noch rechtzeitig unter das Messer gekommen. Das Gewebe sah aus, als ob es innerhalb kürzester Zeit durchbrechen würde. Dann würde sich der Darminhalt in die Bauchhöhle ergießen und zu einer lebensgefährlichen Bauchfellentzündung führen, die der Patient wahrscheinlich nicht überleben würde. Isolde hatte bei dieser Art von Operation schon Dutzende Male die Haken gehalten. Unter den strengen Augen von Doktor von Bergen, dem Chefarzt der Chirurgie am Klinikum Schwabing, hatte sie bereits vier Wurmfortsätze entfernt. Dies sollte ihr fünfter werden, doch Doktor Wiehler hinderte sie daran, indem er weiterhin ihr Handgelenk festhielt. Mit der anderen Hand griff er nun nach dem Skalpell und nahm es ihr ab.
„Sie verfügen nicht über die notwendige Erfahrung, einen solchen Eingriff durchzuführen“, sagte er.
„Wie bitte? Ich habe das schon mehrfach gemacht. Und zwar erfolgreich. Keiner der Patienten, die ich operiert habe, ist im Verlauf daran verstorben. Was man von Ihren nicht behaupten kann, Herr Doktor Wiehler“, erwiderte sie mit zornbebender Stimme.
Wiehler blieb ihr eine Antwort schuldig. Mit der Masse seines Körpers drängte er sie beiseite und begann, den Wurmfortsatz vom Blinddarm zu lösen.
„Über den Ton, den Sie mir gegenüber anschlagen, werden wir später reden“, sagte er. Seine Stirn war gerunzelt und von Schweißtropfen übersät. Einer löste sich von der Augenbraue und fiel mitten in das Operationsgebiet. Isolde erkannte, warum die Überlebensrate der Patienten von Doktor Wiehler deutlich niedriger war als die ihrer Schützlinge. Im Gegensatz zu ihr verzichtete der beinahe kahlköpfige Oberarzt darauf, eine Schutzhaube oder einen Mundschutz zu tragen, und bedachte seine wehrlosen Patienten und Patientinnen regelmäßig mit Proben seiner Körpersäfte.
„Sie sind hier überflüssig“, sagte Wiehler. Er griff nach einer bereit liegenden Pinzette und legte den abgetrennten Wurmfortsatz in eine Nierenschale. Dann begann er, die Wunde zu vernähen. „Gehen Sie auf Station und machen Sie sich dort nützlich. Vielleicht gibt es Bettpfannen zu leeren oder hysterische Weibsstücke zu beruhigen. Das können Sie wahrscheinlich am besten, Sie sind ja selbst eins.“
Dieses Mal schluckte Isolde die Erwiderung, die ihr auf den Lippen lag, herunter. Als sie dem Oberarzt vorhin widersprochen hatte, hatte sie sich ohnehin schon weit aus dem Fenster gelehnt. Sie trat vom OP-Tisch zurück und verließ den erst vor wenigen Wochen eingeweihten aseptischen Operationssaal. Im Vorraum legte sie Schürze, Handschuhe, Mundschutz und Haube ab. Sie reinigte sich die Hände mit kaltem Wasser und Seife. Draußen auf dem Gang lehnte sie sich an die Wand und atmete tief durch.
„Ruhig, ganz ruhig, Isolde“, redete sie sich selbst gut zu. Ein Pfleger kam vorbei. Er warf ihr einen abschätzigen Blick zu. Isolde erwiderte ihn nicht. Der Mann war einer von der alten Sorte. Für ihn waren Ärztinnen eine Absonderlichkeit. Sie holte noch einmal tief Luft und wollte gerade in Richtung der Station gehen, als sie ihren Namen hörte. Sie wandte sich um.
„Berta. Was für eine schöne Überraschung“, rief sie.
Ihre Studienfreundin kam auf sie zu, und sie umarmten sich kurz.
„Du siehst bleich aus“, sagte Berta. „Und abgenommen hast du auch. Lass mich raten, du siehst die Sonne nicht und kommst nicht zu Essenspausen, weil hier so viel zu tun ist?“
„Gut kombiniert, Sherlock“, erwiderte Isolde. „Ich führe das glamouröse Leben einer chirurgischen Assistenzärztin am Klinikum Schwabing. Wenn ich Glück habe, darf ich sogar operieren. Heute hatte ich Pech.“
„Du musstest zusehen?“
Isolde schüttelte den Kopf. „Nein, ich durfte zwar ein Skalpell in die Hand nehmen, aber Wiehler hat es mir wieder abgenommen. Ich hätte nicht genügend Erfahrung. Für eine Blinddarmentfernung.“
Berta verdrehte die Augen. „Wiehler, der alte Metzger, führt wohl immer noch ein harsches Regiment in seinem OP?“
„Harsch ist gar kein Ausdruck. Ich weiß ja, dass er ein Menschenfeind ist. Und dass ihn Unfähigkeit abstößt. Geißler und Kappler, die beiden Assistenten, die mit mir auf Station arbeiten, behandelt er auch nicht besser als mich. Aber im Gegensatz zu denen bin ich kompetent. Ich führe Statistiken darüber, wie schnell die Patienten gesund werden und wie hoch die Rate von Komplikationen und Todesfällen ist. In allen Fällen schneiden meine Patienten deutlich besser ab als die der Kollegen. Am schlechtesten steht Wiehler da. Aber wenn ich ihm das sage, wirft er mich im hohen Bogen hinaus.“
Berta legte den Kopf schief. „Wäre das so schlimm?“
Isolde zuckte mit den Schultern. „Es würde bedeuten, dass ich mich schon wieder auf die Suche nach einem Krankenhaus machen müsste, das eine Frau einstellt. Das ist ein großer Nachteil bei der Suche nach einem Arbeitsplatz.“
„Warum muss es denn überhaupt eine Assistentenstelle sein? Du könntest dich doch selbstständig machen. Eine Praxis gründen.“
Isolde seufzte. „Ich war schon einmal selbstständig. Das Atelier als Fotografin zu führen, war mit großer Verantwortung verbunden. Ich weiß nicht, ob ich mir so etwas noch einmal antun will.“
„Und wenn du diese Verantwortung nicht alleine tragen müsstest?“
„Wie meinst du das?“
„Wie wäre es denn, wenn wir uns zusammentun? Ich habe meine Stelle in der Gynäkologie gekündigt. Aus ähnlichen Gründen. Ich werde als Frau nicht ernst genommen, weder von Kollegen noch von Patienten. Ich werde auch nicht aufsteigen. Eine Oberärztin? Undenkbar. Nein, wenn ich mir die Freude an diesem Beruf erhalten will, darf ich nicht in einer Klinik bleiben. Ich träume davon, mich selbstständig zu machen, aber ich scheue davor zurück, die Verantwortung alleine zu tragen. Und deshalb wollte ich dich fragen, ob wir nicht gemeinsam eine Praxis eröffnen wollen.“
Isolde legte den Kopf schief und sah Berta an. „Ich weiß nicht. Es wäre ein vernünftiger Schritt. Aber ich glaube nicht, dass ich ihn gehen will.“
„Warum nicht? Scheust du das finanzielle Risiko?“
Isolde schüttelte den Kopf. „Nein, eine Praxis ist ein einträgliches Geschäft. Davor schrecke ich nicht zurück.“
„Was lässt dich dann zögern?“
„Ich … ich bin mir nicht sicher, ob die Medizin, die ich an der Universität gelernt habe, der richtige Weg für mich ist.“
Berta runzelte die Brauen. „Die Medizin, die du an der Universität gelernt hast? Klärst du mich bitte darüber auf, was für eine andere Art von Medizin dir vorschwebt? Willst du dich als Schamanin bei den Apachen andienen?“
Isolde atmete tief durch. „Nein. Ich habe mich viel mit Freud und seiner Wissenschaft von der Psychoanalyse beschäftigt. Und seit einiger Zeit trage ich mich mit dem Gedanken, mich in dieser Methode ausbilden zu lassen und als Analytikerin zu arbeiten.“
„Freud? Dieser polymorph Perverse aus Wien?“
Isolde schmunzelte. „Du solltest die ‚Drei Abhandlungen über Sexualtheorie‘ lesen. Polymorph pervers sind nur die kleinen Kinder.“
Berta winkte ab. „Wie auch immer. Du willst dich in der Psychoanalyse ausbilden lassen? Ich weiß nicht, ob ich das mutig oder tollkühn finden soll. Die meisten Ärzte halten diese Methode für Hokuspokus.“
„Ich weiß es noch nicht“, gab Isolde zu. „Ich habe mich an Herrn Dr. Seif gewandt, den Vorsitzenden des Münchener Ortsvereins der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Erst wenn er mich als Ausbildungskandidatin annehmen sollte, müsste ich mich entscheiden, ob ich diesen Schritt wage.“
Berta seufzte. „Nun, schade. Aber falls du es dir anders überlegst und im Schoße der Medizin der Altvorderen bleiben willst, weißt du, wo du mich findest.“
Kapitel 2
München, Donnerstag, 4. September 1913
Elsa strich mit der Handfläche über die raue Unterseite des Sattels. Sie spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut, und ein Schauer lief durch ihren Körper. Mit geschlossenen Augen sog sie die Luft tief ein. Der unverkennbare Geruch nach gegerbtem Leder erfüllte ihre Nase und löste dieses wohlvertraute Glücksgefühl aus, das sie immer empfand, wenn sie in ihrer Werkstatt arbeitete. Und gleichzeitig war da diese Traurigkeit. Hier hatte sie die schönsten und die schrecklichsten Stunden ihres Lebens verbracht. Zusammen mit Moritz hatte sie einen meisterhaften Sattel erschaffen. Sie hatten gemeinsam gearbeitet, gelacht, sich geliebt. Doch hier hatte Eugen auch Moritz zum Duell gefordert. Hier hatte sie ihren Geliebten zum letzten Mal lebend gesehen, ehe die Kugel ihres Ehemannes ihm den Tod gebracht hatte. Er hatte ihr seine Werkstatt vererbt, die zuvor ihrem Großvater gehört hatte. Und nun setzte Elsa die Familientradition fort.
„Was ist los?“
Elsa öffnete die Augen und drehte sich um. Hilde stand hinter ihr. Und wieder war da diese Mischung aus Glück und Traurigkeit. Glück, weil dieser wunderbare Mensch ihre Tochter war, weil ein Teil ihres geliebten Moritz in ihr fortlebte. Und Traurigkeit, weil er sein Kind nie hatte kennenlernen dürfen. Weil er lange vor ihrer Geburt gestorben war.
„Was soll denn los sein?“, erwiderte sie.
„Du hast diesen besonderen Blick. So als ob du gar nicht hier wärst, sondern irgendwelchen Tagträumen nachhängen würdest.“
Elsa schluckte. Vor ihrer Tochter konnte sie nichts verheimlichen. „Ich habe nur darüber nachgedacht, wie es wohl mit der Werkstatt weitergeht.“
Hilde legte den Kopf schief. „Was ist denn mit der Werkstatt? Laufen die Geschäfte schlecht?“
Elsa schüttelte den Kopf. „Nein. Die Sattlerei ist profitabel. Ich habe mir über die letzten Jahre einen kleinen, aber glücklicherweise recht wohlhabenden und vor allem treuen Kundenstamm aufgebaut. Einige der besten Reitställe von München geben mir regelmäßig Aufträge. Und ab und zu darf ich mich an einem Liebhaberstück wie diesem hier austoben.“
Sie strich noch einmal mit der Hand über den aufgebockten Sattel.
„Was würdest du davon halten, wenn ich den unteren Rand mit einem Efeumuster umranken würde?“, fragte sie ihre Tochter.
„Das wird sicher schön aussehen. Aber du bist mir ausgewichen. Ich habe dich nicht gefragt, was du mit diesem Sattel anstellen willst. Ich habe dich gefragt, was mit der Werkstatt los ist. Worüber hast du nachgedacht?“
Elsa lächelte. „An dir ist eine Privatdetektivin verloren gegangen. Nun gut, wenn du es wissen willst: Ich habe mir die Frage gestellt, wie es mit dem Betrieb weitergehen soll.“
„Na ja, du wirst weiterhin Sättel bauen, oder?“
„Das wäre mein Ziel. Aber ich bin mir nicht sicher, wie lange ich davon noch leben kann. Ich muss immer an den Onkel denken. Seine Bilder waren einmal so beliebt, dass er mit der Produktion nicht mehr nachkam. Aber jetzt ist seine Art zu malen vollkommen aus der Mode gefallen.“
„Ja, leider. Seine Kühe will keiner mehr kaufen. Dabei sind sie so schön und lebensecht.“
„Und ich fürchte, dass es uns mit den Sätteln bald ähnlich gehen wird. Zuerst kam das Fahrrad. Und dann das Automobil. Wie ich höre, werden nun auch Fluggeräte gebaut, die Passagiere befördern sollen. Bald wird niemand mehr ein Pferd zur Fortbewegung benutzen. Was soll dann aus der Sattlerei werden? Ich fürchte, dass ich irgendwann nur noch Lederzeug ausbessere, und der Gedanke macht mir Sorgen.“
Hilde schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es jemals so weit kommen wird. Es wird immer Menschen geben, die reiten. Und selbst, wenn es nur als Sport überlebt, kannst du trotzdem noch Sättel bauen. Hast du die lobenden Worte von Herrn Weissenberger vergessen? Der Jockey war begeistert von deinem Sattel. Du hast entscheidend dazu beigetragen, dass er das Rennen gewonnen hat. Und wenn sich das herumspricht, werden bald weitere Pferdebesitzer auf dich zukommen und dir Aufträge erteilen.“
Elsa seufzte. „Dein Wort in Gottes Gehör. Aber genug von meinen Grübeleien. Wie läuft es in der Schule?“
Nun war es Hilde, die die Augen verdrehte. „Können wir nicht über etwas anderes sprechen? Über etwas Spannenderes. Ich langweile mich zu Tode. Wir behandeln großartige Themen. Literatur, Musik, Kunst. Aber meine Lehrer schaffen es, den Stoff so dröge zu vermitteln, dass mir das alles verleidet wird. Ich habe Angst, dass mich nichts mehr von all dem interessiert, wenn ich endlich mein Abitur abgelegt habe. Dass mich die Kunst kalt lässt, die Oper, die Malerei. Ich würde viel lieber selbst etwas schaffen, als nur nachzukauen, was die Lehrer uns über unsere germanischen Ahnen zu lernen geben.“
Elsa lächelte. „Weißt du was? Wir könnten dafür sorgen, dass deine Liebe für die Kunst wieder aufflammt.“
In Hildes Augen blitzte es auf, und Elsa spürte, wie ein Schwall von Freude sie durchfuhr. Das war ihre Tochter. Sie teilten die gleichen Leidenschaften und die gleichen Abneigungen. Elsa streckte ihr die Hände entgegen, und Hilde ergriff sie.
„Also, wohin gehen wir heute? In die Pinakothek oder in die Glyptothek?“
***
Isolde eilte über den Odeonsplatz. Sie war zu spät. Die Glocken hatten bereits die volle Stunde geschlagen. Max würde es ihr nicht übel nehmen, wenn sie nicht pünktlich auf die Minute eintraf. Aber eine tief in ihrem Inneren verwurzelte Stimme hörte nicht auf, ihr Vorwürfe zu machen. Wäre sie doch früher aufgebrochen! Hätte sie doch weniger Zeit mit ihrer Garderobe verbracht! Nun, die inneren Kommentatorinnen waren sich bezüglich des letzten Punktes nicht ganz einig. Es gab nämlich auch heftige Kritik daran, dass sie zu wenig aus sich machte. Und das verwirrte Isolde noch mehr. Was wollte sie? Wie sollte sie sich verhalten? Wie sich geben? In ihrer Jugend hatte sie gehofft, dass sie diese Fragen mit dem Alter einfacher beantworten könnte. Aber diese Hoffnung hatte sie getäuscht. Sie fühlte sich noch unsicherer als früher. Und das wollte etwas heißen.
Über diesen quälenden Gedanken hatte sie das Café Tambosi am Hofgarten erreicht. Sie drückte die Klinke und schob die Tür auf. Ein Schwall schwüler, von Tabakqualm, Kaffee und Bierdunst getränkter Luft wehte ihr entgegen. Sie widerstand dem in ihr aufkeimenden Wunsch, sich umzudrehen und wieder hinauszugehen, auf den Odeonsplatz, wo die von einem Spätsommergewitter gereinigte Luft ihr vorkam, wie der Hauch des Paradieses.
Doch dafür war es zu spät, denn Max von Linden hatte sie bereits erspäht. Er saß an einem der Tische am Fenster und winkte ihr fröhlich zu. Kahl war er geworden. Und füllig. Wäre Isolde an Max in anderer Hinsicht interessiert gewesen als auf Basis einer guten, langjährigen Freundschaft, so wäre ihr Urteil über sein Erscheinungsbild wohl negativer ausgefallen. Aber für sie musste Max nicht attraktiv sein. Er war ein enger Vertrauter, und da stand es ihm gut an, wie einer dieser Stoffbären zu wirken, die diese Frau im Schwäbischen herstellte. Isolde hatte vor einigen Jahren Hilde einen davon zu Weihnachten geschenkt, und das kleine Mädchen war begeistert gewesen.
Sie trat zu Max an den Tisch. Er erhob sich und hauchte einen Kuss auf die Rückseite der Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
„Verzeih mir bitte“, sagte sie. „Ich bin heute erst spät aus dem Krankenhaus gekommen. Es gab einige Notfälle. Wundinfektionen auf Station, die dringend behandelt werden mussten.“
„Es gibt nichts zu verzeihen“, erwiderte Max. „Ich habe Zeit, auf dich zu warten. Im Gegensatz zu dir trage ich nichts zum Wohl der Menschheit bei. Ich bin ein reicher, behäbiger Junggeselle, der als Archäologe dilettiert und neuerdings Pferde züchtet, während du im Schweiße deines Angesichts Menschenleben rettest. Da ich schon damit gerechnet hatte, dass du noch zu tun haben würdest, habe ich mir eine Lektüre mitgebracht.“
„Was liest du denn?“, fragte Isolde und nahm ihm gegenüber Platz. Sie sah, dass er einen Moment zögerte, und als sie auf den Einband des Buches blickte, verstand sie, warum.
„Der Tod in Venedig von Thomas Mann“, las sie. Sie spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
„Es tut mir leid, ich wollte nicht …“, sagte Max.
Isolde hob die Hand. „Es ist schon in Ordnung. Nach beinahe dreizehn Jahren kann ich damit umgehen, dass ich meine engste Freundin an die Tuberkulose verloren habe.“ Sie lachte bitter. „Emily hat den Titel des Buches vorausgenommen. Wusstest du das? Nein, wie auch? Ich habe nie darüber gesprochen. Aber als sie damals in Italien die todbringende Diagnose erhalten hat, hat sie zu mir gesagt, jemand werde einmal ein Buch über sie schreiben mit dem Titel Der Tod in Venedig. Ich vermute, dass der Inhalt dieses Werkes jedoch ein anderer ist?“
Max nickte. „Mann hat eine irritierende Novelle über die Liebe eines sterbenden Greises zu einem kleinen Jungen geschrieben.“
Isolde verzog das Gesicht. „Männer. Jetzt erheben sie die Päderastie noch zur Kunstform“, knurrte sie.
Max lachte. „Lass uns das Thema wechseln. Wie geht es dir in der Klinik? Bist du eifrig am Leben retten? Oder hast du auch noch so etwas wie Freizeit?“
Sie winkte ab. „Ehrlich gesagt, müsste ich die Hälfte dieser Leben gar nicht retten, wenn ich mit kompetenten ärztlichen Kollegen zusammenarbeiten würde. Und ein Privatleben habe ich seit sieben Jahren nicht mehr. Das Studium hat mir keine freie Minute gelassen und als Assistenzärztin ist es nur noch schlimmer. Ich weiß nicht, wie meine Kommilitonen das Examen bestehen konnten, die tagsüber in den Vorlesungen geschlafen und sich abends in den Schwabinger Kneipen herumgetrieben und den Bedienungen schöne Augen gemacht haben. Ich lebe zölibatär wie eine Nonne. Kein Alkohol, keine Frauengeschichten, keine Vergnügungen.“
Seine Stirn legte sich in Falten. Da war er wieder, dieser besorgte Blick. Isolde tat sich schwer damit, ihn bei anderen Menschen auszuhalten. Sie wollte nicht, dass ihre Freunde und ihre Familie sich ihretwegen sorgten. Max setzte zu einer Erwiderung an, doch glücklicherweise kam in diesem Moment der Kellner, und Isolde bestellte ein Bier. Max grinste.
„Hast du dir das auf deinen Reisen angewöhnt? Das Bier, meine ich.“
Nun erschien auch auf Isoldes Gesicht ein Lächeln. „Ja, Bier war meistens das einzige Getränk, das man gefahrlos zu sich nehmen konnte, wenn man nicht an der Ruhr oder der Cholera erkranken wollte.“
„Vermisst du es?“
„Das Bier? In München kann ich es an jeder Straßenecke bestellen.“
Max lachte, wurde dann aber gleich wieder ernst. „Nein, das meinte ich nicht.“
Isolde zuckte mit den Achseln. „Ich habe viele schöne Reisen unternommen, und dabei Erfahrungen gesammelt, die ich niemals missen möchte. Und doch glaube ich, dass es nicht meine Bestimmung ist, durch die Welt zu streifen und zu fotografieren. Deshalb habe ich ja auch Medizin studiert. Ich wollte nicht mehr nur zuschauen. Ich wollte etwas verändern. Zum Besseren.“
„Und nun ärgerst du dich über deine inkompetenten Kollegen in der chirurgischen Klinik. Hast du dir so deine Tätigkeit als Ärztin vorgestellt?“
„Nein. Ich bin nur ein kleines Rädchen in einem riesigen Uhrwerk, das sich auch ohne mich weiterdrehen würde.“
Der Kellner brachte die Bierkrüge. Sie prosteten sich zu. Isolde nahm einen tiefen Schluck, und der herbe Geschmack in ihrem Mund tat ihr wohl.
„Warum machst du dich dann nicht selbstständig?“, fragte Max. „Du wärst deine eigene Herrin und könntest wirklich etwas verändern.“
„Du bist nicht der erste, der mir damit kommt. Neulich hat Berta, meine Kommilitonin, mir vorgeschlagen, gemeinsam eine Praxis zu gründen. Aber ich bin unschlüssig.“
„Wegen der Verantwortung?“
Isolde schüttelte den Kopf. „Ich trage mich schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, mich der Psychoanalyse zuzuwenden.“
Max nickte. „Das wäre ein logischer Schritt. Du bist eine Forscherin. Die äußere Welt hast du schon entdeckt. Nun wartet die innere auf dich.“
Isoldes Augen weiteten sich. „Du … du findest das nicht irgendwie seltsam? Oder anrüchig? Freuds Methode hat nicht gerade den besten Ruf.“
Max schüttelte den Kopf. „Die Psychoanalyse hat ihren Fokus in den letzten Jahren immer mehr ausgeweitet. Sie ist keine reine Heilkunst mehr, sondern betrachtet auch die Literatur, die Kunst und die Musik als Forschungsobjekte, die durch ihre Erkenntnisse in ein neues Blickfeld gerückt werden. Ich kann verstehen, dass dich das anzieht.“
Isolde schluckte. „Das ist nicht der hauptsächliche Grund dafür. Ich … ich träume viel. Von Emily. Das sind meistens keine schönen Träume. Ich habe Freuds Traumdeutung und andere seiner Schriften gelesen und ich glaube, er hat Recht damit, dass unser unbewusstes Seelenleben einen großen Einfluss auf unser Verhalten und unsere Gefühle, aber auch auf unsere Gesundheit hat. Vielleicht wäre die Psychoanalyse auch ein Weg, wie ich Menschen helfen könnte, ohne irgendwann in einer Routine abzustumpfen. Jedes Unbewusste gleicht schließlich einem unbekannten Kontinent, den es aufs Neue zu entdecken gilt. Und gleichzeitig könnte ich etwas über mich lernen. Vielleicht ist es für eine Frau sogar einfacher, in einer neuen Wissenschaft Fuß zu fassen als in einer Domäne wie der Chirurgie, die seit Jahrtausenden von Männern dominiert wird. Ich habe Medizin studiert, weil ich einen Unterschied machen wollte. Weil ich in Afrika gesehen habe, wie rücksichtlos Ärzte mit Menschen umgehen, um mit ihren Forschungen zu glänzen. Und nun erlebe ich im Krankenhaus jeden Tag dieselbe Überheblichkeit, denselben Unwillen, das Wohl der Patienten vor die eigene Rechthaberei zu stellen. Ich bin es leid. Die Chirurgie werde ich nicht verändern. Aber ich hege die Hoffnung, dass die Psychoanalyse ein neuer, ein anderer Weg ist, um Gutes zu tun.“
Max nickte. „Ich glaube, dass du da auf eine wichtige Spur gestoßen bist.“
Isolde seufzte. „Ja. Ich habe mich an Herrn Dr. Seif gewandt, den Vorsitzenden des Münchener Ablegers der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Ich habe ihm geschrieben, wie sehr ich mich für Freuds Theorien interessiere, und ihn gebeten, mich als Ausbildungskandidatin anzunehmen. Aber ich habe keine Antwort bekommen und nun weiß ich nicht, was ich noch tun soll.“
„Hast du schon gehört, dass nächste Woche der Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung hier in München stattfindet?“
„Ja. Ich wollte bei dieser Gelegenheit versuchen, direkt mit Dr. Freud zu sprechen, und ihn darum bitten, mich als Ausbildungskandidatin zu empfehlen. Wenn der große alte Mann der Psychoanalyse ein Machtwort spricht, kann der Herr Dr. Seif mir wahrscheinlich nicht mehr ausweichen.“
Max schmunzelte. „Deine Überlegungen sind ja schon sehr weit gediehen. Das freut mich. Ich werde leider nicht an dem Kongress teilnehmen können, obwohl ich als Archäologe großes Interesse an den psychoanalytischen Theorien zu Kunst und Kultur habe. Aber morgen Abend werde ich mit Dr. Jung dinieren. Kennst du ihn?“
„Natürlich. Er ist der Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und wenn ich es richtig deute, so etwas wie Freuds Stellvertreter. Ich habe ein paar Artikel von ihm gelesen. Er versucht, die Psychoanalyse mit der Experimentalpsychologie zu verbinden. Das finde ich hoch spannend.“
Max lachte. „Ja, Jung ist Freuds Kronprinz. Oder er war es. Wie man hört, gibt es Spannungen zwischen den beiden. Ich stehe seit einiger Zeit in brieflicher Korrespondenz mit Jung und muss sagen, dass ich seine neuesten Theorien noch viel interessanter finde als die seines Lehrmeisters. Willst du dich morgen Abend nicht zu uns gesellen? Ich brenne darauf, zu erfahren, was du von ihm hältst.“
Kapitel 3
München, Freitag, 5. September 1913
Als Elsa über die Schwelle trat, umfing sie ein vertrautes Gefühl. Es roch nach Pfeifentabak, nach Mehlspeisen und nach Moder. Die feuchte Kühle des Treppenhauses strich sanft über ihre Haut. Wie sie dieses Haus verabscheut hatte, als sie gezwungen gewesen war, hier einzuziehen, nachdem die Villa des Vaters verkauft worden war. Der Gedanke ließ ein Lächeln auf ihren Lippen erscheinen. So vieles hatte sich seitdem verändert. So sehr hatte sie sich verändert. Sie war ein neuer Mensch geworden, hatte ihren jugendlichen Leichtsinn eingebüßt in den Stürmen ihres Lebens. Und anderes hatte sie schätzen gelernt. Familie, Verbundenheit, Liebe.
Zenzi kam aus der Küche. Die Haushälterin des Onkels ging leicht nach vorne gebeugt. Ihre grauen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengebunden, der die faltige Haut ihrer Stirn nach hinten zog. Auf ihren rissigen Lippen erschien ein schmales, aber herzliches Lächeln. Auch das hatte sich verändert. Anfangs hatte sich Zenzi schwergetan mit dem verwöhnten Backfisch, der Elsa gewesen war.
„Grüß dich, Zenzi“, sagte Elsa. Sie schüttelten sich die Hände.
„Ihr Onkel ist im Salon“, sagte die Haushälterin. „Wir mussten schon das Feuer anfachen. Die Gicht. Er leidet Schmerzen.“
Elsa spürte einen Stich. Sie wusste, dass der Onkel krank war. Das Gliederreißen war sein ständiger Begleiter. Er beklagte sich nicht darüber und doch litt sie mit ihm. Sie ging in den Salon und sah ihn in seinem Ohrensessel sitzen. Die Beine ruhten auf einem Hocker und waren unter einer dicken Decke versteckt. Seine Hände glichen Klauen, die Finger waren an den Gelenken grotesk verbogen. Der Onkel hatte seit Monaten kein Bild mehr malen können und Elsa konnte nur vermuten, wie sehr ihm das zusetzte.
„Elsa“, rief er. „Wie schön, dass du vorbeikommst.“ Seine Stimme war noch dieselbe. Tief und kräftig und doch auch sanft und weich.
„Ich muss mich entschuldigen, Onkel. Ich komme viel zu selten zu Besuch.“
Er lächelte. „Umso schöner, wenn du dich dann blicken lässt. Was bringt dich zu mir?“
Elsa setzte sich auf das Kanapee und legte ihr Hütchen neben sich. „Ich wollte dich um einen Rat bitten.“
„Nun, dann lass mal hören, was dich umtreibt und ob ich dir dabei eine Hilfe sein kann.“
Elsa atmete tief durch. „Vielleicht hast du davon gehört, dass ich einen Sattel für ein Rennpferd gebaut habe? Mondschein?“
Der Onkel nickte. „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass er den Bayern-Preis gewonnen hat.“
Elsa lächelte. „Ja, das Rennen hat mich viele Nerven gekostet. Aber Herr Brünig, der Besitzer von Mondschein, und auch der Jockey waren sehr zufrieden mit meinem Sattel. So zufrieden, dass sie Mondschein gleich auch noch zum Preisrennen auf dem Oktoberfest angemeldet haben. Und sie haben meinen Sattel für die Auszeichnung des Prinzregenten vorgeschlagen.“
Das Lächeln auf dem Gesicht des Onkels verbreiterte sich. „Das sind ja großartige Neuigkeiten. Wie ich höre, ist der Prinzregent ein ebenso begeisterter Reiter, wie sein Vater es war. Wenn du den Preis gewinnst, wirst du sicher bald einen Sattel für ihn bauen dürfen.“
Elsa nickte „Ja, und das wäre wiederum die beste Werbung für meine Werkstatt. Ich könnte endlich die Sättel bauen, von denen ich nachts träume. Kunstwerke, keine Gebrauchsgegenstände. Ich müsste mir auch weniger Sorgen darüber machen, ob die Leute überhaupt noch meine Werkstücke kaufen, da ich Kunden gewinnen könnte, deren Enkelkinder noch im Jahr 2000 auf exquisiten Ledersätteln reiten werden. Und vielleicht …“, sie zögerte kurz, es auszusprechen, „vielleicht werde ich dann auch den Titel des Hofsattlers zurückgewinnen, der seit dem Tod meines Vaters nicht mehr vergeben wurde.“
„Und wie kann ich dir in dieser Sache weiterhelfen? Ich habe leider keinen direkten Draht zum Prinzregenten. Glücklicherweise hat er meine Leibrente bestätigt, die mir sein Vater zugesprochen hatte, sodass ich mir um die Finanzen keine Sorgen mehr machen muss, seitdem ich nicht mehr malen kann. Aber seine Entscheidung, welchem Werkstück er eine Auszeichnung zukommen lässt, kann ich nicht beeinflussen. Du wirst das aber auch nicht nötig haben. Ich kenne deine Arbeit. Ich weiß, wie gut es dir gelingt, Funktion und Schönheit miteinander zu verbinden.“
Elsa spürte, wie ihre Wangen sich röteten. „Danke, es freut mich, das aus deinem Mund zu hören. Und nein, es ging mir nicht darum, deine Fürsprache zu erbitten. Mich treibt etwas anderes um.“
Die Stirn des Onkels legte sich in Falten. „Was ist los? Ist etwas mit Hilde?“
Sie schüttelte den Kopf. „Na ja, jedenfalls nicht direkt. Ich habe bei dem Rennen Hugo von Lampeck getroffen. Mondschein hat sein Pferd geschlagen. Das hat ihm gar nicht gefallen. Er hat mir gedroht, dass ich ihm nicht in die Quere kommen solle. Doch nun wird Mondschein erneut gegen ihn antreten. Beim Oktoberfest. Und ich habe Angst. Nicht um mich. Sondern um Hilde. Er ist zu allem fähig. Und er weiß, wie er mich treffen kann. Er hat mir schon ein Kind genommen. Und ich will mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Hilde etwas zustieße. Sie weiß nicht, in welcher Gefahr sie schwebt. Sie weiß ja nicht einmal, dass Hermann ihr Bruder ist. Aber je weniger sie weiß, desto besser.“
Der Onkel seufzte. „Die Schatten der Vergangenheit verfolgen dich noch immer. Und doch, es ist eine neue Zeit. Hugo von Lampeck mag Geld und Einfluss haben. Aber er kann Hilde nichts tun.“
„Und was ist, wenn er herausfindet, dass sie weniger als neun Monate nach dem Tod seines Sohnes geboren wurde? Er würde sie zu Eugens posthumer Tochter erklären lassen und sie mir wegnehmen, so wie schon Hermann.“
„Wie sollte er das herausfinden? Müller und du, ihr habt damals doch alle Spuren verwischt. Und die offizielle Geburtsurkunde wurde um drei Monate in die Zukunft datiert, noch dazu von einem Beamten in Deutsch-Ostafrika, der inzwischen verstorben ist, nicht wahr?“
„Von Lampeck ist zu allem fähig.“
„Willst du deinen Sattel dann zurückziehen? Was ist mit der Preisverleihung? Was mit deinen Träumen von exquisiten Sätteln und dem Titel einer Hofsattlerin?“
Elsa seufzte. „Ich weiß es nicht. Ich sehne mich danach, dass meine Arbeit wahrgenommen und gewürdigt wird. Das ist die Gelegenheit, ein großes Publikum anzusprechen. Gesehen zu werden. Ein für alle Mal mit den Existenzängsten aufzuräumen. Und gleichzeitig sorge ich mich darum, was geschehen könnte, wenn ich Hugo von Lampeck in die Quere komme.“
Der Onkel sah sie lange an. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass Angst nie ein guter Ratgeber ist. Wenn ich der Angst gefolgt wäre, wäre ich nie Maler geworden, sondern wäre in die Brauerei meines Vaters eingestiegen. Wahrscheinlich hätte ich heute Gicht und einen Leberschaden. Wahrscheinlich wäre ich schon gar nicht mehr am Leben. Auf jeden Fall wäre ich niemals glücklich geworden. Wenn du einen Rat von mir möchtest, Elsa: Bring die Angst zum Schweigen und lebe!“
***
Isolde hätte am liebsten an ihren Fingernägeln gekaut. Aber sie vermutete, dass die Bissspuren dem prüfenden Blick von Dr. Jung nicht entgehen würden. Wahrscheinlich würde er dann schlussfolgern, dass Isolde neurotisch war. Und das wollte sie vermeiden.
„Wir sind da“, sagte Max. Der Taxifahrer brachte das Gefährt zum Stehen und öffnete Isolde die Tür. Sie stieg aus und sah an der Fassade des Hotels Bayerischer Hof empor.
„Dein Dr. Jung lebt gern auf großem Fuß, wie mir scheint.“
Max lächelte. „Er hat reich geheiratet.“
Isolde verdrehte die Augen. „Das macht ihn mir nicht gerade sympathischer.“
Der Hotelpage am Empfang hielt die golden umrahmte Glastür auf und ließ die beiden eintreten. Max führte Isolde zur Bar im hinteren Bereich der Hotellobby. Hier standen bequeme Sessel um kleine Tische. Die Luft war mit beißendem Zigarrenqualm gefüllt. Max steuerte zielstrebig auf ein Tischchen zu, an dem zwei Männer saßen. Sie erhoben sich, als Max näherkam. Der eine war ein drahtiger Glatzkopf mit einem Gesicht, das Isolde ein wenig an eine Bulldogge erinnerte. Der andere war hochgewachsen, schlank und blond. Ein Schnurrbart prangte über seinem ausdrucksstarken Mund.
„Mein lieber Herr von Linden“, sagte der Schlanke, als er Max erkannte, und Isolde nahm einen Anflug von Schweizerdeutsch in seiner Sprachmelodie wahr. „Wen haben Sie uns denn da mitgebracht?“
Max stellte Isolde vor. „Fräulein Dr. Hartmann hat erst kürzlich von der Reisefotografin zur Chirurgin umgesattelt“, schloss er.
Der Schweizer schmunzelte und streckte ihr die Hand entgegen. „Sehr erfreut, Frau Kollegin“, sagte er. „Mein Name ist Carl Jung, ich bin auch Arzt. Ebenso wie mein guter Freund Dr. Seif hier.“ Er deutete auf das Bulldoggengesicht.
Isolde schluckte und schüttelte auch dessen Hand.
„Sie haben mir einen Brief geschrieben“, sagte Seif. „Nicht wahr?“
„Ja. Ich habe leider keine Antwort bekommen.“
Seif schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Mea culpa. Verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Aber ich wollte erst abwarten, wie unser Kongress in der kommenden Woche verläuft, ehe ich neue Mitglieder aufnehme.“
Jung klopfte ihm auf den Rücken. „Ach kommen Sie, bei der Dame hätten Sie doch eine Ausnahme machen können.“ Wieder zwinkerte er Isolde zu. „Was hat Sie bewogen, sich der Psychoanalyse zuzuwenden?“
„Ich träume viel“, sagte Isolde.
Jung lachte. „Das sind schon einmal wunderbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Analytikerin. Aber es wird wohl nicht die Tatsache des Träumens an sich sein. Es wird sich um die Inhalte Ihrer Träume handeln, über die Sie gerne Aufschluss hätten, wenn ich mich nicht irre?“
„Sie irren nicht. Ich habe schon mehrfach erlebt, dass Träume in wichtigen Phasen meines Lebens sehr exakt widergespiegelt haben, was mich bedrückt hat.“
„Dazu neigen Träume. Und unser verehrter Übervater, Herr Professor Freud, würde Ihnen dazu anmerken, dass der Traum eine Art Besänftiger für unbewusste Wünsche sexueller Art darstellt, dessen Funktion es ist, sie ruhig schlafen zu lassen. Finden Sie Ihre Träume in dieser Beschreibung wieder?“
Isolde zögerte. Jung lachte. „Aus meinen Erfahrungen mit dem Assoziationsexperiment könnte ich aus dieser Pause schlussfolgern, dass ich auf einen Komplex gestoßen bin.“
„Wenn Sie es so nennen wollen“, sagte Isolde. „Ich würde es möglicherweise als eine bewusste Überlegung bezeichnen, die ich mir gönne, ehe ich vorschnell antworte.“
„Touché“, sagte Seif.
„Nun, haben Ihre Überlegungen Sie denn zu einer abgewogenen Antwort geführt?“, fragte Jung.
„Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Traum nur der Hüter des Schlafes sein soll. Ich weiß, dass ich meine eigene Erfahrung nicht verallgemeinern darf, aber mir sind im Traum schon einige Ideen gekommen, die für meinen weiteren Lebensweg wichtig waren.“
Jung schmunzelte. „Sie glauben also, dass der Traum auch in die Zukunft weisen könnte? Dass er Ihnen ein vertieftes Verständnis Ihres Schicksals geben könnte? Dass er nicht nur dazu da sein könnte, die Schattenseiten Ihres Unbewussten schönzufärben?“
Isolde nickte. „So könnte man es ausdrücken.“
„Das lassen Sie besser nicht Prof. Freud hören“, brummte Seif.
Isolde schluckte. „Warum nicht?“
Jung seufzte. „Weil es dem Dogma widerspricht. So wie einiges, was wir Schüler des Meisters in den letzten Jahren herausgefunden haben.“
Isolde runzelte die Stirn. „Und was ist schlimm daran? So funktioniert doch die Wissenschaft. Theorien werden auf die Probe gestellt und gegebenenfalls korrigiert, wenn sie die Wirklichkeit nicht abbilden.“
„So sollte es sein“, sagte Jung. „Aber die Psychoanalyse ist leider dabei, in dogmatischer Starre zu versteinern. Ich bin sehr gespannt auf unseren Kongress. Meine Aufgabe als Vorsitzender der Vereinigung ist es, den Laden zusammenzuhalten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es Professor Freud lieber wäre, wenn es einen großen Knall gäbe und alles auseinanderflöge.“
„Deshalb haben Sie mir nicht geantwortet“, sagte sie an Dr. Seif gewandt. „Sie wollten abwarten, ob es nach dem Kongress überhaupt noch eine Vereinigung gibt.“
Seif nickte. „Die Lage ist ernst. Die Stimmung schlecht. Das ist keine Zeit, um neue Mitglieder aufzunehmen.“
Die beiden Männer sahen betreten drein.
„Sie sehen aus, als ob Sie einen Seelenarzt dringend nötig hätten“, sagte Max. Auf Jungs Zügen zeigte sich ein Schmunzeln.
„Vielleicht mag uns die Kollegin von ihrer Zeit als Reisefotografin berichten?“, schlug er vor. „Welche fernen Länder haben Sie besucht? Welche Kulturen haben Sie kennengelernt?“
Isolde war froh, das unangenehme Thema hinter sich zu lassen und von etwas zu berichten, worin sie die Expertin war.
„Nun, begonnen hat alles auf einer Expedition nach China …“