1
Amy
New York 1959
„Ich liebe deine Croissants, mmh, die sind einfach so lecker“, schwärmte Amy mit vollen Backen und entsprach in diesem Moment so gar nicht dem Frauenbild der 50er-Jahre. Auch verhielt sie sich an diesem Sonntagmorgen nicht so, wie es die Gesellschaft von einer jungen alleinstehenden Frau erwartete. Sie redete mit vollem Mund, steckte immer noch in ihrem Pyjama, war unfrisiert und empfing in diesem Aufzug sogar Besuch!
Peggy sah ihre Nachbarin amüsiert an. „Mein Angebot steht noch. Kündige deinen Job und fang bei uns in der Bäckerei an.“
„Hach, so sehr ich eure Backwaren liebe, aber nein, Sarah und Thomas kommen an erster Stelle!“ Beim Gedanken an ihre Schützlinge breitete sich ein liebevolles Lächeln auf Amys Gesicht aus. „Ich vermisse die beiden bereits jetzt.“
Sie konnte ihr Glück immer noch nicht fassen, dass sie direkt nach ihrem Abschluss bei den Midtown Nannies vom Fleck weg vermittelt worden war. Seitdem war sie ein Teil der Familie Moore, die in der Upper East Side, unweit des Central Parks, ein wunderschönes Stadthaus bewohnte. Amy lebte ihren wahrgewordenen Traum – sie war endlich Nanny – und an den meisten Tagen fühlte sich ihr Job nicht wie Arbeit an, sondern wie pures Vergnügen. Die Zwillinge – beide fünf – waren entzückend und sie liebte es, Zeit mit ihnen zu verbringen. Bei schönem Wetter unternahmen sie lange Ausflüge in den Park, besuchten den Zoo oder das Conservatory Water, und wenn es regnete, igelten sie sich ganz einfach zu Hause ein. Bauten aus Decken Höhlen, malten oder Amy las ihnen aus Kinderbüchern vor – und dafür wurde sie mehr als großzügig entlohnt. Nicht nur, dass Amy selbst ihre hellste Freude an all dem hatte, nein, noch vor einem Jahr hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, dass sie sich jemals eine eigene kleine Wohnung würde leisten können – und jetzt besaß sie sogar derart Luxus wie ein eigenes Radio.
„Du siehst sie doch heute Abend“, spielte Peggy auf Amys heutigen Dienstplan an, „und so ein freier Vormittag kann nicht schaden – wir können zusammen frühstücken, Musik hören …“
Wie auf Kommando sprang die blonde Frau vom Stuhl auf und schaltete das Radio an, das auf dem Küchenbuffet stand. Ihr Haar hatte sie wie immer zu voluminösen Pin-up-Curls aufgedreht und zusammen mit ihrer offenherzigen rot karierten Gingham-Bluse und den Caprihosen wirkte sie wie ein wahrgewordener Männertraum. Amy dagegen erregte mit ihrer Nanny-Uniform keinerlei Aufmerksamkeit – was in ihrer Nachbarschaft in Hell’s Kitchen vermutlich auch besser war.
„Dream Lover!“, rief Peggy erfreut, als sie nach kurzem Suchen fündig wurde.
Bei der vertrauten Melodie von Bobby Darins Hit, der seit Wochen rauf und runter gespielt wurde, breitete sich wie immer ein wohliges Kribbeln in Amy aus. Selten hatte ein Song sie derart berührt – auch wenn sie zugeben musste, dass der Text ein wenig kitschig war. Es war vielmehr die Melodie, die sie direkt ins Herz traf.
„Wie läuft’s denn mit deinem Dreamlover?“, fragte Peggy, als sie wieder Platz nahm.
„Du meinst Danny?“
Peggy kicherte. „Klar meine ich Danny, oder hast du etwa weitere Verehrer, die du vor mir versteckst?“
Amy nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, um Zeit zu schinden. Sie wusste selbst nicht genau, was da zwischen Danny und ihr war. „Wir waren zweimal zusammen im Central Park spazieren und haben ein Eis gegessen“, erwiderte sie nachdenklich. „Anschließend hat er mir einen Strauß Rosen vor die Haustür gestellt – zumindest glaube ich, dass er von ihm war.“
„Keine Karte?“, hakte ihre Freundin kopfschüttelnd nach.
Amy hob die Arme. „Vielleicht ist sie abgefallen, oder Danny ist zu schüchtern, um seine Gefühle in Worte zu fassen.“
„Oder er ist ganz einfach zu bequem“, erwiderte Peggy und rollte mit den Augen. „Audrey würde sich nie mit abgeschnittenem Grünzeug zufriedengeben.“
Amy verzog das Gesicht, denn der Vergleich hinkte. Sie selbst war weder eine Audrey Hepburn noch Danny ein zweiter Gregory Peck. Sie bezweifelte, dass ihr Verehrer überhaupt Vespa fahren konnte wie der Schauspieler, der dies während seiner Dreharbeiten in Rom eindrucksvoll bewiesen hatte.
„Wir treffen uns morgen Nachmittag, vielleicht gesteht er mir dann seine Gefühle.“ Allein die Erinnerung an ihr letztes Rendezvous ließ ihren Puls rasen. Danny war einfach zu süß und sah in seinen Jeans und dem roten Blouson – er eiferte ganz eindeutig James Dean nach – umwerfend aus. Ihr Mund verzog sich amüsiert. Mr. Moore, ihr Arbeitgeber, würde sich nie in eine Jeans oder gar ein saloppes weißes Shirt zwängen. Der Geschäftsführer der Bank of Manhattan verließ das Haus stets im Anzug und mit Hut.
Peggy schenkte ihrer Nachbarin ein warmes Lächeln. „Ich freu mich so für dich. Ehrlich gesagt, habe ich mir in letzter Zeit etwas Sorgen um dich gemacht. Du arbeitest rund um die Uhr – und sag mir jetzt nicht, dass es sich nicht wie Arbeit anfühlt.“
Amy schnitt eine Grimasse, denn genau das hatte sie sagen wollen. „Nanny zu sein ist mein Traumjob – ich liebe einfach alles daran!“
„Trotzdem solltest du auch ab und zu mal an dich denken.“ Peggy zwinkerte ihr frech zu und Amy wusste sofort, auf was ihre Freundin anspielte – ihr Verständnis von Spaß. Dazu zählten nicht nur geheime Tanzveranstaltungen in Brooklyn, sondern auch heiße Zungenküsse mit einem gewissen Randy, der seinen Kontrabass genauso wild bearbeitete wie Jerry Lee Lewis sein Piano.
Aber auch diese Tatsache hatte Amy bisher nicht überzeugen können, sich an ihrem einzigen freien Abend auf den Weg nach Brooklyn zu machen. Stattdessen erledigte sie ihre Hausarbeit, die unter der Woche liegen geblieben war, und verfolgte die News im Radio.
Während sich Peggy die Füße wund tanzte, saugte Amy alles über diese Raumfahrt-Agentur auf, die man erst letztes Jahr gegründet hatte, um schneller als die Russen im Weltraum zu sein. Ob es dieser NASA wohl gelingen würde, als Erstes einen Menschen ins All zu schießen?
Allein die Faszination, dass so etwas überhaupt möglich war, ließ ihren ganzen Körper kribbeln, wie es sonst nur Bobby Darin mit seinem Hit schaffte.
„Alles klar?“, hakte Peggy mit einem liebevollen Lächeln nach. „Lass mich raten, du denkst schon wieder an die Zwillinge.“
Amy verzog entschuldigend den Mund. „Nein, gerade eben musste ich an die Rakete denken.“ Dabei verschwieg sie, dass sie sich schon auf den Fernsehapparat der Moores freute, der zu den Acht-Uhr-Nachrichten immer angeschaltet wurde und ihr das Tor zur Welt öffnete.
„Oh, Amy, was soll ich nur mit dir machen?“ Peggy erhob sich mit einem herzhaften Lachen, dann sah sie ihre Freundin mit schiefgelegtem Kopf an. „Dann wünsche ich dir heute Abend viel Spaß bei den Moores, auch wenn ich dich lieber beim Tanzen dabei gehabt hätte.“
***
Amy knöpfte den obersten Knopf ihres hellblauen Blusenkleids zu, das mit dem weißen Kragen sehr an eine Schwesternuniform erinnerte, und prüfte erneut den Sitz ihrer Frisur. Während der Arbeit trug sie ihr brünettes Haar hochgesteckt und nicht wie in ihrer Freizeit offen, sodass es ihr in leichten Wellen auf die Schulter fiel. Einzig ihr leicht toupierter Pony war geblieben und lenkte den Blick auf ihre ausdrucksstarken Augen.
Amy schnappte sich ihre dunkelblaue Kostümjacke, die ebenso wie die blickdichten Strumpfhosen und das braune Hütchen zum Outfit der Midtown Nannies gehörte, und verließ gegen siebzehn Uhr gut gelaunt ihre Wohnung. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte sie die U-Bahn-Station, in der es noch stickiger war als in den aufgeheizten Straßenschluchten von New York. Essensgerüche vermischten sich mit abgestandenem Tunnelmief. Amys Blick fiel auf einen müden Arbeiter mit Schirmmütze, der gerade von seinem Sandwich abbiss und mit einem Schluck Koffein-Brause aus der Flasche nachspülte.
Wenige Augenblicke später rauschte die Bahn an, die sie direkt in die Upper East Side zu ihrem Arbeitsplatz bringen würde.
Als sie wieder ins Freie gelangte und in die East 75th Street einbog, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. Die Häuser hier waren gepflegt und vor allem lungerten hier keine zwielichtigen Gestalten auf dem Gehsteig herum. Amy zog sich trotz der Hitze ihre Jacke über – schließlich musste sie auf einen respektablen Auftritt achten – und drückte den messingfarbenen Klingelknopf. Dabei kam sie nicht umhin, den kirschroten Pontiac Bonneville zu bewundern, der direkt vor der Eingangstreppe des imposanten Stadthauses parkte. Mr. Moores verchromtes Spielzeug glänzte nicht nur mit einer Servolenkung und einem Automatikgetriebe – was auch immer das bedeutete –, sondern besaß auch ein Radio samt elektrischer Antenne.
Amy schüttelte über ihre Faszination an technischem Schnickschnack amüsiert den Kopf, dann wurde ihr von Sarah die Tür geöffnet.
„Miss Applebee!“ Die Kleine hüpfte aufgeregt auf und ab, während sie Amy ins Haus zog. „Dürfen wir heute Abend etwas länger aufbleiben, wenn Mom und Dad ins Theater gehen?“
„Ausnahmsweise“, ertönte Mr. Moores tiefe Stimme amüsiert, der schon ausgehfertig im dreiteiligen Anzug in die Eingangshalle trat, dann wandte er sich mit einem dankbaren Lächeln an Amy. „Guten Abend, Miss Applebee, und vielen Dank, dass Sie heute an Ihrem freien Tag einspringen können.“
„Das mach ich doch sehr gerne“, erwiderte Amy ehrlich, denn ein Abend mit den Zwillingen war ihr eindeutig lieber als ein Besuch in einem lauten Klub.
„Wenn Miss Applebee nichts dagegen hat, dürft ihr heute Abend auch die Ed Sullivan Show anschauen.“
Amys Herzschlag setzte für einen Moment aus – hatte sie eben richtig gehört, sie durfte sich die Fernsehsendung ansehen, von der sie bis jetzt nur aus Zeitungsberichten oder dem Radio gehört hatte? Die Show, in der vielversprechende Talente wie Elvis eine Chance bekamen. Heute war eindeutig ihr Glückstag. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr absoluter Liebling Bobby Darin erneut auftreten würde?
Sie zwang sich innerlich zur Ruhe, auch wenn sie es nun kaum mehr bis zwanzig Uhr abwarten konnte.
Mr. Moore, der ihre Freude erkannt haben musste, schenkte ihr ein joviales Lächeln und verließ kurz darauf schmunzelnd die Eingangshalle.
Amy schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte diese an den verspiegelten Garderobenschrank.
„Spielen wir heute wieder Friseursalon?“, fragte Sarah mit aufgekratzter Stimme. „Mom hat mir neue Schleifen gekauft.“
„Und was machen wir mit deinem Bruder?“ Amy kicherte leise. „Ich glaube nicht, dass er sich von mir frisieren lässt.“
„Pfui, Schleifen!“ Als hätte Thomas nur darauf gelauert, sprang er aus dem Garderobenschrank. Auf dem Kopf trug er den besten Hut seines Vaters.
Schnell griff Amy nach dem guten Stück und legte es sicherheitshalber auf der Hutablage ab. „Hallo, Thomas, na du bist mir einer, mich so zu erschrecken.“ Amy legte sich in einer theatralischen Geste die Hand auf die Brust.
Der Junge grinste verlegen, ehe er Amy kurz drückte und dann wie von der Tarantel gestochen ins Wohnzimmer preschte.
Okay, so wie es schien, hatte sich Thomas heute noch nicht ausgetobt. Da das Wetter perfekt und es zum Park nur ein Katzensprung war, beschloss Amy, mit den beiden noch einen Abstecher zum Conservatory Water zu machen. Thomas könnte seine heiß geliebten Miniatursegelboote beobachten, während sie Sarah eine der neuen Schleifen ins Haar flocht. Danach würden sie zu Abend essen und anschließend die Ed Sullivan Show anschauen.
„Hallo, Amy!“ Mrs. Moore schwebte in einem eleganten Cocktailkleid die Treppe herunter. Beim Anblick ihrer Chefin stockte Amy der Atem, Mrs. Moore sah aus wie Grace Kelly höchstpersönlich.
Das Ehepaar würde später vor dem Majestic Theatre garantiert alle Blicke auf sich ziehen.
„Hallo, Misses Moore, Sie sehen umwerfend aus!“
„Vielen Dank, Amy. Hach, ich freu mich schon so auf die Vorführung. Ein Glück, dass wir noch Karten bekommen haben.“
Amy lächelte selig, denn sie war nicht minder glücklich über ihr heutiges Abendprogramm.
Der kleine Thomas kam mit seinem Vater aus dem Wohnzimmer und stellte sich neben seine Schwester, die fasziniert auf die hochhackigen Pumps ihrer Mutter starrte.
„Können wir, Liebling? Das Taxi ist gerade gekommen“, bemerkte Mr. Moore nach einem bewundernden Blick auf seine Frau, ehe er sich seinen Hut von der Ablage schnappte und ihr kurz darauf in ihren Cardigan half.
„Das nenn ich mal gutes Timing.“ Sie zwinkerte Amy verschwörerisch zu und wandte sich anschließend an ihre Kinder. „Sarah und Thomas, ich erwarte von euch, dass ihr auf Miss Applebee hört und euch benehmt.“
Die Kinder nickten synchron.
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Misses Moore“, erwiderte Amy schnell, denn was das anging, hatte sie noch nie Probleme gehabt. Im Gegenteil, die Kinder blühten auf, wenn man sie nicht permanent zurechtwies.
Wenige Minuten später verließen ihre Arbeitgeber gut gelaunt das Haus und Amy packte eine Umhängetasche für ihren Ausflug in den Park. Darin verstaute sie neben etwas Proviant und Trinken, auch ein Notfallset und einen kleinen Ball. Sie half den Kindern beim Anziehen der Schuhe – Sarah wollte natürlich ihre neuen roten Lackschuhe ausführen –, dann machten sie sich auf den Weg zum Park. Unter der Woche verbrachten sie einen Großteil ihrer Zeit unter den schattigen Bäumen und beobachteten die Eichhörnchen, die sich manchmal sogar bis zu ihrer Picknickdecke trauten. An Tagen wie diesen konnte sie sich nicht vorstellen, glücklicher zu sein. Sie spürte den warmen Händedruck der Zwillinge, die links und rechts neben ihr liefen, und die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Für einen Moment fragte sie sich, ob sie selbst irgendwann einmal Mutter von zwei bezaubernden Kindern sein würde.
Am Ende der East 75th Street überquerten sie die 5th Avenue und schlüpften in den Park. Direkt hinter der Hecke befand sich das Conservatory Water, ein kleiner See, der in sanften Hügel und Kirschbäumen eingebettet war. Zum Areal gehörten ebenfalls das Kerbs Memorial Boathouse, wo man ferngesteuerte Modellsegelboote ausleihen konnte, und mehrere märchenhafte Skulpturen, die sich unweit des Sees befanden. Darunter eine von Hans Christian Andersen und die frisch eingeweihte Bronzefigur von Alice im Wunderland.
Sarah und Thomas liebten es, auf der beliebten Attraktion herumzuklettern, die ausdrücklich dafür gemacht wurde.
Amy nahm mit den Kindern auf einer Bank direkt am See Platz. Wie zu erwarten, war an diesem sommerlichen Sonntag sehr viel los. Mütter mit Kleinkindern tummelten sich auf dem Rasen und stolze Väter ließen es sich an ihrem freien Tag nicht nehmen, ihren Sprösslingen vorzuführen, wie man ein Segelboot geschickt über den See manövrierte. Auch wenn die Herren allesamt schicke Hüte trugen, erkannte Amy auf den ersten Blick, dass es sich dabei hauptsächlich um Männer aus der Arbeiterklasse handelte.
Mr. Moore hatte für derart Ausflüge keine Zeit. Unter der Woche verließ er das Haus, noch bevor Amy kam, und kehrte erst spät am Abend von der Bank zurück. Es versetzte ihr einen Stich, als sie Thomas’ sehnsüchtigen Blick bemerkte. Dem kleinen Jungen war offensichtlich aufgefallen, dass sich heute besonders viele Väter Zeit für ihre Familien nahmen. Auch wenn sie als Nanny stets ihr Bestes gab, wusste sie, dass sie die mangelnde Aufmerksamkeit durch nichts aufwiegen konnte, ebenso wenig wie die liebevolle Zuwendung, die sich Thomas von seinem Vater wünschte.
Obwohl Amy voller Respekt für ihren Arbeitgeber war, überkam sie auf einmal eine nie da gewesene Wut. Mr. Moore hätte heute durchaus Zeit gehabt, mit Thomas in den Park zu gehen – immerhin war Sonntag.
Sie legte dem Kleinen fürsorglich den Arm um die Schulter, woraufhin er sich automatisch an sie kuschelte. Aber so lief das Geschäft nun mal. Aus diesem Grund gab es Nannies, damit sich wohlhabende Menschen nicht um die Erziehung ihrer Kinder kümmern mussten.
Die Vorfreude auf die Ed Sullivan Show verpuffte aufgrund dieser Tatsache augenblicklich und der so selbstverständlich vorhandene Luxus und die Statussymbole der Moores verloren schlagartig ihre Faszination.
„Amy, bindest du mir meine neue Schleife ins Haar?“
Amy lächelte, denn wieder war Sarah das persönliche „Du“ herausgerutscht – sie korrigierte sie nicht, da es ihr nichts ausmachte. Stattdessen schnappte sie sich eine der roten Samtschleifen aus der Tasche, die perfekt zu den Lackschuhen der Kleinen passten, und unterteilte das Haar in mehrere Strähnen, während ringsum glückliche Familien ihren freien Tag genossen. Heute fiel es ihr besonders auf, wie sehr sie tatsächlich aus der Masse herausstachen. Amy in ihrem hellblauen Blusenkleid und die gut gekleideten Kinder, die zwar alles hatten, aber im Grunde sehr einsam waren.
Nach einem Abstecher zur Bronzeskulptur kehrten sie pünktlich zum Abendessen zum Stadthaus zurück und Amy schüttelte beim Anblick des glänzenden Pontiac Bonneville ärgerlich den Kopf.
Vielleicht lag es an all diesem Luxus, dass sie die Zwillinge so sehr mit Liebe überschüttete. Denn das war es doch, was wirklich zählte, Liebe und Verständnis.
Nachdem sie die Kinder abgeduscht und in frische Pyjamas gesteckt hatte, schnappte sich Amy die Platte mit dem kalten Braten, den Mrs. Moore für sie vorbereitet hatte, dazu frisches Brot und Mixed Pickles. Heute würden sie ausnahmsweise im Wohnzimmer essen. Sie wollte auf keinen Fall etwas von der Vorstellung verpassen, wenn sich ihr die Gelegenheit einmal bot.
Nachdem Amy den Fernsehapparat mit dem Zauberstab – wie sie die Steuerung ehrfürchtig nannte – angestellt hatte, nahm sie samt Platte zwischen den Kindern Platz. Mr. Moore würde sie umbringen, wenn auch nur ein Stückchen vom kalten Braten auf dem Polster landete, aber gerade waren ihr die Konsequenzen egal. Während sich die hungrigen Kinder bedienten, starrte die junge Frau fasziniert auf die Mattscheibe, die ihr in wenigen Sekunden das Tor zur Welt öffnen würde.
Gebannt hielt Amy die Luft an, als Ed Sullivan um Punkt acht Uhr die beliebte Sonntagabendshow anmoderierte und kurz darauf ein junger Künstler namens Paul Anka die Bühne betrat. Diese Erfahrung war kein Vergleich zum Radio. Obwohl das Bild schwarz-weiß war, wirkte es dennoch so real … Es war, als würde der Mann sie direkt ansehen, nur allein für sie singen – und ja, bei Gott, sie würde keine Sekunde zögern, den Kopf an seine Schulter zu legen und ihm die Worte ins Ohr zu flüstern, die er hören wollte.
***
„Sie sind entlassen!“, zischte Mr. Moore ihr zu, als die Wanduhr im Wohnzimmer zwölf schlug.
„Es tut mir …“, stammelte Amy und sah hilflos zur Treppe, die ins Obergeschoss und zu Mrs. Moore führte.
Sie hatte die Kinder vor einer Stunde zu Bett gebracht, aufgeräumt und die Ed Sullivan Show zu Ende gesehen und anschließend auf die Rückkehr der Eltern gewartet. Aber dann war alles aus dem Ruder gelaufen.
Noch während sich Mrs. Moore überschwänglich bei ihr bedankte, hatte Amy die anzüglichen Blicke ihres Arbeitgebers auf sich gespürt. Sie hatte nur eins und eins zusammenzählen müssen, um zu wissen, dass er etwas getrunken hatte. Da es sie erstens nichts anging, ob sich die beiden im Theater einen Drink genehmigt hatten, und es zweitens schon ziemlich spät war, hatte sie sich ihre Jacke geschnappt, um zu gehen. Doch Mr. Moore hatte ihr plötzlich mit einem breiten Grinsen den Weg versperrt und unanständige Dinge gesagt, die sie nicht einmal vor Peggy wiederholen könnte. Klar, sie hätte ihren Boss auch einfach ignorieren und lächeln können, aber sie war einfach zu schockiert gewesen … und hatte ihm, ohne nachzudenken – eine geknallt! Was war nur in sie gefahren?
Langsam löste sich Amy aus ihrer Schockstarre. Ihr Blick fiel auf den roten Handabdruck, der wie zum Beweis auf Mr. Moores Wange leuchtete, und mit jeder weiteren Sekunde wurde ihr klar, dass ihr Leben, wie sie es geliebt hatte, und die Zeit mit dieser Familie für immer vorbei waren.
2
Amy
New York 2022
Unruhig wälzte sich Amy im Bett und öffnete kurz darauf langsam die Augen. Sie fühlte sich seltsam benommen, dazu kamen hämmernde Kopfschmerzen und eine nie da gewesene Müdigkeit. Wie lange hatte sie geschlafen?
Bevor sie einen Blick auf den Wecker werfen konnte, wurde sie von einem helltönenden Hupen direkt unter ihrem Schlafzimmerfenster aufgeschreckt. Nach diesem Signal ging es allerdings erst richtig los, als hätte der Fahrer eine Kettenreaktion ausgelöst. Es konnte sich bei dem Störenfried nur um Mr. Lombardi aus dem Obst- und Gemüseladen von gegenüber handeln. Der Ladeninhaber besaß als Einziger in ihrer Straße ein Automobil. Okay, die Bezeichnung Vespa mit Pritsche traf es besser, aber immerhin konnte er mit diesem kleinen hellblauen Gefährt seine frischen Waren direkt am Hafen abholen – so wie in seiner Heimatstadt Neapel vor vielen Jahren.
Schlagartig setzte sich Amy auf. Nur dass ihr Nachbar dies für gewöhnlich bereits am frühen Morgen tat und auch niemanden weckte, wenn er von seinem Einkauf im Großmarkt zurückkehrte. Mittlerweile war ihr Zimmer jedoch lichtdurchflutet, was so viel bedeutete, wie …
Nach einem Blick auf den Wecker fluchte Amy leise auf. Mist, es war bereits halb elf und sie hatte eindeutig verschlafen! Verschlafen! Sie, Jahrgangsbeste der Midtown Nannies, die niemals zu spät kam und ihre Prüfung sogar mit Auszeichnung bestanden hatte. Für diese Leistung war sie sogar mit einer goldenen Anstecknadel in Form eines Regenschirms geehrt worden. Für gewöhnlich gab es die Anstecker nur in Silber.
Für einen Moment drehte sich das Zimmer, als ihr klarwurde, was das bedeutete. Sie hatte gegen eine der wichtigsten Regeln verstoßen. Verlässlichkeit. Diese Missachtung wog in den Augen ihrer Chefin beinahe genauso schwer wie „unsittliche Träumereien über den Arbeitgeber“.
Amy sog scharf die Luft ein. Nicht nur, dass sie unentschuldigt fehlte, sie hatte auch keinen triftigen Grund dafür. Sie war weder krank, noch musste sie sich um irgendeine Tante kümmern – sie hatte schlichtweg verschlafen.
Schnell sprang Amy aus dem Bett und schnappte sich ihr Kleid. Wenn sie die Strumpfhosen ausnahmsweise wegließ und sich beeilte, dann wäre sie innerhalb einer Viertelstunde aus dem Haus. Mrs. Moore wollte sich mit einer Freundin im weltbekannten Plaza treffen – zum Mittagessen. Sie verzog amüsiert den Mund, denn dort servierte man bestimmt keinen kalten Braten. Abrupt hielt Amy inne, als sie sich plötzlich an gestern Abend erinnerte. Ihr Vesper auf der Couch und die Ed Sullivan Show. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, als plötzlich ein weiteres Bild vor ihrem geistigen Auge auftauchte – Mr. Moore mit einem leuchtend roten Handabdruck im Gesicht.
Amy taumelte zurück zum Bett, als sich ein Puzzleteil ans andere fügte. Sie hatte ihren Boss geohrfeigt und war arbeitslos!
Ihre hämmernden Kopfschmerzen verstärkten sich bei dieser Erkenntnis. Sie würde Thomas und Sarah nie wieder sehen, sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sich von ihnen zu verabschieden. Amy ließ ihren Tränen freien Lauf, was mussten die beiden nur von ihr denken? Kurz überlegte sie, sich einfach bei Mr. Moore zu entschuldigen. Die Kinder brauchten sie und sie brauchte eine Familie, um die sie sich kümmern konnte.
Nach unendlichen Minuten setzte sie sich wieder auf, während sie überlegte, wie sie am besten vorgehen sollte: Peggy um Rat fragen und anschließend musste sie sich auf den Weg zur Agentur machen, vielleicht konnte man noch irgendetwas retten.
Erneutes Dauerhupen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zum Fenster. Was bildete sich dieser Lombardi nur ein? Amy erhob sich mit wackligen Beinen und zog die Gardine zurück. Was sie sah, ließ sie schockiert zurücktaumeln, denn von ihrem Nachbarn und seinem Pritschenwagen fehlte jede Spur. Auch wenn sie am ganzen Leib zitterte, setzte sie erneut einen Fuß vor den anderen und riskierte einen zweiten Blick. Sie blinzelte. Nein, das konnte nicht wahr sein, bestimmt befand sie sich noch im Traum und der Vorfall mit Mr. Moore war nie geschehen. Ihr Mund verzog sich zu einem erleichterten Lächeln. Dennoch wunderte sie sich über das Bild, das sich ihr hinter der Scheibe bot. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen, dann aber schmunzelte sie über ihre eigene Fantasie. Waren die Petticoats und weitschwingenden Röcke etwa über Nacht aus der Mode gekommen? Ebenso die taillierten Blusen und Twinsets? Stattdessen trugen die beiden jungen Frauen skandalös enge Hosen und derbe Stiefel, wie sie nur Männer aus den Docks hatten, und dazu Shirts mit überdimensionalen Schriftzügen. Amy schüttelte den Kopf. Sie konnte sich zwar nicht erklären, wer oder was ein Hollister war, aber zumindest in ihrem Traum hatte sich das weiße Shirt auch bei den Frauen durchgesetzt – James Dean wäre sicher mächtig stolz.
Aber nicht nur die hutlosen Herren auf ihren verchromten Tretrollern verstörten sie zunehmend, sondern auch die schwarzlackierten Geländewagen, die überhaupt nichts mit den holzverkleideten Jeeps, wie sie sie kannte, gemein hatten.
In diesem Moment wurde Amy klar, dass sie weder träumte noch eine derartige Vorstellungskraft besaß – es war alles real.
Peggy, sie musste zu Peggy.
Ohne Schuhe stürmte Amy aus der Wohnung, rannte über den Flur und drückte den Klingelknopf, auf dem der Name Peggy Rogers stand. Erleichtert atmete sie auf, dabei entdeckte sie eine druckfrische Ausgabe der New York Times, die neben der Fußmatte lag. Montag, las sie. Doch was ihr Herz wirklich in Aufregung versetzte, war das Datum:
01. August 2022.
Gerade als sich Amy bücken wollte, wurde die Tür von einer weißhaarigen Dame geöffnet, die nach einem Blick auf Amy regelrecht erstarrte.
Für einige Sekunden sahen sich die Frauen stumm an, die alte Dame auf ihren Gehstock gestützt, während Amy gegen ihre Ohnmacht ankämpfte. Auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass dies unmöglich sein konnte – Peggy war über Nacht unmöglich um mehrere Jahrzehnte gealtert –, erkannte sie sofort ihre Freundin in dem vom Leben gezeichneten Gesicht. Es war der Glanz in ihren grünen Augen, der unverändert schien und trotz der tiefen Falten Lebensfreude und Neugierde ausstrahlte.
„Peggy?“, fragte Amy mit bebender Stimme und griff nach deren Hand, die leicht auf dem Knauf des Gehstockes zitterte.
Die alte Dame schien immer noch unter Schock zu stehen. Nach unendlichen Minuten fragte sie. „Wie kann das sein? Du hast dich kaum verändert, seit du wie vom Erdboden verschwunden warst.“
Beim Klang von Peggys Stimme schossen ihr erneut Tränen in die Augen, denn auch sie konnte ihre Verwirrung und Angst nicht mehr zurückhalten. Was hatte das zu bedeuten, dass sie die letzten dreiundsechzig Jahre einfach weggewesen war? Das konnte unmöglich sein. Sie hatte gestern gearbeitet und war wie immer mit der U-Bahn brav nach Hause gekommen.
„Am besten gehen wir rein“, forderte Peggy sie nach einem schnellen Blick ins Treppenhaus auf. „Und dann erzählst du mir alles von Anfang an.“
Amy folgte ihrer Freundin ins Wohnzimmer und nahm auf der Couch Platz. Interessiert sah sie sich um, denn auch dieser Raum wirkte vollkommen fremd. Peggys ganzer Stolz – ein Highboard aus Teakfurnier mit integriertem Barfach und Glasschiebetür – war von einem Tag auf den anderen einem glänzenden weißen Etwas gewichen.
„Du hast gleich drei Zauberstäbe?“ Amys Stimme überschlug sich förmlich, als ihr Blick am Tisch hängen blieb.
Peggy lachte herzhaft und nahm neben der jungen Frau Platz. „Heute nennt man sie Fernbedienung.“
Amy sah sich irritiert um, doch sie konnte nirgends einen Fernsehapparat entdecken. Vielleicht hatte Peggy die hölzerne Flimmerkiste in dem glänzenden Etwas verstaut. Noch ehe sie weitergrübeln konnte, griff die alte Dame nach einer der Fernbedienungen und zeigte damit zur Wand.
Amy konnte nicht glauben, was sie da sah. Mit offenem Mund verfolgte sie, wie sich die Fläche in dem schmalen Rahmen in ein bewegtes Bild, nein, in eine riesige Leinwand verwandelte.
„Die anderen beiden Zauberstäbe verwende ich kaum, hundert Sender reichen ja völlig aus. Aber meine Enkelkinder haben mir zum Achtzigsten dieses Familienabo bei Netflix geschenkt, da wählst du dein Programm selbst.“
Amy sah verwirrt zurück zur Wand, wo gerade zwei Kinder mithilfe von winzigen Zauberkästchen Kontakt zueinander aufnahmen. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Handelte es sich dabei etwa um einen tragbaren Fernsprechapparat?
Besorgt sah Peggy ihre Freundin an, dann schaltete sie den Fernseher entschlossen aus.
„Das war genug für heute. Nicht dass du mir noch vom Sofa kippst … und jetzt erzählst du mir, was passiert ist. Ich war all die Jahre krank vor Sorge, dachte, du wärst tot.“ Peggy griff nach Amys Hand und sah ihr ins Gesicht. „Aber du hast dich kein bisschen verändert.“ Die alte Frau schlug sich die Hand vor den Mund. „Bist du Teil eines geheimen Experiments?“
Amy lachte herzhaft. „Aber nein, wie kommst du denn darauf?“
Die alte Frau lachte nervös, dann klärte sie ihre Freundin auf. „Die ganze Situation erinnert mich irgendwie an diesen Film mit Mel Gibson – ein Testpilot des US Army Air Corps. Hach, der Film war so traurig. Der Gute wurde zu lange eingefroren, in einer Kapsel, und ist erst fünfzig Jahre später wieder aufgewacht. Stell dir das mal vor, er hat sein ganzes Leben verpasst!“
„Also daran würde ich mich erinnern.“ Amy schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Warum sollte man dazu gerade mich auswählen? Außerdem geht so was nur in Hollywood.“
Peggy hob hilflos die Arme. „Aber wie bist du dann in diese missliche Lage gekommen?“
„Peggy, ich weiß es nicht. Ich bin heute Morgen wie immer in meinem Bett aufgewacht. Erst gestern haben wir noch zusammen gefrühstückt und Bobby Darin gehört, erinnerst du dich nicht?“
Obwohl die Situation mehr als beunruhigend war, kicherte die alte Dame wie ein junges Mädchen. „Das glaube ich kaum. Ich habe mir gestern früh Good Morning America angesehen.“ Ihr Mund verzog sich zu einem schelmischen Lächeln und für einen Moment wirkte sie wie die junge Peggy. „Ryan Gosling war zu Gast, das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“
Amy erwiderte Peggys Lächeln, auch wenn sie mit diesen Informationen überhaupt nichts anzufangen wusste. Aber so viel war sicher, es musste sich bei diesem Gosling um einen sehr attraktiven Mann handeln. Amy schmunzelte, denn ihre Freundin hatte trotz des fortgeschrittenen Alters immer noch dieses verräterische Leuchten in den Augen.
Für einige Sekunden sahen sich die Frauen nachdenklich an, ehe Peggy fragte. „Was sollen wir jetzt nur machen?“
„Ich geh erst mal zur Agentur!“, erwiderte Amy schnell. Vielleicht fand sie dort eine Antwort auf alles. Dieser Albtraum hing eindeutig mit dem Vorfall von gestern Abend zusammen, dessen war sie sich sicher. Vielleicht hatte die Kündigung eine Art Trauma in ihr ausgelöst und sie fantasierte.
Peggy schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen. Die hat bereits in den Siebzigern wegen sinkender Nachfrage geschlossen.“
„Geschlossen? In den Siebzigern?“ Amy spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Das konnte unmöglich sein. Die New Yorker Agentur war eine Institution und konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Es gab sogar Wartelisten. Jede wohlhabende Familie in der Upper East Side, die etwas auf sich hielt, beschäftigte eine Midtown Nanny. „Nein, das kann nicht sein, ich muss mich selbst davon überzeugen! Ich kann mir kaum vorstellen, dass all die feinen Damen ihre Kinder auf einmal selbst versorgen.“
Peggy schnalzte mit der Zunge. „Dann begleite ich dich. Die Welt da draußen ist nicht mehr so, wie du sie kennst.“
Amy lachte nervös und bemerkte selbst, wie fremd sie dabei klang. Hatte sie etwa den Verstand verloren? Für einen Augenblick hoffte sie, dass es wirklich so war, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich plötzlich im Jahr 2022 befand, war einfach zu verrückt. Oder vielleicht doch nicht? Wenn Menschen über eine große Distanz mit winzigen Zauberkästchen kommunizieren konnten und man bereits in den Fünfzigern versucht hatte, Raketen ins Weltall zu schießen, war es vielleicht auch möglich, Menschen in die Zukunft zu …
Nein, stopp, rief sie sich zur Vernunft, ihre Fantasie ging mal wieder mit ihr durch. Dennoch sah sie Peggy für einen Moment nachdenklich an, ehe sie fragte. „Was ist mit der Rakete passiert? Ist es ihnen gelungen?“
Peggy machte große Augen. „Du meinst, ob die Rakete 1959 den Orbit durchbrochen hat?“
Amy nickte nur, denn etwas in Peggys Stimme verursachte ihr Gänsehaut.
„Oh, nicht nur das, meine Liebe. Mittlerweile waren auch schon Menschen auf dem Mond und es gibt diesen Marsrover.“
Ihre Gedanken überschlugen sich geradezu, vielleicht gab es für alles eine wissenschaftliche Erklärung und sie war nicht verrückt geworden. Allein diese Erkenntnis beruhigte sie etwas.
Sie erhob sich und strich ihre Kleidung glatt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch barfuß in ihrem Blusenkleid steckte und nicht in einem schwingenden Sommerrock samt Petticoat, wie es gerade Mode – ähm gestern Mode gewesen war.
„Bist du sicher, dass ich dich nicht begleiten soll?“, hakte Peggy erneut nach.
Amy schüttelte vehement den Kopf. Nein, auf gar keinen Fall. Auch wenn Peggy noch einen rüstigen Eindruck auf sie machte, wollte sie sie nicht unnötig strapazieren. Den Weg zur Agentur in Midtown fand sie auch ganz allein.
„Ich melde mich später bei dir – es wird sich schon alles aufklären.“
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Zwei Stunden und gefühlt tausend seltsame Seitenblicke später – sie trug ihr schönstes Kleid, um die Agenturchefin zu besänftigen – fand sich Amy völlig überfordert vor dem Gebäude in der 8th Avenue wieder. Von der Nanny-Agentur fehlte jedoch jede Spur. Sie war bereits mehrmals die Straße abgelaufen, aber trotz der stark veränderten Fassade gab es keinen Zweifel, dass es sich um dasselbe Backsteingebäude handelte. Dennoch gab sie sich nicht geschlagen. Vielleicht konnte man ihr trotzdem weiterhelfen – und wenn es nur eine neue Adresse war.
Argwöhnisch kniff Amy die Augen zusammen, denn sie hatte so eine Art von Ladenlokal noch nie gesehen. Die Kunden bestellten, bezahlten und wurden in einen Wartebereich umgeleitet, wo sie sich wieder mit ihren Zauberkästchen beschäftigten. Die Angestellten hinter der Theke allerdings hatten mächtig zu tun. Zuerst verewigten sie sich mit einer Kritzelei auf diesen Bechern, anschließend drückten sie Knöpfe und zogen an Hebeln, dass es nur so dampfte und schäumte. Von der Neugierde angetrieben, trat Amy näher und wagte sich schließlich in den Laden, in dem es zuging wie in einem Taubenschlag. Sie wurde mit der Masse mitgeschoben und plötzlich wusste sie es. Kaffee! Das hier war ein Kaffeehaus.
„Was darf’s für dich sein?“, hörte sie den jungen Mann hinter dem Tresen in einer fast unerhörten Vertrautheit fragen, bevor er ihr frech zuzwinkerte.
„Ähm, Kaffee“, stammelte sie, völlig aus dem Konzept gebracht und warf einen Blick nach oben zur rettenden und gleichzeitig sehr verwirrenden Anzeigetafel.
„Small, medium, large, hot, cold brew oder doch lieber einen Iced Latte Macchiato bei der Hitze?“ Er legte fragend den Kopf schief.
Nervös wanderte Amys Blick zwischen der Tafel und dem, wie sie zugeben musste, sehr attraktiven jungen Mann hin und her, der es irgendwie geschafft hatte, sein Haar ohne jegliche schmierige Pomade in Form zu bringen – benutzte er etwa Haarspray? Nur weibliche Filmstars und Frauen wie Peggy benutzten dieses Zaubermittel aus der Sprühdose, aber doch kein junger Bursche aus Midtown.
„Dein Name?“, fragte er leicht ungeduldig nach.
„A-Amy“, stammelte sie, „ein Kaffee.“
Der Mann kritzelte A-Amy auf einen extragroßen Becher und füllte diesen randvoll mit schwarzem Kaffee. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie kein Geld eingesteckt hatte. Wie sollte sie diesen Riesenbecher bezahlen? Man würde sie festhalten und die Polizei rufen. Panisch sah sie sich um und verfolgte mit großen Augen, wie der Mann neben ihr einen Blaubeermuffin allein mit seiner Uhr bezahlte. Gab es etwa noch winzigere Zauberkästchen, die man am Handgelenk trug? Der Laden begann, sich um sie zu drehen, sie musste hier raus. Es war eine Sache, Mr. Moore zu ohrfeigen und dafür gefeuert zu werden, aber eine Diebin war sie nicht. Nein, sie war Nanny Applebee und beste Absolventin der New York Midtown Nannies des Jahrgangs 1959.
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Völlig erledigt erreichte Amy eine Stunde später das sechsstöckige Gebäude, das in einer Nebenstraße lag und in dem sich ihre kleine Wohnung befand. Sie konnte nicht mehr mitzählen, irgendwann hatte sie damit aufgehört, aber zwischen Midtown und Hell’s Kitchen wimmelte es nur so von diesen neuartigen Kaffeehäusern, die über Nacht wie Pilze aus dem Boden geschossen waren!
Rein intuitiv öffnete sie den Briefkasten, nahm die Post heraus und lief in den ersten Stock. Sie musste sich erst einmal hinlegen und dann etwas essen oder andersherum. Ob ihre Lebensmittel noch gut waren – immerhin waren dreiundsechzig Jahre vergangen. Amy war mittlerweile so müde, dass sie über ihren Witz nicht einmal mehr lachen konnte. Vielleicht sollte sie sich einfach ausschlafen, und wenn sie aufwachte, wäre dieser Spuk endgültig vorbei. Keine Zauberkästchen, aufgeschäumte Macchiatos oder dergleichen.
Sie legte die Briefe beim Hereinkommen auf der kleinen Kommode neben der Garderobe ab und schlüpfte aus ihren flachen Pumps mit Pfennigabsätzen. Gerade als sie sich auf den Weg in die Küche machen wollte, fiel ihr Blick auf einen Umschlag, der mit seinem unverkennbaren marineblauen Logo aus allen herausstach.
Für einen Moment war sie wie erstarrt. Sie hatte Post von der Agentur bekommen? Wie konnte das sein? Augenblicklich war sie hellwach und öffnete mit zittrigen Fingern das Kuvert. Als ihr Blick am Datum hängen blieb, schnappte sie kurz nach Luft. Das war wohl ein schlechter Scherz? Dort konnte unmöglich der 01. August 2022 stehen. Die Midtown Nannies existierten nicht mehr, sie hatte es gerade erst mit eigenen Augen gesehen. Amy schüttelte ungläubig den Kopf, als sie den Brief überflog – man gab ihr nach all dem noch eine Chance und sie sollte ihre neue Stelle bereits morgen antreten?