Antipasti
»Willkommen zu Hause!«
Marco de Luca fühlte sich umarmt, seine Mutter Elena schien ihn gar nicht wieder loslassen zu wollen. Er kam sich vor wie der verlorene Sohn, dabei hatte er nach seiner Ausbildung lediglich zwei Jahre bei Verwandten in Italien gearbeitet.
»Ich bin so froh, dass du hergekommen bist«, flüsterte sie. Zögernd löste sie sich und musterte ihn von oben bis unten. »Gut siehst du aus. Wie frisch aus dem Urlaub.«
»Wie geht es Papa?«, erkundigte er sich.
»Ich mache mir große Sorgen um ihn. Er ist oft müde, will aber nicht zum Arzt. Egal was ich sage, er streitet ab, dass es ihm nicht gut geht.«
»Ist er im Luigis?« Beim Aussprechen des Namens fluteten Erinnerungen hoch. Das kleine Ristorante in einer ruhigen Nebenstraße Aachens, der Eingang in weiß mit roten und grünen Akzenten. Marco hatte auch nach der langen Abwesenheit das Bild des Restaurants deutlich vor Augen und meinte fast den Duft von Pizza in der Nase zu haben.
»Ja, er ist noch im Luigis und kümmert sich um die Steuer. Früher hat er das nebenbei erledigt, aber jetzt kann er sich kaum dazu durchringen. Das Büro sieht unordentlich aus, anders als sonst. Ich glaube, wenn du ihm anbietest, die Buchhaltung zu übernehmen, wird er sich freuen.«
Marco betrachtete seine Mutter besorgt. Hatte sie vor seiner Abreise einzelne Silberfäden an den Schläfen unter den schwarzen Haaren versteckt, so bemerkte er inzwischen ganze Strähnen, die sich abhoben. Auch sie wirkte müde. Tiefe Falten zogen sich von ihrer Nase an ihrem Mund vorbei. Sie hatte abgenommen und Marco sah ihr die Sorgen an.
»Wieso hast du mich nicht selbst angerufen?«, fragte er leise, bemüht, nicht vorwurfsvoll zu klingen.
»Ich musste deinem Vater versprechen, dich nicht herzuholen.« Seine Mutter sah ihn entschuldigend an. »Ich war mir sicher, dass Nonna dich umgehend anrufen würde, wenn ich ihr von meinen Sorgen um Luigi erzähle.«
War seine Mutter etwa verlegen wegen ihres Schachzuges? Es schien fast so, zumindest mied sie seinen Blick.
»Stell die Sachen in dein Zimmer, dann gehen wir zusammen ins Ristorante und überraschen Papa.«
Marco nickte seiner Mutter zu und trug seinen Koffer durch den kleinen Flur in sein Zimmer. Merkwürdig fühlte es sich an. Fremd und doch so vertraut, nach Jahren in sein altes Jugendzimmer zurückzukommen. Ohne länger darüber nachzudenken, stellte er seine Sachen ab und schloss die Tür hinter sich. Seine Mutter hatte ihren Mantel angezogen und wartete auf ihn.
Unten auf dem Gehweg angekommen, hakte sie sich bei ihm ein.
»Geht es meiner Mutter wirklich gut?«, wollte sie von ihm wissen.
»Nonna scheint sich überhaupt nicht zu verändern«, antwortete er. »Sie ist traurig, dass ihr sie nicht besucht habt. Was hast du ihr am Telefon erzählt, dass sie mich direkt angerufen hat?«
»Das, was ich dir auch gesagt habe. Ich mache mir große Sorgen um deinen Vater.« Gemeinsam überquerten sie die Straße.
Marco schaute sich die vertraute Umgebung an. Jetzt am Vormittag gab es wenig Verkehr in der Siedlung, einzelne Fassaden der Mehrfamilienhäuser hatten in der Zwischenzeit einen frischen Farbanstrich erhalten und stachen aus dem Grau heraus.
»Erzähl mir von Rafael. Wie geht es meinem Bruder?«, riss Elena ihn aus seinen Betrachtungen.
»Er ist dicker geworden und hat eine hohe Stirn bekommen. Dass ich den Service übernommen hatte, hat ihm gut gefallen. Aber Tante Rosa meinte, er habe deswegen zugenommen, weil ihm die Bewegung fehle.« Marco lachte leise, als er an seinen Onkel und dessen Trattoria in Scala dachte.
»Dann kann er sich die zusätzlichen Pfunde jetzt wieder abtrainieren«, kommentierte Elena, »ohne dich muss er ja wieder selbst ran.«
Inzwischen waren sie vor dem Ristorante angekommen. Luigis stand in geschwungenen roten Buchstaben auf einem weißen Schild über der Tür. Die Schlichtheit hatte Marco immer beeindruckt. Sein Vater hatte der Pizzeria einfach seinen eigenen Namen gegeben. Seine Mutter schloss die Tür auf und rief ihren Mann.
Etwas verwundert tauchte dieser im Gastraum auf und sah verblüfft auf den Überraschungsgast. »Marco! Was machst du denn hier?«
Marco ging zu seinem Vater und umarmte ihn. »Ich hatte Sehnsucht nach euch«, sagte er.
»Gut siehst du aus«, meinte der Vater, nachdem er seinen Sohn gemustert hatte. »Wie lange bleibst du?«
»Na ja, ich hatte gehofft, etwas länger bleiben zu dürfen. Vielleicht kann ich mich hier nützlich machen?«
Ein kritischer Blick ging von ihm zur Mutter und zurück. Dann fixierte Luigi de Luca wieder seine Frau. »Hat Mama dich etwa gebeten, herzukommen?«
»Nein.« Es war nicht gelogen, schließlich war er nur der unausgesprochenen Bitte seiner Mutter gefolgt.
»Ich mache uns erst einmal einen Kaffee«, sagte Elena und ging weiter in die Küche.
Sie entzog sich geschickt dem Argwohn ihres Mannes.
Marco schaute ihr nach und verzog das Gesicht. Dann lächelte er seinem Vater zu. »Gibt es etwas, das ich tun kann?«
Dieser musterte ihn noch einmal von Kopf bis Fuß. »Für heute Abend ist alles fertig und mitten in der Woche ist meist wenig los. Erzähl, wie war es in Bozen?« Luigi de Luca nahm seinen Sohn am Arm und wies auf den Tisch neben der Küche. Dort hatten sie immer gemeinsam gegessen, als Marco noch zur Schule gegangen war. Jetzt brachte seine Mutter die ersten beiden Espressotassen und stellte sie für die Männer auf den Tisch.
»Das würde dir gefallen, Vater! Das Grandhotel in Bozen ist riesig, ein altes Traditionshaus mit 50 Betten und einem traumhaften Blick auf die Weingärten. Und das Restaurant ist bei Einheimischen wie Touristen beliebt.«
Auch die Mutter setzte sich nun mit ihrem Espresso an den Tisch. »Wieso bist du eigentlich nicht dortgeblieben?«
Marco seufzte. »Ich habe viel gelernt, bin aber nie richtig angekommen. Für die einen war ich kein Italiener, für die anderen kein Deutscher und obendrein nur ein Gastarbeiter. Bis auf ein paar meist oberflächliche Kontakte habe ich keinen Anschluss gefunden. Die Arbeitszeiten machen es ja nicht leichter, andere Menschen außerhalb des Hotels kennenzulernen. Bei Onkel Rafael war das vollkommen anders.«
»Es geht doch nichts über Familie«, bemerkte seine Mutter leise.
»Also bleibst du länger?« Marcos Vater hatte sein anfängliches Misstrauen anscheinend überwunden.
»Wenn ich darf? Ich könnte mich erst mal hier nützlich machen und dann weitersehen.« Erwartungsvoll blickte Marco von einem zum anderen.
»In den Service lasse ich dich so nicht«, Luigi deutete grinsend auf Marcos verknittertes T-Shirt. »Aber wenn du mir den Bürokram abnimmst, wäre ich nicht böse.«
»Klar, das mache ich gern.«
Nachdem sie eine Weile beisammengesessen hatten, stand Elena auf, um die Tür des Ristorante für die Gäste zu öffnen. Marco sah ihr nach, wie sie die Tische mit ihren rot-weiß-karierten Tischdecken umrundete und spürte dem Gefühl von Heimat nach, das ihn bei diesem Anblick überkam. Auch Luigi erhob sich und legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter, bevor er wieder in die Küche ging. Marco betrat das Büro und fand die Beschreibung seiner Mutter bestätigt. Der kleine Schreibtisch quoll über von Papieren. Sein Vater schien sich schon seit einer Weile nicht mehr richtig darum zu kümmern. Seufzend machte er sich daran, Quittungen und Rechnungen zu sortieren, um das Chaos optisch zu verkleinern.
Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er erschrak, als plötzlich seine Mutter hinter ihm stand. Sie wollte heimgehen.
»Heute ist nicht viel los, das schafft dein Papa allein. Du kommst vermutlich später mit ihm gemeinsam?«
Marco bejahte und stand auf, um seine Mutter zu umarmen. Ein Blick in den Gastraum verriet ihm, dass nur wenige Tische besetzt waren. An einem servierte sein Vater gerade Pizza. Auf dem Rückweg in die Küche fragte er Marco: »Möchtest du auch etwas essen?«
»Gern«, antwortete Marco. Er hatte tatsächlich Hunger und die frische Pizza duftete lecker. »Was immer in der Küche wegmuss.« Er zwinkerte seinem Vater zu.
Kurze Zeit später rief Luigi ihn an den Tisch, an dem sie nachmittags ihren Espresso getrunken hatten. Eine frische Pizza Margarita dampfte und gerade stellte sein Vater eine Karaffe mit Wasser dazu.
»Danke Paps!« Der erste Biss erinnerte Marco an seine Kindheit. Diese Tomatensoße würde er mit verbundenen Augen aus zehn anderen herausschmecken. »Mmh!«
Sein Vater schien zufrieden mit seiner Reaktion und ging zurück in die Küche.
Während Marco aß, sah er sich im Gastraum um. Die wenigen Gäste hatten meist Pizzen oder leere Pizzateller vor sich stehen. Die anderen Tische schienen nicht besetzt gewesen zu sein und er überschlug rasch den Umsatz für den heutigen Abend. Selbst wenn er großzügig rechnete, kam wenig zusammen. Nachdem er gegessen hatte, brachte er seinen Teller in die Küche und nahm Karaffe und Glas mit ins Büro. Bis die letzten Gäste gehen würden, wollte er dort weitermachen.
Schließlich hörte er, wie sein Vater die Tür abschloss, und ging in den Gastraum.
»Papa, diese Art von Pizzeria läuft nicht mehr. Die Gäste erwarten etwas anderes, wenn sie essen kommen. Pizza in zig Variationen kann heute jeder Lieferdienst anbieten. Davon müssen wir uns abheben, wenn das Restaurant wieder voll sein soll.« Eindringlich schaute Marco seinem Vater in die Augen.
»Junge, wie lange warst du jetzt nicht hier? Zwei Jahre, drei? Und nun willst du alles umkrempeln? Das Luigis lief immer gut und die momentane Durststrecke überstehen wir auch. Es gibt mal bessere und schlechtere Zeiten.« Luigi de Luca seufzte. »Deine Ideen in Ehren, Marco, doch du kannst nicht herkommen und alles ändern.«
»Ich will nichts umkrempeln, Papa. Aber wenn ich mir die Zahlen der letzten Wochen anschaue, dann muss dringend etwas geschehen. Wovon habt ihr gelebt, Mama und du? Ich sehe weder ein Gehalt noch Privatentnahmen in den Aufzeichnungen.«
Luigi senkte betreten den Blick. Marco hatte, wie es schien, einen wunden Punkt getroffen.
»Wir waren immer sparsam«, murmelte der Vater.
Marco atmete tief durch. Kopfschüttelnd überlegte er, dass er die Unterlagen viel gründlicher durcharbeiten musste, um festzustellen, wie katastrophal es um das Ristorante seiner Familie tatsächlich stand. Sie hatten sich in den Achtzigern mit der Pizzeria selbstständig gemacht. Luigi war ein begnadeter Koch, dessen Können bei der augenblicklichen Karte überhaupt nicht zur Geltung kam. Als Geschäftsmann, so fürchtete Marco, hatte sein Vater den Betrieb schleifen lassen und längst den Überblick über Einnahmen und Ausgaben verloren.
»Was hältst du von diesem Vorschlag: Ich kümmere mich in den nächsten Tagen um deine Steuererklärung. Wenn die Zahlen wirklich so sind, wie ich befürchte, werden wir uns noch einmal unterhalten müssen.«
»Ja«, seufzte Luigi, »kümmere dich um den Papierkram. Bitte.«
Betroffen sah Marco ihm nach, wie müde er zurück in die Küche schlurfte. Ende fünfzig war sein Vater, in Deutschland geboren. Er hatte sich auf seine Wurzeln besonnen und die Pizzeria gegründet. Gerade zu Beginn hatte das Angebot mit Pizza und Pasta voll den Zeitgeist getroffen und das Ristorante bald zu einem Geheimtipp werden lassen. Aber die Konkurrenz war härter geworden, dazu die Lieferdienste. Kurz überlegte Marco, ob die Erweiterung des Angebots in dieser Richtung überhaupt infrage kam, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Das war nicht das, was er machen wollte und auch sein Vater hatte natürlich Pizza im Angebot, aber daran hing sein Herz nicht. Wie er es drehte und wendete, er musste Papa davon überzeugen, das Konzept zu ändern. Eine kleine Karte mit echten italienischen Gerichten, wie sie die Industrie nicht liefern konnte, und dazu eine Atmosphäre wie im Urlaub. Letzteres empfand er noch immer, wenn er sich im Gastraum umsah. Das Ambiente war typisch mediterran: Die Wände waren mit weißem Rauputz gestaltet, auf den Holztischen lagen rot-weiß karierte Tischdecken, aber die Einrichtung war leider in die Jahre gekommen. Auch hier würde eine behutsame Auffrischung von Nöten sein. Doch zunächst musste er den Vater überzeugen und dazu brauchte er die Zahlen. Seufzend machte er sich daran, die Belege zu sortieren und die Beträge in den Rechner zu tippen. Immer wieder schob sich die Erinnerung an jenes Telefonat in sein Bewusstsein, die ihn zurück nach Aachen gebracht hatte.
Seine Nonna hatte ihn bei seinem Onkel angesprochen und gebeten, zu seinen Eltern heimzukehren. Statt in Italien auszuhelfen, so hatte sie gedrängt, solle er sofort nach Deutschland fahren und seinen Vater unterstützen.
Für heute war jedoch Schluss, entschied Marco und verließ das Büro. Er half Luigi, die Küche aufzuräumen, und gemeinsam fuhren sie heim.
Statt wie früher bei einem Glas Wein mit der Familie zusammenzusitzen, zog sich sein Vater bald ins Bett zurück.
»Siehst du, was ich meine? Er ist anders. Alles fällt ihm schwer«, bemerkte Elena, die ihrem Mann besorgt nachsah.
Wie schlecht ging es seinem Vater wirklich? Nach einer unruhigen Nacht in seinem alten Bett nutzte Marco den Ruhetag im Ristorante, um weiter im Büro zu arbeiten.
Die frisch erhobenen Zahlen sprachen für sich. Er hasste es, seinen Vater mit diesen schlechten Nachrichten konfrontieren zu müssen. Morgen früh würde er selbst zum Großmarkt fahren, um für das Wochenende einzukaufen. Ob er Onkel Lorenzo um Hilfe bitten sollte? Der Großhändler belieferte das Luigis seit Eröffnung der Pizzeria. Aber der finanzielle Engpass war Familienangelegenheit, die selbst den Bruder seines Vaters nichts anging. Marco überlegte. Ob er trotz der angespannten Lage einfach Zutaten für neue Antipasti mitbringen sollte? Er schwankte zwischen der Ungeduld, seine Ideen in die Tat umzusetzen, und dem Wunsch, seinen Vater nicht zusätzlich unter Druck zu setzen. Aber irgendetwas musste geschehen, sonst stünde das Ristorante vor dem Aus und seine Eltern vor dem Nichts.
Stunden später knipste er das Licht in dem kleinen Büro aus und schlenderte durch den Gastraum. Im Zwielicht der Straßenlaterne, die von draußen hereinschien, sah es sehr gemütlich aus. Doch eine Renovierung schien unausweichlich. Das Weiß der Wände hatte eine graue Patina angesetzt und so ähnelte der einst so gemütliche kleine Gastraum einer dunklen Höhle. Dazu die großformatigen Bilder vom Vesuv, dunkel und bedrohlich. Marco hatte sich als Kind bei der Vorstellung gegruselt, was dieser Vulkan in früheren Zeiten angerichtet hatte. Was Ausdruck der Herkunft von Elenas Familie war, sah so gar nicht einladend und nach Urlaubsflair aus.
Auch die karierten Tischdecken schienen ihm nicht mehr zeitgemäß und mussten ohnehin ersetzt werden. Einige waren fadenscheinig und nur durch das geschickte Kombinieren seiner Mutter gelang es, diesen Umstand vor den Gästen zu verbergen. Im Kopf überschlug er die Kosten für neue weiße Tischdecken und rechnete den Preis für einige Eimer Wandfarbe dazu. Die Renovierung würde er zusammen mit seinem Arbeitseinsatz und zwei freien Tagen seinem Vater einfach zum Geburtstag schenken. So ruhig, wie es gestern gewesen war, würden zwei Ruhetage in der nächsten Woche keinen großen Verdienstausfall bedeuten. Seufzend machte er sich auf den Weg zur Wohnung seiner Eltern. Auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit ihnen hätte er gern verzichtet. Schließlich freute er sich auch, wieder nach Hause zu kommen.
»Erzähl mir von Italien«, bat Elena ihren Sohn beim Abendessen, das still begonnen hatte. »Wie geht es Rafael und seiner Familie?«
Marco freute sich über die Ablenkung und berichtete ausführlich. Er hatte nach Ende der Saison in Bozen Elenas Familie besucht und bei seinem Onkel gearbeitet. Der betrieb eine Trattoria in Scala und war somit in der Nähe seiner Mutter geblieben.
»Es ist verrückt, aber obwohl ich Andrea so lange nicht gesehen habe, ist er fast wie ein jüngerer Bruder für mich. Wir haben uns sein Zimmer geteilt und blind verstanden. Es ist ja sein letztes Ausbildungsjahr zum Koch.« Marco erzählte mit einem Schmunzeln von seiner Arbeit in Rafaels Restaurant. »Am besten hat mir gefallen, dass es im Service ohne Karte mehr zu tun gab. Den Gästen zu erklären, welches Tagesgericht es gibt, die typischen Mehrgangmenüs zu servieren, hat mir Spaß gemacht.«
»Hast du dich gut mit Onkel Rafael verstanden?«
Marco bejahte strahlend und fuhr fort: »Dagegen war das Entgegennehmen der Nummern aus der Karte in Bozen langweilig. Im Grandhotel gab es einen Sommelier, der passende Weine zum Essen empfahl, nein, er setzte seine Empfehlung meist gleich mit auf die Wochenkarte. Nach Feierabend haben wir häufiger fachsimpelnd mit der einen oder anderen Flasche beisammengesessen.«
»Man sieht dir gar nicht an, dass du zum Säufer geworden bist«, stichelte sein Vater.
»Wir haben nur Restbestände verkostet. Es wäre doch zu schade gewesen, die guten Tropfen wegzuschütten, nur weil sie zu lange offenstanden.« Marco schaute seinen Vater mit unschuldigen Augen an.
»Restbestände«, schnaubte der und schüttelte den Kopf. »Da bleibt selbst bei den hohen Gewinnspannen bei Wein nicht viel übrig, wenn die halbe Flasche in den Kehlen der Angestellten landet.«
»Sag das nicht! Eine Flasche Wein kostet im Einkauf zehn Euro …«, Marco rechnete rasch im Kopf, »… was dann im Ausschank achtundzwanzig Euro macht.«
»In der Kalkulation!«, unterbrach der Vater ihn aufgebracht. »Ihr jungen Leute kennt nur Zahlen. Wenn die Flasche aber nur zu einem Viertel verkauft wird, machst du Verlust.«
»Stimmt. Wenn ein Glas ausgeschenkt wird zu acht Euro, ist der Einkaufspreis nicht erreicht. Bei zwei Gläsern sieht das Ganze schon wieder anders aus und da kommt ja auch noch die Beratung ins Spiel.«
»Du willst also den Gästen Wein aufschwatzen, den sie gar nicht trinken wollen?« Luigi schüttelte entsetzt den Kopf und tauschte einen Blick mit Elena, die ihn tadelnd ansah.
»Nein. Ich spreche davon, eine kleine Weinauswahl zu empfehlen. Das kann ich mir auch hier gut vorstellen. Hochwertiger Wein und italienische Küche, dafür zahlen die Leute gern auch mehr, Vater.« Nachdenklich schauten sich die Männer an.
»Ich freue mich so, dass du wieder hier bist«, unterbrach Elena die Stille und legte ihrem Sohn die Hand auf dessen Unterarm. »Ich habe dich vermisst.«
Gerührt legte Marco seine Hand auf ihre und lächelte. Früher waren seine Eltern jedes Jahr nach Italien gefahren, um ihre Familie in Amalfi zu besuchen. Im letzten Jahr waren sie in Deutschland geblieben. Wenn er an die Zahlen des Nachmittags dachte, wusste er, warum.
»Ich freue mich, dass du im Ristorante mitarbeiten willst«, sagte sie.
Marco hörte seinen Vater seufzen. »Du hast doch nicht in den großen Häusern gelernt und gearbeitet, um jetzt in unserer kleinen Pizzeria anzufangen.« Luigi fixierte mit seinen dunklen Augen den Sohn. »Such dir lieber eine Stelle in einem Hotel und gründe endlich eine eigene Familie.«
»Ich freue mich, dass du hier bist«, bekräftigte seine Mutter nochmals.
Als er sie nach diesem Satz anschaute, wirkte sie ebenso dringlich. In ihrem Blick las er auch die Sorgen, die sie ihm am Telefon geschildert hatte. Sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, dem Vater nicht zu verraten, worüber sie gesprochen hatten.
»Soll ich dann morgen früh zum Großmarkt fahren?« Marco schaute wieder zu seinem Vater.
Der zuckte die Schultern mit einem Laut, der sowohl seine Resignation als auch Erleichterung ausdrückte.
»Marco! Endlich bist du zurück!« Onkel Lorenzo umarmte seinen Neffen zur Begrüßung herzlich. »Hat sich Luigi entschlossen, die Geschicke der Pizzeria in deine Hände zu übergeben?«
»Nein, das hat er nicht, aber er schien durchaus nicht abgeneigt, dass ich zumindest den Einkauf übernehme.«
»Und? Wirst du den Einkauf übernehmen?« Der Ältere musterte ihn eindringlich, dass Marco das Gefühl bekam, er wisse um die Situation im Ristorante.
Nach kurzem Überlegen antwortete er daher: »Heute werde ich noch einmal die üblichen Sachen mitnehmen.«
Lorenzo de Luca nickte mit nachdenklichem Blick. »Rom wurde auch nicht in einem Tag erbaut. Bleib dran, Junge!«
Erst beim Einräumen der Kisten in der Küche des Luigis fiel Marco auf, dass neben den von ihm selbst eingepackten Gemüsesorten noch Auberginen, Zucchini und eine Kunststoffschale darin waren. In einer milchigen Flüssigkeit schwammen drei weiße Kugeln und Marco hatte einen Verdacht, um was es sich handelte. Vorsichtig öffnete er den Deckel und schnupperte. Tatsächlich, sein Onkel hatte ihm seinen geliebten Büffelmozzarella eingeschmuggelt. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte Lorenzos Nummer.
»Nein, ich habe mich nicht vertan«, sagte dieser statt einer Begrüßung.
»Du hast meinen Anruf erwartet?«
»Klar«, lachte der Ältere. »Ich kenne meinen Bruder. Sag ihm einen schönen Gruß, die Kleinigkeiten sind zur Feier deines Heimkommens gedacht. Er soll etwas Leckeres daraus zaubern.« Damit wurde aufgelegt.
Marco rieb sich über die Augenbrauen. Auch wenn dies genau seinem Wunsch entsprach, hatte er doch etwas behutsamer auf seinen Vater einwirken wollen.
»Konntest du meine Liste nicht lesen?« Luigi stand mit dem Büffelmozzarella in der Hand in der Küche. Mit gerunzelter Stirn wartete er, was sein Sohn zu sagen hätte.
Der wiederholte, was sein Onkel ihm aufgetragen hatte.
»Und das soll ich dir glauben?«
»Du kannst ihn ja noch einmal anrufen. Ich habe es gerade getan, weil ich dachte, dass ihm ein Fehler unterlaufen sei.«
»Also war das Lorenzos Idee?«
Marco hob die Schultern und verdrehte die Augen. »Du kennst deinen Bruder länger als ich.« Damit verließ er die Küche und holte die letzte Kiste aus dem Auto. Als er zurückkam, schnupperte Luigi an dem Mozzarella und grinste freudig.
»Das ist schon was Feines«, murmelte er und packte die Dose in den Kühlschrank. »Hast du einen Wunsch, was ich aus der Aubergine oder der Zucchini machen soll?«
»Ich liebe es, wenn du die Scheiben einfach in Olivenöl mit Knoblauch anbrätst«, antwortete Marco. »Vielleicht sollten wir kleine Portionen davon als Gruß aus der Küche anbieten?«
»Fängst du schon wieder an?«
»Papa, wenn sich nicht grundlegend etwas ändert, musst du das Luigis bald schließen.«
»So schlimm steht es?« Luigis Gesicht war bleich geworden.
Marco nickte zur Bekräftigung. »Wir können mit einer kleinen zusätzlichen Wochenkarte beginnen, aber dann müssen wir deine Karte gründlich überarbeiten und vor allem neu kalkulieren. Die Preise hast du seit meinem Weggang nicht mehr verändert, oder?«
»Dann gibt es heute Mittag gebratenes Gemüse«, lenkte der Vater ab. »Hilfst du mir in der Küche oder gehst du gleich wieder an die Buchhaltung?«
»Wenn ich darf, würde ich gern mit dir gemeinsam kochen – wie früher.« Als Kind war es für Marco das Größte gewesen, mit seinem Vater die Vorbereitungen für den abendlichen Restaurantbetrieb zu treffen. Er hatte sich die Handgriffe zur Bearbeitung des Gemüses bei ihm abgeschaut, auch wenn er dann gemerkt hatte, dass es ihn eher in den Service als in die Küche zog. Marco machte sich daran, die Auberginen zu waschen und in Streifen zu schneiden, bevor er sie mit Salz bedeckte und beiseitestellte. Dann griff er zur Zucchini und schnitt auch sie längs in Scheiben.
»Ein schönes Bild, Vater und Sohn bei der gemeinsamen Arbeit wie früher.«
Die Stimme seiner Mutter riss Marco aus seiner Versunkenheit.
»Soll ich mich um unser Mittagessen kümmern?«
»Marco hat sich gegrilltes Gemüse gewünscht. Lorenzo hat ihm ein paar Zutaten für ein Willkommensessen mitgegeben. Machst du uns ein Caprese dazu?«
Gemeinsam arbeiteten die drei Hand in Hand weiter. Während Luigi das Gemüse auf den Grill legte, bereitete Marco die Zutaten für die verschiedenen Pizzen vor.
Währenddessen breitete sich langsam der würzige Duft von Knoblauch und Röstaromen vom Grill her aus. Luigi briet die Gemüsescheiben, während Marco den Tisch deckte. Er war überrascht, als sein Vater kurze Zeit später einen Teller mit kunstvoll arrangierten Antipasti dazustellte.
Einen Moment schauten sich die Männer in die Augen. Der Vater lächelte zurückhaltend.
»Sieht toll aus und duftet wunderbar.« Die Zucchinistreifen zeigten ein deutliches Grillmuster und waren in Schleifen zusammengelegt, die sich mit den Auberginen zu einem kleinen Kunstwerk vereinten.
Seine Mutter stellte einen großen Teller Caprese dazu und zauberte eine Flasche Wein hervor, was Marco überrascht innehalten ließ.
»Wenn schon, denn schon, oder?« Sie schenkte jedem ein kleines Glas Rotwein ein, bevor sie sich setzten und zugriffen.
Marco schloss genießerisch die Augen. Der köstliche Duft dieser einfachen Speisen versetzte ihn zurück nach Italien. Er meinte fast wärmende Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren.
»Wo bist du gerade?«, fragte seine Mutter belustigt.
»Vor ein paar Jahren hast du bei Nonna im Garten Gemüse gegrillt, die Sonne schien und wir haben in großer Runde beim Abendessen beisammengesessen. Daran musste ich gerade denken.«
Glitzerten da Tränen in den Augen seiner Mutter? Sicher war es ihr nicht leichtgefallen, auf den Besuch ihrer Familie zu verzichten.
»Es sind nicht die großen komplizierten Gerichte, die für mich den Reiz der italienischen Küche ausmachen. Das habe ich in Bozen gelernt. Einfache, ehrliche Speisen, authentische Küche aus der Gegend um Neapel.« Wieder schaute er seinen Vater an, der unmerklich nickte.
Schweigend genossen sie ihr gemeinsames Mittagessen und während die Eltern nach Hause gingen, um am Abend ausgeruht zu sein, nahm sich Marco die Steuererklärung vor. Auch das kleine Büro im Ristorante war durchzogen von dem feinen Duft des Essens. Er hoffte, dass sein Vater nun nicht länger abgeneigt war, am Konzept des Luigis etwas zu verändern.
Secondo piatto
»An dir ist eine Köchin verloren gegangen«, kommentierte Marlies Schmitz das geschäftige Treiben ihrer Tochter. Diese schnitt nach Möhren und Zwiebeln gerade Staudensellerie in exakt gleich große Würfel.
Verwundert hob Marie den Kopf. »Wieso das?«
»Wenn ich mir deine mitgebrachten Einkäufe so anschaue, gibt es heute ein 4-Gänge-Menü, vermutlich mit Salat, Risotto und Ossobuco. Habe ich recht?«
Marie lachte. »Stimmt. Nicht zu vergessen, der Nachtisch. Ohne ihn kein Menü.«
Marlies nickte und schaute sich suchend um. »Was hast du denn geplant? Etwas mit Schokolade?« Sie kannte schließlich ihre Tochter gut genug.
»Erwischt. Ja, ich will nachher einen Schokoladenkuchen backen.«
Marlies verzog anerkennend den Mund. »Da hast du dir ja ganz schön was vorgenommen. Ich hatte mich schon gewundert, als du dich für acht Uhr angekündigt hast. Kann ich dir helfen?«
»Ja, ich brauche den gusseisernen Bräter für das Ossobuco. Wo steht der?«
»Das schwere Ding? Den benutze ich so selten, dass ich ihn in den Keller verbannt habe. Soll Papa ihn hochholen?«
»Das wäre super, dann kann ich die letzten Zutaten vorbereiten.«
»Reiner?«, rief Marlies und verließ die Küche, um ihren Mann zu instruieren.
Wenige Minuten später, Marie spülte gerade das Messer, mit dem sie zuletzt die Dosentomaten klein geschnitten hatte, wuchtete ihr Vater den großen Bräter auf den Küchentisch. Er ächzte theatralisch, grinste dann aber und umarmte seine Tochter.
»Guten Morgen Marie, Mama hat mir gesagt, was du Leckeres vorhast. Ich freue mich schon auf das Essen!«
Mit einem gemurmelten, er wolle nicht weiter stören, ließ er seine beiden Frauen in der Küche allein.
Marie spülte den schweren Eisentopf aus und stellte ihn auf den Gasherd. Sie tröpfelte Olivenöl hinein, um die Beinscheiben anzubraten, und kurze Zeit später durchzog ein köstlicher Duft die Küche. Gemüse und Gewürze gab Marie erst in den Topf, als das Fleisch auf einem Teller neben dem Herd ruhte. Mit Rotwein löschte sie den Ansatz ab und fügte Fleisch und Tomaten hinzu.
Jetzt musste alles in den Ofen. Mit Inhalt war der Bräter noch einmal deutlich schwerer als vorher und sie hielt unbewusst den Atem an, bis sie ihre Last auf dem Rost platziert hatte. Aufatmend schloss sie die Ofentür.
»Jetzt wäre erst mal Zeit für einen Kaffee, oder?« Die Mutter hatte in der Zwischenzeit Brettchen und Messer gespült und füllte nun die Kaffeemaschine. »Du hast hier noch Gemüsewürfel übrig«, meinte sie verwundert. »Was hast du mit denen vor?«
»Die kommen ins Risotto. Ich habe ein Rezept gefunden mit Möhren, roter Beete und Gremolata.«
Drei Stunden später saß Familie Schmitz gemeinsam am Tisch. Gemäß der Tradition trafen sich alle an jedem zweiten Sonntag bei den Eltern nahe der Kölner Altstadt, obwohl Marie und ihr Bruder Ende zwanzig waren und längst in eigenen Wohnungen lebten. Gekocht wurde reihum und heute war eben Marie an der Reihe.
Zum Salat gab es frisch aufgebackenes Brot. Zum zweiten Gang gab sie über den Reis jeweils vom gedünsteten Wurzelgemüse. Als Topping fügte sie noch Gremolata hinzu, eine duftende Mischung aus Zitronenabrieb und fein gehackter Petersilie mit einem Hauch Knoblauch. Auch etwas Parmesan kam noch extra obenauf.
»Das duftet ja wunderbar«, meinte die Mutter, als Marie ihr einen Teller servierte.
»Wo ist denn das Fleisch?«, neckte ihr Bruder sie.
»Daniel, du kennst das doch aus Italien: Antipasti, Primo piatto, Secondo piatto. Das Fleisch gibt es im nächsten Gang.« Mit diesen Worten setzte sich Marie und wünschte den anderen einen guten Appetit.
»Also gibt es heute drei Gänge?«, hakte Daniel nach.
»Vier«, korrigierte die Mutter, »lass dich überraschen.«
Stille senkte sich über den Tisch, während sie ihr Risotto verspeisten. Danach verschwand Marie wieder in der Küche und nahm den Bräter aus dem Ofen. Als sie den Deckel lüftete, breitete sich der Duft in der Küche und dem angrenzenden Esszimmer aromatisch aus.
»Das riecht gut!«, rief ihr Bruder von nebenan.
»Einen Moment musst du dich noch gedulden, Daniel«, entgegnete sie lachend. Sie hatte die Terrine vom Küchenschrank geholt und füllte nun Fleisch und Soße um. Auch hier verteilte sie einige Löffel von der Gremolata, deren feines Aroma sich mit dem vom Ossobuco vermischte. Noch einmal sog sie den Duft ein, dann nahm sie die Schüssel an den Henkeln und trug sie nach nebenan. Zwischen ihren Eltern hindurch reckte sie sich, um die Terrine auf der Tafel abzusetzen. In diesem Moment brach einer der beiden Henkel ab. Das Gefäß, jetzt nur noch an der einen Seite gehalten, neigte sich und ein Schwall roter Soße, Fleischstücke und Knochen ergoss sich über den Tisch auf ihren Bruder zu.
»So eilig hatte ich es nun auch nicht«, kommentierte Daniel das Malheur.
Marie war starr vor Entsetzen. Sie glotzte auf das Essen, beide Teile der Terrine fest in den Händen haltend.
Marlies war aufgesprungen und löffelte gemeinsam mit Daniel das Essen von der Tischdecke auf die Teller.
»Jetzt steh doch nicht einfach so herum!«, schimpfte ihre Mutter.
Ohne ein Wort brachte Marie die leere Terrine zurück in die Küche. Als sie diese vorsichtig auf der Arbeitsfläche absetzte, zitterten ihre Hände. Sorgfältig legte sie den abgebrochenen Henkel neben die Schale und wischte sich über ihre brennenden Augen. Vier Stunden Arbeit und nun das! Kein perfektes Dinner, sondern eine riesige Sauerei und kaputtes Familienporzellan. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Zurück am Tisch, sah sie die anderen ganz entspannt essen. Fassungslos verfolgte Marie, wie sie es sich mitten im Chaos schmecken ließen. Ihr selbst war der Appetit gründlich vergangen.
»Es tut mir leid, dass ich deine Tischdecke ruiniert habe«, sagte sie leise.
Ihre Mutter lächelte ihr aufmunternd zu. »Ach was, ich bin selbst schuld. Mir ist beim Putzen eine der Ölflaschen auf den Henkel gefallen. Er war glatt abgebrochen und ich habe ihn angeklebt, ohne mir weitere Gedanken zu machen. Ich habe wohl den falschen Kleber genommen.«
Der erste Schreck schien vergessen und die beiden Männer amüsierten sich sichtlich über die Situation, was Marie nicht besonders erbaulich fand. Lustlos stocherte sie in ihrem Teller herum, die große Freude auf das geliebte Schmorgericht war dahin.
»Marie, es ist wirklich gelungen, dein Ossobuco. Sehr lecker.« Reiner drückte kurz ihre Hand und sie lächelte gequält.
»Nach dem Hauptgang räumen wir den Tisch ab und werden den Nachtisch ganz in Ruhe genießen, ohne Blick auf das hier«, bot ihre Mutter an.
Der Nachtisch! Marie sprang entsetzt auf und stürzte in die Küche. Den Schokoladenkuchen hätte sie fast vergessen. Gerade noch rechtzeitig nahm sie ihn aus dem Ofen und stellte ihn zum Abkühlen auf ein Gitterrost. Bevor sie wieder zu den anderen ging, atmete sie einmal tief durch und drängte die Tränen der Enttäuschung zurück. Ihre Mutter schien ihr nicht böse zu sein, zum Glück! Was war dagegen der eigene Anspruch an das aufwendige Menü? Wieder im Esszimmer musste sie gegen ihren Willen schmunzeln beim Blick auf ihren älteren Bruder, der genüsslich die Fleischstücke von der Tischdecke aufklaubte und aß.
»Lecker«, kommentierte er undeutlich, woraufhin Marie nun selbst zur Gabel griff und zu essen begann. Als das verunglückte Fleisch vom Tischtuch leer gegessen war, standen alle wie auf ein geheimes Zeichen auf, um abzuräumen. Marlies raffte die Tischdecke zusammen und legte sie zum Einweichen in die Badewanne.
»Meinst du, die ist noch zu retten?« Marie schaute ihrer Mutter über die Schulter.
»Ich werde sie waschen und dann sehen wir weiter. Im Zweifelsfall färbe ich sie ein. Komm, wir decken jetzt den Tisch neu und genießen die Schokoladentorte.«
Schokolade! Das klang gut in Maries Ohren, genau das brauchte sie jetzt. Seufzend hakte sie sich bei ihrer Mutter ein und gemeinsam gingen sie zurück ins Esszimmer, wo die Männer bereits dabei waren, den Tisch neu zu decken.
»Das ist Polizeimeister Frings«, stellte Marie den Gast in der Kita Heinzelmännchen vor. Sechs Paare großer Kinderaugen blickten an dem gemütlich aussehenden Polizisten in Uniform hinauf. »Und das«, sie umfasste mit einer Geste die kleine Kinderschar, »sind unsere angehenden Schulkinder.«
»Dann seid ihr also die Großen hier in der Kita?«
Die Kinder nickten eifrig.
Marie schmunzelte. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, wie die Kids auf einen Mann in der Kita reagierten. Wenn dann noch ein gestandener Polizist in Uniform auftauchte, galt ihm die gesamte Aufmerksamkeit.
»Seid ihr bereit, mit mir einen kleinen Ausflug zu machen?«, fragte er mit tiefer Stimme.
»Ja!«, scholl es ihm mehrstimmig entgegen.
Mit einem fragenden Blick auf Marie, die lächelnd nickte, fuhr er fort: »Dann geht es jetzt los.«
Gemeinsam gingen sie in ein angrenzendes Wohngebiet, dort in der Dreißigerzone versammelte er die Kinder um sich.
»Wer weiß denn schon, wie man allein die Straße überquert?«
»Wir sind doch keine Babys mehr«, protestierte Simon. Der blonde Junge war einen halben Kopf größer als seine Kameraden.
»Kannst du uns zeigen, wie es geht?«, nahm Frings den Zwischenruf auf.
»Klar.« Simon trat an den Bordstein, schaute nach links, nach rechts, wieder nach links und ging dann über die Straße auf den anderen Bürgersteig gegenüber.
»Gut gemacht!«, lobte der Polizist. Zu Marie sagte er: »Nehmen Sie die Übrigen drüben in Empfang? Dann bleibe ich hier bei den Kindern.«
Drüben angekommen, drehte sie sich um. »Habe ich alles richtig gemacht?«
Wieder bejahten die Kinder. Nun durfte einer nach dem anderen zeigen, wie man sich verhält, wenn man die Straße überqueren will, vom schüchternen Yves über die quirlige Emma bis zur stillen Nina absolvierten alle die Aufgabe mit großer Ernsthaftigkeit, genauso Nils und Greta. Der Polizist schaute ja schließlich zu. Marie dachte wieder einmal bei sich, dass sie selbst wohl nicht diese ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen hätte bei einem so alltäglichen Thema.
»Hey, hier liegt ja ein Euro, wer hat den denn verloren?«
Ehe Marie reagieren konnte, war die Hälfte der Gruppe wieder hinübergerannt, dieses Mal, ohne zu schauen. Jedes Jahr rutschte ihr kurz das Herz in die Hose, auch wenn sie wusste, dass der Polizist nur dann die Kinder heranlockte, wenn er sicher war, dass ihnen nichts passieren konnte.
»Wo ist denn der Euro?«, fragte Simon in diesem Moment. Er stand mit seinem Freund Yves und Emma neben dem Polizisten und suchte den Boden ab.
»Was habt ihr denn gerade getan?« Herr Frings versammelte die drei Kinder um sich.
Yves starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Wir haben gar nicht geschaut«, flüsterte er.
»Ja, ihr drei habt euch von mir reinlegen lassen. Es gibt hier gar keine Euromünze«, wandte er sich an Simon, der verärgert das Gesicht verzog. »Das war ein Trick, um zu sehen, ob ihr nur wisst, wie ihr euch im Straßenverkehr zu verhalten habt oder ob ihr es auch wirklich immer richtig macht. Mir scheint, wir müssen da noch ein bisschen üben, oder was meint ihr?«
»Papa, der Polizist hat uns belogen!« Simon baute sich immer noch entrüstet vor seinem Vater auf und stemmte die Hände in die Seiten. »Der hat behauptet, einer von uns hätte Geld verloren. Aber als wir bei ihm waren, war da gar kein Geld!«
Simons Vater schaute irritiert. »Was für ein Polizist denn?«
»Na der Herr Frings war heute Morgen da und wir haben mit ihm einen Ausflug gemacht. Und da hat er uns belogen.«
Hilfesuchend blickte Jens Herler auf die Erzieherin seines Sohnes.
»Vielleicht solltest du deinem Vater erst einmal erzählen, warum wir überhaupt mit dem Polizisten unterwegs waren, Simon.«
»Der wollte, dass ich ihm zeige, wie man über eine Straße geht. Das ist doch Babykram, das weiß ich schon hundert Jahre.«
»Und dann?«, fragte Marie weiter.
»Dann hat der das von dem Euro gesagt und dann sind wir zu ihm gelaufen, aber da war gar kein Euro.« Simons Entrüstung bröckelte. Unsicher schaute er zu Marie auf. Würde sie ihn verpetzen?
»Erzähl weiter!«, forderte sie ihn auf.
Nach einem bösen Blick zu ihr fuhr er fort: »Wir sind alle, ohne zu gucken, über die Straße gerannt.« Er hielt den Kopf gesenkt und wartete augenscheinlich darauf, dass sein Vater ihn ausschimpfen würde.
»Überhaupt nicht geguckt?« Jens Herler tauschte über den Kopf seines Sohnes einen kurzen Blick mit Marie, die abwartend zuhörte.
»Nö.«
»Mhm«, sagte der Vater. »Kannst du dir vorstellen, dass der Herr Frings euch genau das zeigen wollte? Dass ihr immer gucken müsst, egal was auf der anderen Seite der Straße gerade los ist?«
»Das war fies.«
Marie hörte aber nicht weiter zu. Sie hatte erreicht, was sie wollte – nämlich, dass Simons Verhalten heute Morgen noch einmal Thema zwischen ihm und seinem Vater war. Sie vermutete, dass Herr Herler seinem Sohn noch mal ins Gewissen reden würde und das fand sie okay. Gegenüber dem Polizisten hatte sich der Junge nicht einsichtig gezeigt.
Auf dem Weg zurück in den Gruppenraum wurde sie aufgehalten.
»Frau Schmitz?«
Hinter ihr stand Jens Herler. Er wirkte verlegen.
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
Marie runzelte die Stirn, bedeutete ihm aber weiterzusprechen.
»Jetzt, wo Simon bald den Kindergarten verlassen wird, wollte ich fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, etwas mit mir zu unternehmen.«
Überrascht musterte sie den Mann, den sie nun schon seit Jahren kannte. Er hatte nie erkennen lassen, dass er Interesse an ihr hatte. Natürlich hatten sie sich regelmäßig unterhalten und sie wusste, dass er alleinerziehend war, aber meist war es in ihren Gesprächen um Simon oder allgemeine Themen gegangen.
Einerseits freute sie sich über dieses Interesse, andererseits wollte sie grundsätzlich keine Beziehung zu einem Elternteil eines Schützlings. Dunkelblaue Augen waren hoffnungsvoll auf sie gerichtet. Sein Sohn war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und hatte die gleiche Augen- und Haarfarbe. Jens Herler trug seine blonden Haare modisch kurz und gekonnt verwuschelt. Er sah attraktiv aus, dachte sie nicht zum ersten Mal.
»Was schwebt Ihnen denn vor?«, fragte sie.
»Spazieren in der Groov, Rudern oder Minigolf?«
Das klang eher nach Familienausflug als nach Date. Die Groov war eine Halbinsel im Rhein mit verschiedenen Freizeitangeboten. Vielleicht sollte sie wirklich mal über ihren Schatten springen und sich verabreden.
»Wann?«
»Passt es Ihnen am Samstag in einer Woche? Wir könnten uns dort treffen und je nach Wetter entscheiden, worauf wir Lust haben und dann Kaffee trinken. – Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass Simon uns begleitet.«
Vielleicht war das für ein Kennenlernen gar nicht so schlecht, dieser gemeinsame Ausflug.
»Ich denke darüber nach«, erwiderte sie.