Leseprobe Zitronenduft und Sommerglück

1. Die Sache mit dem Zimmer

Die Sonne schien an diesem Tag so heftig, dass sich Dampf vom Asphalt der Straße abhob. Cleo atmete tief ein. Ihr Blick fiel auf die ersten Palmen, die sie begrüßten, als würde sie gleich ein Tropenparadies erreichen. Aber es war viel mehr als das. Es war Nostalgie! Es war die Romantik der kleinen Gässchen mit ihrem Kopfsteinpflaster. Es waren die vielen kleinen Häuser in unzähligen Farbfacetten und all die liebevoll arrangierten Dekorationen, die Cleo ins Herz geschlossen hatte. Italien! Italien hatte nach ihr gerufen und sie wusste, es würde sie retten.

Die Luft, die durch das geöffnete Autofenster hereinwehte, brachte keine wirkliche Abkühlung. Es war unendlich stickig hier drinnen und der Schweiß stand auf Cleos Stirn, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

Nervös rückte sie den Saum ihres bunten Kleides zurecht. Ihr Ziel rückte näher. Der Taxifahrer erwiderte ihr Lächeln über den Rückspiegel. Er erkannte Cleos euphorische Vorfreude, mit der sie sich wie mit einem Schleier einwickelte. Er nickte und lachte.

Cleo roch den Duft der Freiheit, während der Wagen sie auf der Gardesana, der Küstenstraße des berühmten Gardasees, weiter voranbrachte.

Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Augen fingen die Umgebung mit einem Leuchten ein, das einfach nur ehrlich war. Sie beobachtete eine junge Frau, die gerade tankte. Cleo strahlte zuversichtlich. Es fühlte sich wie Heimkommen an, obwohl sie dieses bezaubernde Land mit seinen verträumten Landschaften bisher erst einmal besucht hatte.

Und da war sie!

Cleos Herz bebte. Sie rieb unruhig über ihre Finger.

Die Kugel!

Wie konnte eine simple Kugel ein Herz nur so springen lassen!?

Limone Sul Garda!

Die Kugel, die in den Abenden ihrer Erinnerung so schön bunt beleuchtet gewesen war, begrüßte sie neben dem Schriftzug ihres Urlaubsortes.

Urlaub?

Zugleich fiel ihr Blick auf das mächtige Bergmassiv, das Limone umgab und schon damals so beeindruckend auf sie gewirkt hatte.

Und plötzlich war alles wieder da, was sie mit wehendem Freiheitsschleier abgewehrt hatte – Greg!

Bilder strömten durch ihren Kopf und sie war aufs Neue mittendrin in dem, was sie verdrängen wollte.

Schmerzhaft biss sie die Zähne zusammen, während ihre Finger sich in ihre Oberschenkel bohrten.

Greg hatte Italien damals zu seinem Land gemacht. Er hatte nicht nur darüber entschieden, wohin ihre Ausflüge gingen, sondern auch darüber, wie lange sie zu dauern hatten und wie ihre kulinarische Untermalung auszusehen hatte. Cleo war immer nur das hübsch aussehende Zubehör gewesen, dessen Meinung nicht zählte. Und vor allem hatte Greg kein Auge für all die Schönheit im Kleinen gehabt. Cleo hingegen liebte die Details und handelte es sich dabei auch nur um liebevoll dekorierte Schaufensterauslagen. Er liebte stets das Große, ob nun hier oder in ihrem gemeinsamen Leben. Und obwohl er wusste, dass Cleo an Höhenangst litt, hatte er für ihren gemeinsamen Liebesurlaub das höchste Berghotel mit der gefährlichsten Auffahrt gewählt. Nie wieder wollte Cleo das erleben! Und in diesem Versprechen lag viel mehr als nur die unschöne Erinnerung an einen Urlaub, der niemals zurückkehren sollte.

Selbstbestimmung! Freiheit!

Cleo wollte ihren Schleier gedanklich zurückholen und sich darin einhüllen. Doch die Erinnerung an ihr Trauma war viel zu frisch und viel zu nah, als dass sie die Fetzen in ihrem Kopf verdrängen konnte.

So dicht, wie der prachtvolle Felsen nun vor ihr lag, so nah waren die Bilder und Worte, die sie nun einholten.

 

„Greg, ich habe eine besondere Überraschung für dich“, flüsterte Cleo immer wieder vor sich her, während der Fahrstuhl sie in den dritten Stock hinaufbrachte. Ihre Hände zitterten nervös. Sie trug das schwarze kurze Kleid, in dem sie aussah wie die Business-Lady, die sie bald werden würde. Die Zeit als No-Name-Sekretärin hatte bald ein Ende. Greg und sie waren bald nicht mehr nur privat das absolute Dreamteam. Sie würde Greg in die Geschäftsführung der Firma ihres Vaters folgen. Alleine konnten sie jeweils viel erreichen, aber zusammen waren sie einfach unschlagbar. Cleo und Greg waren vorausschauende Planer und surften stets gekonnt auf der gleichen Welle, was sicher von Vorteil für ihre Geschäftsbeziehungen war. Manchmal glaubte Cleo sogar, Gregs Gedanken im Voraus zu kennen. Und nun: Geschäftsführung!

Cleo schob die Worte ihrer Mutter im Kopf beiseite, die sich all die Jahre eingebrannt hatten: „Greg benutzt dich nur, um über Papa an die Firma zu kommen.“

Nein!

Das stimmte nicht. Greg war der perfekte Geschäftsführer. Er konnte gut reden und dadurch jeden von seinem Standpunkt überzeugen. Sein Charme war der Grund dafür, warum er die Position bekommen hatte. Und nur deswegen.

Cleo warf ihrem Spiegelbild das schönste Lächeln zu. Verführerisch strich sie sich über die roten Lippen. Sie hatte lange keinen Lipgloss mehr aufgelegt, aber heute war ein besonderer Tag. An ihrem ersten Urlaubstag würde sie Greg zu einer ganz romantischen und sinnlichen Mittagspause einladen.

Sie warf ihr langes Haar zurück, das sich rotblond auf ihrem Rücken wellte.

Der Picknickkorb in ihrer Hand wurde immer schwerer, je mehr die Aufregung wuchs. Wie würde Greg wohl reagieren? So bestimmend kannte er seine Cleo schließlich nicht.

Der Fahrstuhl hielt. Die Türen öffneten sich und fast hätten die hohen Absätze ihrer Pumps alles zunichtegemacht. Ihre Lieblingssandalen wären ihr jetzt lieber gewesen. Aber für den besonderen Augenblick wollte Cleo natürlich edel und in sexy Schuhen erscheinen. Allerdings gelang das elegante Auftreten nicht ganz so stilvoll wie geplant und Cleo fühlte sich eher, als ginge sie auf Stelzen. Mit ein bisschen Konzentration würde es doch bestimmt besser gehen und vor allem leiser! Dieses laute Klackern auf den Fliesen im Flur war nämlich ganz schön verräterisch. Lächelnd und selbstbewusst marschierte sie auf das Büro des Geschäftsführers zu – Gregs Büro.

Sie legte ihre Hand auf die Klinke und schluckte noch einmal schwer. Aufregung war ein mächtiges Ding. Cleo lachte in sich hinein.

Sie öffnete die Tür.

Was?

Nein!

Wie?!

Mit einem Knall landete der Picknickkorb auf den Fliesen. Cleos Mund stand offen.

Auf dem Tisch!

Greg!

Und eine Frau!

Auf dem Schreibtisch!

Cleos Herzschlag setzte aus. Hitze schoss in ihr Gesicht. Diese Pose war eindeutig. Die Dame in Lila stellte alles zur Schau. Was waren Cleo, ihre Liebe und ihr dummer Picknickkorb gegen das Geschenk, das dieses Schreibtisch-Luder ihm da bot?! Einen Quickie und das in verdammt unpassender Umgebung! Und Greg war bereit, das Geschenk anzunehmen. Er war voll dabei. Ganz eindeutig! Blonde Haare! Unmenge an Make-up! Ein viel zu weit ausgestelltes Dekolleté!

Der Pferdeschwanz der verhassten Schönheit wippte noch, als Greg Cleos Anwesenheit bemerkte. Verlogener Arsch!

Zuckersüße Überraschung? Fehlalarm!

Schau mich ruhig so entsetzt an, du verdammter Mistkerl!

Sein Gesicht glühte hochrot und mit Sicherheit nicht nur wegen seiner sportlich-intimen Aktivität. Schweiß trat auf seine Stirn und auf seinem halb geöffneten weißen Hemd zeichneten sich deutlich Flecken ab.

Cleo starrte noch immer auf den weit geöffneten Ausschnitt der Frau in Lila. Heftig sah sie den lila Diamanten ihrer Kette durch ihren erhitzten Herzschlag beben.

„Cleo! Warte!“

Doch es war längst zu spät. Cleo überwand ihre Starre und stieß einen entsetzten Schrei aus, während ihr Teint eine blasse Farbe annahm. „Ahhhh!“

Sie kehrte um.

Sie rannte.

Planlos.

Einfach weg.

Dorthin.

Zum Ausgang.

Natürlich.

Schneller.

Nur weg!

Der Ausgang!

Irgendetwas zerbrach in Cleo. Dreamteam! Greg und Cleo. Hand in Hand, zusammen stark. Von wegen stark! Cleo biss sich auf die Lippe und sie wusste nicht, ob gerade der Schmerz überwog oder die Wut. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Reine, anständige Unternehmerweste, glückliche Beziehung! Sie verzog mürrisch den Mund.

Und plötzlich fühlte sie sich als Fremde im Unternehmen ihres eigenen Vaters. Warum? Weil dort oben Dinge vor sich gingen, über die sie keine Macht hatte?

Cleos Gedanken stürmten durcheinander. Gedanklich sah sie sich in Gregs Arm in ihrem gemeinsamen Bett: „Kannst du wieder nicht schlafen? Komm, ich helfe dir dabei ein paar Schäfchen zu zählen!“

Dieser Satz von Greg drang in ihren Kopf und sie schüttelte ihn angewidert. Denn natürlich wollte er damals keine Schäfchen zählen. Und das tat er im Moment erst recht nicht!

Die frische Luft, die Cleo vor dem Gebäude entgegen wehte, stoppte das Gedankenkarussell nicht. Er war doch ihr Greg und sie seine Cleo!

Verdammter Mistkerl!

Warum hatte sie ihm nicht all die Vorwürfe an den Kopf geworfen, die ihr nun in den Sinn kamen?

Jämmerlicher Betrüger!

Ihr wurde übel beim Gedanken daran, wie Greg sie berührt hatte. Nun tat er mehr als das bei einer anderen Frau.

 

Wer war eigentlich diese Frau in Lila? Etwa die Studentin, die in der Buchhaltung aushalf? Cleo war sich fast sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Cleo war fünfundzwanzig Jahre alt. Die Blondine sah wesentlich jünger aus, auch wenn sie sich reifer angeboten hatte, wenn man unter reifer verstand, sich auf der Tischplatte zu präsentieren.

Reifer?! Nein! Verdammt unreif! Falsch! Billig!

Cleo hatte keine Sekunde gezögert, hatte ihren Koffer gepackt und die gemeinsame Wohnung verlassen. Zahlreiche Bewerbungen um einen neuen Job waren in den virtuellen Briefkästen verschiedener Unternehmen gelandet, damit sie bald nicht mehr Seite an Seite mit Greg im Familienbetrieb arbeiten musste. Lieber wagte sie irgendwo einen Neustart, als ihrem Vater erklären zu müssen, warum plötzlich Distanz und Kühle zwischen ihr und Greg herrschte. Traumpaar ade!

Ihr Vater hielt verdammt viel von Greg, dem Boss mit Charme. Cleo wollte keine Auseinandersetzungen, nicht mit ihrem Vater und auch nicht mit Greg, der bei Offenbarung der Wahrheit ihrem Vater gegenüber vermutlich sofort seinen Top-Posten verlieren würde. Wahrscheinlich würde Greg seinen Seitensprung sogar herunterspielen. Hatte Cleo vielleicht sogar Angst davor, dann wieder schwach zu werden?

Verdammt, Cleo! Nein!

Würde ihr Vater ihr womöglich sogar unterstellen, sie hätte etwas fehlinterpretiert?

Nein!

Keine Fehlinterpretation konnte das schönreden, was sie gesehen hatte: Greg in Aktion!

Das Auto fuhr langsamer. Der Fahrer nickte Cleo im Rückspiegel zu und nun sah Cleo ihr Ziel. Das Hotel Limone wartete auf ihre Ankunft.

„Limone ist ein wunderschöner Ort. An jeder Straßenecke gibt es etwas zu entdecken. Wir haben sogar ein kleines Museum, das sich der Salami widmet“, sagte der dunkelhaarige Mann.

„Wirklich? Ein Wurstmuseum?“, fiel Cleo in sein Lachen ein.

„Ich gebe zu, es gibt schönere Touristenattraktionen“, fügte er hinzu und schenkte Cleo ein amüsiertes Augenzwinkern. Cleo holte entspannt Luft und ließ sich tiefer in den Rücksitz sinken. Das nette Witzeln während ihrer Anreise ließ doch tatsächlich das traumatische Erlebnis weit weg erscheinen. Sie bogen in eine Auffahrt ein und rollten auf einen Parkplatz.

Als Cleo nun auf die gelbe Fassade des kleinen Hotels mit dem Bergpanorama im Hintergrund schaute, fühlte es sich an, als streifte sie die Vergangenheit gänzlich ab.

Italien! Sie würde Italien zu ihrem Urlaubsland machen.

Ihr Blick wanderte über die kleinen nostalgischen Balkone ihrer Unterkunft und gedanklich malte sie mit ihren Fingern die Buchstaben der Hotelreklame nach.

„Limone“, flüsterte sie leise und der Fahrer lachte über ihre Begeisterung, die sich in einem glücklichen Strahlen zeigte.

„Wir sind da.“

Ein leichter, warmer Wind bewegte das Grün der Zypressen neben dem Parkplatz, während einige Touristen ihr Gepäck zur Abreise in einen anderen Wagen luden.

Cleo hatte keine Ahnung, was nach diesem Urlaub auf sie warten würde. Aber sie wusste, sie würde dieses traumatische Erlebnis nicht zu dessen Höhepunkt machen.

„Wenn Sie sich mal wieder eine nette Unterhaltung wünschen, rufen Sie gerne nach Bijo. Und wenn Sie nur ein Taxi brauchen, natürlich auch.“

Er half ihr hinaus, indem er ihr die Autotür aufhielt und ihr die Hand reichte.

„Gerne“, sagte Cleo und nickte zustimmend.

Die Sonne schlug ihr sofort entgegen und brannte angenehm auf ihren Armen. Fast erschien es Cleo, als könnte sie bereits das Wasser des Gardasees riechen. Wie ein kleines Kind streckte sie sich. Da war es, azurblau und unendlich schön: das Wasser ihres Herzens – der Gardasee!

Zwei Hotelangestellte diskutierten angeregt vor herrlich bunt bepflanzten Blumenkübeln neben dem Eingang.

Cleo lauschte der fremden Sprache. Sie war eine Wohltat für ihre geschundene Seele. Ihr Leben wollte wieder gelebt werden und das ohne Greg. Doch würde Papa ihr verzeihen, wenn sie die Firma verließe?

„Ich bin hier“, sprach Cleo zu sich selbst und rief damit ihr euphorisches Lächeln zurück. Greg und diese zerreißenden Erinnerungen hatten keine Macht mehr über sie. Hier waren ihre Antennen auf Freiheit und Wohlfühlen eingestellt.

Während sie nervös ihre Hotelreservierung aus der Handtasche zog, tippelte sie mit ihrem Fuß unruhig auf den Platten auf und ab, die mosaikartig angeordnet waren.

Ein Selfie für Greg wäre jetzt nicht schlecht, dachte sie und schmunzelte in sich hinein. Vielleicht schaffte sie es damit tatsächlich, ihren Groll und ihre Verletzung für einen Augenblick zu überwinden.

„Grazie!“ Danke! Sie gab Bijo ein großzügiges Trinkgeld für die herzliche Unterhaltung und die lebhafte und doch sichere Fahrt auf Italiens kurvenreichen Straßen.

„Prego!“ Gern geschehen!

Der freundliche Fahrer stellte Cleos Koffer vor den Hoteleingang.

„Einen schönen Urlaub, Signora!“

Cleo hätte ihn drücken können.

Flugs verabschiedete er sich und schüttelte noch lächelnd über Cleo den Kopf, als er wendete. Cleos entzücktes Gesicht beim Anblick der Umgebung musste wohl göttlich gewesen sein.

Ehrfürchtig wandte sie sich dem Eingang zu und sah nach oben. Zwei Etagen. Genau die richtige Unterkunft für sie. Nicht zu groß, um sich zu verlaufen und wie die bunten Blumenornamente auf der Schwingtür vermuten ließen, bestimmt mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Wie sprang ihr Herz!

Noch nie war sie allein verreist.

Sie begrüßte mit einem Kopfnicken die beiden Männer, die soeben noch in ihr Gespräch vertieft waren und erntete ein Lächeln.

Sie trat ein und sofort nahm sie einen Duft wahr, der den schnellen Rhythmus ihres Herzens noch verstärkte. Sie sog ihn ein wie eine Droge. Was war das nur?

Ihr Blick fiel auf die Gemälde an der Wand, die prächtige Zitronenbäume zeigten, die das Adrenalin in ihr toben ließen. Sie war tatsächlich allein nach Italien gereist und hatte alles hinter sich gelassen! Zumindest war sie voll und ganz dabei, das zu tun.

Wie sehr liebte sie den Duft der Zitronen! Sie erinnerte sich an die kleine Zitronenseife, die sie aus ihrem Italienurlaub mitgenommen hatte. Zwei Jahre war sie damals mit Greg zusammen gewesen und Cleo hatte alle Überzeugungskünste anwenden müssen, um ihren Liebsten dazu zu bewegen, mit ihr doch mal fernab von Ost- oder Nordsee Urlaub zu machen. Aber ihrem Welpenblick hatte Greg damals nicht widerstehen können. Es war ein heißer Sommer gewesen, in dem sie sich nicht wie eine zwanzigjährige Erwachsene gefühlt hatte, sondern wie eine aufgedrehte Sechzehnjährige, die bereit war, mit Rucksack, Luft und Liebe die Welt gemeinsam mit ihrem Schatz zu entdecken. Sieben verschenkte Lebensjahre! Das verfluchte siebte Jahr, das jeder prophezeite, da sie ja ohnehin viel zu jung für so eine lange Bindung wäre? Nein! Es hätte ein Traumjahr werden sollen!

Cleo biss sich auf die Lippe. Tja, die Seife! Greg hatte sie achtlos in die Ecke geworfen, bis sie irgendwann spurlos verschwunden gewesen war. Cleos Finger verkrampften sich.

Und wenn sie erst an den schwachen Trieb des Olivenbäumchens dachte, den sie damals bei ihrem Spaziergang im Olivenhain mitgenommen hatten! Cleo hatte das kleine Zweiglein stets mit Wasser versorgt, auf der gesamten Rückfahrt getränkt und wollte zu Hause ein eigenes Bäumchen wachsen lassen. Es sollte ihr Baum werden, Cleos und Gregs Baum, ihr gemeinsamer.

Auch das Zweiglein war irgendwann verschwunden gewesen.

Schnell schüttelte Cleo die Gedanken ab. Sie wollte sie nicht mehr.

Lächelnd schritt sie auf die Frau an der Rezeption zu. Sie war vielleicht Mitte Fünfzig, trug ihre Haare zu einem Dutt hochgesteckt und ließ ihre Brille an einer Kette baumeln. Der Vorraum wirkte schlicht und doch harmonisch. Er war nicht sehr groß und man konnte alles überblicken. Es gab eine kleine Sitzecke. Die roten Sitzkissen passten perfekt zu den orangefarbenen Vorhängen, die die Farben eines Sonnenuntergangs widerspiegelten. Die bunten Ornamente von der Eingangstür wiederholten sich am Saum der Gardinen und zierten die Decke des Tisches vor der gemütlichen Couch.

Ehrfürchtig setzte Cleo ihre Füße auf die dunklen Holzdielen und schritt auf den Empfangstresen zu, der sich durch goldene Randleisten abhob.

Mit einem breiten Lächeln bewunderte Cleo die vielen kleinen Kunsthandwerke, die neben einer goldenen Klingel aufgereiht waren. Sie entdeckte einen Fischer, geschnitzt aus Holz und einen Jungen unter einem Olivenbaum, der liebevoll eine Olive prüfte. Cleo atmete tief ein.

„Willkommen Signorina!“ Willkommen Fräulein!

Die nette Dame hatte einen lieblichen Dialekt und doch klang ihr Willkommensgruß nach Wiederankommen, hatte sich Cleo doch damals schon in die italienische Sprache und deren Klang verliebt.

„Guten Tag. Ich bin Cleo Patterson. Ich habe für diese Woche ein Zimmer reserviert.“

Ihr Gegenüber lächelte gütig. Ob sie die Urheberin der kleinen Kunstwerke war?

„Ein Einzelzimmer?“, fragte sie prüfend und blätterte in ihren Unterlagen. Ihr Deutsch war nicht perfekt und klang etwas brüchig, aber Cleo verstand sie gut und war froh darüber, sich in ihrer Landessprache verständigen zu können.

„Ja“, sagte Cleo und nickte. Ihrem erhobenen Kopf war ihr Stolz anzusehen.

„Sagen Sie mir bitte noch einmal den Namen?“

„Patterson.“

Cleo wurde nervös. Sie lugte über den Tresen in das Reservierungsbuch. Sie konnte ihren Namen nicht finden.

„Es tut mir leid, Signora. Für Patterson habe ich keine Reservierung.“

„Aber das kann nicht sein. Ich habe sie doch hier.“

Hastig zog Cleo ihre Buchungsbestätigung aus der Klarsichtfolie.

Die nette Rezeptionistin runzelte die Stirn, während sie akribisch in ihre Unterlagen schaute und sich anschließend dem PC zuwandte.

„Ich schaue einmal nach“, erklärte sie.

Cleo hielt die Luft an. Sie war bereits in Italien. Es konnte doch nicht sein, dass sie nun kein Zimmer hatte. Es war Hauptreisezeit!

„Es tut mir leid, Signora Patterson. Aber Ihre Buchung ist storniert worden.“

Cleo schoss die Röte ins Gesicht. Sie biss sich auf die Lippe.

„Aber ich habe sie nicht storniert.“

Die Dame drehte den Bildschirm und deutete mit dem Finger auf einen Schriftzug. Storniert! Wie konnte das sein?

Cleo begann zu schwitzen. Irgendetwas lief hier mächtig schief. „Die Buchung ist am zwölften August storniert worden.“

In Cleos Kopf ratterte es. Konnte es sein, dass Greg Zugriff auf ihre Buchung hatte? Wusste er, wo sie war?

Verflucht!

Gregs Rechner, der Verlauf, gespeicherte Passwörter!

Die pure Wut flammte in Cleo auf.

„Aber ich kann Sie beruhigen, Signora. Wir bekommen das noch hin mit einem Zimmer.“

Cleo atmete auf. Aber das panische Fieber blieb. Hatte wirklich Greg hier seine Finger mit im Spiel?

Hinter ihr betrat jemand das Hotel. Cleo drehte sich um. Es war einer der Männer, die sich draußen unterhalten hatten. Er nickte Cleo noch einmal höflich zu und trat neben die Frau hinter der Rezeption. Sein Blick fiel auf die Unterlagen mit den Reservierungen. Er sagte etwas auf Italienisch zu Cleos Gesprächspartnerin. Ob sie die Chefin war und er ein Angestellter? Ging es um ihre Buchung?

Hätte sie doch bloß längst einen Sprachkurs belegt!

„Alles gut. Wir haben also ein Zimmer“, wurde Cleo beruhigt. „Ohne Seeblick, aber trotzdem richtig schön und ruhig. Kommen Sie mit!“

Nie hatte Cleo sich erleichterter gefühlt. Laut stieß sie die angehaltene Luft aus. Die freundliche Dame lächelte und wies die Treppe hinauf. Mit einem Kopfnicken deutete sie dem Mann wohl an, dass er sich um die Rezeption kümmern sollte. Nun bemerkte Cleo die bunte Schürze, die sie trug. Sehr ungewöhnlich und speziell. Cleo schmunzelte. Die altmodische Kleidung ließ sie auf einen Familienbetrieb schließen, in der vielleicht alle in der Küche mit anpackten.

Neugierig darauf, ihr Hotel und ihr Zimmer zu erkunden, folgte Cleo ihr. „Kommen Sie!“, bat sie und legte ihre Hand auf Cleos Rollkoffer.

„Nein, das geht schon. Danke“, gab sie schnell zurück.

„Wir müssen aber die Treppe hinauf.“

Cleo nickte. „Das schaffe ich“, sagte Cleo zurückhaltend und fast beschämt über dieses Angebot, schließlich war sie ja wesentlich jünger und rüstiger.

Und wieder hätte Cleo sie für ihre Güte und Höflichkeit drücken können.

Scheinbar betraten sie nun den Teil des Hotels, der mehr Flair bereithielt. Die Stufen zu Cleos Füßen waren aus edlem, dunklem Holz. Seeblick hin oder her, sie war hier und je höher sie stiegen, desto mehr roch Cleo den Duft des Neuanfangs.

Da war sie wieder, die geliebte Nostalgie! Und so zog Cleo ihren Koffer über einen antiken bunten Teppich, während sie sich von Malereien blenden ließ, die ihr Italien in all seiner Schönheit zeigten.

Vor dem deckenhohen Flurfenster hielt sie an. Der Gardasee! Da war er, mit all seiner Pracht! In der Ferne konnte Cleo ein Segelboot erkennen. Wie brannte sie darauf, durch die kleinen Gässchen von Limone zu schlendern.

Ihr Hotel hieß wie ihr liebster Urlaubsort: Limone Sul Garda. Und Limone war ein absoluter Geheimtipp. Der kleine Ort an der Küstenstraße Italiens hatte wenige schmale Gässchen, aber dafür umso mehr lauschige Cafés, kleine Bummelläden mit neckischen Kleinigkeiten und vor allem: Der Gardasee war direkt vor der Tür.

Und einen Vorteil hatte ihr Herzensort auch noch: Man musste keine riskanten Bergauffahrten hinter sich bringen, um ihn zu erreichen.

Direkt am Wasser reihte sich ein Hotel an das andere. Aber Cleo war mit ihrer Auswahl zufrieden. Sie wollte in keinem modernen Bauklotz residieren. Mit Geranien bepflanzte Balkonkästen waren ihr viel lieber.

Und wieder nahm sie den Duft wahr, der sie schon in der Lobby so süß gefangen genommen hatte.

„Wunderschön!“, schwärmte sie beim Blick auf das Wasser, in dem sich das Sonnenlicht brach, das Cleo blendete.

„Italien ist wunderschön“, bestätigte die Frau ihr.

Sie bogen rechts ein und passierten drei Zimmer, an deren Ende es auf die Rückseite des Hotels ging. Von hier aus konnte man auf den Parkplatz hinunterschauen. Weitere Gäste reisten gerade an.

„Dieses ist Ihr Zimmer.“

Cleo stoppte und schaute zu, wie die Rezeptionistin einen goldenen Schlüssel in das Schlüsselloch steckte.

Schlüssel! Schlüssel haben viel mehr Flair als Schlüsselkarten! Cleo lächelte verschmitzt.

Die Hotelangestellte schritt voran und öffnete das Fenster, das dem auf dem Flur in nichts nachstand. Die hoch gewachsenen Pflanzen dort unten begrüßten Cleo.

“Es ist ein schönes Zimmer und ruhig gelegen“, erklärte die Frau.

„Es ist wirklich wunderschön“, stieß Cleo freudig aus und widerstand der Versuchung, sich herzhaft strecken zu wollen. Sie drehte sich und schaute auf das antik anmutende Doppelbett, den liebevoll mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch und den roten Sessel, der dem Teppich im Flur ähnelte und so sehr zum darin Versinken einlud. Instinktiv trat Cleo an das Fenster. Dieser Duft hüllte sie ein. Sie blickte hinunter auf runde Tische, die im hoteleigenen Restaurant zum geselligen Essen einluden.

„Das Frühstück servieren wir Ihnen von sieben Uhr bis zehn Uhr in unserem Restaurant oder auf der Terrasse. Das Abendessen können Sie auch im Restaurant einnehmen. Geben Sie mir gerne Bescheid, falls bei Ihnen Lebensmittelallergien vorliegen. Wir finden dann sicher einen Ersatz für Sie. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, kommen Sie gerne auf mich zu. Wasserkocher, Steckdosenadapter für Ihr Ladegerät, wir haben alles da.

„Gerne“, sagte Cleo erleichtert und langsam auch etwas erschöpft. Die Anreise mit Bahn, Bus und Taxi war doch auch anstrengend gewesen. Aber gegen das Vergessen war alles gut.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt bei uns.“

„Danke.“

Die Angestellte nickte freundlich und verließ das Zimmer.

Cleo jubelte. Freude! Sie spürte die Freiheit.

„Ich habe es getan! Ich bin hier! Allein!“

Sie nickte sich im Spiegel zu, der in einen ebenso verzierten Wandschrank eingelassen war. Einen kurzen Moment lang stellte sie sich vor, Greg würde sie da aus der Glasscheibe heraus ansehen. Als wäre er leibhaftig da, hob sie ihr Kinn und lächelte mit viel Sarkasmus.

Tja Greg, du bist Vergangenheit und ich bin hier. Italien!

„Willkommen in deinem Italien!“ Sie atmete genussvoll. „Mein Italien! Ich mache dich wieder zu meinem Italien!“

Und nun entdeckte sie, woher der Duft kam, der in ihr so eine Wohlfühlstimmung hervorrief. Ein großer Strauß Lavendel stand auf dem Tisch neben dem Bett.

Cleo beugte sich darüber und sog den Geruch ein. Doch dann hörte sie ein unliebsames Geräusch. Ihr Handy piepte. Sie hatte kein gutes Gefühl. Sie zog es aus der Tasche und las die SMS. Fassungslos ließ sie das Telefon sinken.

2. Insel oder Halbinsel?

Nein!

Da war es wieder: Wie ein Dolch durchdrang die Nachricht den zarten Schleier, in dem sie sich geborgen geglaubt hatte – und genau das schürte ihre Wut.

Ich hoffe, dir hat meine Überraschung gefallen. Komm gefälligst dahin zurück, wo du hingehörst! Sonst passiert vielleicht noch etwas.

Cleo warf ihre Handtasche mit so einer Wucht auf den Boden, dass die dünnen orangefarbenen Vorhänge links und rechts von ihrem Fenster kurz hochflatterten.

Was bildete sich Greg überhaupt ein? Drohte er ihr?

Es war ganz klar, was er mit der Überraschung meinte.

„Nein! So nicht mein Freund! Ich habe mein Zimmer und du wirst es mir nicht nehmen.“

Entschlossen nahm sie ihr Telefon wieder in die Hand. „Aus! Ich muss für niemanden mehr erreichbar sein.“

Das tat gut. Und mit der Stille, die nun im Raum herrschte, ließ Cleo sich wieder ganz und gar darauf ein, ihre Sinne zu entfalten. Sie roch den Lavendel, sie spürte eine leichte Brise durch das Grün der Zypressen zu sich herüberwehen und hörte ein schnulziges italienisches Lied, das von unten durch ihr Fenster hereindrang, wie die Sonne, die ihre Arme kitzelte.

Die Aufregung und die süße Sucht nach Limone Sul Garda kehrten zurück. Die kleinen romantischen Gassen warteten auf sie.

Doch zunächst ließ Cleo die Musik auf sich wirken. Sie öffnete das Fenster ein Stück weiter und schaute hinunter zu den Tischen, die so liebevoll mit kleinen Sträußen und fantasievoll gefalteten Servietten dekoriert waren. Wer brauchte schon einen Balkon? Sie hatte alles, was sie wollte.

Krach!

Lautes Klirren störte die Harmonie des Augenblicks.

Neugierig beugte Cleo sich vor. Ein Kellner hatte beim Eindecken einen großen Stapel Geschirr zerdeppert. Er schaute sich um wie ein Kleinkind, das gerade heimlich an eine Torte gegangen war und sie dabei leider zum Einsturz gebracht hatte. Es war ihm wohl peinlich, dass das Service zu Bruch gegangen war.

Cleo hörte sein lautes Aufatmen, als er bemerkte, dass er allein war. Sie lachte. Der Kellner schaute zu Cleo auf, die seinen ertappten Blick mit einem Grinsen beantwortete.

Sein schwarzes Haar schien sich an den Enden zu wellen wie Cleos, und obwohl zwischen ihnen einige Meter Entfernung lagen, konnte sie seine dunklen Augen erkennen. Ob er Italiener war? Er passte in seiner schwarzen edlen Hose und dem weißen Hemd perfekt in diese Urlaubsszenerie.

Er lachte. Cleo nickte aufgeregt, denn er schenkte ihr seine ganze Aufmerksamkeit und das mit einem Lächeln, das ihr für einen Augenblick den Atem raubte. Er hob die Schultern, übernahm ihr Schmunzeln und legte dann verschwörerisch seinen Finger auf seine Lippen.

Cleo imitierte seine Geste zustimmend.

„Ich schweige wie ein Grab“, rief sie herunter. Doch der tollpatschige Kellner wandte sich prompt ab und begann das Scherbenmalheur zu beseitigen.

Jetzt sah Cleo, warum. Die alte Dame von der Rezeption tauchte hinter ihm auf. Cleo versteckte sich hinter dem Vorhang.

Sofort wurde es laut. Die Dame schnatterte und obwohl Cleo die fremde Sprache nicht verstand, konnte sie am barschen Tonfall erkennen, dass der hübsche Kellner gerade seinen Tadel empfing. Cleo streckte sich. Sie beobachtete wilde Gesten. Temperament hatten die Italiener ja. Der Kellner lächelte jedoch selig und schien die gute Frau aufzuziehen. Cleo amüsierte sich über seinen Frohsinn.

Aber ging es da wirklich um das Geschirr? Die Rezeptionistin schenkte dem Scherbenhaufen keine Beachtung.

„O weh, der arme Kellner!“

Sie hätte ihm gern geholfen als Dankeschön für den flüchtigen lustigen und befreienden Moment.

Doch nun wartete Limone auf sie.

Für gewöhnlich war Cleo ein Mensch, der zunächst den Kofferinhalt auspackte und sich häuslich einrichtete, aber heute war alles anders. Sie schob ihr Gepäck ungeöffnet auf das Bett und griff nach ihrem goldenen Schlüssel. Dieses kleine Glück, das Halten des eigenen Zimmerschlüssels, konnte so bedeutend sein.

Rasch verließ Cleo ihr Zimmer, wischte sich den Schweiß von der Stirn und trippelte die Treppe herunter.

Ihre Füße fühlten sich nach der langen Fahrt an, als wären sie doppelt so groß. Aber als sie das Hotel verließ und um es herum schritt, entschädigte sie das für ihre qualmenden Zehen.

Sie schlenderte einen mit Palmen gesäumten Pfad entlang und schon war sie mittendrin in dem Bild, das sich damals so ergreifend in ihr Herz eingebrannt hatte.

Da waren die vielen kleinen Boutiquen und Krämerläden, die kunterbunten Blumen, die Palmen, der mächtige Felsen, die zahlreichen nostalgischen Fischerboote, die aussahen, wie aus einem alten Film. Und da war er: der Gardasee!

Cleo atmete langsam und tief ein, wohingegen ihr Herz aufgeregt und schnell klopfte.

Das Wasser des Sees bewegte sich sanft.

Es war voll auf dem Platz, den auch die Touristen liebten. Einen flüchtigen Moment lang dachte Cleo noch einmal an die Worte in der SMS.

„Bevor etwas passiert“, flüsterte sie vor sich hin und ihre Stirn legte sich in Falten.

„O Entschuldigung.“ Im Strom der Besucher rempelte sie ein Fremder an.

„K-Kein Problem“, stotterte Cleo. Fast dachte sie, es wäre der tollpatschige Kellner gewesen. Aber er war es nicht, wenn er ihm auch sehr ähnelte. Sie grinste.

„Ich kann schweigen wie ein Grab“, sagte sie kaum hörbar.

Ihr Lächeln kehrte zurück, während sie den Anblick des Bergsee-Panoramas genoss und die Seeluft inhalierte.

He, da schwamm eine Schwanenfamilie neben einem der Fischerboote!

Cleo setzte sich auf eine der Bänke und sah zu, wie ein verliebtes Paar seinem Sohn dabei zusah, wie er den Schwänen ängstlich und dann überaus glücklich Brotstücke zuwarf.

Italien, meine Liebe!, dachte Cleo und ließ ihre Beine baumeln.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand längst verlassen. Es sah aus, als wollte sie in den See hineintauchen. Das Wasser funkelte wunderschön durch die Kraft ihrer letzten zarten Strahlen.

Das ist das Glück! Sie war nicht mehr dazu bereit, sich allem außerhalb ihrer kleinen Glücksoase zu widmen. Und dazu gehörte alles, was Greg betraf.

Ein fremdartiger Duft lag in der Luft. Er war anders als alles, was sie kannte, und nicht blumig. Cleo roch neugierig.

Man begann wohl in ihrem Restaurant bereits damit, das Essen für den Abend zuzubereiten.

Einen Augenblick noch verschnaufte Cleo, aber dann wollte sie sich endlich in die Straße ihrer Erinnerung begeben.

Und so folgte sie dem Strom, der langsam lichter wurde, da sich die meisten Gäste in den kleinen Bistros sammelten.

Nie hätte Cleo gedacht, dass ihre Ankunft hier ihr so eine Gelassenheit bezüglich des Geschehenen schenken würde.

Sie betrat die enge Gasse, zu deren Linken und Rechten sich ein Krämerladen an den anderen reihte. Die Häuser in Hellblau und Rosa, mal mit weißer Front, mal komplett bunt oder trist, zogen Cleo in ihren Bann. Bewundernd schaute sie auf die vielen alten Fensterläden, die hier den Läden so kunstvoll das Besondere gaben. An gusseisernen Balkonen hingen bunte Blumen, hier und da lag ein Teppich über dem Geländer. Die Straße stieg steil an. Cleo nahm alles auf, die fremde Sprache der Leute vor den Geschäften, die vielen Düfte und Farben. Es war wunderschön.

Doch eines hatte Cleo vergessen: das verdammte Kopfsteinpflaster!

Sie griente beim Blick auf ihre weißen Schuhe mit den hohen Absätzen und nickte ihrem Spiegelbild in einem der Schaufenster entschlossen zu.

Zu der neuen Cleo gehörte auch die Freiheit, alles zu tun, was sie wollte. Und so bückte sie sich und zog die nervigen, für dieses Gässchen untauglichen Pumps von ihren Füßen. Es war eine unglaubliche Erleichterung. Cleo fühlte die warmen Steine und streckte ihre müden Zehen.

Eine alte Dame vor einem Souvenirladen lachte über sie. Cleo nickte lächelnd.

Der Laden weckte ihr Interesse. Das war genau das, was sie für ihre Ankunft brauchte!

Da war sie! Ihre gelbe Seife, die so sehr nach den Zitronen von Limone roch. Die Seife sollte ihr persönlicher Taschenaltar werden, ein Talisman, der sie auch nach ihrem Italienurlaub stets an dieses Freiheitsgefühl und ihre Selbstbestimmung erinnern sollte.

„Ciao!“

„Ciao!“, grüßte auch Cleo.

Die Dame freute sich über das Eintreten der jungen Touristin. Sofort stellte Cleo ihre Schuhe ab und griff nach ihrem Schatz. Der dünne Organza-Beutel mit den drei kleinen Zitronenseifen gehörte gleich ihr. Wie ein Kind, das ein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk empfing, nahm sie das Beutelchen an sich und roch daran. Sie rieb mit ihren Fingern über die Seife und sog die lieblich duftende Note nach Zitronen ein. Das war er! Der lang vermisste Duft, den sie damals mitgenommen hatte und bewahren wollte.

„Den nehme ich, bitte“, sagte sie prompt und gab der Frau die auf dem Etikett angegebenen Wert an Münzen.

„Grazie.“

„Gerne“, gab Cleo prompt zurück und strahlte. Mehr brauchte sie erstmal nicht, um glücklich zu sein. Sie empfing den gütigen und zufriedenen Blick der Verkäuferin. Alle waren herzlich hier. Sie steckte ihre Seifen in ihre Handtasche.

„Einen schönen Abend noch“, sagte Cleo und war sich sicher, dass die freundliche Verkäuferin sie verstanden hatte.

„Anche tu!“ Dir auch!

Cleo nickte und kicherte, auch wenn sie nicht wusste, was das hieß.

Ein buntes Windspiel klirrte sanft, als sie den Laden verließ. In der Gasse ihres Herzens gab es noch so viel zu entdecken. Und schon fiel Cleos Blick auf ein winziges Geschäft, in dessen Auslage Räucherstäbchen und Kerzen lagen. Greg hatte dieses Räucherwerk immer gehasst.

Wenn das mal nicht eine Überlegung wert war! Cleo betrat zielstrebig den unscheinbaren Laden.

Eine schillernde Glocke verriet ihre Ankunft.

Ein älterer Herr schaute neugierig aus einem Hinterzimmer hervor, zog sich dann aber wieder zurück. So konnte Cleo ungestört den Laden erkunden. Sie mochte aufdringliche Verkäufer nicht.

Aufgeregt fuhren ihre Finger über die vielen Packungen an Räucherware, die auf einem Wühltisch lagen.

So viele Sorten.

Vor langer Zeit hatte sie Räucherwerk geliebt. Man könnte sagen, da war sie noch jung gewesen. Cleo lächelte. Jung war sie noch immer, aber die Zeiten von Opium und Moschus waren vorbei. Cleo wollte etwas Passendes. Und so wanderten ihre Finger weiter und griffen nach der Packung in zartem Flieder.

Lavendel und Minze. Na, wenn das keine gute Mischung ist.

Der Verkäufer kehrte wieder aus seinem Hinterzimmer zurück und beobachtete Cleo.

„Die dürfen es sein?“

Sie nickte viel zu eifrig und dachte flüchtig darüber nach, ob sie gerade total kindisch wirkte. Es fühlte sich aber verdammt gut an.

„Ja, die nehme ich.“

Cleo suchte in ihrem Portemonnaie nach der passenden Anzahl Münzen und rundete den Betrag glatt auf.

„Prego.“ Bitteschön.

„Grazie.“

Cleo hätte gerne einen landestypischen Smalltalk gehalten. Sie musste unbedingt Italienisch lernen, irgendwann.

Auf der Straße roch es jetzt süßlich. Ein fahrender Verkäufer mit einem kleinen Rollwagen bescherte den schlendernden Touristen mit Zuckerwatte eine Gaumenfreude. Der Himmel hatte sich inzwischen orange verfärbt. Cleo versank für Sekunden in diesem Anblick. Die bunte Häuserkulisse gab darunter so ein schönes Bild ab.

Cleos Magen knurrte.

Sie schaute auf die Uhr. Es war gleich achtzehn Uhr. Sie hatte gar nicht danach gefragt, wie ihr Restaurant geöffnet hatte.

Morgen geht es weiter, dachte sie und machte sich auf den Rückweg.

Tatsächlich war sie in der Straße nur einige Meter vorangekommen, doch ihr Streifzug durch die Geschäfte hatte sich bisher ja gelohnt.

Als sie nun auf den Platz am Hafen zurückkehrte, sah alles aus wie perfekt für eine Postkarte gemalt. Die Sonne versank langsam in den schönsten warmen Tönen und färbte das Wasser. Cleo war gespannt auf ihr Restaurant.

Sie nickte der Dame an der Rezeption zu und fühlte sich bereits vollkommen zu Hause. Sie folgte der Beschilderung, linksherum und bis ans Ende des Hotels.

Nie hätte Cleo hier so einen großen und doch liebevoll eingerichteten Saal erwartet. Gehäkelte Deckchen zierten die Tische, überall standen frische Sträußchen. Doch noch viel mehr staunte Cleo, als sie nun durch den Raum hindurch nach draußen auf eine riesige Terrasse trat, auf der sich schon einige Gäste zum Dinner niedergelassen hatten. Von hier aus konnte man den ganzen See überblicken und hatte eine perfekte Sicht auf das Bergmassiv. Cleo sah einen großen Pool inmitten eines mit Palmen gesäumten Hinterhofs. Warum hatte sie all das von ihrem Zimmer aus nicht sehen können? Wahrscheinlich, weil es direkt an der Ecke lag.

„Buonasera Signorina!“ Guten Abend, Fräulein!

Die sanfte Stimme erschreckte Cleo, als sie sich an einem Tisch neben dem Geländer niederließ.

Sofort färbten sich ihre Wangen rot.

Da war er, der Tollpatsch.

„Hallo“, sagte Cleo leise.

Er reichte ihr die Karte. Aus der Nähe war sein Lächeln noch viel intensiver. Seine dunklen Augen schienen zu leuchten. Sein kurzes Haar war tatsächlich etwas gelockt. Seine weißen Zähne waren makellos.

O Cleo! Sie ertappte sich tatsächlich dabei, wie sie auf seine Zähne starrte! So etwas hatte sie ja noch nie gemacht.

Der Kellner grinste und bemerkte ihren verstörten Blick.

„Shy?“

Cleo runzelte die Stirn. Was meinte er? Chai Latte?

Cleo räusperte sich verlegen.

„Nein. Danke”, gab sie prompt zurück. Die Anwesenheit des flotten Kellners, der sein weißes Hemd nun mit einer roten Weste geschmückt hatte, machte sie nervös.

Sie nahm ihm schnell die Karte ab. Flüchtig berührten sich ihre Hände.

„Doch, du shy“, wiederholte der Kellner.

Was bitte will er?

Er räusperte sich und versteckte sein Schmunzeln hinter seiner Hand, als müsste er husten.

„So heißt es doch, oder?“

Cleos Mund stand offen, während sie ihn rätselhaft ansah. Sie musste einen göttlichen Anblick abgeben.

Ihr Kellner verzog den Mund zu einem verschmitzten Lächeln und hob dabei die Schultern. Er ging.

Cleo schlug die Karte auf. Es ratterte in ihr. Shy?

Und plötzlich fiel es ihr ein. Shy war ein englisches Wort! Es bedeutete „schüchtern“.

Cleo spürte, wie ihre Wangen heiß zu brennen begannen.

O wie peinlich ist das denn? Er hält mich für schüchtern und jetzt sieht er sich darin bestätigt.

Sie drehte sich um. Ihre nette Bedienung stand am Nebentisch und nahm eine Bestellung auf.

Nein! Lacht er mich an oder aus?

Schnell schaute Cleo weg.

Ihr Herz raste von diesem Blickkontakt. Dass ihr Italien so schnell noch aufregender werden würde, hätte sie nicht gedacht.

Sie schaute flink auf die Karte und tat so normal wie möglich.

Ein Mozzarella-Tomaten-Salat als Vorspeise, da konnte man nichts falsch machen. Sie überlegte. Spaghetti mit Bolognesesauce des Landes? Sie malte sich aus, wie sie die langen Nudeln vergeblich auf ihre Gabel rollen und dann die gesamte Soße auf ihrem Kleid verteilen würde.

O nein! Lieber die Lasagne. Die ist handlicher, triumphierte sie stumm und drehte sich noch einmal um. Er war weg. Sie atmete auf und wischte sich ihre feuchten Hände an ihrem Kleidersaum ab.

Dort vor ihr lag der See. Sie verlor sich in diesem Bild, während sie der leisen italienischen Musik lauschte. Sie schloss die Augen. Heute war der Tag ihrer Sinne, sie hörte die lieblichen Klänge des italienischen Liedes, sie fühlte die sanfte warme Luft auf ihren nackten Armen, blickte auf den See und roch das köstliche Essen. Sie streckte sich und versuchte, auszuspähen, was da so süßlich duftend auf den Tellern der anderen Gäste an die Tische getragen wurde. Vermutlich waren es die vielen Gewürze, deren Duft ihre Nase kitzelte.

„Italien ist wunderschön.“

Cleo schreckte hoch.

Da war er wieder.

„Ja, Italien ist eine atemberaubende Insel“, stotterte Cleo.

Reiß dich doch mal am Riemen, Cleo!, rief sie sich stumm zu.

„Das ist nicht ganz richtig“, feixte ihr adretter Kellner mit ihr. Seine Stimme klang sanft und rief gemeinsam mit seinem schelmischen Lächeln eine besondere Lebendigkeit in Cleo hervor.

„Italien ist eine Halbinsel.“

„Ach so?“

Und wieder pulsierte es in Cleos Wangen. Sie hielt seinem Blick stand. Die Sekunden der Stille waren eine Ewigkeit, die Cleos Herz wild schlagen ließen.

„Und du bist doch shy“, sagte er und hob dabei seine Brauen.

Cleo stellte sich stumm und streckte sich auf ihrem Stuhl, um größer zu wirken.

„Nein, ich bin Cleo.“

Er nickte bedächtig und versuchte, den Blickkontakt noch einmal so intensiv werden zu lassen.

„Cleopatra“, flüsterte er und legte wie am Nachmittag seinen Finger auf seine Lippen.

„Nein, einfach nur Cleo“, gab sie prompt zurück und ihr Stottern kehrte zurück. Ihr Kellner lachte. Doch plötzlich störte etwas die Harmonie.

„Francesco, dovresti lavorare, non flirtare con gli ospiti.“ Du solltest arbeiten und nicht mit den Gästen flirten!

Cleo drehte sich um, als sie die laute Stimme hörte, die ihr bekannt vorkam. Es war die Frau, die sie so nett im Hotel in Empfang genommen hatte. Sie war dabei, schräg gegenüber einen Tisch auf der Terrasse einzudecken. Sie hatte wohl auch im Restaurant das Sagen, denn sie zeterte temperamentvoll und hob den Arm, als schimpfte sie Cleos Kellner aus und wollte ihn davon abhalten, ihr weiter lebhaft den Abend zu versüßen.

„Un po´di flirt rivitalizza lo spirito“, witzelte der Kellner mit ihr. Ein kleiner Flirt belebt den Geist.

Er schenkte der Tadelnden ein freches Grinsen. Sie formte den Mund spitz, als wollte sie noch etwas sagen, doch stattdessen behielt sie Cleos Flirt im Auge und warf nur flüchtig einen Blick auf die anderen drei Kellner, die geschäftig Teller jonglierten, als hätten sie hunderte Male drei Gerichte auf einmal serviert.

Die sonst so herzliche Dame konnte also auch anders. Cleo biss sich auf die Lippe, als wäre sie schuld daran, dass er Kritik bekommen hatte. Aber er hatte es mit Humor weggesteckt.

„Valentina!“, setzte er charmant hinzu, während er schon Gläser auf den Tisch nebenan stellte. Aus seinem Gesicht sprach immer noch der Schalk. „La serata é belle e fin troppo bella per …“ Der Abend ist viel zu schön für …

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Aber die Dame des Hauses zuckte mit den Schultern und lachte kopfschüttelnd.

Cleo runzelte die Stirn. Prompt schaute ihr Kellner wieder zu ihr. Sie schluckte nervös.

Francesco also!

Ihre süße Bedienung zwinkerte ihr zu und steuerte den nächsten Tisch an.

Luft holen, Cleo!

Die Rezeptionsdame drehte sich zufrieden lächelnd um und ging in das hauseigene Restaurant. Cleo sah ihr nach und beobachtete, wie einige Gäste an den Tischen am Fenster im Innenbereich Platz nahmen. Draußen war es doch so viel schöner!

Was hatte sie ihm an den Kopf geworfen? Hatte sie ihn gerade getadelt, wegen des kleinen Flirts?

War es überhaupt ein Flirt gewesen?

Cleo spielte aufgeregt am Armband ihrer Uhr. So kunterbunt war es in ihr drin schon lange nicht mehr gewesen.

„Natürlich ist Italien keine Insel“, flüsterte sie vor sich hin.

Was war nur los mit ihr?