Leseprobe Zu Weihnachten ein Mord

Kapitel 1

Paislee Shaw freute sich über den Boom, den Weihnachten ihrem Woll- und Pullovergeschäft Cashmere Crush bescherte, aber wenn sie noch ein einziges Mal „Jingle Bells“ hören musste, würde sie komplett wahnsinnig werden. A cappella, Dudelsack, Fiddle, und alles dazwischen – Brody und Grandpa hatten sogar eine Version mit Löffeln zum Besten gegeben, bis Paislee damit gedroht hatte, das Besteck ins Meer zu werfen.

Am fünfundzwanzigsten November wurden in Nairn feierlich die Kerzen eines Weihnachtsbaums angezündet, um den Beginn der Weihnachtszeit einzuläuten. Touristen belagerten ihre idyllische viktorianische Grafschaft, wofür Paislee und ihr Bankkonto dankbar waren, ja, aber heute, am zwanzigsten Dezember, war sie nicht darauf vorbereitet und verstimmt. Sie hatte Lydia gesagt, dass sie Grans liebste Zeit des Jahres in ihrem eigenen Zuhause verbringen wollte. War das zu viel verlangt?

Anscheinend schon, denn es sollte nicht sein. Lydia hatte sie mehrfach gewarnt, sich keine großen Hoffnungen zu machen.

Paislee nippte sauer an ihrem Tee und sah finster aus dem Fenster der Wohnung ihrer besten Freundin. Sie war mit allen Annehmlichkeiten und einem Blick auf den Moray Firth ausgestattet. Es war wunderschön dort, aber sie gehörte nicht ihnen.

Sie, Grandpa, Brody und ihr Hund, Wallace, waren aus ihrem Zuhause vertrieben worden, als die Wasserrohre kurz vor ihrem Kuss mit Hamish McCall über ihrem Kopf geborsten waren. In Wahrheit hatten sie sich geküsst, aber sie leugnete es und hatte es nicht noch einmal geschehen lassen. Sie hatte den Wink von oben schon verstanden. Sie konnte ihre Rolle als Mutter noch nicht aufgeben. War es da ein Wunder, dass sie ein kleines bisschen launisch war?

„Mum!“, rief Brody aus seinem Schlafzimmer. „Kann ich heute zuhause bleiben?“

„Nein, Schatz.“ Es war Freitag und ab diesem Nachmittag hatte er Ferien. Paislee hatte vom 24. Dezember bis zum 3. Januar geschlossen, um Zeit mit ihrer Familie verbringen zu können. „Du hast nach deiner Feier früher Schluss.“ Sie zuckte zusammen, als sie sich an die manische Aufregung in den Schulkorridoren am letzten Tag vor den Weihnachtsferien erinnerte.

„Spießerin.“

„Werd nicht frech, Brody, oder du bleibst am Wochenende bei mir, statt Snowboard zu fahren.“

Stille. Brodys bester Freund, Edwyn Maclean, hatte Brody am Samstag und Sonntag in die Berge eingeladen, und Mittwoch war Weihnachten. Paislee hatte vor, die Zeit zu nutzen, um sich um seine Geschenke zu kümmern. Besser gesagt, sie zu kaufen.

Ihr Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden, verflixt, sonst müsste sie jetzt nicht auf die letzte Minute nach Sportschuhen, einem neuen Fußball und Videospielen schauen. Da sie aber Ramsey Castle mit Luxusartikeln für den neuen Souvenirladen beliefern, sich um Cashmere Crush und Brodys Klassenarbeiten kümmern und Farbmuster für ihre neue Küche abnicken musste, die, bitte lieber Gott, an Weihnachten fertig sein würde … hatte sie keine einzige freie Minute gehabt, um Geschenke zu kaufen.

Es war alles so viel, dass sie weinen könnte – aber dafür hatte sie auch keine Zeit.

„Nimm deine Jacke mit. Hast du dein Geschenk für Jenni?“

Vor zwei Tagen hatte Brody Paislee gebeten, einen Schal und ein Beanie in einem leuchtenden Grün zu stricken, Jennis Lieblingsfarbe. Er hatte erst an Kaschmir gedacht, aber sie konterte mit Merinowolle, die für das Mädchen völlig ausreichte. So ein Projekt würde normalerweise acht Stunden dauern, aber Paislee hatte bereits einen Schal in diesem Farbton fertiggestellt, also war sie länger wachgeblieben, um die passende Mütze zu stricken.

Jenni hatte angedeutet, dass sie etwas für ihn besorgt hatte, und ihr Sohn, der die Geste erwidern musste, hatte eine überraschend kluge Idee gehabt.

„Ja, in meinem Rucksack.“ Brody ließ seine kastanienbraunen Locken wachsen, was Paislees Meinung nach unordentlich aussah, aber die Diskussion war es nicht wert. „Soll ich Edwyns auch mitnehmen?“

„Nein. Gib es ihm morgen.“

Wallace rannte von Brody zu Grandpa, der an der Theke in der Küche saß, und dann zu Paislee. Der Hund war gerade erst beim Hundefriseur gewesen und trug ein fröhliches rotes Halsband. Seine fast schwarzen Augen funkelten.

„Ich gehe mit Wallace raus“, sagte Grandpa mit Blick auf die Uhr, die ihr Erzfeind war. „Du solltest dich besser beeilen. Der Verkehr ist furchtbar in letzter Zeit durch all die Touristen.“

„Danke, Grandpa!“ Brody streichelte Wallace und warf dem Hund ein Leckerli in der Form eines Schneemanns zu.

„Danke dir!“ Paislee schlüpfte in ihren Mantel und griff nach ihrer Handtasche, wobei sie ihren Großvater beobachtete, der sich noch nicht für seine Schicht bei Cashmere Crush angezogen hatte. Sein silbergraues Haar war in den letzten Monaten heller geworden, genau wie sein Bart, aber er stand aufrecht, und sein Teint sah vollkommen gesund aus. Er rückte seine schwarze Brille zurecht und blinzelte sie wie eine schläfrige Katze an. „Ruf mich an, wenn ich dich zum Geschäft mitnehmen soll. In den nächsten Tagen soll es schneien.“

„Ich kann laufen.“ Grandpa verknotete den Gürtel seines Flanellbademantels.

Paislee schüttelte den Kopf – wenn sie dickköpfig war, hatte sie es von Grandpa. „Na gut! Schreib mir, bevor du gehst.“

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Grandpa und schlurfte in die Küche zum Wasserkocher.

Gab es irgendeinen nervigeren Satz als mach dir keine Sorgen? Paislee und Brody fuhren mit dem Fahrstuhl in die Lobby, wo sie dem Sicherheitsmitarbeiter, Max, zunickten, der die Tür zum Parkplatz aufmachte.

„Schöne Feiertage“, sagte Max.

„Ihnen auch“, antwortete Paislee.

Brody sagte nichts, also gab sie ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

Ihr Sohn grinste Max zu. „Frohe Weihnachten!“

Der Sicherheitsmann reichte ihm eine Zuckerstange, die Brody in seine Jackentasche stopfte. „Danke.“

Die Luft war frisch, als sie zum Juke liefen. Trotz der frostigen Temperaturen war der Himmel klar. Im Radio liefen leise Weihnachtslieder, während sie Brody zur Sekundarschule fuhr. Rote, grüne, blaue und goldene Lichter schmückten das Dach und die Fenster und trugen zur festlichen Atmosphäre bei.

Obwohl er vorhin noch protestiert hatte, zappelte Brody vor Freude auf dem Beifahrersitz herum, als sie sich in die Autoschlange einreihte, um ihn rauszulassen, und er seine Freunde entdeckte. „Hab einen schönen Tag, Schatz!“

„Du auch, Mum.“ Brody winkte und eilte auf seine Freunde zu, die zusammengedrängt am Eingang standen. Freudiges Quietschen wehte zu ihr herüber.

Mit einem Lächeln fuhr Paislee zum Geschäft, während sie im Kopf ihre To-Do-Liste durchging. Aktuell arbeitete sie an drei Projekten in verschiedenen Stadien der Fertigstellung; die dicke Weste in dunkelblau musste oberste Priorität haben, da sie heute Nachmittag abgeholt werden würde. Mit den zwei anderen war sie gestern Abend beim Strick-und-Schlückchen weitergekommen, und sie würde ihre Kunden anrufen, sobald sie fertig waren, möglicherweise morgen.

Die Damen waren alle in Weihnachtslaune gewesen und hatten gelacht und die Zeit vor den Feiertagen miteinander genossen. Ihre beste Freundin, Lydia Barron-Smythe, strickte nicht, aber sie brachte großartige Häppchen mit und hielt die Unterhaltung in Schwung.

Obwohl es ein Umweg war, beschloss Paislee, zuhause vorbeizufahren. Es war ein zweistöckiges steinernes Einfamilienhaus, und sie vermisste es schmerzlich. Mehrere Lastwagen standen davor, die Tür war offen. Leitern und Eimer übersäten den braunen Rasen.

Als sie ankam und aus dem Juke steigen und den Fortschritt mit eigenen Augen begutachten wollte, wurde ihr Plan von Grandpa vereitelt, der sie anrief. Sie ging per Bluetooth ran. „Hi!“

„Hallo, Mädchen. Ich möchte nicht jammern, aber ich glaube, du solltest besser zurückkommen.“

„Geht es dir gut?“ Paislee fuhr mit einem kummervollen Blick in den Rückspiegel auf ihr Zuhause auf die Straße. Alles, was sie sich zu Weihnachten wünschte, war ihr Haus. Grans Kuchen und Pasteten in ihrer eigenen Küche zu backen. Bei dem Deckendebakel waren Grans Karteikarten mit ihren Rezepten nass geworden, aber sie konnte die ordentliche Druckschrift noch entziffern – als Lehrerin kam für ihre Großmutter eine Sauklaue nicht in Frage.

„Elspeth hat angerufen, sie und Susan sind beide erkältet. Sie kann heute nicht kommen. Ich werde aushelfen.“

Paislee behielt ihre älteren Teilzeitkräfte im Auge, um sicherzugehen, dass sie sich nicht übernahmen. Elspeth Booth, die in der Verwaltung in der Kirche mit Pater Dixon gearbeitet hatte, war nun in Rente und konnte hervorragend sticken. Ihre Schwester Susan, die blind war, hatte ums Erntedankfest herum einen Blindenhund zugeteilt bekommen. Das bedeutete volle acht Stunden Arbeit für ihren Großvater, statt bloß vier.

„Ist dir das zu viel, Grandpa?“

„Sei nicht albern“, antwortete er und erinnerte sie daran, wie griesgrämig er werden konnte, wenn er sich ärgerte.

„Ich bin auf dem Weg.“ Paislee legte auf und wählte Lydias Nummer.

„Hier spricht Lydia“, ging ihre Freundin in fröhlichem Ton ran.

„Lyd, ich bin gerade am Haus vorbeigefahren. Da sind immer noch Leitern und LKW, und –“

„Ich habe dir doch geraten, Geduld zu haben! Du hast versprochen, du wartest.“ Ihre beste Freundin klang pikiert. „Der Vorarbeiter versucht es bis Hogmanay zu schaffen, aber es könnte Februar werden.“

Silvester? Ihre Augen brannten und in ihrer Kehle kitzelte es. „Ich muss Grans Kuchen backen! Und ihre Torten. Pater Dixon erwartet ein Dutzend verschiedene Sorten Gebäck für das Essen an Heiligabend in der Kirche, von den dreihundert Black Buns ganz zu schweigen.“ Ihr Puls raste, als sie daran dachte, was sie alles erledigen musste, was noch nicht einmal mit den Einkäufen für Brody zu tun hatte.

Paislee wusste auch, was sie Grandpa schenken wollte – eine Angel und Haken – und hatte jeden Monat etwas für Lydia und Corbin für einen einwöchigen Urlaub in einem exklusiven Spa ihrer Wahl in Italien beiseitegelegt, da Lydia keine Miete für die Wohnung akzeptieren wollte und darauf bestand, dass Paislee ihr Geld lieber in die neue Küche steckte.

„Du kannst die Kuchen auch wunderbar in meiner Küche backen“, sagte Lydia hitzig. „Warum so viele?“

„Pater Dixon verschenkt sie an Heiligabend und nach dem Morgengottesdienst am ersten Feiertag an alle Gemeindemitglieder. Die Älteren, besonders die ohne Familie, freuen sich darauf.“

„Das ist nett“, stimmte Lydia besänftigt zu. „Und du hast dich einfach dafür gemeldet?“

Wie könnte Paislee Pater Dixon etwas abschlagen? „Es macht mir Spaß und es bringt mich der Gemeinde näher, wie Gran es immer gewollt hat.“ Die Rezepte ihrer Oma zu backen, so wie sie es getan hatte, brachte sie auch der Großmutter näher, die sie so sehr liebte.

„Wie lange dauert das?“

„Ich habe zwei Bleche, auf die jeweils zehn Stück passen. Dieses Wochenende fährt Brody mit den Macleans in die Berge, um Snowboard zu fahren, also werde ich mich dann darum kümmern.“

„Perfekt.“ Lydia räusperte sich. „Also, da du den Zustand deiner Küche jetzt gesehen hast, komm bitte an Weihnachten zu mir und Corbin.“

„Nach Smythe Manor? Nein danke.“ Paislee hatte nach Lydias Hochzeit bis an ihr Lebensende genug von den reichen Smythes.

„Tatsächlich sind wir bei meiner Familie in Edinburgh, weil wir Hogmanay mit seiner verbringen müssen. Das wird einfach magisch. Das Schloss ist mit Lichtern übersät und Brody hätte einen Heidenspaß. Bitte?“

„Tut mir leid, Lyd.“ Sie war kein kompletter Geizhals gewesen und hatte Brody zuliebe einen Weihnachtsbaum in Lydias geräumigem Wohnzimmer aufgestellt. „Ich warte auf mein Zuhause. Wenn das nicht klappt, werden die Shaws Weihnachten im Muthu Newton Hotel feiern. Hamish hat es vorgeschlagen und uns die Karte geschickt. Sie haben ein wunderbares Festpreismenü, das wäre mal etwas anderes, um mich vom Schmollen abzuhalten.“

„Wenigstens stehst du dazu, Miss Muffelig“, sagte Lydia. „Ich finde, das Hotel ist eine großartige Idee. Ich war da schon einmal mit der Agentur essen, und es war sehr lecker. Würde Hamish mitkommen?“

„Wir haben darüber gesprochen, ja.“

„Und das erfahre ich erst jetzt?“

Wenn es nach Lydia ginge, wäre Paislee bis über beide Ohren verliebt; Paislee überlegte sich jedes Mal gut, was sie ihr erzählte, damit Lydia sich keine Hoffnungen machte; und Hamish auch nicht, was das betraf. „Wir haben die letzten Wochen miteinander geschrieben. Der arme Mann fühlt sich schrecklich wegen dem, was passiert ist, aber es war nicht seine Schuld.“ Nein, der Einsturz der Decke war niemandes Schuld gewesen, nur der fragwürdige Charme eines alten Hauses.

„Das sind wunderbare Fortschritte, Paislee. Ich hatte schon Angst, du hättest ihn endgültig verscheucht. Nein, du bist ihm wichtig.“

Paislee war bewusst, wie besonders es war, dass Hamish sie in dem Tempo „daten“ wollte. „Ich hätte ihn ja zu Weihnachten eingeladen, aber mein Haus will einfach nicht fertig werden, Lydia.“

„Heimprojekte ziehen sich oft. Ich glaube, sie haben noch nicht einmal mit dem Streichen angefangen, aber das ist nicht meine Schuld.“

„In dem Fall vielleicht schon“, sagte Paislee. Lydia hatte eine erstklassige Einrichtung bestellt, die innerhalb Paislees Budget lag, und Paislee wusste, dass Lydia selber noch etwas dazu beigesteuert hatte, aber der Kühlschrank war seit einem Monat im Lieferrückstand. Über einen Monat herrschte schon Unsicherheit, ob sie etwas anderes suchen müssten und wie viel Zeit es kosten würde. Es hatte einen Mangel an Handwerkern gegeben, und dann hatte die Firma, die ihre Versicherung angeheuert hatte, gekündigt, was sie in die Bredouille gebracht hatte, und jetzt waren vier Monate vergangen und sie hatte ihr Zuhause immer noch nicht zurück. Februar? Mist.

„Ich möchte das Allerbeste für dich“, sagte Lydia. „Ich freu mich schon wie ein Schneekönig darauf, wenn du das Endergebnis siehst. Ich habe alles nach deinem Geschmack ausgesucht.“

Paislee hatte Lydia freie Hand gelassen und versprochen, erst zu gucken, wenn alles fertig war. Heute Morgen war sie mehr als versucht gewesen.

Sie fuhr vor der modernen Wohnanlage vor und hielt an. Grandpa kam aus der Lobby und stieg ein. „Hallöchen. Du hast recht. Es riecht, als ob es nun doch noch schneit“, sagte er. Obwohl die Berge damit bedeckt waren, waren bei ihnen noch keine weißen Flocken gefallen.

Lydia begrüßte Grandpa mit ihrem üblichen Enthusiasmus über die Freisprechanlage. „Angus! Du machst heute Frühschicht?“

„Ja, Lydia, meine Liebe. Elspeth und Susan sind beide erkältet, und der Laden platzt vor Leuten, die Schals, Pullover, Strickjacken und Mützen kaufen wollen … Paislee braucht mich.“

„Ich wünsche ihnen eine gute Besserung“, sagte Lydia. „Ich hoffe ganz egoistisch, dass wir nicht krank werden, aber jetzt ist die Saison dafür, was?“

Grandpa lachte. „Nichts, was ein Schlückchen Whisky mit Honig nicht richten kann.“

„Dafür ist es ein bisschen zu früh, Grandpa“, neckte Paislee ihn und schlug den Weg zu Cashmere Crush ein.

„Kommt am Samstag zu unserer Party“, sagte Lydia. „Ihr beide, da Brody ja bei Edwyn ist.“

„Ich kann nicht! Ich werde den ganzen Abend backen, und am Sonntag auch.“

„Ich vergöttere Agnes’ Black Buns“, sagte ihre beste Freundin. „Hebst du mir einen auf?“

„Versprochen. Ich hatte gehofft, dich an Weihnachten zu sehen, aber er wird ja nicht schlecht.“ Paislee würde extra viele backen, für alles, was Lydia für sie getan hatte.

„Wir sind am zweiten Feiertag wieder zurück – nachdem wir morgens eine ordentliche Shoppingtour gemacht haben. Mum und ich decken uns mit den besten Schnäppchen ein.“

Am zweiten Weihnachtsfeiertag gab es überall Rabatt. „Wir werden hier sein. Wenn wir uns vorher nicht sehen …“

„Das wäre komisch“, verkündete Lydia. „Aber heute gehen wir mit Corbins Freunden Essen, am Samstag hast du keine Zeit und am Sonntag fahren wir zu meinen Eltern. Ich liebe die Feiertage, aber ich hasse sie auch.“

Grandpa lachte. Paislee erreichte die Market Street und bog langsam in die Gasse ab. Sie fuhr an der Eisdiele an der Ecke vorbei, die erst um elf Uhr aufmachte, dem Schreibwarenladen, dem Labor, der Reinigung und dem Ledergeschäft. Cashmere Crush lag am Ende der Straße und knapp über drei Kilometer von Lydias Eigentumswohnung entfernt. „Da sagst du was! Also – wir feiern abends am sechsundzwanzigsten zusammen.“

„Warte nur, bis Brody sieht, was wir ihm zu Weihnachten schenken“, sagte Lydia. „Seine Freunde werden ihn alle beneiden.“

„Lydia, du hast doch schon so viel getan!“ Paislee stellte den Motor ab.

„Hey, Brody gehört zur Familie. Von Corbin mit seinen vielen Neffen und Nichten bekomme ich wirklich gute Geschenkideen.“

„Du verwöhnst ihn. Und uns – danke dir.“ Sie legte auf.

Paislee und Grandpa stiegen aus dem Juke, liefen die Betonstufen hoch, wo sie mit ihren kalten Händen Mühe hatte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, und eilten in den Laden. Es roch nach Kiefer, Balsam und Pfefferminz. Sie knipste das Licht an, und auch wenn sie die Nase voll von Weihnachtsliedern hatte, hob die rote, grüne, weiße und goldene Deko ihre Laune. Elektrische Kerzen glommen auf den zwei hohen Werktischen in Nestern von frischen Tannennadeln und Tannenzapfen. Sie hatte Adventskränze gestrickt, die im Handumdrehen ausverkauft gewesen waren.

Grandpa stellte den Wasserkocher im Lager an. „Ich hatte keine Zeit mehr, meine zweite Tasse Tee auszutrinken. Vielleicht mache ich noch einen Schuss Whisky rein.“ Er warf Paislee einen Blick zu, als ob er schauen wollte, wie sie reagierte.

Er war ein kerngesunder, erwachsener Mann. Wenn er einen Schluck nehmen wollte, um sich zu wärmen, würde sie ihn nicht dafür verurteilen.

„Ich hätte auch gerne einen Tee, ohne Alkohol.“ Paislee streifte ihre Jacke ab und hängte sie zusammen mit ihrem Schal hinten an einen Haken, wo die Kunden sie nicht sahen. Als Nächstes setzte sie ihre Mütze ab, und ihre dünnen Haare standen statisch aufgeladen in alle Richtungen ab.

Grandpa goss ihnen Tee ein und Paislee ging zur Eingangstür, wo sie aus dem Milchglasfenster spähte.

Amelia, die samstags aushalf und hauptberuflich auf der Polizeistation Nairn als Rezeptionistin arbeitete, hatte einen rundlichen Schneemann mit einem gestrickten Schal und passender Mütze darauf gemalt. Grüne Elfen frohlockten mit kugelrunden Welpen auf Stechpalmenblättern in der Ecke des Fensters, und sie hatten viele Komplimente dafür bekommen, wie weihnachtlich es aussah – es lockte auf jeden Fall Kunden an. Amelia hatte zugegeben, dass sie sich als Teenager am Comiczeichnen versucht hatte.

Paislee schloss die Tür auf, obwohl es erst halb zehn war und sie offiziell erst um zehn öffneten. Sie kehrte zur Kasse zurück und zog das dringlichste Projekt aus dem Regal, eine marineblaue Weste im Patentmuster mit dicken Zöpfen.

„Du solltest einen hässlichen Pullover machen“, sagte Grandpa und stellte ihre Tasse auf eine Serviette vom Strick-und-Schlückchen am Vorabend, mit hübschen Schneeflocken auf silbernem Hintergrund.

„Bitte?“ Paislee war stolz auf ihre erstklassigen, maßgeschneiderten Artikel.

„Du weißt schon, was ich meine. Die veranstalten ganze Wettbewerbe.“ Grandpa zuckte zusammen, als er seinen Rücken streckte, und pustete dann seinen heißen Tee an. Die Tasse, die er sich ausgesucht hatte, zeigte einen äußerst fröhlichen Weihnachtsmann, der Trinkspiele mit seinem Rentier spielte.

Paislee, die sich auf einen Hocker gesetzt hatte, legte die Weste in ihren Schoß und nahm ihre Nadeln und die Wolle in die Hand. „Ich mache bei dem Ugly-Sweater-Wahn nicht mit. Das ist ein Trend, der hoffentlich wieder vorbeigeht.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. James findet sie urkomisch. Hat seinen Enkeln gesagt, dass sie ihm einen zu Weihnachten schenken sollen.“

James Young war der Inhaber der Lederreparatur nebenan, genau wie sie mit erstklassiger Lage an der Ecke der Market Street. Sie hatte die Chance gehabt, ans andere Ende der Straße zu ziehen, wo die Bäckerei gewesen war, aber war ihrem Instinkt gefolgt und dortgeblieben, um etwas für die Ausgaben für ihr Haus zurückzulegen. Sogar mit ihrer Versicherung und Lydias Verhandlungstalent ging es ganz schön ins Geld.

Jetzt befand sich dort eine Eisdiele namens Scoops, die trotz des kalten Wetters immer gut besucht war. Der Inhaber war ein Mann Mitte vierzig, der aus dem Militär ausgetreten war und nun seine Tage damit verbrachte, den Leuten eine Freude zu machen. Er bot ein Dutzend selbstgemachte Sorten an und rollte eigenhändig die Waffeln. Paislees Lieblingssorte bis jetzt hieß Holly Berry, mit riesigen Stücken echter Himbeeren. Und mit einem Klecks Karamell? Naja, es war schließlich Weihnachten.

„Grandpa“, sagte Paislee, während sie die Nicht-hässliche-wenn-sie-es-vermeiden-konnte-Weste strickte, „Lydia ist wirklich pedantisch und lässt mich nicht nach unserem Zuhause schauen. Ich bin drauf und dran, mich über den Schornstein reinzuschleichen.“

„Ich habe den Schlüssel, Mädchen. Du musst dein Leben nicht aufs Spiel setzen.“ Grandpa prostete ihr mit seiner Tasse zu, während er sich in einem Sessel mit hoher Lehne zurücklehnte, der vor einem hohen Regal mit beigefarbener, brauner und orangener Wolle stand. „Ich würde aber die Leiter für dich festhalten, wenn du es trotzdem tun wolltest.“

„Danke.“ Paislee grinste ihn an, den Großvater, der ein unerwartetes Geschenk war. „Ich habe Lydia versprochen, dass ich nicht reingucken werde, aber ich will wirklich gerne dort Weihnachten feiern. Nur wir drei, und Hamish hat sich bereit erklärt, unser First Footer, also unser erster Besucher zu sein, um uns Glück zu bringen, aber sie hat mir heute Morgen erzählt, dass sie noch nicht einmal mit dem Streichen angefangen haben.“

„Ah.“ Grandpa schlürfte seinen Tee. „Also war das der Grund, warum du so miesepetrig warst?“

„Oh!“ Paislee blinzelte überrascht bei der Feststellung. „War ich das?“

„Ein kleines bisschen griesgrämig“, bestätigte Grandpa. „Ich dachte, es läge daran, dass du so viel zu tun hattest.“

„Das hatten wir, das stimmt, aber ich weiß ja, dass die Zahlen im Januar einbrechen werden. Es liegt an der Saison, kein Grund zur Panik.“ Paislee machte mit der nächsten Reihe weiter und erinnerte sich daran, wie sie sich in den Anfangsjahren Sorgen gemacht und gelernt hatte, etwas für schlechte Zeiten oder unerwartete Geschäftskosten zurückzulegen. „Das hat Gran mir beigebracht.“

„Sie war eine weise Frau.“

„Ja. Sie fehlt mir.“ Paislees Nase brannte, aber sie hielt mit einem Schniefen die Tränen zurück.

Grandpa sah sie über seine Tasse hinweg an. „Agnes hat Weihnachten geliebt.“ Sein Blick wurde bei den Erinnerungen weich. „Ich bin in der Church of Scotland großgeworden, Agnes war Katholikin durch und durch. Ihre Familie hat Weihnachten immer stolz und offen gefeiert, nachdem 1958 das Gesetz geändert wurde. Wir Protestanten haben die Feierlichkeiten ähnlich begangen, aber deine Oma hat immer ein klein wenig übertrieben.“

Paislee lachte und nippte an ihrem Tee. „Das beschreibt es sehr gut. Weihnachtslieder, Obstkuchen, Kränze, Decken, Plätzchen, und ihre berühmten Black Buns. Wenn irgendwo noch Lametta und Tannenzweige hingepasst haben, hat sie es gesehen.“

„Das hat sie.“ Grandpa lachte leise und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Die Arbeit mit den Kleinen in der Schule hat ihre Kreativität immer befeuert.“

„Was haben Grans Eltern davon gehalten, dass du evangelisch warst, wo sie doch Katholiken waren?“

Grandpas braune Augen funkelten hinter seinen Brillengläsern. „Ihr Vater ist jung gestorben, und ich glaube deine Urgroßmutter war so froh, dass sich Agnes zum Heiraten herabgelassen hat, nachdem sie immer eine eiserne Verfechterin der Frauenrechte war, dass sie mich mit offenen Armen empfangen hat. Agnes hatte schon ihren Studienabschluss an der Universität in London und die Welt gesehen. Ihre Schwester war allerdings nicht so aufgeschlossen.“ Er zuckte die Schultern. „Außerdem bin ich konvertiert. Ich nehme das alles nicht so genau. Ich weiß, woran ich glaube.“

Paislee war katholisch aufgewachsen, obwohl ihr Pa nicht streng gläubig gewesen war, genau wie ihre Mutter. Der Hauptunterschied zwischen den Religionen lag darin, dass Katholiken an Heilige glaubten, und an Maria, die Mutter Gottes. Sie glaubten, dass ein Priester im Zölibat leben sollte, und dass die Hostie der Leib und das Blut Christi wurde, wenn sie geweiht wurde, und Nichtkatholiken durften die Eucharistie nicht empfangen. Protestanten glaubten, dass die Bibel das einzig gültige Wort Gottes war.

Wie Grandpa kümmerte sie sich auch nicht um die Einzelheiten der jeweiligen Religionen, war aber definitiv überzeugt, dass man freundlich zu seinen Mitmenschen sein sollte. „Gran würde sagen, dass man einfach nett sein sollte“, sagte Paislee. Sie zog an dem Wollknäuel, das sich verheddert hatte.

„Das würde sie“, sagte Grandpa. „Und sie war die erste, die jemandem ihre Hilfe angeboten hat – bei ihr waren das nicht nur leere Worte.“

„Pater Dixon ist ein wahrer Fels in unserer Gemeinde. Apropos! Wir haben Decken für ein paar Familien in der Kirche. Am besten bringen wir sie heute nach der Arbeit vorbei.“

„Decken und Black Buns? Genau wie deine Oma.“ Grandpa, der seinen Tee ausgetrunken hatte, stand auf und rieb sich die Hände. „Ich bin so weit. Ich weiß, es ist nicht das, was du wolltest, aber sollen wir nicht ein kleines Weihnachtsessen bei Lydia veranstalten?“

Paislee konzentrierte sich auf ihr Strickprojekt und die glatte Wolle unter ihren Fingern. Wie sollte sie ihm erklären, dass es sich anfühlen würde, als würde sie sich einfach mit dem Zweitbesten zufriedengeben? „Naja, da wir nicht in unserem Zuhause feiern können, wie’s ausschaut, könnte es ganz schön sein, im Muthu Newton Hotel Essen zu gehen.“

„Nobel!“ Grandpa grinste. „Du hast zu viel Zeit auf Ramsey Castle und dem Leery Estate verbracht – jetzt wünschst du dir ein piekfeines Weihnachtsessen in einem Hotel.“

Paislee rollte mit zuckenden Mundwinkeln die Augen. „Tatsächlich war das Hamishs Idee.“

Grandpa griff nach dem Ladentelefon. „Ich reserviere uns einen Tisch, wenn es noch nicht zu spät ist. Für wie viele?“

„Wenn Hamish kommt, wären wir zu viert.“ Paislee ließ ihre Weste und Nadeln sinken. „Ich brauche nicht noch einen Punkt auf meiner To-Do-Liste, wie einen Schinken im Laden zu ergattern. Das Essen wird schön. Wusstest du, dass ich noch nichts für Brody besorgt habe?“

Grandpa nahm statt des Festnetztelefons sein Handy und tippte den Namen des Hotels ein, da Paislee kein Branchenbuch besaß. Er rief an, aber niemand hob ab.

„So ist das, wenn man Kinder hat, Paislee. Deine Oma ist bis in die Morgenstunden aufgeblieben, damit auch jedes einzelne Geschenk perfekt eingepackt war. Um Mitternacht habe ich immer von den Plätzchen für den Weihnachtsmann abgebissen, um zu beweisen, dass er auch dagewesen war. Dein Pa und deine Tante haben jedes Mal den Teller kontrolliert.“

Ihre Unterhaltung wurde durch einen stetigen Strom von Kunden unterbrochen, die sich gutgelaunt auf die Feiertage freuten.

Wie sich herausstellte, hatte Grandpa den richtigen Riecher gehabt, denn aus dem grauen Himmel fiel Schnee in großen, fluffigen Flocken herab.

Amelia Henry kam in ihrer Mittagspause vorbei, die Wangen von ihrem Fußmarsch gerötet. „Paislee! Angus …“ Der blaue Stoff ihrer Mütze passte zu ihren Augen, und Schnee rieselte von der Krempe. „Spektakulär, oder?“

„Der erste Schnee des Jahres ist immer etwas Besonderes“, stimmte Paislee zu.

„Gestern Abend hast du erwähnt, dass du noch Brodys Geschenke besorgen musst“, sagte Amelia. „Mein Bruder McCormac ist gerade aus Belfast angereist. Wenn er uns Bescheid gesagt hätte, wären Mum und Pa nicht nach Glasgow zu Michael gefahren. Kommunikation war noch nie seine Stärke. Jedenfalls, ein Freund von ihm kennt jemanden, der die süßesten kleinen Welpen bekommen hat!“

„Ein Welpe?“, fragte Paislee alarmiert. Welpen machten eine Menge Arbeit.

„Guck!“ Amelia zog ihr Handy hervor, um ihr eine Reihe winziger Welpen mit roten und grünen Schleifen zu zeigen. Von weiß, graubraun bis hin zu schwarz waren alle Fellfarben vertreten.

„Sie sind sehr niedlich“, sagte Paislee und dachte daran, wie oft selbst ein süßer Welpe Gassi gehen oder mit Toilettenmatten trainiert werden musste.

„McCormac kann das für dich regeln, wenn du einen für Brody haben willst.“ Amelia steckte ihr Handy ein. „Mit Zuchtbescheinigung und allem.“

„Schon okay, Amelia. Ich bleibe bei den Turnschuhen – die kosten ja nur hundert Pfund.“

Amelia lachte. „Na gut. Dann sehen wir uns morgen früh auf der Arbeit.“ Sie steckte ihre schwarzen Haare mit kirschroten Spitzen unter die Mütze. „Ich habe McCormac gesagt, dass ich mich umhöre. So wie ich ihn kenne, bekommt er dafür eine Provision.“

Paislee wusste nicht viel über McCormac Henry, außer, dass er ein schwarzes Schaf in einer Familie von schwarzen Schafen war. „Wie geht es ihm?“

„Ganz gut, glaube ich“, sagte Amelia. „Er scheint einen klaren Kopf zu haben. Schickes Auto, schicke Klamotten. Nicht so ausgelaugt. Das lässt mich glatt an ein Weihnachtswunder glauben.“ Sie schlug sich mit der Handfläche auf die Brust und kicherte über ihren Witz.

„Das ist fantastisch. Schade, dass deine Eltern nicht da sind. Kann er bei ihnen zuhause schlafen oder übernachtet er bei dir?“

„McCormac hat ein paar Ladys, mit denen er seine Zeit verbringen wird.“ Amelia krauste die Nase. „Er bleibt anstandshalber ein paar Nächte bei mir, aber er meint, das wäre alles geregelt. Sonst braucht mein Bruder immer irgendwas, also freue ich mich tatsächlich sehr, ihn zu sehen.“

„Was machst du denn an Weihnachten, wenn deine Eltern weg sind?“ Paislee behielt eine junge Frau im Auge, die einen gestrickten Kranz begutachtete.

„Ich weiß nicht.“ Amelia zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich gehe ich in den Pub.“

„Also, Grandpa will uns einen Tisch im Muthu Newton reservieren … Wollt ihr beide mitkommen? Hamish wird auch da sein.“

„Sehr gerne!“ Amelia zwinkerte Paislee zu und spreizte wie Grandpa den kleinen Finger ab. „Nobel.“

Kapitel 3

2. Weihnachtsfeiertag

Paislee, die ihr Wort gehalten hatte, hatte den Morgen in ihrem Pyjama und dicken Bademantel mit Lesen verbracht, während Grandpa Fernsehen schaute und Brody seine neuen Videospiele spielte.

Sie hatte sich in den gemütlichsten Sessel gekuschelt und war in einen Shetland-Krimi vertieft. Ann Cleeves hatte eine spektakuläre Buchreihe geschrieben, die auch für eine Streamingplattform verfilmt worden war, aber ihr gefielen die Bücher besser.

Jeder hatte sich selbst um sein Essen gekümmert, da mehr als genug zur Auswahl stand, von Müsli bis hin zu Quiche – ganz zu schweigen von Süßigkeiten wie gebrannten Mandeln oder mit Schokolade überzogenen Brezeln. Um drei Uhr nachmittags hatte sie immer noch ihren Schlafanzug an und bemerkte verdrossen mit einem Blick auf die Uhr, wie die Zeit verging.

„Ist es falsch, dass ich einfach für ein oder zwei Tage genau hier bleiben will?“ Ein paar Kapitel des Romans waren noch übrig. „Glaubst du, es würde Lydia und Corbin etwas ausmachen, wenn wir was bestellen und sie in Schlappen begrüßen?“

Grandpa grinste sie von seinem Platz auf dem Sofa an, wo er sich ausgestreckt hatte, Wallace zu seinen Füßen, und wischte sich Kekskrümel aus dem Bart. „Das fühlt sich dekadent an. Um wie viel Uhr sind sie da?“

Als ob sie damit ihre beste Freundin heraufbeschworen hätte, klingelte Paislees Telefon. Sie griff nach dem Handy neben ihrer Teetasse und der Untertasse mit einem halb aufgegessen Scone darauf, und legte ihr Buch in den Schoß.

„Frohe Weihnachten, Liebes“, sagte Lydia, die viel zu fröhlich für die gemächlich gestimmten Shaws klang.

Trotzdem war es immer schön, von Lydia zu hören. „Frohe Weihnachten! Wie war’s in Edinburgh?“

„Schön, schön. Mum und Pa geht es gut, und ihrem Baxter auch.“ Die Barrons hatten einen entzückenden kleinen Hund, der nur aus Fell und einer großen Klappe bestand.

„Amelia hat von ihrem Bruder einen Welpen zu Weihnachten bekommen.“ Wallace sprang vom Sofa, um an Grandpas Bart und dem Boden neben ihm zu schnüffeln, besser als ein Staubsauger. Was er wohl für Krümel fand? „Reinrassig mit Papieren, den er dir vermitteln kann, wenn du Interesse hast?“

„Nein, nein. Ich werde viel reisen und möchte noch kein Haustier. Irgendwann, wenn Corbin und ich alt und grau sind, denken wir vielleicht über eine eigenständige Katze nach, aber fürs Erste sind wir unterwegs!“

Die Barron-Smythes liebten es zu reisen, und Paislee hoffte, dass ihnen das Geschenk von ihr und Grandpa gefallen würde. Bei Leuten, die bereits alles hatten, musste man kreativ werden. „Kommst du gleich vorbei?“

„Na ja, also …“

Paislee kreuzte die Finger, dass sie absagen und es auf morgen verschieben würden. An den Luxus, nichts Dringendes zu tun zu haben, könnte sie sich gewöhnen. „Ja?“

„Ich hatte gehofft, dass wir uns bei dir zuhause treffen könnten“, sagte Lydia.

„Jetzt?“ Paislee räusperte sich, als sie ihren Ton bemerkte, und griff nach ihrem Tee, um einen Schluck zu nehmen. Wenn sie die Wohnung verlassen musste, bedeutete das, dass sie sich anziehen und in den Schnee hinaus musste, anstatt herauszufinden, was als Nächstes in ihrem Buch passierte. „Ich dachte, du und Corbin kommt hierher?“

„Es gibt ein Problem.“

Paislee stand auf, und der Roman fiel zu Boden. Sie legte die Hand auf ihr wummerndes Herz. Das Dach? Der Carport? „Ein Problem?“

„Komm einfach her!“

Lydias Stimme klang angestrengt. Was, wenn Corbins Familie wieder etwas angestellt hatte? „Ist bei dir alles in Ordnung?“

„Natürlich“, sagte Lydia. „Aber bring Grandpa und Brody auch mit.“

Wallace kam zu ihr und setzte sich mit funkelnden Augen zu ihren Füßen hin. Er war zu Abenteuern aufgelegt, im Gegensatz zu den restlichen faulen Shaws. Sie sah es geradezu vor sich, wie Brody nörgeln würde. „Statt hier zu feiern? Aber –“

„Keine Widerrede … hey, wolltet ihr mich und Corbin heute nicht sehen?“, setzte Lydia sie ein kleines bisschen unter Druck.

„Du weißt, dass wir das wollen!“

Brody war auf der Suche nach Snacks aus seinem Zimmer gekommen. „Wer ist das?“

„Tante Lydia.“

„Hi!“ Ihr Sohn hob die Stimme, damit sie ihn hörte, als Paislee das Handy an sein Ohr hielt. „Ich muss ihr und Onkel Corbin unbedingt mein neues Spiel zeigen.“

Vielleicht waren sie und Grandpa die einzigen, die sich verkriechen wollten. „Tja, du wirst es einpacken und mitnehmen müssen, mein Sohn. Anscheinend gibt es ein Problem mit dem Haus. Ein Problem.“ Paislee atmete durch. Bis eben war der Tag einfach perfekt gewesen.

„Seid in dreißig Minuten da. Und denk an meinen Black Bun.“ Lydia legte auf.

„Frech!“ Paislee bückte sich, um ihr Buch aufzuheben, und legte es neben ihre Tasse. Sie ließ das Handy in ihre Bademanteltasche fallen und sammelte dann das Geschirr ein, um es zur Spüle zu bringen. Brody hatte sich in sein Zimmer verzogen … hoffentlich, um sich anzuziehen.

Grandpa schaltete den Fernseher aus und stand auf, während er seine Brille zurechtrückte. „Es gibt ein Problem mit dem Haus?“

„Ja. Lydia hat uns gebeten, dass wir alle vorbeikommen. Vielleicht ist das Dach eingestürzt, und wir müssen unsere anderen Sachen auch wegwerfen?“ Paislee hatte Bauchschmerzen. Bei den Kosten wurde ihr schwindlig. „Die Kastanie im Garten war schon zu verwildert. Ich hätte sie stutzen lassen sollen.“

„Mach dich nicht vorher schon verrückt, Mädchen“, meinte Grandpa in neutralem Ton.

„Wir brauchen McCormac, damit er uns Glück bringt – aber wenn das so weitergeht, wird das Haus nicht vor nächstem Jahr Weihnachten fertig werden.“ Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was das Schicksal vorhaben könnte, um sie und Hamish für ein weiteres Jahr voneinander fernzuhalten.

Eingemummelt in Schal und Mütze entschied Paislee, Wallace mit einem Kauspielzeug zuhause zu lassen, und ihre Familie stieg in den unerschütterlichen Juke. Trotz der Renovierungskosten hatte Paislee jeden Monat etwas beiseitegelegt, damit die Bremsen erneuert werden konnten, aber was würde sie tun, wenn noch etwas im Haus schieflief?

Sie hatte das Limit ihrer Kreditkarten erreicht, und die Geschäfte würden im Januar und Februar schleppender laufen – auf der anderen Seite hätte sie dann Zeit, um ihre Ware aufzustocken.

Brody machte ein grüblerisches Gesicht und Paislee bereute ihren Ausbruch. Sie warf einen Blick hinter den Beifahrersitz, während Grandpa sich anschnallte, und tätschelte Brodys Knie. „Es wird alles gut, Schatz, okay?“

„Okay.“ Brody verzog skeptisch die Mundwinkel.

Memo an mich: Sei kein Miesepeter.

Als sie am Haus ankamen, rieselte Schnee aus dem dunkelgrauen Himmel. Um vier Uhr nachmittags wurde es dunkel, aber die Weihnachtsbeleuchtung in der Nachbarschaft leuchtete fröhlich. Ihr Haus war das Einzige, an dem keine Lichter brannten, aber der Schnee auf dem Dach verlieh ihm ein frisches Aussehen. Kein einziger Laster stand davor. Die Türen und Fenster waren verschlossen. Im Carport stand Lydias Mercedes an den Rand gedrängt, damit sie ebenfalls parken konnte.

„Das Dach sieht heil aus“, sagte Grandpa, als sie ausstiegen.

„Vielleicht der Garten?“ Paislee ging im Kopf die Ausstattung durch. „Ich mochte diesen Schuppen eh noch nie, falls er eingestürzt ist. Oder die Wäscheleine? Die ließe sich leicht ersetzen und wäre nicht so teuer.“ So, dachte sie, das war etwas Positives.

Brody rannte voraus und öffnete die Haustür. Lydia und Corbin standen mit verschränkten Armen und albernem Grinsen in dem schmalen Flur.

„Frohe Weihnachten, ihr Shaws!“

Paislee sah ihre beste Freundin argwöhnisch an, die ein schelmisches Glitzern in ihren grauen Augen hatte. Lydia und Corbin trugen beide die gleichen Karohemden und rote Weihnachtsmützen.

„Kommt rein“, sagte Lydia und trat mit Corbin ein paar Schritte zurück, damit die drei eintreten, aber nicht zu weit den Flur entlanggehen konnten.

Paislee, der Brody nicht von der Seite wich, sah sich langsam um. In der Diele glänzte poliertes Holz an der Treppe und den Zierleisten, und die Wände waren frisch in einem sanften Elfenbeinton gestrichen.

Ihre Lieblingsbilder von Gran und Brody und aktuelle Fotos mit Grandpa, Wallace, Lydia und Corbin hingen in brandneuen schicken Bilderrahmen an den Wänden. Der kleine Tisch war in einem künstlich abgenutzten Treibholzstil gestrichen worden und sah besser aus als vorher. Regale für Schuhe und Taschen waren aufgestellt worden, um den schmalen Raum so geräumig wie möglich zu machen. Haken an der Wand gegenüber der Treppe boten mehr Platz als der alte, überfüllte Kleiderständer. Der eiserne Türstopper in Form eines Scottish Terriers war neu gestrichen worden und funkelte wie Kohle.

Brody nahm ihre Hand. „Wow!“

„Nichts ist schiefgelaufen?“, fragte Grandpa und kratzte seinen Bart. Schnee schmolz auf dem Schirm seiner Mütze.

Lydia legte die Hand aufs Herz. „Ich hoffe doch nicht! Wir haben den Handwerkern Zuschläge gezahlt, damit ihr bis Neujahr einziehen könnt. Ich weiß ja, dass es dir wichtig ist, Paislee. Bereit, dir die Küche anzuschauen?“

Paislee nickte, ein kleines bisschen unter Schock. „Ja.“ Hand in Hand mit Brody beäugte sie die Decke, die vollkommen unversehrt war, ohne einen einzigen Riss oder Fleck. Sie folgten Lydia den Flur hinunter, Grandpa dicht hinter ihnen.

Der verzogene Holzboden war durch massive Laubholzdielen ersetzt worden, und ein runder Teppich in sanften Grau- und Beigetönen mit blaugrünen Akzenten lag in der Mitte der Küche. Darauf stand ihr Lieblingstisch, neu lackiert und glänzend. Paislee blinzelte sich Tränen aus den Augen und nahm leicht betäubt den Edelstahlkühlschrank, den dazu passenden Gasherd und den Waschtrockner hinter einer Schranktür in sich auf, alles in gedämpftem Grau und Beige mit blaugrünen Akzenten.

Brody rannte zum Kühlschrank und öffnete ihn. Lydia hatte ihn mit Orangenmarmelade, Irn-Bru und Grauburgunder aus Deutschland befüllt. In der Mitte lag eine Champagnerflasche mit einer roten Schleife darum.

„Es gibt auch einen Eiswürfelspender. Mit Wasseranschluss. In der Kühltruhe ist massig Platz für Eiscreme.“ Lydia redete schnell, als ob sie nervös wäre.

In der neu gestrichenen Speisekammer standen nun Holzregale statt Rattan, mit zwei Türen, damit sie geschlossen werden konnten – früher hatten sie offen gestanden, sodass jeder sehen konnte, ob sie auch ordentlich war. Grandpas Lieblingswhisky stand im obersten Fach.

Paislee fuhr mit den Fingern über die Arbeitsplatte. Die größte Veränderung war die Spüle, die jetzt an der Wand neben der Terrasse lag, und ein rechteckiges Fenster, um Licht hereinzulassen. Hocker standen unter einem kurzen Tresen mit einem Wasserkocher und einer Teestation.

Grandpa spähte über die Edelstahlspüle gebeugt hinaus in den verschneiten Abend. „Daran habe ich nie gedacht, aber es ergibt Sinn, was? In dieser Ecke hier war es immer dunkel.“

Alles war stylisch eingerichtet worden, und gleichzeitig doch so gemütlich.

„Hasst du es, Paislee?“, fragte Lydia mit erhobener Stimme. „Warum sagst du denn nichts?“

„Bist du verrückt?“ Paislee schüttelte ihre Freundin an den Schultern. „Das ist die Küche, von der ich immer geträumt habe. Danke, Lydia.“ Sie griff nach Corbins Hand. Sein Grinsen war so breit wie das neue Fenster. „Danke.“

„Sehr, sehr gerne.“ Corbin nahm den Champagner heraus und öffnete ihn.

Lydia holte Sektgläser. „Auf einen Neuanfang“, sagte sie. „Brody, Schatz, dein Geschenk steht oben in deinem Zimmer.“

Paislee sah zu, wie Brody an ihr vorbei die Treppe hochraste, deren dritte und fünfte Stufe knarzten, und erlaubte einer Träne herunterzukullern.

Das war ihr Zuhause.

Brody rief vom Treppenabsatz: „Danke!“

„Was habt ihr ihm denn geschenkt?“, fragte Grandpa.

„Einen neuen Fernseher.“ Corbin zuckte die Achseln.

Paislee zog die Brauen hoch.

„Der andere war alt. Der ist ein kleines bisschen größer.“ Lydia presste ihren Daumen und Zeigefinger zusammen.

Corbin lachte und schenkte ihnen gekonnt den sprudelnden Champagner ein. „Nur ein bisschen. Und eventuell eine neue Spielkonsole.“

Paislee schluckte ihre Tränen hinunter. Die beiden hatten sich so viele Gedanken bei den Geschenken gemacht, dass sie sich ganz klein vorkam. „Wie kann ich mich nur bei euch beiden bedanken?“

„Wir sind Familie!“ Lydia schlang einen Arm um Paislee und drückte sie an sich. Sie roch leicht nach einem blumigen Parfum. „Slàinte.“ Die vier Erwachsenen stießen an.

„Wann können wir einziehen?“ Paislee nippte an dem Schaum, der ihr in der Nase kitzelte. Sie freute sich darauf, ihre ganze neue Ausstattung auszuprobieren.

„Sobald ihr wollt“, sagte Lydia. „Aber lasst euch ruhig Zeit mit dem Umzug. Es eilt nicht.“

„Wir Shaws haben euch auch ein Geschenk besorgt.“ Paislee hatte den Gutschein vorsichtshalber zusammen mit dem Black Bun in ihre Handtasche getan, um den eine rot-grüne Schleife gebunden war. Sie hatte noch drei andere in der Wohnung für Lydia stehen und wünschte, sie hätte alle mitgenommen.

„Das haben wir“, sagte Grandpa. „Aber mit eurem kann es nicht mithalten.“ Er war ihr eine große Hilfe dabei gewesen, etwas Einzigartiges zu finden. Das Spa in Italien hatte Fünf-Sterne-Bewertungen dafür bekommen, wie sehr es seine Gäste verwöhnte; Lydia und Corbin hatten jede Hot-Stone-Massage und Schokoladen-Maske verdient, die sie sich wünschten.

„Nichts für ungut, aber ich freue mich auf den Black Bun“, sagte Corbin. „Lyd hat seit Tagen davon geschwärmt.“

Paislee stellte ihn in die Mitte des Tisches. „Wir können ihn jetzt anschneiden, wenn du möchtest.“

„Ähm, nein, weil dann müssten wir ja teilen“, neckte Lydia.

„Ich habe noch welche für dich.“ Paislee gab ihnen den Gutschein für das erstklassige Spa. Anscheinend war es ein Volltreffer, denn Lydia quiekte auf und umarmte Paislee und Grandpa.

„Das ist perfekt“, rief Lydia aufrichtig erfreut. „Danke! Ich habe schon so viel davon gehört, aber es ist unmöglich, an eine Reservierung zu kommen. Wie habt ihr das geschafft?“

Paislee deutete mit ihrem Sektglas auf Grandpa. „Er hat seinen Charme spielen lassen und die Rezeptionistin davon überzeugt, dass ihr übers Wasser laufen könnt – auf einer Stufe mit Mutter Theresa. Er lag gar nicht so falsch, was?“ Ihre Küche war atemberaubend und alle Sorgen wert.

Grandpas Augen funkelten und er wedelte mit dem kleinen Finger, während er an seinem Champagner nippte.

„Danke.“ Corbin schenkte ihnen nach und sie stießen erneut an.

Paislee sah nach oben zu ihrer neuen Decke und dachte an den gutaussehenden Hamish, mit seinen dunklen Haaren, und wie gut er reagiert hatte, als die Rohre geborsten waren und ihn durchnässt hatten. Gott sei Dank gehörte das nun der Vergangenheit an.

„Und Corbin ist hier, Paislee, ein Mann mit tiefschwarzen Haaren, ziemlich gutaussehend, wenn ich das mal so sagen darf.“ Lydia stupste ihren Mann zwinkernd mit dem Arm an.

„Es ist zwar nicht Neujahr, aber das passt schon“, sagte Grandpa. Er holte den Macallan aus dem Vorratsschrank.

Paislee machte die Besteckschublade und die Teller ausfindig, während Lydia die Sektgläser durch Whiskygläser austauschte.

„In der Wohnung stehen noch drei andere für dich, also können wir den hier jetzt teilen, ja?“ Paislee hoffte, dass ein Schluck Whisky, der Kuchen, der dunkelhaarige Mann und die neue Küche ihr Glück zum Besseren wenden würden. Sie war bereit, alles zu versuchen.

„Frohe Weihnachten!“

Und das war es auch wirklich. Amen.

 

„Der ist so lecker, Grandpa!“ Schwer zu glauben, dass bereits Hogmanay war. Paislee tunkte ihren Löffel in eine Schale herzhaften Linseneintopf, den Grandpa mit Schweinshaxe gekocht hatte; Brody konnte kaum stillsitzen, während er und Grandpa sich über das Feuerwerk um Mitternacht unterhielten. Nairn hatte ein spektakuläres Event am Musikpavillon geplant.

Paislee hörte mit halbem Ohr zu, während sie im Geiste die Gästeliste für das Neujahrsbuffet am nächsten Tag durchging. Sie hatte Amelia und aus Versehen DI Zeffer eingeladen, da er anwesend gewesen war, als sie auf der Polizeistation vorbeigeschaut und nachgefragt hatte, ob McCormac auch kommen würde.

Zeffer glaubte nicht an die First-Footer-Tradition, aber das kümmerte sie nicht. Sie brauchte einen gutaussehenden dunkelhaarigen Mann, und Zeffer, auch wenn er attraktiv war, hatte rostrote Haare. Corbins Erscheinen am zweiten Weihnachtsfeiertag war schon eine gute Sache gewesen, aber Paislee wollte noch einen drauflegen und sichergehen, dass sich das Blatt im neuen Jahr wendete, also hatte sie eventuell Hamish eingeplant, wenn er rechtzeitig nach Nairn zurückkommen konnte, und Amelias Bruder McCormac als zweite Wahl.

Die blonden Macleans würden mit Bennetts Eltern in Dundee feiern. Lydia und der schwarzhaarige Corbin waren auf Smythe Manor.

Sie hatte auch Elspeth und Susan eingeladen – den Schwestern ging es wieder besser. Susan würde ihren Blindenhund mitnehmen, einen Labradoodle namens Rosie. Paislee musste Amelias süße Snowball erst noch kennenlernen. Meri hatte zugesagt.

„Hast du das gehört, Mum?“, fragte Brody ungeduldig.

„Ähm, nein.“ Sie aß noch einen Löffel Suppe.

„Grandpa hat gesagt, dass Grans Familie Rebellen waren.“ Er runzelte die Stirn, wodurch sein Pony ihm ins Gesicht fiel.

„Rebellen?“ Paislee schüttelte verwirrt den Kopf.

„Sie hätten getötet werden können, wenn sie in die Kirche gegangen wären.“ Brody sah sie an, als ob er erwartete, dass sie widersprechen würde.

Paislee wandte sich zu Grandpa, der die Unterhaltung begonnen hatte, und bedeutete ihm mit ihrem Löffel, einem Zwölfjährigen, der sich nur für Comics und Fußball interessierte, die Reformation zu erklären.

„Die Reformation begann 1560“, sagte Grandpa. „Agnes hat immer gescherzt, dass man den Schotten nicht das Recht zum Feiern nehmen konnte. Da wir von mutigen Wikingern und leidenschaftlichen Kelten abstammen, heißt das, dass wir die dunklen Winter mit Feuern und hellen Lichtern verjagen, mit Alkohol und Essen.“

„Gemeinschaft“, sagte Paislee.

„Mit einem Feuerwerk?“ Brody stand auf, um sich noch Linseneintopf in seine Schale zu schöpfen, und trug sie vorsichtig wieder zu seinem Platz. Wallace wartete geduldig darauf, dass etwas herunterfiel.

„Wie sonst sollen wir das neue Jahr mit einem Knall einläuten?“, fragte Grandpa.

Paislee kannte die Geschichte noch aus ihrer Schulzeit. Vor der Reformation war Schottland strikt katholisch gewesen … sie hatten die Herrschaft des Papstes anerkannt, Kruzifixe, Buntglasfenster und die Verwendung von Ikonen zur Gottesverehrung. Die Heiligen. Maria als Verbindung zu Jesus und Gott.

Protestanten dachten, dass jeder, der an Jesus glaubte, ein Heiliger war. Sie folgten allein der Bibel, da sie postulierten, dass die Kirche der Korruption verfallen war. Die Jungfrau Maria, von Gott gesegnet, um Jesus zu gebären, wurde nicht zum Status einer Heiligen erhoben.

Durch die Church of Scotland wandelten sich die sozialen Normen im sechzehnten Jahrhundert zu einer strengeren Gesellschaft. Die Kunstwerke in den frühen schottischen Kirchen wurden von Fanatikern zerstört, die glaubten, dass allein die Zwiesprache mit Jesus zu Gott führte.

Das bedeutete, dass die rauflustigen Schotten Manieren lernten – ein Vorteil, klar, aber sie brauchten einen Weg, um den dunklen, trüben Tagen und Nächten im Winter zu trotzen, also führten sie Hogmanay um die Wintersonnenwende herum ein.

Laut einer aktuellen Umfrage in der Zeitung war die Hälfte der Schotten überhaupt nicht religiös. Als Nächstes kam die Church of Scotland, und danach die katholische Religion.

„Ist noch Suppe da?“ Brody zeigte ihnen seine leere Schale.

Grandpa schüttelte den Kopf. „Wenn ich nicht gesehen hätte, wie du dir den Wanst vollhaust, würde ich es nicht glauben. Mach dir ein Sandwich. Wir haben Thunfisch da.“

„Nee.“ Brody seufzte. „Ein Sandwich ist zu viel Arbeit.“

„Heute Abend auf dem Festival wird es genug zu essen geben“, erinnerte Paislee ihn. „Wir fahren in einer Stunde, also solltest du dich umziehen – zieh etwas Warmes an.“

„Kann Wallace mitkommen?“, fragte Brody.

„Nein, mein Schatz.“ Paislee ignorierte Wallaces hoffnungsvollen Blick. Der Hund war gerne mit ihnen unterwegs. „Das Feuerwerk macht ihm nichts aus, aber es ist trotzdem so laut, dass er sich besser zuhause ins Bett kuschelt.“

Brody widersprach nicht. Er spülte die Schale aus und stellte sie in die Spülmaschine. Ihre Aufregung über dieses magische Gerät war immer noch nicht verflogen. Er und Wallace rannten nach oben.

„Ich freue mich aufs Abendessen morgen“, sagte Paislee.

Grandpa zählte mit den Fingern die wichtigen Gerichte auf. „Lamm, Pute, Fleischpastete. Der Ofen ist so groß, dass das Fleisch und die Beilagen reinpassen.“

„Vergiss das selbstgemachte Shortbread nicht.“ Sie konnte es kaum erwarten. „Deins schmeckt genauso wunderbar wie Grans.“

Als Weihnachtsgeschenk hatte Brody für sie Grans Rezepte abgetippt und sie in einem Ordner gesammelt, damit sie nicht verloren gingen oder zerstört wurden, falls die Küche eines Tages nochmal überflutet wurde.

„Das ist ein großes Kompliment. Hast du irgendwelche Neujahrsvorsätze?“, fragte Grandpa.

„Weniger Schokolade essen …“ Paislee zuckte die Schultern. Das sagte sie jedes Jahr und schaffte es nie so ganz. „Und du?“

„Ich habe mich noch nicht entschieden.“

Paislee stand auf und spülte den Topf aus. „Na gut.“ Es war vier Uhr nachmittags. „Du hast noch genau acht Stunden.“

„Mehr als genug.“ Grandpa winkte ab. „Wir treffen uns in einer Stunde, sagtest du?“

„Ja. Zieh etwas Neues an, um das neue Jahr willkommen zu heißen.“

An Hogmanay würde der Musikpavillon von mehreren beheizten Zelten mit Musik und Verkaufsständen umringt sein. Kleine Feuerwerke würden die ganze Nacht gezündet werden, aber die große Show war für Mitternacht geplant – Tschüs, altes Jahr, und Hallo, neues Jahr. Sie war sowas von bereit.

Paislee trug oben in ihrem Zimmer Glitzerlidschatten und Lipgloss auf. Ihr silbernes Mesh-Oberteil passte perfekt zur Partystimmung, auch wenn es unter ihrer Jacke niemand sehen würde. Ihr Handy piepste, als eine Benachrichtigung einging, und sie las die Nachricht von Hamish. Er würde versuchen, an Neujahr zuhause zu sein. Er war ihr als First-Footer am liebsten.

Ein Knall ertönte aus einer Serie von Böllern. Wallace mochte sie nicht, aber er hatte keine Angst. Trotzdem würden sie ihn heute Abend zuhause in Brodys Zimmer lassen, eingekuschelt in seine Decke mit seinem Kauspielzeug.

Paislee schrieb Hamish zurück, dass sie hoffte, ihn dann zu sehen – und sie meinte es auch so. Sie war froh, dass sich seine Mutter auf dem Weg der Besserung befand.

Paislee schnappte sich ihre silberne Daunenjacke und verließ ihr Schlafzimmer. Nachdem sie an Brodys Tür geklopft hatte, steckte sie den Kopf hinein. Der Fernseher von Lydia und Corbin nahm fast die ganze Wand ein. Er schaute einen Film und schrieb jemandem, mit Wallace neben sich. Der Hund blickte auf, als sie eintrat, und wedelte mit dem Schwanz.

„Wem schreibst du? Edwyn?“

„Jenni.“ Brody pustete sich die Haare aus der Stirn. „Sie ist heute Abend auch beim Pavillon.“

„Super.“ Paislee begutachtete sein Outfit. Neue Jeans, neue Stiefel, und ein Sweatshirt mit Jack Skellington darauf. Das war sein Lieblingsshirt, und sie erinnerte sich an Grans weise Worte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

„Ihr Vater ist in der Band. Er spielt Schlagzeug.“

„Hmm. Das ist ja sehr cool. Wir müssen wohl einmal Hallo sagen.“

Brody sah sie finster an. „Sei aber nicht komisch, Mum.“

„Verstanden.“ Paislee entschied sich, lieber Wallace zu streicheln, als Brody durch die Haare zu wuscheln. „Das ist aber mein Job, oder?“

„Nein“, sagte Brody mit unbewegter Miene. „Ist es nicht.“

Paislee räusperte sich und wandte den Blick ab, damit er ihr ihre Emotionen nicht ansehen konnte. Was würde sie tun, wenn sie Freund und Freundin sein wollten? „Bist du soweit?“

„Ja. Ich will Schmalzgebäck kaufen. Und Eis essen.“

„Eis? Es ist eiskalt draußen.“

„Na und?“ Brody rutschte vom Bett und gab Wallace ein Leckerli.

„Mir soll’s recht sein.“ Paislee hob die Hände. „Ist das Handy aufgeladen? Heute Abend herrscht ganz schön viel Trubel und ich möchte nicht, dass du in Gefahr gerätst.“

„Ja.“ Er zeigte ihr den vollgeladenen Akku.

Sie würde darauf vertrauen müssen, dass alles gutgehen würde, und nicht zu sehr klammern.

 

Paislee fuhr mit ihrer Familie in die Stadt und parkte hinter Cashmere Crush. Das Festival war nur ein paar Straßen weiter und der Parkplatz war bereits voll gewesen, als sie daran vorbeigefahren war. Es schneite, während sie liefen.

Grandpa trug eine dunkelblaue Daunenjacke, und sie hatte ihm eine neue karierte Mütze mit passendem Schal gestrickt. Niedlich. Brodys Strickmütze, auch von ihr gemacht, war purpurrot und schwarz, seine Lieblingsfarben. Ihre Jungs würden nicht frieren müssen, nicht mit ihr, und noch dazu sahen sie stylisch aus.

Sie betraten die Wiese. Braunes Gras stach um die großen Zelte herum aus dem plattgetretenen Schnee hervor. Es gab mehrere Feuer, sowie Wärmelampen und Whisky, um sich warmzuhalten.

„Brody!“, rief ein Mädchen.

Paislee wandte sich um und sah Jenni, die in der Strickmütze und dem Schal von Brody auf sie zugerannt kam.

„Hi Paislee, und Angus.“ Jenni winkte mit geröteten Wangen.

Das Mädchen, zwölf Jahre, bald zwanzig, strahlte vor Freude, und es war unmöglich, ihr sonniges Gemüt nicht zu mögen. Sie hatten sie bei Brodys Fußballspielen kennengelernt. Blaugrünes Haar lugte unter ihrer Mütze hervor.

„Hey, Mädchen“, sagte Grandpa. „Frohe Weihnachten.“

„Frohes Neues“, fügte Paislee lächelnd hinzu.

„Frohes Hogmanay!“ Jenni boxte Brody in den Arm. „Sam und Anna sind hier und holen Snacks.“

„Kann ich mitgehen, Mum?“, fragte Brody.

Paislee blinzelte. Sie hatte gedacht, dass er bei ihnen bleiben würde, aber sie räusperte sich rasch und zog etwas Bargeld aus ihrer Jackentasche. „Hast du dein Handy?“ Sie gab ihm das Geld, als er nickte. „Ich möchte, dass wir uns“ – sie sah auf ihrem Handy nach der Uhrzeit – „in einer Stunde bei dem Musikpavillon treffen. Um sieben. Wenn du zu spät kommst, bleibst du den Rest des Abends bei mir.“

Brody schnitt eine Grimasse und Jenni kicherte.

„Ich werde ihn dran erinnern, Paislee. Mein Pa hat auch gesagt, dass ich zu ihm kommen soll. Er spielt um acht in dem großen Zelt.“

„Ich würde ihn gerne kennenlernen“, sagte Paislee.

„Klar!“

Brody und Jenni rannten davon, um ihre Freunde zu finden, woraufhin Paislee und Grandpa übrig blieben. „Kann ich dich für einen Schluck Whisky begeistern?“, fragte Paislee. „Ich glaube, ich brauche einen. Er ist bald komplett erwachsen!“

Grandpa knuffte sie mit dem Ellbogen in die Seite. „Reiß dich zusammen, Mädchen. Er ist gerade erst zwölf geworden. Du hast noch ein bisschen Zeit.“

Paislee hatte das Gefühl, dass jeder Tag im Handumdrehen vorüberging. Sie konnte Brody nicht festhalten. Er war kein kleiner Junge mehr, sondern eher ein Tween.

Grandpa besorgte ihnen beiden einen Whisky. „Slàinte.“

Sie stießen mit den Pappbechern an und sie lenkte sich ab, indem sie die Zuschauer beobachtete. Arran und Mary Beth stießen mit ihren Zwillingstöchtern zu ihnen. Die Mulhollands tranken alle warmen Kakao mit Sahne und waren bestens gelaunt.

Amelia ging mit McCormac und einer jungen Dame auf sie zu, die vermutlich eine von McCormacs Freundinnen war, so wie sie aneinanderklebten. Beide Frauen hatten ihre neuen Hunde dabei. Winzige Dinger, die nur aus Fell und Augen bestanden. Snowball war in eine Hundedecke gewickelt und unter Amelias Jacke versteckt.

„Was für eine Süße,“ sagte Paislee.

„Ich hatte Angst, sie allein zuhause zu lassen“, erklärte Amelia. „Ich habe online wegen des Feuerwerks geschaut, aber ich weiß nicht, ob sie wegen der Kälte zittert oder der neuen Umgebung oder dem Lärm.“ Sie streichelte die Hündin hinter den Ohren. „So kann ich sie beruhigen, aber sie scheint in Ordnung zu sein.“

Es war süß, wie Amelia sich um ihren neuen Hund kümmerte. Haustiere schenkten einem bedingungslose Liebe – Paislee konnte sich ihr Leben ohne Wallace gar nicht mehr vorstellen.

„Das ist Sula“, stellte Amelia McCormacs Freundin vor. „Und ihr Hund, Thor. Er ist ein Brüsseler Griffon.“ Der winzige Hund hatte rotbraunes Fell und knurrte. Sula war eine ziemlich junge Frau um die fünfundzwanzig Jahre, mit grünen Augen und blonden Haaren.

„Ich habe den Mädels gesagt, dass sie die Hunde zuhause lassen sollen, aber sie wollten nicht hören, diese Dummchen“, sagte McCormac. Zwischen seinen Fingern baumelte eine Bierflasche.

Wut stieg in Paislee auf. Er hatte Amelia nicht gefragt, ob sie überhaupt einen Hund wollte. Hatte Sula von ihrem Geschenk gewusst?

Arran und Mary Beth wechselten einen Blick, wie es nur lange verheiratete Paare tun konnten, und Mary Beth stellte sich beiläufig zwischen McCormac und die Zwillinge.

„Kennt ihr irgendwen, der einen Welpen will?“, fragte McCormac. „Zu einem fantastischen Preis und alle Papiere sind vorhanden.“

Hmm. Amelia hatte wahrscheinlich recht und er bekam eine Provision. „Das ist mein Bruder, McCormac.“

„Wir haben schon einen Hund“, sagte Mary Beth.

„Schön, dich kennenzulernen, McCormac“, sagte Arran.

Mary Beth nickte und lächelte. „Lasst uns später weiterreden. Die Mädchen wollen zum Kinderschminken.“

Die Mulhollands gingen zusammen davon. Beeindruckend, dachte Paislee, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder McCormac zu. Sie war versucht, sich auch schminken zu lassen, aber das wäre Grandpa gegenüber nicht fair.

„Was machst du beruflich?“, fragte Grandpa gerade. Er musste Amelia beim Essen nicht gehört haben.

„Ach, im Verkauf“, sagte McCormac. „Bei Mercedes.“ Er zeigte ihnen seine Armbanduhr, die Lydia vielleicht erkennen würde, aber für Paislee einfach nur teuer aussah. „Das ist eine Tag Heuer. Habe auch eine Rolex. Das Beste kann man sich nur leisten, wenn man keinen Müll verkauft, stimmt’s?“

„Das ist sein Auto“, sagte Sula und zeigte auf den Mercedes, den sie an Weihnachten vorm Hotel gesehen hatten. Er parkte auf den VIP-Plätzen, was ein hübsches Sümmchen kostete.

Amelia lächelte ihren Bruder voller Stolz an.

Sula tätschelte seinen Rücken. „Du warst immer gut darin, Leute zu etwas zu überreden.“ Sie wandte sich an Paislee und Grandpa. „Ich wollte nie an einem Seil in den Fluss springen, aber er hat mich überzeugt.“

„Und?“, bohrte McCormac nach.

„Es war aufregend“, gab Sula zu.

Die Gefahren eines Bad Boys, beobachtete Paislee. Er verhieß Aufregung. Trubel. Aber normalerweise war das nicht von Dauer.

Ein Böller explodierte mit einem Krachen, und Thor winselte und vergrub seinen Kopf unter Sulas Jacke.

„Ich hab dir gesagt, dass du ihn zuhause lassen sollst.“ Der freundliche Ton wich aus McCormacs Stimme, als Ärger an seine Stelle trat.

„Er wurde mir geschenkt“, sagte Sula und reckte das Kinn. „Ich wollte ihn mitnehmen. Dougie hat gesagt, das ist okay.“

Dougie war Sulas Bruder, wenn Paislee sich recht erinnerte, derjenige, den McCormacs alter Freund Hank nicht leiden konnte. McCormac wandte seinen verärgerten Blick von seiner Freundin ab und zwinkerte Paislee zu. „Brauchst du mich heute Nacht immer noch als Glücksbringer?“ Sein Ton war unanständig, und Sula keuchte auf.

Grandpa wurde wütend. „Pass auf, Jungchen“, sagte er.

Amelia stieß ihn mit einer Grimasse von sich. „Halt den Rand, McCormac.“

„Tatsächlich brauche ich dich überhaupt nicht“, sagte Paislee, dankbar für Corbin und Lydia. „Amelia, du bist immer noch herzlich zum Essen eingeladen.“

McCormac stakste davon, gefolgt von Sula, die ihm nachrief.

Er, ein erwachsener Mann, schmollte wie ein Kleinkind.

„Entschuldigt“, sagte Amelia. „Er ist ein Arschloch, wenn er trinkt. Aber nicht immer, stimmt’s? Bei ihm weiß man nie.“

„Nicht deine Schuld“, sagte Paislee. „Wie war sein Besuch bisher?“

Amelia seufzte. „Ich will euch jetzt damit nicht langweilen. Aber nicht so toll. Er stolziert hier rum und denkt, er könnte mit seinem Geld um sich werfen, aber er ist ein echter Idiot, überhaupt nicht so cool, wie er denkt.“

„Geht McCormac nach den Feiertagen zurück nach Irland?“, fragte Paislee.

„Nächste Woche vielleicht … er geht nie gerne ins Detail. Er ist ein großartiger Verkäufer, weißt du? Holt alle erstmal an Bord, und erst dann stellen sie fest, dass noch mehr dahintersteckt. Er hat mir aber ein gutes Angebot für einen Mercedes gemacht. Kannst du dir vorstellen, wie ich am Steuer eines Sportwagens sitze?“ Amelias blaue Augen blitzten auf.

Der Abend verging in fröhlicher Stimmung, während sie alte Freunde trafen und neue kennenlernten. Sula schien sehr jung und ganz hingerissen von McCormac. Hamish wünschte Paislee per SMS Frohes Hogmanay, Lydia ebenso.

Paislee war kein Fan von Neujahrsvorsätzen, aber dieses Beisammensein, dieses Miteinander mit ihrer Gemeinde, das würde sie öfter machen, einfach nur, weil es ihr gefiel.

Dougie Selkirk kam mit seiner Freundin Lyla an. Lyla, der McCormac einen Welpen zu Weihnachten geschenkt hatte? Wusste Dougie, dass McCormac seine Freundin beschenkt hatte? Dougie hatte hellbraune Haare, kantige Gesichtszüge und anständige Manieren im Vergleich zu McCormacs widerlichem Verhalten. Je mehr McCormac trank, desto lauter wurde er.

Paislee hatte Jennis Vater, Drew Ross, kurz getroffen, und ihr gefiel die Livemusik, die eine Mischung aus klassischem Rock und Pop war. Grandpa, Paislee und Amelia blieben nahe genug am Zelt, um Brody und seine Freunde im Auge zu behalten. Die Tweens tanzten nicht wirklich, aber wippten zur Musik. Oh, noch einmal zwölf sein. Snowball war, ungerührt vom Lärm, in Amelias Jacke eingeschlafen.

„Oh-oh. Das ist Porche Walsh, und ihr Bruder Hank.“ Amelia zeigte auf McCormacs Ex und Hank, die schnurstracks auf McCormac zu liefen. Porche sah reizend aus, ihr herzförmiges Gesicht von einer Fellkapuze eingerahmt, die sie an diesem kühlen Abend sicherlich warmhielt. Hank schubste McCormac, der ihn zurückschubste. Hank schlug McCormac hart genug ins Gesicht, dass der Mann rückwärts gegen Sula taumelte. Thor bellte. Blut strömte aus McCormacs Nase, während Porche Hank von ihm wegzerrte.

„Was ist da los?“, fragte Paislee Amelia. Es war erst zehn Uhr und sie hatten immer noch zwei Stunden bis zum Feuerwerk. Die beheizten Zelte und der heiße Cider hielten sie warm. Rauflustige Betrunkene könnten dem spaßigen Abend einen Dämpfer verpassen.

„McCormac hat was angestellt, wetten?“, sagte Amelia. „Ich liebe ihn, weil er mein Bruder ist, aber er kann ein richtiger Arsch sein, was Frauen angeht.“

Paislee hatte das am eigenen Leib erfahren.

Um Mitternacht hakten sich Paislee, Brody, Grandpa, Amelia und Sula unter und sangen „Auld Lang Syne“ mit, während das Feuerwerk über ihren Köpfen explodierte. McCormac, der dem Pavillon am nächsten stand, wippte auf den Fersen, um den Himmel sehen zu können.

Es war einfach magisch, aber Paislee merkte alarmiert auf, als der Geruch nach verbranntem Stoff auf einen Böller folgte, der an ihnen vorbeizischte und am Pavillon abprallte. McCormac wirbelte herum und stieß mit ihnen zusammen, betrunken und lachend. Sein hübsches Gesicht war geschunden, unter seiner geschwollenen Nase klebte getrocknetes Blut. Seine dünne Jacke war offen, und er fasste sich mit verzerrtem Gesicht ans Herz.

Paislee riss sich aus ihrer staunenden Träumerei und schob Brody näher zu Grandpa, in dem Versuch, ihren Sohn vor dem betrunkenen Mann abzuschirmen, der seine Hände in seine Brust krallte. McCormac brach mit einem Röcheln auf dem Rücken zusammen. Der Schnee war unter der Menge an Füßen zu Matsch geschmolzen.

Betrunken oder Drogen? McCormac war zu jung für einen Herzinfarkt, aber sie zog ihr Handy heraus, falls sie einen Rettungswagen rufen musste.

Bei einem medizinischen Notfall kam es auf jede Sekunde an.

„Tu das nicht, Paislee“, warnte Amelia. „McCormac wird das nicht gefallen.“

Kapitel 4

Paislee kniete neben McCormac, während Grandpa und Brody zurückwichen. Amelia stand mit sorgenvoller Miene neben ihr. Matsch durchweichte Paislees Jeans an den Knien. Sie suchte den Körper des Manns mit dem Blick ab, während er stöhnte. Seine Jacke war aus schwarzem Leder und an der Brust geöffnet. Sein Kaschmirpullover, ebenfalls schwarz, klebte dunkel auf seinem Oberkörper. War das ein Loch im Stoff?

Sie erinnerte sich an den Geruch, den sie wahrgenommen hatte, kurz bevor er hingefallen war, und schaute hoch zu dem hölzernen Pavillon, ein paar Schritte von ihnen entfernt. An den Böller, den sie vorbeifliegen gehört hatte.

Arran, Mary Beths Mann und ein wohlhabender Anwalt, trank nicht und war stocknüchtern, als er zu ihr kam und die Situation begutachtete. „Betrunken?“

Paislee zuckte die Schultern und legte den Finger auf das Loch in seinem Pullover. „Ich habe gehört, wie ein Böller an uns vorbeigeflogen ist.“

Arran runzelte überrascht die Stirn, und er kniete sich auf der anderen Seite des stöhnenden McCormac hin. „Er ist verletzt.“ Der Anwalt ließ seinen Blick an McCormac hinunterwandern, der bei dem Matsch an seiner Hand innehielt und auf dem Blut von dem Schlag ins Gesicht hängenblieb. „Wilder Abend, was, aber er hat auch ziemlich hart gefeiert. Hast du einen Krankenwagen gerufen?“

Paislee sah Amelia an, die den Kopf schüttelte. „Wir müssen, Amelia. Ich übernehme auch die Verantwortung, falls McCormac sauer wird.“

Endlich nickte Amelia. Paislee zog ihr Handy aus der Jackentasche, wählte den Notruf und nannte ihnen den Standort und dass ein Mann verletzt worden war. Sie wussten nicht, wie. Der Mitarbeiter sagte, dass der Krankenwagen unterwegs war, aber die Polizei schneller sein könnte, da die Straßen an Silvester verstopft waren. Im Park waren Polizisten auf Streife unterwegs. Paislee legte auf und gab die Informationen weiter.

„Ich gehe einen Polizisten suchen“, sagte Grandpa und verschwand mit Brody in der Menge.

Arran zog seine Jacke aus, faltete sie und platzierte sie unter McCormacs Kopf, ohne sich um den Matsch zu kümmern. McCormacs Atem kam stoßweise.

„Wird er wieder gesund?“, fragte Sula. Thor bellte wild in ihren Armen. Er hatte den Lärm nicht wie Snowball verschlafen. Hunde hatten genau wie Menschen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten.

„Natürlich“, sagte Paislee automatisch.

Amelia starrte ihren zusammengebrochenen Bruder an, während sie Snowball sanft zuredete.

„Ich wünschte, Dougie wäre noch hier. Er würde wissen, was zu tun ist“, sagte Sula und streichelte Thor zwischen den Ohren. „Er musste Lyla nach Hause bringen.“

Grandpa und Brody kamen sofort mit Constable Payne zurück, einer ihrer liebsten Polizeibeamten von der Polizeistation Nairn. Er war Schwarz und rundlich gebaut, und kam außer Atem zu ihnen geeilt. Er nickte erst Paislee, dann Arran zu. „Hi.“

Arran erhob sich, hielt Paislee die Hand hin und zog sie ebenfalls hoch.

„Constable! Das ist mein Bruder, McCormac Henry“, sagte Amelia und trat mit nervösem Lächeln vor. „Er hat getanzt und ist gestolpert. Ich bin sicher, er ist nur besoffen. Keine gebrochenen Gesetze.“

„Die meisten hier werden morgen Kopfschmerzen haben“, stimmte Constable Payne zu.

„Ich habe einen Krankenwagen gerufen“, sagte Paislee. „Wenn nichts ist, können wir ihn vielleicht abbestellen. Der Angestellte klang gestresst.“

„Es ist ein hektischer Abend.“ Der Constable kniete sich neben McCormac und legte die Finger auf sein Handgelenk, dann seinen Hals und schließlich auf die Brust, wo er das Loch in seinem schwarzem Kaschmirpullover berührte. Als er seine Hand zurückzog, war sie nass und purpurrot. Doch kein Schlamm. Verglichen mit dem frischen Erdgeruch war der metallische Geruch von Blut nicht zu verwechseln.

Amelia keuchte auf.

„Was ist das?“, fragte Sula. Sie umklammerte Amelias Arm.

„Ich weiß es nicht“, sagte Payne besorgt. Er sprach in sein Funkgerät, aber Paislee konnte die Worte nicht verstehen. Er lehnte sich auf den Fersen zurück. „Alle zurück, und machen Sie Platz.“

DI Mack Zeffer kam an, zusammen mit Constable Sarah Monroe, der Polizistin, die oft mit Payne zusammenarbeitete.

Der Blick, den der DI Paislee zuwarf, verriet ihr, dass er ihre Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte und später auf sie zurückkommen würde. Vorerst übernahm er das Kommando und kümmerte sich um den Vorfall. Constable Payne schoss Fotos – all das, während über ihren Köpfen immer noch das Feuerwerk gezündet wurde. Es war erst zwanzig Minuten nach Mitternacht. Das Feuerwerk dauerte immer fünfundvierzig Minuten bis zu einer Stunde.

Es war surreal.

Payne riss den Kaschmirpullover auf und presste die Hand auf McCormacs Brust. War McCormac in etwas Spitzes gelaufen? Er war gegen den hölzernen Pavillon gestolpert. Ihr fiel der verbrannte Geruch ein und sie fragte sich, ob er von einem Böller getroffen worden war. Sie hätte nie geglaubt, dass so etwas möglich ist.

„Wer ist das?“ Zeffer wies auf den Mann auf dem Boden. McCormacs Stöhnen hatte aufgehört, er musste vor Schmerzen ohnmächtig geworden sein.

„McCormac Henry“, sagte Amelia. „Mein Bruder.“

„Verstehe“, sagte Zeffer. „Ich dachte, er lebt in Irland?“

Amelia schniefte und senkte den Blick. „Das hat er. Das tut er. Nichts verkehrt daran, für die Feiertage nach Hause zu kommen, oder?“

Zeffer sah sie mit schmalem Blick an.

Da Amelia trotz der vergangenen Konflikte ihrer Familie mit dem Gesetz als Telefonistin auf der Polizeistation arbeitete, war sie ihrem Traum, Polizistin zu werden, nicht gefolgt, obwohl der frühere Inspector sie dazu ermutigt hatte.

Paislee hatte Amelia angeboten, ihr beim Lernen zu helfen, aber sie hatte es nicht weiter verfolgt.

McCormacs Gesicht war bleicher, als es tagsüber gewesen war, und seine Augen waren fest geschlossen. Das Blut beunruhigte sie.

Amelia fröstelte, also legte Paislee den Arm um das arme Mädchen. Snowball zitterte ebenfalls.

Sula fiel Grandpa hysterisch in die Arme und brach in Tränen aus. „Ach, Mac, mein Schatz! Mein Seelenverwandter. Wird er wieder gesund?“ Ihr Hund bellte beharrlich bei dem ganzen Tumult.

Der Krankenwagen fuhr langsam durch die Menschenmenge. Nach einer kurzen Untersuchung luden die Sanitäter McCormac auf eine Liege, wobei er einen rosa Fleck auf dem Schneematsch hinterließ. Er erwachte nicht aus seiner Bewusstlosigkeit.

„Soll ich mitkommen?“, fragte Sula den gestressten Sanitäter. Feuerwerkskörper leuchteten über ihnen in bunten Farben auf.

„Nein, Ma’am. Ich schlage vor, dass wir uns am Krankenhaus treffen.“

Sula wechselte von Grandpa zu Arran und schluchzte weiter. Mary Beth hatte ihre Zwillingstöchter von dem Vorfall abgeschirmt, da sie nicht wollte, dass sie so etwas Verstörendes miterlebten.

Der Krankenwagen verließ eilig mit McCormac den Park. Brody stand mit sorgenvoll aufgerissenen Augen neben Amelia, und Paislee tat geschockt ihr Bestes, um Constable Monroes Fragen zu beantworten.

„Ich fahre zum Krankenhaus“, verkündete Zeffer und schlängelte sich gewandt durch die Menge zur nahegelegenen Polizeistation. Constable Payne und Monroe blieben zurück. Monroe bot Payne ein Einmalhandtuch an, um seine Hände abzuwischen, was er auch tat.

„Was ist passiert?“, fragte Payne.

„Es ging so schnell“, sagte Amelia. „Ich weiß es nicht. McCormac hat getanzt und dann ist er gestürzt.“

Sula weinte in das Fell ihres Hundes. Arran entfernte sich von Sula und schaute von den Constables zu seiner wartenden Familie. „Ich habe nichts gesehen … ich bin angekommen, nachdem es passiert ist. Macht es Ihnen was aus, wenn ich gehe?“ Der Anwalt reichte Monroe eine Visitenkarte. „So können Sie mich erreichen.“

„Danke“, sagte Monroe. „Ist in Ordnung.“

Arran ging und Payne sah Paislee an, die beschrieb, was sie gesehen und gerochen hatte. Constable Monroe maß Paislees Theorie, dass McCormac von einem Feuerwerkskörper getroffen worden war, keinen Glauben bei, aber Payne tippte es in sein Tablet ein.

Die Raketen für das Feuerwerk wurden nun immer schneller gezündet, um das neue Jahr einzuläuten. Bis jetzt schien es sich keinen Deut besser zu entwickeln als das letzte.

„Soll ich jetzt zum Krankenhaus fahren?“, fragte Amelia.

„Du kannst deinen Hund nicht mitnehmen“, sagte Constable Payne mit freundlicher Stimme. „Setz ihn zuhause ab, aber danach, ja.“ Der Polizist und Amelia waren befreundet, da sie beide auf dem Revier arbeiteten.

„Das mache ich“, sagte Amelia, die immer noch leicht benommen war.

„Nimm ein Taxi, wenn du getrunken hast“, fügte Payne hinzu. „Aber es ist eine gute Idee.“

Mit anderen Worten, die Wunde war ernst. Paislee sagte ein kurzes Gebet auf, dass McCormac sich schnell erholen würde.

Sula, die sich ein kleines bisschen beruhigt hatte, heulte auf. „McCormac! Beeilen wir uns, Amelia. Er braucht uns.“

Constable Payne bemerkte Thor unter Sulas Jacke. „Auch ein neuer Hund?“

„Ja“, sagte Amelia. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. „Ich glaube, McCormac hat noch einen Welpen übrig. Interesse?“

„Mein Hund würde so kleine Dinger für Kauspielzeug halten“, sagte Payne und tätschelte Snowballs winzigen Kopf. Er hatte eine große Bulldogge.

Er hatte seinen Hund schon mit in den Park und zur Station genommen. Amelia zuckte die Schultern. „Bruiser würde das ja nicht mit Absicht machen, aber ja, vielleicht.“

Neben ihnen begannen zwei Männer, die darüber stritten, wessen Fußballteam das Bessere war, sich zu schubsen.

„Du hast alles im Griff?“, fragte Constable Monroe an Payne gewandt. Er nickte und Constable Monroe wünschte ihnen eine gute Nacht, bevor sie den Streit mit einer strengen Verwarnung beendete.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Paislee Amelia. „Dich mitnehmen?“

„Danke, aber nein“, sagte Amelia stirnrunzelnd. „Ich bin mit McCormac und Sula hergekommen.“

Sula atmete ein und schniefte. „Ich habe McCormacs Schlüssel. Wir bringen die Hunde nach Hause und fahren zusammen ins Krankenhaus, Amelia. Dougie müssen wir auch Bescheid sagen.“

Payne sah Sula mit hochgezogener Braue an. „Wir brauchen nicht noch einen Unfall.“

Sula hob die Hand. „Ich habe nichts getrunken – ich war die Fahrerin.“

Es war jetzt halb eins.

„In Ordnung.“ Payne nickte. „Fahren Sie vorsichtig.“

„Wissen Sie, was McCormac passiert ist?“, fragte Sula in ängstlichem Ton.

„Man wird Ihnen im Krankenhaus alles erzählen.“ Paynes Lippen waren versiegelt.

„Ruf mich an, okay?“, sagte Paislee zu Amelia.

„Morgen ist das Buffet …“, sagte ihre Freundin gedehnt. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Sie hatte McCormac eigentlich für sein schlechtes Verhalten ausladen wollen, aber wollte Amelia nicht noch mehr unter Stress setzen. „Bitte kommt vorbei, alle beide“, sagte Paislee. „Und Snowball auch.“

„McCormac wird morgen bei mir zuhause bleiben“, verkündete Sula. „Er braucht mich, während er sich erholt.“

Amelias Hund reckte ihren weißen pelzigen Kopf aus ihrer Jacke, um Paislee die Hand zu lecken, bevor die Damen den Park verließen. Paislee wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Constable Payne zu, aber er untersuchte etwas im Pavillon. Hatte er Paislee geglaubt, dass es sich um einen außer Kontrolle geratenen Böller gehandelt hatte?

„Mädchen“, sagte Grandpa, der mit den Zähnen klapperte. „Können wir gehen?“

„Ja.“ Paislee schluckte ihre Neugier hinunter, sammelte ihre Familie zusammen und fuhr nach Hause. Nachdem er erkannt hatte, dass es keine Antworten zu McCormac gab, redete Brody ununterbrochen über Jenni dies und Jenni das, und wie cool es war, dass ihr Vater in einer Rockband spielte.

Sobald sie zuhause waren, ging ihr Sohn, bis über beide Ohren verknallt, in sein Zimmer.

„Junge Liebe“, sagte Grandpa mit einem Glucksen.

Es wärmte ihr Herz und erschreckte sie gleichzeitig zu Tode.

Wallace begrüßte sie mit einem Bellen, raste die Treppe herunter in die Diele, und rannte dann den Flur hinunter zur Hintertür. Paislee ließ den Hund nach draußen und er schnüffelte ungeachtet der Kälte an den Bäumen. So hübsch Lydias Wohnung auch war, sie vermisste es nicht, Wallace mit dem Fahrstuhl nach unten bringen zu müssen – so war es viel einfacher.

„Ich liebe diese Küche“, sagte Paislee.

Grandpa holte zwei Gläser heraus. „Einen Absacker?"

„Gerne.“ Sie hatte sich ebenfalls auf nur zwei Drinks in fünf Stunden beschränkt, aber da sie sowieso nicht viel trank, machte es ihr nichts aus. Sie mochte den heißen Apfelcider mit Zimt und den heißen Kakao mit Sahne.

Sie wies auf die überdachte Terrasse.

„Ich bringe den Whisky mit“, sagte Grandpa.

„Ich hole die Decken.“

Paislee und Grandpa ließen sich mit einer Häkeldecke über ihrem Schoß auf zwei Stühle sinken und sahen zu, wie es anfing, zu schneien. Wallace rannte im Garten herum und markierte sein Revier, als ob er vielleicht nie wieder zurückkommen würde.

„Was denkst du ist heute Abend passiert?“, fragte Grandpa.

„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Vielleicht ist McCormac in irgendetwas reingelaufen? Ich habe gesehen, wie er gegen den Pavillon gestolpert ist.“

„Er könnte erstochen worden sein“, sagte Grandpa.

„Ähm, was?“ Paislee schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen, überzeugt, dass sie Grandpa missverstanden hatte.

„Er ist ein ziemlicher Arsch.“ Grandpa nahm einen Schluck. „Vielleicht hatte jemand genug von ihm. Oder er könnte überfallen worden sein? Wegen dieser schicken Uhr. Hatte er sie zu dem Zeitpunkt um?“

„Die Uhr? Nein, das ist mir gar nicht aufgefallen. Du vermisst es, bei den Ermittlungen zu helfen“, erkannte Paislee.

„Was?“ Grandpa klang überrascht.

„Ich weiß nichts über das Portmonee oder die Uhr, aber erstochen zu werden macht mehr Sinn, als willkürlich gegen etwas Scharfes zu stoßen oder von einem Böller getroffen zu werden.“ Sie nippte an ihrem Whisky. „Du hättest Constable Monroes Gesicht sehen sollen, als ich das vorgeschlagen habe.“

„Willkürliche Gewalttaten sind selten willkürlich.“

„Weise Worte.“ Paislee kicherte. Sie sog den Geruch des Whiskys ein und genoss den Duft nach Torf und Eiche.

Wallace zischte zurück zur Terrasse und sprang auf ihren Schoß.

Sie streichelte ihn, kraulte ihn unterm Kinn und hinter den Ohren, wie er es am liebsten mochte. „Guter Junge.“

Wallace rollte sich auf den Rücken, damit sie ihm den Bauch kraulte.

Sie stellte ihr Whiskyglas beiseite. „Es war sehr schön, die Delfine von Lydias Wohnung aus zu sehen, aber unser Garten ist mir lieber – sogar der alte Schuppen.“

Grandpa lachte. „Ja. Mir auch. Geschmäcker sind verschieden, das ist was Gutes.“

Ihr Handy piepste und sie sah lächelnd auf den Bildschirm; vielleicht war es Hamish, der schrieb, dass er an Neujahr zuhause sein würde.

Ihr Magen verkrampfte sich. „Es ist Amelia.“

Ruf mich an.

Paislee hatte ein furchtbares Gefühl dabei. „Amelia will, dass wir sie anrufen.“

Grandpa machte ein finsteres Gesicht, wie um sich für schlechte Nachrichten zu wappnen.

Paislee wählte Amelias Nummer und sie nahm sofort ab.

„Paislee“, weinte ihre Freundin.

„Ja?“ Sie fragte nicht, wie es ihr ging – offensichtlich nicht so toll. Sie stellte den Lautsprecher an.

„McCormac wurde in die Brust geschossen.“

„Geschossen?“

Grandpa umklammerte sein Whiskyglas. „Geschossen.“

Paislee legte die Arme um Wallace. „Ich habe ein Zischen gehört.“

„Das Feuerwerk war so laut“, sagte Amelia. „Es hat den Knall der Pistole übertönt.“

„Wie geht es ihm?“

„Tot. McCormac ist tot.“

„Amelia!“

Sie und Grandpa wechselten einen mitfühlenden Blick; sie beide hatten Amelia wirklich gern.

„Wo bist du?“, fragte Paislee.

„Im Krankenhaus, mit Sula.“

„Wie geht es ihr?“

„Sie weint, als hätte sie ihren Seelenverwandten verloren. Ich weiß, dass McCormac sie nicht auf die Art geliebt hat“, sagte Amelia leise. „Für ihn hat immer nur Porche gezählt. Aber was soll ich machen? Ich kann nicht so fies zu ihr sein.“

„Nein“, stimmte Paislee zu.

„Sie ist sowieso ein Dummkopf.“ Amelia hickste leicht.

„Warum das?“

„Ich kann jetzt gerade nicht darüber reden“, sagte Amelia. „Sie könnte mich hören.“

„Dann später.“ Paislee strich durch Wallaces Fell. „Wissen deine Eltern Bescheid?“

„Ich habe sie bei meinem Bruder Michael erreicht und sie sind nicht mal traurig darüber, dass McCormac umgebracht wurde, ist das zu fassen?“ Amelias Stimme war tränenerstickt.

Paislee konnte sich nicht vorstellen, von derart niederschmetternden Nachrichten nicht am Boden zerstört zu sein. „Vielleicht stehen sie unter Schock.“

„Nein. Sie glauben nicht, dass er sich geändert hat. Dass McCormac bekommen hat, was er verdient, aber ich habe es selbst gesehen.“

„Inwiefern geändert?“

„Ach, er saß eine Weile im Gefängnis, das ist alles. Drogen. Gelegenheitsdiebstahl. Es lag an seinem Umfeld, weißt du? Er hat seine Zeit abgesessen. Klar, er hat mit Geld um sich geworfen, seit er hier ist, aber ich kann dir garantieren, dass der alte McCormac keinen Gedanken an Geschenke für seine Familie verschwendet hätte. Und“– Amelia schniefte – „was zum Teufel soll ich mit ihren Weihnachtsgeschenken machen?“

Paislee riss die Augen auf. Die einzigen Geschenke, die ihr bekannt waren, waren von der pelzigen Art. „Er hat euren Eltern einen Hund geschenkt?“

„Zwei, tatsächlich. Einen für Michael, und einen für Mum und Pa.“

Grandpa lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf.

„Der Arzt ist sehr unfreundlich, und Zeffer war hier und hat mich befragt. Ich kann sehen, wie wenig Respekt der DI für McCormac übrig hat, als ob er nie einen Fehler gemacht hätte. Payne ist nicht so, er hält sich nicht für was Besseres als alle anderen.“

Zeffer hatte wahrscheinlich seine Gründe, aber das half Amelia auch nicht. „Es tut mir so, so leid.“

Amelia atmete laut aus. „Wie konnte McCormac erschossen werden? Ich verstehe es einfach nicht. War es ein Unfall, und war er einfach am falschen Ort? Oder hat Mum recht, dass er sich nicht geändert hat, und jemand hat ihn absichtlich erschossen?“

Grandpa leerte seinen Whisky, ohne seine Meinung zu äußern.

„Eine willkürliche Gewalttat“, sagte Paislee, damit sich ihre Freundin besser fühlte. „Es ist tragisch, aber das passiert.“

„Na ja, darauf würde ich nicht wetten“, sagte Amelia. „Zeffer ist zu sehr an meinem Bruder interessiert. Wo er war, was er so gemacht hat. Ich habe ihm von seinem Neuanfang im Verkauf von Luxusautos erzählt, und der DI wollte den Namen von seinem Arbeitgeber in Belfast wissen.“

„Man kann sagen, was man will, Zeffer ist äußerst gut darin, Antworten zu bekommen.“

Amelia seufzte. „Das ist ja das, was mir Sorgen macht.“

„Können wir irgendetwas tun, Amelia?“

„Ich weiß es nicht!“ Sie weinte leise. „McCormac war mir immer am liebsten, auch wenn er nicht perfekt war – und jetzt ist er fort. Sula kommt. Ich sollte auflegen.“

„In Ordnung.“

„Ich weiß nicht, ob ich morgen komme“, sagte Amelia.

„Du bist herzlich eingeladen, wenn du nicht allein sein möchtest. Sula auch. Ihr dürft Snowball gerne mitbringen.“

„Danke. Vielleicht kannst du dir ein paar Gedanken machen, wie ich ein Zuhause für die Hunde von meinen Eltern und meinem Bruder finde. Sie sind bei mir zuhause. Mum und Michael würden sie nicht wollen, obwohl sie reinrassig sind – winzige Malteserwelpen.“

Snowball war ein Zwergspitz und Thor ein Brüsseler Griffon. „Also nicht aus demselben Wurf wie deiner und Sulas?“

„Nein.“ Amelia hielt inne und sagte: „Paislee, du musst mir dabei helfen, herauszufinden, wer McCormac ermordet hat.“