Leseprobe Zwei Herzen im Schneegestöber

Kapitel 1

Ariadne

Filigrane Schneekristalle, getragen vom Wind, wirbelten durch die klirrend kalte Winterluft und bedeckten mein dunkles Haar mitsamt dem knallroten Plüschwintermantel unter einer dünnen Schicht. Schmunzelnd betrachtete ich mein eigenes Spiegelbild im winzigen Schaufenster des bekanntesten Jugendstilcafés der Stadt und ließ meinen Blick anschließend über die weihnachtlich verzierten Gebäckstücke gleiten. Ansprechend waren sie hinter der Glasscheibe drapiert – bunte Macarons in unterschiedlichen Farben und Formen. Murchie’s war über die Stadtgrenzen von Victoria hinaus bekannt für den besten britischen Tee und das leckerste französische Baisergebäck weit und breit, was sogar Besucher von außerhalb in die Hauptstadt Vancouver Islands lockte. Fröstelnd betrat ich das gemütliche Café und wollte mich gerade in die Schlange aus wartenden Kunden einreihen, als ich eine Berührung an meiner Schulter spürte. Überrascht fuhr ich herum und blickte in Louisas rundliches Gesicht, das von blonden Locken umrahmt war, die sie zur Hälfte unter einer hellblauen Kaschmirmütze versteckt hatte.

»Perfektes Timing!«, verkündete sie zufrieden. Obwohl sie es mit guter Laune zu überspielen versuchte, merkte ich sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. »Ich wollte dich gerade anrufen. Ich muss mit dir über die Hochzeit reden.«

»Was ist los?«, erkundigte ich mich, und sofort stieg ein ungutes Gefühl in mir auf.

Meine beste Freundin drückte mir eine braune Pappschachtel von Murchie’s in die Hand, die vermutlich randvoll mit frischen Macarons war, und deutete auf einen der freien Bistrotische in der Nähe der Tür, damit wir uns setzen konnten. Lou arbeitete für eine Eventagentur und war jede Woche um die gleiche Zeit bei Murchie’s, um die süßen Gebäckstücke für die wöchentlich stattfindenden Meetings mit ihren Kollegen zu besorgen. Genauso wie ich gemeinsam mit meinem Verlobten Cole wenigstens einen Nachmittag in der Woche dafür nutzte, über den seit Mitte November geöffneten Christmas Market zu schlendern, damit wir uns beide eine Auszeit vom turbulenten und stressigen Alltag im Hotel gönnten. Ein Vergnügen, das ich in den letzten drei Wochen stets allein genießen musste, denn Cole war so mit seiner neuen Rolle als Geschäftsführer des Hotel Grand Pacific beschäftigt, dass er kaum noch Zeit für sich selbst hatte – geschweige denn für mich.

»Worum geht es?«, fragte ich Lou erneut, nachdem wir uns auf den mintgrünen Messingstühlen niedergelassen und ich ihre Pappschachtel auf der runden Tischplatte zwischen uns platziert hatte.

»Schade, dass Cole wieder keine Zeit hat. Ich hatte gehofft, er wäre diesmal bei dir.«

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, biss mir dann aber auf die Unterlippe, um mir meine Enttäuschung über sein erneutes Fernbleiben nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

»Vermutlich sitzt er gerade an seinem Schreibtisch, beschäftigt mit einem monströsen Haufen Papierkram, der scheinbar niemals kleiner wird, genauso wie die Arbeit, in der er, seitdem er Juniorchef ist, zu ertrinken droht. Zumindest kommt es mir manchmal so vor«, entgegnete ich resigniert.

Lou warf mir aus ihren meerblauen Augen einen mitfühlenden Blick zu, der mehr wehtat, als ich ihr gegenüber zugeben konnte. »War er das nicht letzte Woche auch schon?«

»Und davor die Woche auch«, ergänzte ich, während ich meine Enttäuschung zu überspielen versuchte. Wie so oft beruhigte ich mich damit, dass er das Hotel aufgrund eines erst kürzlich zurückliegenden Unfalls seines Vaters vorübergehend allein leitete und sich der Stress, der in der Hotelbranche in der Vorweihnachtszeit völlig normal war, an den Feiertagen wieder gelegt haben würde. Spätestens während unseres bevorstehenden Urlaubs würde er sich wieder mehr Zeit für mich nehmen und den Arbeitsalltag endlich hinter sich lassen können.

»Du wolltest mit mir über die Hochzeit sprechen?«, hakte ich nach, um unser wenig erfreuliches Gespräch über Cole aufzulösen und Lou an ihr eigentliches Anliegen zu erinnern. Sie nickte und öffnete die Pappschachtel. Mit einer Handbewegung bedeutete sie mir, dass ich mich an dem Inhalt bedienen konnte, und sie platzierte ihre schwarze Aktentasche daneben.

Mit dem geschäftigen Gesichtsausdruck wirkte sie wie eine typische Weddingplanerin. Ich wusste, dass sie ständig eine To-do-Liste mit sich herumtrug, auf der sie alle Punkte nacheinander abhakte. Unvorhergesehene Ereignisse, die ihre Pläne durcheinanderwarfen, machten sie nervös, und ich spürte, dass genau so ein Ereignis eingetreten sein musste.

»Was ist los? Spann mich nicht so lange auf die Folter. Hat die Band abgesagt, oder ist die Kirche an unserem Hochzeitstermin nun doch nicht frei?«

Lou schüttelte den Kopf. Die unter ihrer Mütze hervorstehenden Locken flogen dabei wild umher.

»Ganz so schlimm ist es nicht. Aber schlimm genug.«

»Gott, Lou! Jetzt erzähl mir endlich, was los ist!«

Ich hasste es, wenn sie Infos bezüglich meiner Hochzeit zu lange zurückhielt. Nervös griff ich nach einem mit kleinen Zuckersternen verzierten Macaron und biss herzhaft hinein. Ich wollte die komplette Organisation für meine Hochzeit nicht ihr allein aufbürden und mich mindestens genauso daran beteiligen wie sie. Das hatte ich ihr von Anfang an klar gemacht.

»Die La Roux Patisserie schließt zum Ende des Jahres. Ich habe heute einen Anruf bekommen. Den Besitzer von Murchie’s habe ich schon gefragt, aber sie sind bereits bis zum kommenden Sommer mit Vorbestellungen ausgebucht und haben keine Kapazitäten mehr.«

Die wunderschöne französische Patisserie in der Fisgard Street war meine erste Wahl für die Hochzeitstorte gewesen. Nicht nur, weil ich dort meine Traumtorte – bestehend aus einer Buttercreme mit aufwendig verzierten Rosen aus Marzipan – bekommen hatte, sondern auch deswegen, weil Cole und ich uns dort für unser erstes Date verabredet hatten. Es stimmte mich traurig, dass die beliebte Konditorei nun doch schließen musste. Offensichtlich hatten sie keinen geeigneten Nachfolger für ihr Traditionsunternehmen gefunden, und der Inhaber war bereits weit über siebzig Jahre alt.

»Schade«, murmelte ich bedrückt und kaute auf meinem Macaron herum, ehe ich das Gebäck herunterschluckte. »Hast du schon eine Alternative?«

Obwohl Lou einen stressigen und oftmals zeitraubenden Job hatte, war sie mit Feuereifer dabei, wenn es um meine Hochzeit ging. Vermutlich hatte sie den halben Tag herumtelefoniert, um eine neue Konditorei zu finden, bei der wir meine Wunschtorte in Auftrag geben konnten. Als Eventmanagerin war meine Hochzeit nicht die erste, die sie organisierte, daher vertraute ich voll und ganz auf ihr Talent, auch für scheinbar ausweglose Situationen eine Lösung zu finden.

»Noch nicht ganz. Ich hatte heute noch keine Zeit und muss auch gleich wieder los, aber ich habe eine Idee, wie du doch noch an deine Traumtorte kommst.«

Sie zog ein Blatt Papier aus ihrem Aktenordner und legte es neben die geöffnete Schachtel mit den Macarons. Darauf war die Zeichnung meiner dreistöckigen Hochzeitstorte zu sehen. Am unteren Rand klebte ein pinkfarbener Notizzettel mit einer Adresse.

»Vor ein paar Wochen war ich beruflich in Oak Bay und bin dort an einer echt süßen Bäckerei vorbeigekommen. Die Finest Art Bakery in der Newport Avenue. Die Zimtschnecken waren himmlisch, und auch die Torten sahen ziemlich gut aus. Ich glaube, wir sollten dem Laden eine Chance geben.«

Der wohlhabende Vorort Oak Bay war nur wenige Minuten von Victoria entfernt und gehörte mit seinen zahlreichen Boutiquen, Kunstgalerien und dem Willows Beach zu einem beliebten Ausflugsziel für Touristen. Ich war schon lange nicht mehr dort gewesen und erinnerte mich an keine Bäckerei. Vermutlich hatte die Finest Art Bakery erst kürzlich eröffnet.

»Warum rufen wir nicht einfach dort an und fragen nach, ob sie noch Kapazitäten haben?«

Lou hob die Hand und fuchtelte damit vor ihrem Gesicht herum, noch ehe ich die Frage ausgesprochen hatte. Offenbar gab es etwas, was dagegensprach. Natürlich wäre es sinnvoller, mir direkt vor Ort ein Bild von der Bäckerei zu machen und vielleicht einige der Torten zu probieren, um zu testen, ob sie überhaupt meinen Vorstellungen entsprachen. Allerdings fehlte mir dafür die Zeit.

»Die Inhaberin der Bäckerei ist ein wenig … speziell. Zumindest habe ich von einigen Kunden gehört, dass sie manchmal größere Aufträge, die nicht Wochen oder gar Monate im Voraus aufgegeben werden, gar nicht erst annimmt. Als ich dort war, war sie eigentlich kaum zu sehen und die ganze Zeit über in der Backstube. Bedient haben die Mitarbeiter. Nachdem die La Roux Patisserie abgesagt hat, habe ich mehrmals versucht jemanden in der Finest Art Bakery telefonisch zu erreichen, aber ohne Erfolg. Ich denke, du solltest hinfahren und es versuchen, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Ich angelte mir den nächsten Macaron und biss nachdenklich ein Stück davon ab. Er schmeckte nach Zimt, Kardamom und Vanille. Lou war mein Gesichtsausdruck nicht entgangen. Ihre Bemerkung beschwor ein Horrorszenario nach dem nächsten in meinem Kopf herauf. Was, wenn die Inhaberin meinen Auftrag vehement ablehnen würde, weil er letztlich doch zu kurzfristig war und nicht in ihre Planung passte? Was, wenn meine Hochzeit mit Cole verschoben werden musste, weil wir in der Kürze der Zeit keine Konditorei für unsere Hochzeitstorte fanden?

»Ich weiß, dass es schwierig ist, wegen des Hotels. Aber gerade weil du eine spezielle Torte möchtest, solltest du besser selbst hinfahren. Ich schaffe es die nächsten Tage nicht vor lauter Meetings in der Agentur und muss jetzt auch wieder los.« Sie schloss die Schnalle ihrer Aktentasche, stand auf und legte sich den breiten Riemen über die linke Schulter.

»Ich werde mit Cole sprechen, ob ich mir kurzfristig freinehmen kann, und mich darum kümmern.«

Lou lächelte entschuldigend und strich mir aufmunternd über den Arm. »Ich bin sicher, dass er dafür Verständnis hat …«, erwiderte sie, schloss den Deckel der Pappschachtel und nahm sie an sich, »… und wenn du erfolgreich warst oder es Probleme geben sollte, rufst du mich sofort an, okay?«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

Nach einem ermutigenden Druck auf meiner Schulter eilte sie zur Tür und verließ mit einem leisen Klingeln der Glocke das Café, vor dem sich das winterliche Schneegestöber langsam verdichtete. Die Intensität hatte während meines kurzen Aufenthalts bei Murchie’s deutlich zugenommen. Dicke, weiße Flocken bedeckten die Dächer der parkenden Autos sowie die Gehwege und historischen Laternen und ließen Victoria mehr und mehr unter sich verschwinden. Um meine Sorgen wegen des Hochzeitstortenchaos zu vertreiben, gönnte ich mir einen heißen Kakao mit Sahne und Schokostreuseln. Anschließend machte ich mich inmitten der wirbelnden Flocken auf den Heimweg.

***

Zurück im Hotel bestieg ich den Lift, der mich direkt zu unserem Penthouse im obersten Stock brachte, das ich seit nunmehr zwei Jahren gemeinsam mit Cole bewohnte. Es hatte durchaus seine Vorteile, wenn sich die eigene Wohnung in einem 4-Sterne-Hotel befand. Cole und ich lebten trotzdem relativ bescheiden, kümmerten uns um die Reinigung des Lofts und das Kochen, wenn unsere Zeit es zuließ. Aber die kurzen Arbeitswege in die Hotellobby waren äußerst praktisch, und so konnte ich morgens ein wenig länger schlafen. Cole saß vor seinem Laptop an dem ovalen Glastisch, der im Essbereich unseres großzügigen Wohnzimmers stand. Sein Blick wanderte zwischen Laptopdisplay und dem Papierstapel, der neben ihm lag, hin und her. Er wirkte konzentriert. Zu meiner Ernüchterung brachte er auch nach seinem Feierabend im Büro dort liegengebliebene Arbeit mit ins Penthouse.

Ich hatte unsere Wohnung leise betreten und meinen Mantel lautlos an die Garderobe gehängt, sodass er mich nicht bemerkt hatte. Nachdem ich meine Stiefel in den Schuhschrank gestellt hatte, lief ich in den Wohnbereich, stellte mich hinter seinen Stuhl und legte meine Arme liebevoll um ihn. Er seufzte widerstrebend, befreite sich mit Nachdruck aus meiner Umarmung, indem er meine Arme ungehalten von sich drückte. Mit seiner Reaktion gab er mir deutlicher denn je zu verstehen, dass er es hasste, wenn man ihn bei seinen Bürotätigkeiten störte.

»Hör auf damit. Ich muss mich konzentrieren.«

Das schmerzhafte Brennen, das seine Worte mir zufügten, ignorierend, trat ich einen Schritt zurück und starrte auf das Laptopdisplay, auf dem das Buchungssystem des Hotels angezeigt wurde.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich in der Hoffnung, ihn so aus seiner versteift-fokussierten Haltung zu lösen, damit er sich einen Augenblick entspannen konnte.

»Der neue Concierge hat für den Januar versehentlich einige Doppelbuchungen vorgenommen, die ich jetzt wieder aus dem System löschen muss. Anschließend muss ich den Gästen erklären, dass ihre Buchungen bedauerlicherweise wieder storniert werden müssen. Am sinnvollsten ist es, wenn du mich einfach in Ruhe lässt.«

Wieder trafen mich seine Worte hart. Härter, als er es beabsichtigt hatte, doch ich ließ mir nichts anmerken. Hielt an der Hoffnung fest, dass er schon bald selbst merken würde, wie sehr mich seine Rücksichtslosigkeit und sein Desinteresse verletzten. Das war nicht der Cole, in den ich mich vor etwas mehr als zwei Jahren verliebt hatte. Der Mann, der mich mit seinen seegrünen Augen, seiner liebevollen Zuneigung und seiner auffallenden Herzlichkeit vom ersten Moment unserer Begegnung fasziniert hatte. Ich konnte und wollte den Glauben, dass all das noch immer in ihm steckte, nicht aufgeben.

»Ich habe Louisa zufällig bei Murchie’s getroffen. Sie hat sich gefragt, warum du nicht bei mir bist …«, begann ich und ignorierte seine unmissverständliche Forderung nach Ruhe.

»Zu viel Arbeit«, murmelte er geistesabwesend zwischen den andauernden Tippgeräuschen der Tastatur.

»Ich habe ihr das Gleiche gesagt.«

»Und?«, fragte er weiter, obwohl ich spürte, dass ihn Lous Meinung überhaupt nicht interessierte. Sie war die Einzige, mit der ich über Coles Verhalten in den letzten Wochen gesprochen hatte. Nicht einmal Grandma hatte ich meine Sorgen anvertraut.

»Nichts. Sie hat mir aufgetragen, morgen Vormittag wegen der Hochzeitstorte nach Oak Bay zu fahren. Die La Roux Patisserie hat den Auftrag abgelehnt, weil sie zum Jahresende schließt.«

»Hmpf«, gab Cole von sich, warf einen prüfenden Blick auf seinen feinsäuberlich geordneten und mit Post-its versehenen Papierstapel und nickte lediglich, als würde es ihn überhaupt nicht interessieren, dass die wunderschöne Patisserie, in der unser erstes Date stattgefunden hatte, bald für immer schließen musste. »Bedauerlich. Aber ihr werdet schon eine Lösung finden. Da bin ich mir sicher. Ich werde ausnahmsweise schauen, dass ich Ersatz für dich finde, damit die Rezeption morgen nicht unbesetzt ist.«

Resigniert schluckte ich seine Gleichgültigkeit herunter und verließ den offen gestalteten Wohnbereich, um mich ins Schlafzimmer zurückzuziehen. Fieberhaft versuchte ich nicht mehr an die Gegenwart zu denken, die mich unglücklich machte, sondern an unsere gemeinsame Zukunft, in der ich hoffte, das zu finden, wonach ich in den letzten Wochen verzweifelt gesucht hatte.

Kapitel 2

Ariadne

Das durchdringende Klingeln meines Handyweckers, vermischt mit dem Geruch herber Kaffeebohnen, weckte mich am nächsten Morgen. Schlaftrunken schob ich einen Arm unter der weichen Daunenbettdecke hervor und tastete auf dem Nachttisch nach meinem Smartphone. Ich brauchte drei Anläufe, bis ich den Weckruf ausgeschaltet hatte. Automatisch wanderte meine Hand zur linken Bettseite – Cole war fort. Am Fußende stand ein Frühstückstablett mit einer kleinen Blumenvase, in der eine einzelne cremefarbene Rose steckte. Ein Zettel mit seiner Handschrift lehnte dagegen.

Ich bin im Büro. Tut mir leid, dass ich gestern so mit dem Buchungsproblem beschäftigt war. Mach dir einen schönen Tag in Oak Bay. Ich liebe dich.

– Cole

Obwohl mich seine Nachricht nach seinen verletzenden Worten nicht versöhnlich stimmte, besserte sie meine Laune. Ich liebte die kleinen Aufmerksamkeiten, die er mir seit Beginn unserer Beziehung immer wieder machte und die mich stets dann überraschten, wenn ich am wenigsten damit rechnete. Beruhigt griff ich nach der großen Tasse Kaffee, die inzwischen lauwarm war, und nahm einen Schluck, um meine müden Lebensgeister zu wecken. Cole hatte mein Frühstückstablett so liebevoll dekoriert und von frischen Croissants über Erdbeermarmelade bis Heidelbeerjoghurt alles daraufgestellt, was ich morgens gern aß. Dennoch ließ ich mir mit dem Frühstück nicht zu viel Zeit. Mein Plan war es, noch vor dem Abendessen zurück in Victoria zu sein. Wenn ich frühzeitig wieder aus Oak Bay abreiste, sollte es mir sogar gelingen, nicht in den dichten Feierabendverkehr zu geraten.

Nach einem Frühstück in Rekordgeschwindigkeit und anschließender Dusche inklusive Styling und Ankleiden orderte ich den Lift und machte mich auf den Weg in die Tiefgarage des Hotels. Die Fahrt dauerte länger als üblich, weil der Aufzug immer wieder auf den verschiedenen Etagen anhielt und sich zahlreiche Gäste hineinzwängten. Nach beinahe fünfzehn Minuten hatte ich meinen schwarzen SUV endlich erreicht, öffnete die Tür, beförderte meine Handtasche auf den Beifahrersitz und startete den Motor.

Das typische Winterwetter hielt auch heute an. Dichter Schneefall und kräftiger Wind, der vom Pazifik ins Landesinnere wehte, entschleunigten den um diese Zeit relativ dichten Verkehr in Victoria. Am Horizont verdichteten sich die tiefhängenden grauen Wolken, die bereits neuen Schnee ankündigten. Von der Downtown bis nach Oak Bay waren es nur wenige Minuten Fahrtzeit, dennoch entschied ich mich für die längere und weitaus schönere Strecke über Uplands entlang der Küstenstraße vorbei am Willows Beach. Obwohl ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Oak Bay gewesen war, hatte ich stets diesen Umweg genommen, da man bei gutem Wetter vom Beach Drive aus fast bis nach Chatham Island sehen konnte. Doch das neblige Winterwetter versperrte mir die Sicht. Das heftige Schneetreiben hatte inzwischen deutlich zugenommen, weshalb ich die Geschwindigkeit drosselte.

In Oak Bay angekommen nahm ich einige leere Seitenstraßen, um auf die Newport Avenue abzubiegen, die mich schließlich zu meinem Ziel führte. Die Finest Art Bakery lag mittig der gepflegten Straße unweit des Victoria Golf Clubs. Zahlreiche Boutiquen und Souvenirgeschäfte befanden sich in nächster Nähe zum Meer, dazwischen gehobene Restaurants. Oak Bay war schon immer ein wohlhabendes Viertel gewesen, was man nicht nur an den gut betuchten Touristen sah, sondern auch an den zahlreichen Villen. Die niedliche Bäckerei befand sich in einem Neubau, der so aussah, als wäre er gerade erst fertiggestellt worden. Bei der Architektur hatte man sich, wie für die Region um Victoria üblich, an dem Stil der britischen Kolonialzeit orientiert, der die Hauptstadt von Vancouver Island noch immer prägte.

Eine Kombination aus Zimt, dunkler Schokolade und heißen Früchten stieg mir in die Nase, als ich die gut besuchte Bäckerei betrat, die von außen deutlich kleiner wirkte, als sie tatsächlich war. Auf der rechten Seite waren zierliche Holztische mit dazu passenden Stühlen platziert. Gegenüber davon befand sich die Verkaufsfläche inklusive Kühltheke, in der mehrere weihnachtlich verzierte Torten standen. Auf den ersten Blick wirkte die Bäckerei sehr einladend, und wenn die Torten so hervorragend schmeckten, wie sie aussahen, konnte ich mir durchaus vorstellen, meine Hochzeitstorte hier in Auftrag zu geben.

Ohne meine Absichten zu äußern, bestellte ich zunächst ein Stück Schokoladentorte bei der wortkargen Verkäuferin und setzte mich an den einzigen freien Tisch in der hinteren Ecke. Erwartungsvoll schob ich mir mit der Gabel einen großen Bissen in den Mund. Die Torte schmeckte köstlich. Nicht so süß wie ich erwartet hatte, aber dennoch mit einer deutlich schokoladigen Note, was in Kombination mit der feinen Kakaoschicht einen leicht bitteren Geschmack hinterließ. Nachdem ich den letzten Krümel mithilfe der Gabel in meinen Mund befördert hatte, stand ich auf, um mich in die Schlange von wartenden Kunden einzureihen und den Teller zurückzubringen. Eine müde aussehende Frau mit hellem Kurzhaarschnitt nahm ihn entgegen.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«, erkundigte sie sich eher beiläufig und tippte den Betrag für das Stück Torte in die Kasse ein, während ich ihr einen Zehn-Dollar-Schein über die Theke entgegenschob.

»Ausgezeichnet. Ich würde gern eine Bestellung bei Ihnen aufgeben, es handelt sich um eine Hochzeitstorte.«

Die Frau, die laut Namensschild an ihrer dunkelblauen Schürze Mathilda hieß und die Inhaberin der Bäckerei war, verzog keine Miene und legte das Wechselgeld in eine weiße Keramikschale. Erst jetzt bemerkte ich, dass hinter mir bereits weitere Kunden ungeduldig warteten. Ich schnappte mir die Münzen und trat zur Seite, während ich auf Mathildas Antwort wartete, doch sie kassierte zunächst die Bestellungen der anderen Kunden ab und tat so, als hätte sie meine Frage nicht gehört. Ihre kühle Art verunsicherte mich zunächst, aber ich wollte keinesfalls unverrichteter Dinge wieder zurück nach Victoria fahren. Meine Hochzeit war mir im Augenblick wichtiger als alles andere. In meinem gestrigen Gespräch mit Lou hatte sie die spezielle Art der Inhaberin erwähnt. Langsam bekam ich eine Ahnung, was sie damit gemeint haben könnte.

Nachdem der Kundenansturm an der Theke nachgelassen hatte, trat ich noch einmal vor die Kasse. »Sie nehmen doch Bestellungen für Hochzeitstorten entgegen?«, erkundigte ich mich freundlich.

Mathildas eingefrorener Gesichtsausdruck befeuerte mein unsicheres Gefühl, das ihre Reserviertheit während meines Bezahlvorgangs bereits erzeugt hatte. Mit der Zange nahm sie kleine Pralinés von einem großen, runden Teller und sortierte sie auf eine Etagere, die auf der gläsernen Kühltheke stand.

»Natürlich. Wann wäre denn der Termin?«

»In zehn Wochen.«

Mathildas Mundwinkel verzogen sich zu einem dünnen Strich. Entgeistert blickte sie mich an, als könnte sie nicht verstehen, warum ich mich erst jetzt darum kümmerte. »Ausgeschlossen. Da hätten Sie schon früher kommen müssen. Mindestens ein halbes Jahr im Voraus. Eine Hochzeitstorte ist nichts, was sich in einer Stunde verwirklichen lässt. Dafür braucht es Zeit. Ich muss mir Ihre Wünsche notieren, einen Entwurf zeichnen und diesen dann zunächst mit Ihnen besprechen. Anschließend …«

Ich schob den Zettel mit der Zeichnung meiner aus Buttercreme bestehenden und mit Marzipanrosen verzierten Torte über den Tresen, was sie sofort verstummen ließ. »Ich habe schon konkrete Vorstellungen. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.«

Mathilda warf einen flüchtigen Blick darauf, dann holte sie einen schwarzen Taschenkalender hervor und blätterte darin herum. Dabei zog sie die glatte Stirn in Falten. Sie schien zu überlegen.

»Tut mir leid. Ich kann Ihnen da wirklich nicht weiterhelfen.«

Hilflosigkeit machte sich in mir breit, denn Mathilda klang endgültig. Fieberhaft überlegte ich, ob es klug wäre, ihr zu verdeutlichen, wie wichtig mir meine Hochzeitstorte war und dass sich mir in der Kürze der Zeit kaum Alternativen boten. Seitdem ich die niedliche Bäckerei betreten hatte, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, meine Torte woanders zu bestellen. Sichtlich enttäuscht trat ich von der Verkaufstheke zurück, als drei in dicke Daunenmäntel gehüllte Frauen mit britischem Akzent die Bäckerei betraten und auf die Theke zusteuerten.

»Ich habe keine Kapazitäten mehr, um noch weitere Bestellungen anzunehmen. Mein Auslieferungsfahrer ist ausgerechnet heute krank geworden, und ich weiß nicht einmal, wie ich die frischen Backwaren ausliefern soll, die für heute bestellt sind. Außerdem sehen Sie ja, was hier los ist …«

Sie wies auf die Tür, durch die immer wieder neue Kunden in die kleine Bäckerei strömten. Mathilda legte drei Stücke Apfelkuchen, die die Britinnen soeben bestellt hatten, auf mit Goldrand verzierte Kuchenteller. Ich konnte mir vorstellen, unter welchem Druck sie stand. Die Bäckerei zu führen, Kundenbestellungen entgegenzunehmen und nebenher in der Backstube zu stehen, war sicherlich nicht einfach – und das alles in der stressigen Weihnachtszeit. Unwillkürlich schoss mir eine Idee durch den Kopf, die ich laut aussprach, noch ehe ich weiter darüber nachdachte.

»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen ein wenig Arbeit abnehme und die Bestellungen für Sie ausliefere? Vielleicht überlegen Sie es sich dann mit der Torte noch einmal?«

Den hoffnungsvollen Unterton, der in meiner Stimme lag, versuchte ich mit einem charmanten Lächeln zu überspielen. Ich wollte mich ihr nicht aufdrängen und ihr erst recht nicht das Gefühl geben, dass sie mir einen Gefallen schuldete. Dennoch hoffte ich, sie würde meine Unterstützung annehmen und wenigstens noch einmal über meine Bestellung nachdenken. Ich hatte mich in die Finest Art Bakery verliebt. Das Bild von Cole und mir, wie wir als frisch verheiratetes Paar strahlend die liebevoll gebackene Torte von Mathilda mit einem langen Messer anschnitten, stahl sich plötzlich in meine Gedanken und war in diesem Augenblick allgegenwärtig.

Mathilda lachte, was die kleinen Grübchen auf ihren Wangen zum Vorschein brachte. »Sie sind ganz schön hartnäckig«, murmelte sie. Als ich die Zweifel in ihrem Gesicht erkannte, zögerte ich nicht, sie endgültig von mir zu überzeugen.

»Ich bin die Verlobte von Cole McPherson, dem Juniorchef des Hotel Grand Pacific in Victoria. Es wäre sicherlich auch eine gute Publicity für Ihre Bäckerei, wenn Sie unsere Hochzeitstorte zubereiten. Vertrauen Sie mir. Ich arbeite als Rezeptionistin und werde alles dafür tun, dass Ihre Kunden ihre Bestellungen so schnell wie möglich bekommen.«

Mathilda seufzte zunächst, dann griff sie nach einem Blatt Papier, das unter dem Tresen lag, und drückte es mir in die Hand. »Ihre Beharrlichkeit gefällt mir. Ich gebe Ihnen eine Chance und bin sehr dankbar für Ihre Hilfe. Ich kann Ihnen allerdings nichts versprechen. Ich schließe die Bäckerei über die Mittagszeit und öffne erst am Nachmittag wieder. Wenn Sie es in drei Stunden geschafft haben alle Bestellungen auszuliefern, können wir gern noch mal über Ihre Torte sprechen.«

Ich atmete erleichtert auf. Es erstaunte mich, dass sie sich auf meinen Vorschlag einließ, selbst wenn ich Coles Verlobte war. Noch nie zuvor hatte ich die Bekanntheit meines zukünftigen Ehemanns und die des Hotels für meine eigenen Interessen genutzt, aber es fühlte sich nicht falsch an, weil ich mir nichts mehr wünschte, als Mathilda zu überzeugen. Dass sie mir die Belieferung ihrer Kunden anvertraute, gab mir ein gutes Gefühl. Ich warf einen kurzen Blick auf die Liste, während Mathilda die Zeichnung mit meiner Buttercremetorte an sich nahm und rechts neben die Kasse legte. Die Adressen der zu beliefernden Kunden befanden sich allesamt in Oak Bay, nur zwei davon in Uplands. Die Liste war zwar lang, aber drei Stunden schienen durchaus machbar.

»Die Bestellungen sind alle schon in Kisten verpackt«, sagte Mathilda und deutete hinter sich auf die Tür neben der Backstube. »Sie müssten sie nur in Ihren Wagen laden.«

Ich nickte freundlich, lief um den Tresen herum und folgte ihr in den kleinen Lagerraum. Mathilda drückte mir eine verhältnismäßig leichte Kiste in die Hand, die aus Kunststoff bestand und mit einem Deckel verschlossen war. Neben ihr standen noch drei weitere. Ehe der nächste Kundenansturm kam, half sie mir, die Kisten nach und nach vor die Bäckerei zu tragen, wo wir sie vor meinem SUV abstellten. Ich betätigte den Türöffner, woraufhin sich der Kofferraum geräuschlos öffnete.

»Wenn es Probleme geben sollte, rufen Sie mich an. Okay?«

»Natürlich. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sehen uns in drei Stunden.«

Mathilda lächelte kurz, dann drehte sie sich um und eilte mit knirschenden Schritten zurück in die Bäckerei. Angesichts der winterlichen Witterungsverhältnisse wollte ich keine Zeit verlieren. Vorsichtig griff ich nach der ersten Kiste, um sie in den Kofferraum zu laden. Unversehens spürte ich, wie ich auf dem plattgetretenen Schnee das Gleichgewicht verlor. Beinahe wäre ich rücklings auf der eisglatten Fahrbahn gelandet, hätten nicht genau in diesem Moment zwei Arme nach mir gegriffen und mich aufgefangen. Ich hörte das Rascheln einer Daunenjacke in meinem Rücken, als meine offenen Haare über den Stoff strichen und ich mich vorsichtig aus dem Griff des Unbekannten löste. Ich drehte mich um und blickte in braune Augen, die von einem dichten Wimpernkranz umrahmt und mir so vertraut waren, dass ich sofort wusste, zu wem sie gehörten. Sie strahlten eine Wärme aus, die mir Geborgenheit vermittelte.

»Aria? Was tust du hier?«

Noah klang gleichermaßen aufgeregt und überrascht, als ich ihn gefühlt mehrere Minuten einfach nur anstarrte und keinen Ton hervorbrachte. Das winterliche Weiß bildete einen starken Kontrast zu seinen glänzenden schwarzen Haaren, die ihm bis knapp über das Kinn reichten. Fasziniert beobachtete ich die filigranen Schneekristalle, die sich in den einzelnen Strähnen verfingen, und konnte mich nicht zu einer Antwort durchringen. Noah Greene war mein bester Freund gewesen – von Kindertagen an. Während andere Mädchen in meinem Alter die Anzahl ihrer Freundinnen kaum an einer Hand abzählen konnten, war Noah, neben meiner Grandma und Louisa, die wichtigste Person in meinem Leben gewesen. Bis zu dem Tag unseres Highschool-Abschlusses, als sich unsere Wege schlussendlich getrennt hatten und er Victoria verlassen hatte. Tagelang hatte ich mich in meinem Zimmer verkrochen und geweint, weil ich ihn unfassbar vermisst hatte. Er war so schnell aus Victoria weggezogen, dass ich mich nicht einmal richtig von ihm verabschieden konnte. Damals war ich unglaublich wütend und verletzt gewesen, weil ich geglaubt hatte, unsere Freundschaft wäre ihm nicht wichtig, obwohl er mir später anvertraut hatte, dass die zerbrochene Ehe seiner Eltern der Grund für sein Fortgehen gewesen war. In diesem Augenblick, als sich unsere Blicke trafen und ich in seinen haselnussbraunen Augen ein mir nur allzu vertrautes Leuchten erkannte, wusste ich, dass ich ihm die Welt bedeutet hatte – immer. Er hatte sich die ganze Zeit danach gesehnt, mich eines Tages wiederzusehen. Genau wie ich.

»Noah …«, hauchte ich leise, was in dem Lärm der vorbeifahrenden Autos beinahe unterging. »Was … tust du hier?«

Noah ignorierte meine Frage. Sein Blick fiel auf die Kisten neben mir. »Du arbeitest in Mathildas Bäckerei?«, fragte er erstaunt und deutete auf das Gebäude hinter sich. Offenbar kannte er sie, was mich ein wenig wunderte. Wie lange war er bereits wieder zurück in Oak Bay, ohne dass ich etwas davon wusste?

»Nein. Ich tue ihr nur einen Gefallen, damit sie …« Ich stockte mitten im Satz. Noah und ich hatten uns mehrere Jahre nicht mehr gesehen. Seitdem hatte sich viel verändert. In seinem Leben ebenso wie in meinem. Dennoch haderte ich mit mir, ihm von meiner bevorstehenden Hochzeit zu erzählen.

»Damit sie was …?«, hakte Noah nach und legte den Kopf schief. Das hatte er schon damals getan, wenn er wusste, dass ich etwas vor ihm verheimlichte.

»Lange Geschichte. Ich muss jetzt los. Keine Zeit für Smalltalk«, sagte ich, griff nach einer der Kisten und hob sie vorsichtig auf die Ladefläche des Kofferraums. Unser unerwartetes Wiedersehen hatte mich so sehr überrumpelt, dass ich meinen eigenen Zwiespalt mehr als deutlich spürte. Einerseits fühlte ich mich durch unser Aufeinandertreffen so überfordert, dass ich mich der Situation am liebsten sofort entzogen hätte. Andererseits wollte ich nichts mehr als mit ihm zu sprechen. Ihn fragen, warum er plötzlich wieder hier war, nachdem er damals abrupt aus meinem Leben verschwunden und von unserer Freundschaft nichts weiter als ein Scherbenhaufen übrig geblieben war.

»Ich liebe Smalltalk«, erwiderte er mit einem schiefen Lächeln auf den vollen Lippen. »Bei dem Wetter lasse ich dich sowieso nicht allein fahren. Also was hältst du davon, wenn ich dir bei der Auslieferung helfe und du mir anschließend alles bei einer Tasse heißen Kakao erzählst?«

Ich wusste, dass ich ihn niemals würde abschütteln können. Aber das wollte ich auch gar nicht. Mein Verlangen, herauszufinden, wie es ihm die letzten Jahre ergangen war, und den Grund für seine überraschende Rückkehr zu erfahren, war allgegenwärtig. Es übertraf sogar meinen Wunsch, die Vereinbarung mit Mathilda einzuhalten und mich um die dringende Auslieferung der Backwaren zu kümmern. Als ich meine Hand nach der vorletzten Kiste ausstreckte, hatte Noah dasselbe im Sinn. Er war um ein Haar schneller. Seine Hand streifte meinen Handrücken, als er die Kiste umfasste. Unsere Berührung war kurz und unerwartet, aber warm und so zart, dass ich nicht umhinkam, ihm ein Lächeln zu schenken, das er sofort erwiderte. Warum fühlte sich seine Gegenwart nach all der Zeit noch immer so vertraut an?

»Na schön, aber ich warne dich. Du wirst dich fürchterlich langweilen. Denn so viel zu erzählen wie du habe ich nicht«, sagte ich und deutete damit vorsichtig an, wie gern ich erfahren würde, warum er nach all den Jahren nach Oak Bay zurückgekehrt war.

Er lachte auf und griff nach der letzten Kiste, während ich die Autoschlüssel in meiner Faust versteckte. Hoffentlich kam er nicht auch noch auf die Idee sich hinters Steuer zu setzen, wenn er schon der Meinung war, dass ich bei diesem Winterwetter unmöglich allein durch die schneebedeckten Straßen fahren konnte.

»Warum glaube ich dir das nicht?«, entgegnete er noch immer lachend, als ich ihm dabei zusah, wie er die Kiste in den Kofferraum stellte. Das prickelnde Gefühl unserer überraschenden Berührung hielt an. Ich spürte seine Wärme auf meinem Handrücken, die sich auch jetzt, viele Jahre später, noch immer genauso anfühlte wie früher. Als hätten wir uns nie aus den Augen verloren. Als hätte es jenen Tag, an dem er aus meinem Leben verschwunden war, nie gegeben.