1.
„Dämliche Augsburger!“
Wütend zog die junge Kommissarin die Tür der Metzgerei hinter sich zu. Vielleicht etwas zu energisch, da diese mit einem lauten Knall protestierte. „Fleischkäseweck? Noch nie gehört!“, äffte sie leise vor sich hinschimpfend den Augsburger Metzger nach, was ihr einen verwunderten Seitenblick einer alten Dame einbrachte, die ihre Promenadenmischung Gassi führte.
Sie würde sich an diesen abscheulichen Dialekt nie gewöhnen! Auch das Essen hier in Augsburg war völlig anders, als sie es aus ihrer Hamburger Heimat gewöhnt war. Selbst ein normales Mettwurstbrötchen war hier einfach nicht zu bekommen, wie ihr die Erfahrung von eben wieder einmal gezeigt hatte.
„Was woll’n Sie? Ein Mettwurschtbrötchen?“, hatte der dicke Metzger gefragt und ihr ins Gesicht gelacht. „Sowas ham mer hier fei net, Fräulein!“
Daraufhin hatte er auf seine Auslage gedeutet und sie vor allem auf die Warmhalteplatte aufmerksam gemacht, auf der sich zwei riesige Laibe Fleischkäse auf unappetitlich fettglänzenden Schalen tummelten. Sie war drauf und dran gewesen, das Geschäft ohne Essen wieder zu verlassen, als sie ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend darauf aufmerksam machte, dass sie seit gestern Abend nichts mehr gegessen hatte. Also bestellte sie zähneknirschend ein „Fleischkäseweck“ und wurde prompt auch dafür wieder ausgelacht. Nach zahlreichen Belehrungen über die Augsburger Mundart – „Fleischkäse in Augschburg hoißt Lebakäs und sowas wie a Weck gibt’s hier gar net, sondern hoißt Semml“ – erhielt sie endlich die Mahlzeit in einer Imbisstüte überreicht und dann hatte sie, so schnell sie konnte, den Laden verlassen.
Helena lief zu ihrem Auto, wo sie sich seufzend auf den Fahrersitz fallen ließ. Plötzlich hatte sie unglaubliches Heimweh. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, dass sie Hamburg so vermissen würde, als sie das attraktive Jobangebot bei der Augsburger Kriminalpolizei annahm. Aber damals hatte sie ja auch keine Ahnung gehabt, was sie im Süden Deutschlands erwartete. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre sie in ein anderes Land ausgewandert! So wurde sogar etwas Simples wie eine Essensbestellung zu einer echten Herausforderung.
Vorsichtig holte sie die warme „Leberkässemmel“ aus der Tüte. Sie durfte sich jetzt nur nicht bekleckern. Schließlich war heute für sie der wichtigste Tag, seit sie vor gut drei Wochen Anfang September in Schwaben angekommen war. Bislang hatte sie sich lediglich im Präsidium eingelebt, ihr Büro eingerichtet und Akten durchgesehen. Heute sollte sie endlich ihre Partnerin kennenlernen, die bis jetzt im Urlaub gewesen war und da wollte sie natürlich einen guten ersten Eindruck hinterlassen und nicht unbedingt mit verkleckerter Bluse ankommen. Also beugte sie sich nach vorne und nahm einen vorsichtigen Bissen von der warmen Mahlzeit, woraufhin prompt der Senf beschloss, auf der anderen Seite das Brötchen zu verlassen, um mit einem satten Schmatzen auf ihr Lenkrad zu tropfen. Entnervt beförderte sie die angebissene Mahlzeit in die Tüte zurück und kramte hektisch in ihrem Handschuhfach nach einem Taschentuch. Nachdem sie das Malheur entfernt hatte, stopfte sie das zerknüllte Tuch in die Imbisstüte und erklärte die verunglückte Mahlzeit ein für alle Mal für beendet. Obwohl, wenn sie ehrlich war, hatte es gar nicht so schlecht geschmeckt. Trotzdem wollte sie nicht riskieren, sich durch weitere Senfmissgeschicke ihr sorgfältig zusammengestelltes Outfit zu ruinieren. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass zumindest in ihrem Gesicht keine gelben Hinterlassenschaften zu sehen waren. Ihre weiße Bluse und ihre beigefarbene Leinenhose waren zum Glück ebenfalls von unschönen Flecken verschont geblieben.
Plötzlich klingelte ihr Handy und die Einsatzzentrale am anderen Ende teilte ihr mit, dass sie sich unverzüglich in den Augsburger Stadtteil Oberhausen begeben solle, weil man da eine Leiche gefunden habe. Ihre Partnerin sei bereits verständigt worden. Schnell tippte sie die Adresse in ihr Navi ein. Wenigstens würde sie für ihren Weg aus der Augsburger Innenstadt nach Oberhausen nur neun Minuten benötigen, wie sie das Gerät wissen ließ. Die Wege in Augsburg waren definitiv kürzer als in Hamburg. Das war immerhin ein Plus, das die schwäbische Hauptstadt gegenüber der Hansestadt für sich verbuchen konnte.
Helena hatte sich ihr Kennenlernen mit der neuen Kollegin zwar anders vorgestellt, aber das war jetzt wohl nicht mehr zu ändern. Vielleicht konnten sie sich ja später noch auf einen Kaffee zusammensetzen … Da sie keine Menschenseele in dieser Stadt kannte, hoffte Helena, dass sie in ihrer Partnerin eine Freundin finden würde.
Sie warf einen prüfenden Blick in den Außenspiegel und setzte den Blinker. Da die Straße frei war, fuhr sie ihren Audi A3 langsam aus der Parklücke vor der Metzgerei. In diesem Augenblick kam ein Lieferwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke geschossen. Nur durch beherztes Einsteigen auf die Bremse konnte Helena einen Zusammenstoß zwischen den beiden Fahrzeugen gerade noch verhindern. Ihre Hände zitterten von dem Schreck, als sich schon die Fahrertür des Lieferwagens öffnete und ein braungebrannter Riese ausstieg, der laut vor sich hin schimpfte und wild mit den Armen gestikulierte. Der Schreck verebbte und jetzt kochte Zorn in der jungen Kommissarin hoch. Wütend ließ sie die Scheibe ihres Wagens herunter.
„Ja, du damische bleede Kua! Was denksch denn du dir eigentlich dabei, wie du hier so saubleed aus der Parklücke fährscht, ohne zum Gucka!“
Obwohl sie höchstens die Hälfte des Gesagten verstehen konnte, ahnte sie, dass es sich hier mit Sicherheit um Beamtenbeleidigung handelte. Helena angelte ihren Polizeiausweis aus ihrer Tasche und hielt ihn innerlich tief befriedigt vor das schwitzende Gesicht ihres Gegenübers. Doch der dachte gar nicht daran, sich von dem Ausweis beeindrucken zu lassen.
„Ach geh, tu dein Wisch bloß weg! Lernt’s ihr denn kei Autofahren net bei den Bullen?“
Die Kommissarin war fassungslos und während sie das Gehörte noch verarbeitete, drehte sich der Grobian postwendend um und stieg, weiter vor sich hin schimpfend, in seinen weißen Lieferwagen. Laut aufheulend startete gleich darauf der Motor, und der Wagen verließ mit quietschenden Reifen den Ort des Geschehens. Aus dem geöffneten Fenster grüßte er sie noch mit ausgestrecktem Mittelfinger. Das würde eine saftige Strafe werden! Mehrfache Beamtenbeleidigung und gefährliches Verhalten im Straßenverkehr! Der konnte seinem Führerschein mit Sicherheit für längere Zeit Adieu sagen! Leider fiel der jungen Kommissarin in dem Moment siedend heiß ein, dass sie vergessen hatte, sich das Autokennzeichen zu notieren. Sie könnte jetzt natürlich die Verfolgung aufnehmen, aber dann käme sie mit Sicherheit viel zu spät zum Tatort und ihre neue Partnerin würde gleich einen denkbar schlechten Eindruck von ihr gewinnen. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren! Was für ein schrecklicher Start in den Tag! Seufzend überprüfte sie abermals ihr Navi und fuhr zum Tatort nach Oberhausen.
Der Einsatzort war unschwer zu finden. Vor dem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus in der Nähe des Oberhausener Bahnhofs standen mehrere Polizeiautos mit eingeschaltetem Blaulicht und wiesen ihr den Weg. Helena stellte ihren Wagen in der Nähe ab und schnappte sich ihre Tasche. Dann begab sie sich zu dem Haus. Vor der Eingangstür stand ein dicker Streifenpolizist lässig an die Wand gelehnt. Er trug noch die uralte senffarbene Uniform mit dem üblichen altmodischen Lederdeckel auf dem Kopf, von der Helena geglaubt hatte, dass sie längst ausgemustert worden war. Der Beamte hatte die Augen geschlossen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht. Als sie an ihm vorbeigehen wollte, öffnete er seine Augen.
„Heh, Sie, Fräulein! Was meinen jetzt Sie, was Sie da mach’n?“
Er trat einen Schritt zur Seite, um ihr den Weg ins Haus zu versperren. „Meinen’S, i steh hier nur so zum Spaß rum, oder was?“ Der Polizist sah sie unfreundlich an und kratzte sich gleichzeitig mit der Hand an der dicken Wampe. Durch einen aufgesprungenen Knopf kurz über der Hose blitzte ein weißes Feinrippunterhemd hervor.
Die Kommissarin war ob dieser Zurschaustellung der legendären Augsburger Freundlichkeit mehr als genervt. Sie zog ihren Dienstausweis hervor und hielt ihn dem Kollegen unter die Nase. Als er erkannte, dass er es mit einer höherrangigen Kollegin zu tun hatte, wurde er auf einmal sehr viel freundlicher.
„Ja mei, wer hätt denn wissen können, dass Sie eine Kollegin sind, gell? Nix für ungut, Fräulein. Gengas nur schnell nauf zu Ihrer Leich!“, sagte er und trat zur Seite, um die Kommissarin vorbeizulassen.
Kopfschüttelnd trat Helena in den kühlen Hausgang. Ihre Augen mussten sich erstmal an die Dunkelheit gewöhnen, sodass sie eine Minute am Treppenabsatz verharrte. Es gab zwar kleine Fenster in jedem Stockwerk, die etwas Licht in den Hausflur ließen, die waren aber so schmutzig, dass sie ihren Zweck eher unzureichend erfüllten. Der Putz blätterte von den Wänden und die Stufen waren mit schmutzigem Laminat überzogen. Im Haus roch es durchdringend nach einem fremdländischen Gewürz und aus einer der Wohnungen dröhnte laute Musik.
Als ,Home sweet home‘ würde ich das ja nicht gerade bezeichnen, dachte die Kommissarin, während sie die ausgelatschten Treppenstufen erklomm. Natürlich gab es in diesem alten Haus keinen Aufzug.
Auf dem Weg nach oben fiel Helena ein, dass sie erst kürzlich gelesen hatte, dass die Stadt Augsburg gut dreihunderttausend Einwohner hatte, von denen fast vierzig Prozent Migrationshintergrund hatten. Die Ausländerquote war höher als in ihrer Heimatstadt Hamburg oder sogar in Berlin. Die meisten Bürger mit ausländischen Wurzeln, die in Augsburg wohnten, stammten aus der Türkei und Russland. Wie in allen anderen deutschen Großstädten gab es auch in Augsburg Stadtviertel, in denen man besonders viele Menschen aus dem gleichen kulturellen Kontext finden konnte. Oberhausen war beispielsweise das Augsburger Stadtviertel mit den meisten türkischen Bewohnern. Russischstämmige Menschen fand man vor allem im Augsburger Univiertel. Natürlich hieß das nicht, dass nicht auch Deutsche in diesen Stadtteilen wohnten.
Nachdem sie vier Stockwerke erklommen hatte, erreichte Helena endlich heftig atmend ihr Ziel. Vor einer offenen Wohnungstür war ein weiterer Beamter positioniert. Da sie aus dem vorherigen Geschehen gelernt hatte, präsentierte sie dem Polizisten sofort ungefragt ihre Marke und betrat dann die Wohnung. Das Erste, was ihr auffiel, war ein extrem muffiger Geruch, ungelüftet und abgestanden, nach Zigaretten und alten Möbeln. Dazu kam ein widerlicher, süßlicher Gestank, dem sie im Laufe ihrer Arbeit in Hamburg schon einmal begegnet war. So roch der Tod. Der Gestank wurde immer stärker und wies ihr den Weg. Unterwegs wollte sich die Kommissarin gleich noch einen ersten Eindruck von der Wohnung verschaffen, weshalb sie alle Türen, die vom Gang wegführten, öffnete. Im Eingangsbereich der kleinen Wohnung lag auf der linken Seite ein winziges Bad mit altmodischen hellbraunen Fliesen, in dem sich eine Badewanne befand, die hinter einem schmuddeligen Duschvorhang versteckt war, des Weiteren gab es eine Toilette und ein winziges Waschbecken. Auf dem Rand des Waschbeckens konnte sie eine Zahnbürste ausmachen, deren Borsten in alle Richtungen abstanden und eine fast leere, offene Zahncremetube, die auf eingetrockneten Zahncremeresten klebte. Daneben lag ein Einwegrasierer. Dass hier keine Frau wohnte, war der Kommissarin sofort klar. Auf dem Boden befand sich ein Haufen unsortierter Dreckwäsche. Gegenüber warf sie kurz einen Blick in eine Wohnküche, in der sich neben einer alten, verdreckten Küchenzeile, in deren Spülbecken sich schmutzige Töpfe und Geschirr stapelten, eine kleine Eckbank um einen Esstisch gruppierte. Auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitungen und Prospekte. Daneben stand ein übervoller Aschenbecher mit der Aufschrift „Kreta“. Es gab nur noch zwei weitere Zimmer in der Wohnung. Linkerhand befand sich das Schlafzimmer, in dem ein ungemachtes, zerwühltes Doppelbett stand, dessen Laken unappetitliche Flecken und einige Brandlöcher aufwiesen und ein IKEA-Schrank, dessen Tür halb aus den Angeln hing. Neben dem Bett stand ein schäbiges Nachtkästchen mit einem weiteren übervollen Aschenbecher. Rechterhand war ein etwas größeres Wohnzimmer, aus dem Stimmen drangen. Helena spürte Nervosität in sich aufsteigen. Gleich würde sie ihre neue Partnerin kennenlernen. Sie atmete tief durch und betrat entschlossen den Raum. Das Erste, was sie sah, war der Tote, der auf dem Boden, über den Trümmern eines Couchtisches, lag. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters. Daneben kniete ein Mann in einem weißen Arztkittel, bei dem es sich offensichtlich um den herbeigerufenen Pathologen handelte, der die Leiche sorgfältig untersuchte. Auf Helenas Gruß hin blickte er kurz auf und nickte ihr zu, bevor er sich wieder der Leiche zuwandte. Am Fenster stand mit dem Rücken zu ihr eine kleine Frau, die sich über die Pflanzen auf dem Fensterbrett beugte. Mit einer fast liebevoll anmutenden Geste strich sie über die verwelkten Blumen. Ein leises Murmeln kam aus ihrer Richtung. Helena runzelte die Stirn. Sie vermutete, dass es sich hierbei um eine Zeugin handelte, die auf ihre Befragung wartete. Das Outfit der Frau war höchst gewöhnungsbedürftig. Sie trug eine weiß-blau-gestreifte Latzhose mit einem ausgewaschenen T-Shirt von den „Naturfreunden Augsburg“ darunter, das definitiv schon bessere Zeiten erlebt hatte. An den Füßen trug sie Birkenstock-Schuhe, aber nicht diese hippen, neumodischen mit Gold- oder Silberaufdruck, die neuerdings so modern waren, sondern ausgelatschte, hellbraune Exemplare, deren beste Zeit längst vorüber war. Socken trug sie keine, wie ihre nackten Füße verrieten. Die braunen Locken der Frau fielen ihr in unordentlichen Strähnen in die Stirn.
Helena war enttäuscht, dass ihre neue Partnerin offensichtlich noch nicht eingetroffen war. Sie beschloss, sich gleich nützlich zu machen, um nicht verloren herumzustehen, wenn ihre Kollegin endlich auftauchte. Also ging sie zu der Frau am Fenster, die immer noch mit den Pflanzen beschäftigt war. Sie sprach tatsächlich mit ihnen.
„Bald geht’s euch wieder besser, gell? Alles wird gut, meine Lieben! I kümmer mi um euch.“
Helena räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Mein Name ist Helena Hansen von der Kriminalpolizei. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“
Die Zeugin drehte sich um und unvermittelt fand sich die junge Kommissarin in einer innigen Umarmung wieder.
„Wie schön, dich endlich kennenzulernen, Lena! I bin die Franzi!“
Helena stand stocksteif da und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Es dauerte seine Zeit, bis sie verstand, was gerade vor sich ging.
„Franzi? Sie sind meine neue Partnerin Franziska Danner?“
Strahlende Augen und heftiges Kopfnicken folgten auf ihre Frage. „Aber bei uns sagt man fei du zueinander, gell Lena!“
„Helena …“
„Sag i doch! Hilfsch mer mal?“ Franzi drehte sich nochmal zum Fensterbrett und nahm vorsichtig zwei Blumentöpfe in die Hände. Die drückte sie ihrer verblüfften neuen Kollegin in die Arme.
„Die nehm’ mer erschtmal mit. Können ja nix dafür, die Armen!“
Helena Hansen, ihres Zeichens Kriminalkommissarin, fand sich plötzlich mit zwei riesigen Pflanzen im Arm mitten im Wohnzimmer und verstand die Welt nicht mehr. Da vernahm sie auf einmal Schritte im Flur und gleich darauf hörte sie die dazugehörige Person mit schneidender Stimme sagen: „Fräulein Hansen, was haben Sie eigentlich mit dem ganzen Urwald vor?“
Starr vor Schreck erkannte sie die Stimme ihres Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissar Anton Meier. Ihr war klar, was sich ihm für ein Bild bieten musste. Seine Ermittlerin stand mit Grünzeug beladen im Zimmer herum, anstatt sich um den Tatort zu kümmern. Schnell beförderte sie die Gewächse auf die Fensterbank zurück.
„Mei, isch doch nett, wenn sich die Lena um die Pflanzen kümmert, gell?“, hörte sie ihre Kollegin Franzi sagen.
„Ich hab mich doch gar nicht … Ich wollte doch gar nicht …“, stotterte Helena und wandte sich ihrem Chef zu.
Der stand mit gewitterumwölkter Miene vor ihr und starrte missbilligend auf den großen braunen Erdfleck auf ihrer ehemals weißen Bluse. Er selbst war wie immer äußerst korrekt gekleidet. Er trug einen schicken dunkelblauen Anzug mit einer passenden gemusterten Krawatte. Helena legte ebenfalls größten Wert auf ihr Äußeres, doch diese Situation überforderte sie eindeutig. Ihr erster richtiger Einsatz in Augsburg und ihr Chef gewann gleich den denkbar schlechtesten Eindruck von ihr.
„Haben Sie schon Erkenntnisse bezüglich der Situation?“, wollte Herr Meier von ihr wissen.
„Ich hatte leider noch keine Zeit, mich darum zu kümmern“, musste Helena zerknirscht zugeben.
„So, so … keine Zeit also“, erwiderte ihr Chef mit einem vielsagenden Blick in Richtung der Pflanzen. Dann drehte er sich um, um mit dem Pathologen leise einige Worte zu wechseln. Einmal sahen die beiden Herren auf und blickten sie direkt an. Dann flüsterten sie weiter. Helena wäre am liebsten im Boden versunken.
„Ich werde dann jetzt wieder aufbrechen. Ich erwarte Ihren Bericht morgen, meine Damen.“
„Isch gebongt, Herr Meier“, rief ihm ihre Kollegin Franzi fröhlich hinterher. Schon war er aus der Tür. Bevor ihre Partnerin auf die Idee kommen konnte, ihr wieder den ganzen Urwald in die Arme zu drücken, ging Helena schnell auf den immer noch am Boden knienden Pathologen zu und hielt ihm ihre Hand hin, wild entschlossen, ab jetzt alles richtig zu machen.
„Mein Name ist Helena Hansen.“
„Sie werden verstehen, junges Fräulein, dass ich erstmal auf das Händeschütteln verzichte.“
Der Pathologe sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und hielt kurz beide behandschuhten Hände hoch, an denen Blut und andere undefinierbare Flüssigkeiten klebten.
„Mein Name ist Doktor Eugen Lysander.“
Damit wandte er sich wieder der Leiche zu.
Verlegen über Ihren neuerlichen Fauxpas ging Helena neben ihm in die Hocke. „Können Sie uns schon Genaueres zur Todesursache sagen, Doktor Lysander?“
„Nun, wie man sieht, ist der Mann, den ich übrigens auf vierzig bis fünfzig Jahre schätze, schwer gestürzt.“
„Könnte es sich um einen Unfall handeln?“
„Das könnte es durchaus, junges Fräulein. Ich möchte Ihnen jedoch etwas zeigen.“
Behutsam hob er den Kopf der Leiche mit beiden Händen an und drehte ihn leicht zur Seite, sodass sie den Nacken des Toten sehen konnte. Auf ihm prangte ein leuchtend roter Fleck, der offensichtlich nicht von seinem Sturz auf den Couchtisch stammte.
„Sieht aus, als hätt er kurz vor sei’m Tod noch nen Nackabatsch erhalten!“, mischte sich auf einmal ihre Kollegin Franzi ein, die neugierig nähergekommen war und die rote Stelle ebenfalls interessiert betrachtete.
„Einen Nacka … was?“ Hilflos blickte Helena Franzi an.
„Nack-a-batsch!“ Franzi betonte jede Silbe so sorgfältig, als spräche sie mit einem Kleinkind.
„Ihre Frau Kollegin spricht von einem Schlag in den Nacken, Fräulein Hansen“, half ihr der Pathologe schmunzelnd auf die Sprünge.
Dankbar nickte Helena Dr. Lysander zu. „Könnte denn der Nacka …, der Genickschlag, etwas mit dem Tod des Opfers zu tun haben?“
„Wohl eher nicht“, antwortete der Arzt. „Ein Nackabatsch ist eher als Streich zu sehen, wie ihn beispielsweise Jugendliche häufig untereinander austauschen.“
Helena hatte noch nie von etwas Derartigem gehört, wunderte sich aber hier im Süden Deutschlands langsam über gar nichts mehr.
„Auf alle Fälle bedeutet der Fleck, dass jemand kurz vor Eintritt des Todes noch bei unserem Opfer gewesen sein muss. Er wird ihn sich ja wohl kaum selbst beigebracht haben. Zur genauen Todesursache kann ich Ihnen erst etwas berichten, wenn ich die Leiche obduziert habe. Ich werde Sie diesbezüglich in ungefähr vier Tagen anrufen.“
„Noch eine Frage, Herr Doktor. Wie lange ist der Mann schon tot?“, wollte Helena noch wissen.
„Ich würde schätzen, dass er vor 36 bis 48 Stunden gestorben ist.“
„Wissen Sie schon den Namen des Opfers?“
„Das herauszufinden, fällt ja wohl eher in Ihren Aufgabenbereich, meine Liebe.“
Der Pathologe zog sich die besudelten Handschuhe aus und warf sie in eine bereitgelegte Abfalltüte. Er erhob sich ächzend. Erstaunt stellte Helena fest, dass der Arzt sie fast um Haupteslänge überragte. Er drückte sich die Hände in den Rücken und seine Wirbel krachten vernehmlich. Dr. Lysander war ein sportlicher Mann, den Helena auf etwa Anfang sechzig schätzte. Er trug sein kurzgeschnittenes, graues Haar in einem Kranz um eine glänzende Glatze. Im Gesicht hatte er einen gepflegten, ebenfalls kurzgehaltenen Vollbart. Obwohl er anfangs relativ streng auf sie gewirkt hatte, erkannte Helena, dass seine Augen durchaus freundlich blickten. Der Pathologe nickte ihr zu und wandte sich Franzi zu.
„Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können, falls noch was sein sollte, Fräulein Danner.“
„Klaro, Doc. Wir melden uns dann bei Ihnen!“, rief die ihm fröhlich über die Schulter hinweg zu. Sie war schon wieder mit den Pflanzen beschäftigt, die sie offenbar wesentlich mehr interessierten als der Tatort an sich.
„Die Wohnung läuft übrigens auf nen gewissen Adrian Strakowic“, sagte sie über die Schulter zu ihrer Kollegin. „Aber ob es sich bei dem Toten um besagten Strakowic handelt, isch no ungewiss. I hab no keine Papiere zur Identifikation finden können.“
Helena beschloss, sich in der Wohnung genauer umzusehen, vielleicht würde sie etwas finden, was helfen könnte Die Kollegen von der Spurensicherung hatten den Tatort bereits freigegeben, sodass sie sich unbesorgt umschauen konnte. Im Wohnzimmer stand ein älteres Billyregal von IKEA, das mit allerlei vergilbten Büchern vollgestopft war. Die meisten davon waren billige Groschenromane, doch daneben fand sie noch einige juristische Fachbücher, die in dieser Umgebung irgendwie seltsam deplatziert wirkten, wie beispielsweise eine neuere Ausgabe des Strafvollzugsgesetzes. Helena sah sich weiter um. An der Wand, dem billigen roten Imitatledersofa gegenüber, hing ein Flachbildfernseher älteren Modells, der oben von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Einen Esstisch gab es in diesem Zimmer nicht. Auf dem Boden standen mehrere leere Bierflaschen und unter dem Sofa lugten Pizzakartons hervor, was ihr verriet, dass hier gerne vor dem Fernseher gegessen wurde.
Die Kommissarin ging weiter in das Schlafzimmer und sah sich dort um. Auf dem Nachtkästchen lag ein E-Reader. Sie schaltete ihn an, wurde dann aber gleich dazu aufgefordert, ein Passwort einzugeben. Helena entschied sich, den Reader mitzunehmen und im Büro untersuchen zu lassen. In der Schublade des Nachtkästchens herrschte ein heilloses Durcheinander. Neben zerknüllten Papiertaschentüchern lagen Bonbonpapiere, eine ältere Packung Kondome, die noch ungeöffnet war, und viele einzelne Socken. Nachdem Helena sich Handschuhe übergestreift hatte, wühlte sie sich vorsichtig durch die Schublade. Ganz unten fand sie einen Reisepass. Vorsichtig zog sie das zerfledderte Ausweisdokument aus der verdreckten Schublade und öffnete es. Der Inhaber des Ausweises hieß Adrian Strakowic und war am 13. März 1975 in Augsburg geboren worden. Das Passfoto zeigte einen Mann mit welligen, längeren Haaren, die er streng nach hinten gegelt trug. Er trug eine altmodische Brille, sah auf dem Bild aber trotzdem jünger aus, als sein Geburtsdatum vermuten ließ. Als die Kommissarin das Ausstellungsdatum überprüfte, bestätigte sich ihre Theorie. Der Ausweis war im Jahr 2001 ausgestellt worden, sodass der Mann auf dem Bild höchstens sechsundzwanzig Jahre alt gewesen sein konnte. Der Reisepass war seit über acht Jahren abgelaufen. Helena ging mit dem Ausweis in der Hand zurück in das Wohnzimmer und kniete sich neben die Leiche, die mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden lag. Sie hielt das Foto neben den Toten, um die Gesichtszüge vergleichen zu können. Die Haare des Mannes waren wesentlich kürzer als auf dem Passfoto, jedoch unverkennbar gelockt. Die Augenfarbe war im Ausweis mit blaugrün angegeben und passte zu den leblos an die Decke starrenden Augen des Toten. Die Gesichtszüge stimmten ebenfalls überein, auch wenn der Mann vor ihr wesentlich korpulenter war als die jüngere Ausgabe auf dem Foto. Helena war überzeugt, dass es sich bei dem Toten um den Inhaber des Reisepasses handelte.
„Franziska, schau mal, ich weiß jetzt, um wen es sich bei dem Toten handelt“, machte sie ihre Kollegin auf sich aufmerksam.
Die kam neugierig näher und besah sich ebenfalls das Ausweisdokument. Sie stimmte ihrer Partnerin zu. „Des hasch du ja prima g’macht, Lena!“
„Helena …“
„Sag i doch.“
„Wer hat den Toten eigentlich gefunden?“
„Die Nachbarin von gegenüber, eine Frau Lechhuber. Sie hat sich g’wundert, dass der Mann seit zwei Tagen seine Wohnung net verlassen hat. Offensichtlich isch er jeden Tag zur selben Uhrzeit zum Kiosk schräg gegenüber ’gangen, um sich dort sei erschte Halbe zu genehmigen. Als er geschtern und heut net weg’gangen isch, fing sie an, sich Sorgen zu mach’n und klingelte. Da er net öffnete, verständigte sie die Hausverwaltung, die wiederum uns anrief. Aber lass uns jetzt langsam mal z’samm’packen. I glaub, des Wichtigschte ham mer ja.“
Helena sah sofort, dass die Kollegin damit die Pflanzen des Opfers meinte, die sie inzwischen in eine alte Klappkiste gestellt hatte, die sie irgendwo aufgetrieben hatte.
„Komm, pack mal an. Die sind schwer.“
Seufzend verstaute Helena den Ausweis und den E-Reader des Toten in ihrer Tasche, hängte sich diese um und half dann ihrer Kollegin, die schwere Kiste die vier Stockwerke hinunterzubefördern. Vorher hatten sie den Beamten vor der Tür angewiesen, diese gewissenhaft zu versiegeln.
Unten angekommen hielt ihnen der immer noch Wache haltende Uniformierte eifrig die Haustür auf.
„Ja mei, Schorsch, halt immer auf Zack, gell?“, lobte Franzi den Polizisten, der ob des Lobes über beide Backen strahlte. Helena verdrehte die Augen.
„Sag mal, wo ist eigentlich dein Auto?“, wollte Helena wissen. Sie wollte ihre Last nun endlich loswerden.
„I hab doch kei Auto!“, antwortete ihre Kollegin empört. „Isch voll schlecht für die Umwelt!“
Sie deutete mit dem Kinn auf einen Drahtesel, der am Zaun angekettet war. Entsetzt besah sich Helena das Gefährt. So ein Fahrrad hatte sie echt noch nie gesehen. Es war grün lackiert und überall mit Blumenaufklebern verziert. Vorne hing ein riesengroßer Fahrradkorb und die Lenkerstange war mit einer Girlande aus Plastiksonnenblumen geschmückt. Hinter dem Sattel war eine hohe Stange befestigt, an deren Spitze ein Wimpel mit dem Aufdruck „Fahrradfreunde Augsburg“ hing.
„Und wie willst du die Pflanzen jetzt transportieren?“, fragte Helena, der Schlimmes schwante.
„Die pack’ mer einfach in dei’ Auto“, wurde ihre Ahnung prompt bestätigt.
„Ich habe doch gar nichts zum Unterlegen“, versuchte die Kommissarin einen zaghaften Einwand.
„Des macht den Pflanzen scho nix aus. Bis zu mir nach Haus geht’s scho.“
Also trugen die beiden Ermittlerinnen ihre schwere Last zu Helenas weißem Audi A3 mit der hellen Innenausstattung und luden einen überaus dreckigen Klappkorb mit Pflanzeninhalt in ihren Kofferraum.
„Wir treffen uns dann glei bei mir. Wertachauen 17a.“
Franzi winkte noch einmal dem Polizisten zu, der seine Wache jetzt ebenfalls beendete und fuhr dann fröhlich klingelnd davon.
Kopfschüttelnd stieg Helena in ihr Auto ein und lehnte erschöpft ihren Kopf an die Stütze. Sie atmete einmal tief ein und schloss kurz die Augen. Was für ein Tag! Wo war sie hier nur hingeraten? Und diese Franzi … So einen schrägen Vogel hatte die Welt noch nicht gesehen! Wie sollte sie so seriöse Polizeiarbeit leisten? Die Augsburger Urviecher brummelten unfreundlich vor sich hin und sprachen ein Kauderwelsch, das man so noch nicht gehört hatte. Ihre neue Partnerin war offensichtlich geisteskrank und sprach mit Pflanzen. Ihr Chef hatte den denkbar schlechtesten Eindruck von ihr erhalten, was für ihre erhoffte Karriere bei der Kripo nicht gerade förderlich war und ihre Lieblingsbluse war wohl ein für alle Mal ruiniert.
Seufzend gab Helena die Adresse ihrer Kollegin ins Navi ein und fuhr los. Zwanzig Minuten später bog sie im Augsburger Stadtteil Göggingen in eine kleine Sackgasse ab. Sie suchte die Nummer 17a und hielt schließlich vor einem winzigen, roten Häuschen an, das von einem weißen Holzzaun umgeben war. Dieser passte gut zu den weißen Fensterläden, mit denen die Fenster verdunkelt werden konnten. Alles in allem erweckte das Häuschen den Eindruck, als würde gleich eine alte bucklige Frau in den Garten kommen und auf ihren Besen steigen. Helena wartete noch eine Weile im Auto, bis sie Franzi um die Ecke biegen sah. Als diese sie erkannte, klingelte sie wie wild und winkte. Mit quietschenden Bremsen – und die quietschten garantiert nicht, weil sie so unglaublich schnell unterwegs gewesen war – hielt Franzi ihr Fahrrad an und lehnte es an den Holzzaun. Helena stieg aus und öffnete den Kofferraumdeckel. Eine Pflanze war umgekippt und lag seitlich in ihrem Kofferraum.
„Um Himmels willen!“, quietschte Franzi entsetzt und nahm behutsam die Pflanze aus dem Kofferraum und eilte in ihren Garten. Helena besah sich zähneknirschend den Erdhaufen, den die umgekippte Pflanze auf ihrer hellen Kofferraumauflage hinterlassen hatte. Ächzend hob sie dann den schweren Klappkorb alleine aus dem Auto und stellte ihn auf dem Gehweg ab. Der Korb hatte ebenfalls dunkle Flecken in ihrem Wagen hinterlassen. Helena fragte sich ernsthaft, wie sie nur auf die bescheuerte Idee hatte kommen können, eine beige Kofferraumauflage passend zum Interieur ihres Wagens zu wählen. Kopfschüttelnd schloss sie den Kofferraumdeckel wieder, um sich die Bescherung nicht länger ansehen zu müssen und folgte, die schmutzige Klappbox eng an ihre ehemals weiße Bluse gedrückt – jetzt war es schließlich auch schon egal – ihrer Kollegin in den Garten. Der erwies sich als erstaunlich geräumig. Hinter dem Häuschen erstreckte sich eine große Fläche, die von einer hohen Buchenhecke umgeben war. Verschiedene Obstbäume standen krumm und schwer beladen mitten in der ungemähten Wiese und in der rechten hinteren Ecke befand sich ein zwar windschiefes, aber doch relativ geräumiges Gewächshaus, Marke Eigenbau. Darin sah sie Franzi herumwerkeln und folgte ihr von der schweren Last nach vorne gebeugt. Endlich angekommen entledigte Helena sich ihrer schweren Last und beobachtete, wie ihre Kollegin die verunglückte Pflanze liebevoll neu eintopfte und ihr dabei ein langes Leben versprach.
Helena, die sich aus Pflanzen noch nie viel gemacht hatte – außer sie kamen in Form eines riesigen Straußes bei ihr an – war mehr als befremdet. Auf einmal nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Entsetzt sah Helena ein riesiges braunes Etwas auf sich zukommen, das sich kurz darauf auch schon interessiert ihrem Bein widmete, indem es sie ausführlich beschnüffelte und sich ausgiebig an ihr rieb.
„Ja, Waschtl, des isch ja fein, dass du uns’re Lena glei begrüßscht!“, freute sich Franzi und eilte an Lenas Seite, um gleich darauf dem braunen Ungetüm liebevoll den Kopf zu tätscheln.
Helena versuchte, so ruhig wie möglich zu stehen. Sie mochte Hunde nicht besonders und hatte sich schon immer mehr als Katzenmensch gesehen. Wenn der Hund noch dazu die Ausmaße eines kleineren Braunbären hatte, half ihr das nicht wirklich über ihre Angst hinweg. Natürlich wollte sich die junge Frau vor ihrer neuen Kollegin aber keine Blöße geben. Der Hund rieb sich immer noch an ihrem Bein, um kurz darauf die Seite zu wechseln, was Helena beinahe zu Fall brachte. Sein Fell war völlig verfilzt und seine Augen waren unter dem Gestrüpp überhaupt nicht zu sehen. Von dem Tier ging ein unangenehm muffiger Geruch aus. Helena atmete so flach wie möglich.
„Was ist er denn für eine Rasse?“, versuchte sie sich interessiert zu zeigen.
Helena hätte sich wirklich nicht gewundert, wenn sie es hier mit einer Mischung aus Dogge und Bär zu tun hätte.
„So genau weiß des niemand.“ Franzi kniete sich liebevoll neben das Fellknäuel, das ihr daraufhin sofort über das ganze Gesicht schlabberte, was bei Helena beinahe einen Würgereiz auslöste.
„Der arme Waschtl isch als Welpe ausg’setzt word’n, und i hab ihn dann im Tierheim g’sehn und mi sofort in ihn verliebt.“
Verliebt? Kritisch besah sich Helena das Ungetüm. Franzi stand wieder auf, um sich weiter ihren pflanzlichen Patienten zu widmen. Waschtl nahm dies zum Anlass, sich wieder auf Helena zu stürzen. Als er auch noch versuchte, an ihrem Hintern zu schnüffeln, reichte es der Kommissarin aber, und sie schob den Hund energisch zur Seite. Mit einem beleidigten Blick aus den braunen Hundeaugen, die zwischen den Zotteln hervorblitzten, kehrte Waschtl schließlich in eine Ecke des Gewächshauses zurück, wo er es sich auf einem Stapel alter Decken gemütlich machte und den Kopf auf seine Pfoten legte.
„Wollen wir jetzt unser weiteres Vorgehen besprechen?“, wagte Helena es, ihre Kollegin bei der Arbeit zu unterbrechen.
„Mei, i hab jetzt grad gar kei Zeit, Lena! Du siehsch doch, in was für nem schlechtem Zustand die armen Pflänzchen sind! Die brauchn jetzt viel Liebe und Aufmerksamkeit.“
Franzi holte einen Topf nach dem anderen aus dem Klappkorb und beäugte sie kritisch. Dann fing sie an, größere Töpfe aus einem klapprigen Gartenschrank zu holen und mit frischer Erde zu befüllen. Dabei summte sie summte leise vor sich hin und schien Helenas Anwesenheit völlig vergessen zu haben. Der wurde es jetzt zu viel.
„Dann sehen wir uns eben später im Büro. Bis dann.“
Franzi sah nicht einmal mehr auf, als Helena sich umdrehte und schnellen Schrittes deren Garten wieder verließ. Am Auto angekommen, atmete die junge Hamburgerin erstmal tief durch. Der muffige Geruch, den Waschtl verströmt hatte, wollte ihr nicht aus der Nase gehen. Helena konnte ihr Spiegelbild in dem glänzenden Lack ihres Autos sehen und hielt erschrocken die Luft an. Ihr sorgfältig ausgesuchtes Outfit war völlig ruiniert! Die weiße Bluse zierten hässliche braune Flecken und die beige Leinenhose war durch Waschtls Kuschelversuche nicht nur völlig zerknittert, sondern auch mit undefinierbaren Schlieren versehen worden. Helena seufzte und setzte sich in ihr Auto. Sie konnte nur hoffen, dass die folgenden Tage besser verlaufen würden als der heutige. Aber um ehrlich zu sein, schlimmer konnten sie ja auch nicht werden!
2.
Helena startete ihren Wagen und fuhr langsam aus Franzis Straße. Überall waren Kinder unterwegs, fuhren Roller oder Laufrad und sprangen hin und her. Ein paar besorgte Elternteile, die über ihren Nachwuchs wachten, unterhielten sich am Straßenrand und nickten ihr beim Hinausfahren freundlich zu. Helena hatte selbst keine Kinder, konnte sich aber sehr gut vorstellen, in ferner Zukunft einmal Mutter zu werden. Dazu fehlte ihr natürlich der passende Mann, aber mit ihren 28 Jahren hatte sie ja noch Zeit genug, einen zu finden. Ihre Stimmung hob sich durch das fröhliche Durcheinander auf der Straße merklich. Die Familien, die hier wohnten, schienen sich sehr wohl zu fühlen. Sie beschloss, mit dem Trübsal blasen aufzuhören und ihr Bestes geben, sich hier einzuleben. Vielleicht war dieses Augsburg ja doch nicht so verkehrt?
Als Helena ihren Audi kurze Zeit später durch die Hauptverkehrsstraße Göggingens lenkte, nahm der Verkehr deutlich zu. Sie kam nur langsam voran, konnte sich so aber etwas umsehen, um sich ein Bild von der neuen Umgebung zu machen. Bis jetzt war sie so gut wie nie aus der Stadtmitte, in der sie lebte, herausgekommen und freute sich darüber, endlich mehr von ihrer neuen Heimatstadt zu sehen. Als die überall präsente Straßenbahn vor ihr anhielt, sah sie eine lange Menschenschlange vor dem einzigen Eiscafé der Straße stehen. Jung und Alt warteten geduldig auf den kalten Genuss. Helena hätte auch große Lust auf ein paar Kugeln Eis, am liebsten Haselnuss und Kokos, aber in dem Outfit wollte sie sich doch nicht auf der Straße zeigen. Also beschloss sie, erstmal heimzufahren und sich umzuziehen.
Ihr Weg führte sie mitten in die Augsburger Innenstadt. Die junge Kommissarin hatte sich eine kleine Wohnung in einem der vielen neuen Mehrfamilienhäuser auf dem Areal einer abgerissenen Brauerei gemietet. Obwohl die Wohnung äußerst zentral lag, hatte sie einen festen Parkplatz und war zudem einigermaßen erschwinglich. Außerdem konnte sie von hier aus in nur zehn Minuten zum Präsidium radeln, was sie sich auch fest vornahm.
Helena schloss ihre Wohnungstür auf und schmiss den Schlüssel in das Schälchen, das sie zu diesem Zweck auf die kleine Kommode neben ihrer Garderobe gestellt hatte. Sie streifte ihre Schuhe ab und lief strumpfsockig in ihr Schlafzimmer. Seufzend besah sie sich ihr ruiniertes Outfit im großen Schrankspiegel. Sie zog sich die Bluse über den Kopf und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Ihre Hose landete als Nächstes auf dem ruinierten Oberteil. Nach kurzem Überlegen nahm sie eine Jeans aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Dazu wählte sie eine kurzärmelige blaue Bluse. Kritisch besah sie ihr Erscheinungsbild im Spiegel. Ihre Haare, die vorher ordentlich in einem Dutt am Hinterkopf festgesteckt waren, standen nun wirr vom Kopf ab, da sich das Haarband beim Umziehen gelöst hatte. Helena nahm ihre Bürste von der Frisierkommode, die neben dem großen Fenster stand und bürstete mit kräftigen Strichen durch ihr langes blondes Haar, bis es glänzend über ihre Schultern fiel. Danach nahm sie ein Haargummi und machte sich einen halbhohen Pferdeschwanz. Ein prüfender Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie nun halbwegs passabel aussah, wenn auch bei weitem nicht so elegant wie am Morgen. Dann holte sie eine große Plastiktüte aus ihrem Kleiderschrank und stopfte die ruinierten Kleidungsstücke hinein. Sie würde sie in eine Reinigung bringen und hoffte sehr, dass die Profis dort ihre Kleidung würden retten können.
Danach trat Helena wieder auf den Gang hinaus. Es gab drei weitere Räume in ihrer Wohnung. Direkt gegenüber ihres Schlafzimmers lag ein kleines Badezimmer, das zu ihrem Leidwesen über kein Tageslicht verfügte. Wenigstens war dort Platz für ihre Waschmaschine und eine Badewanne gab es auch, was ein Muss für Helena darstellte. Neben dem Schlafzimmer lag ihr Wohnzimmer, über das man auf einen großzügigen Balkon gelangte, von wo aus man einen schönen Blick auf den Kirchturm von St. Ulrich und Afra hatte, jener großen Kathedrale, die am Ende der Augsburger Prachtmeile, genannt Maximilianstraße, lag. Ein kleines Tischchen, von zwei quietschgelben Klappstühlen garniert, stand auf dem Balkon. Die Stühle hatte Helena aus Hamburg mitgebracht, wo sie einen schnuckeligen Garten mit Terrasse gehabt hatte. Auf dem Tisch lagen zwei besonders schöne Muscheln. Erinnerungsstücke von einem Ausflug an die Nordsee.
Das Wohnzimmer selbst wirkte noch etwas kahl. Außer einem grau bespannten Sofa und einem Couchtisch war dort lediglich ein Flachbildfernseher zu sehen, der an die Wand montiert war. In der Ecke neben der Balkontüre stapelten sich jede Menge Umzugskartons, die noch darauf warteten, ausgepackt zu werden.
Außerdem gab es noch eine kleine Wohnküche, die Helena nun betrat. Zum Glück war in der Wohnung bereits eine Einbauküche gewesen, was ihr sehr entgegengekommen war. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte sogar ein kleiner Esstisch Platz. Ein Fenster spendete Tageslicht und schuf eine gemütliche Atmosphäre. Helena schaltete ihre geliebte italienische Einhebel-Kaffeemaschine ein und während sie wartete, bis die Maschine genügend Druck aufbaute, füllte sie Espressopulver in den Siebträger, den sie von unten in die Maschine einrasten ließ. Dann nahm sie ihre Lieblingsespressotasse aus dem Schrank, ein kitschiges buntes Stück, das ihr ihre inzwischen verstorbene Oma aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Der Henkel war leider schon abgebrochen, aber Helena brachte es einfach nicht über sich, die Tasse wegzuwerfen, auch wenn im Schrank vier nagelneue Tassen auf ihren Einsatz warteten. Inzwischen erfüllte ein erwartungsvolles Zischen die Luft. Helena schob ihre Tasse unter den Siebträger, hob den Hebel an, um ihn dann langsam aber kräftig nach unten zu drücken, damit das heiße Wasser durch den Siebträger gepresst in die Tasse fließen konnte. Genießerisch schloss sie die Augen und genoss das kräftige Aroma des Espressos, das ihr in die Nase stieg. Dann balancierte sie die heiße Tasse vorsichtig zu ihrem Küchentisch und setzte sich. Während sie das Getränk in kleinen Schlucken zu sich nahm, kehrte sie in Gedanken an den Fundort der Leiche zurück. Sie rief sich nochmal jede Einzelheit ins Gedächtnis und plante ihr weiteres Vorgehen. Zunächst mussten Franzi und sie die Familie des Toten über dessen Ableben informieren. Bei dem Gedanken an ihre neue Partnerin und deren merkwürdiges Outfit grinste Helena unwillkürlich.
Jetzt hieß es also ins Präsidium zu fahren, um zu recherchieren, wo etwaige Familienmitglieder des Toten lebten. Helena kramte ihr immer präsentes Notizbuch aus ihrer Handtasche, die sie vorhin über den Stuhl gehängt hatte. Zuerst notierte sie sorgfältig das heutige Datum und den Fundort der Leiche. Dann beschrieb sie genau, wo sie die Ausweisunterlagen gefunden hatte und versäumte auch nicht, die merkwürdige rote Stelle im Nacken des Toten zu erwähnen und mit dem Wort Nackabatsch?! zu versehen. Anschließend fertigte sie eine Gedächtnisskizze der Wohnräume an und endete mit den Worten: Recherche, Benachrichtigen der Familie.
Nachdem sie ihre Tasse in die Spülmaschine geräumt hatte, schnappte sich Helena ihre Tasche, um sich auf den Weg ins Präsidium zu machen. Im Flur überlegte sie kurz, ob sie ihr Fahrrad nehmen sollte, entschied sich nach einem prüfenden Blick aus dem Fenster jedoch dagegen und nahm mit dem leichten Anflug eines schlechten Gewissens ihre Autoschlüssel aus der Schale. Bevor sie die Wohnung verließ, holte Helena noch schnell die Plastiktüte mit ihren verdreckten Sachen, die sie auf dem Weg in einer Wäscherei abliefern wollte.
Als Helena aus dem Haus trat, erfasste sie ein leichter Wind. Die Sonne kämpfte gegen lange Reihen von grauen Wolken, doch einzelne Strahlen gewannen schließlich den Kampf und beleuchteten die vielen Kastanienbäume in der Augsburger Innenstadt. Herbstliche Stimmung lag in der Luft und Helena fragte sich, wie oft sie wohl noch ohne Jacke draußen unterwegs sein konnte. Es war ein schöner, heißer Sommer gewesen, den sie aufgrund ihres Umzugs nach Augsburg nicht recht hatte ausnutzen können. Sie hatte lange gebraucht, um all ihre Sachen auszusortieren, die überflüssigen Dinge zu verschenken und die Überbleibsel in die vielen Umzugskisten zu räumen. Ihre neue Wohnung in Augsburg war etwas kleiner als ihr Hamburger Appartement. Daher wusste sie nicht recht, wo sie all ihre Bücher unterbringen sollte, von denen sie sich jedoch auf keinen Fall hatte trennen wollen, weshalb sich diese immer noch in den Kisten in ihrem Wohnzimmer befanden. Ihre Heimatstadt an der Elbe fehlte ihr sehr. Wenn sie sich auf Zehenspitzen gestellt hatte, hatte sie aus ihrem Badfenster sogar einen winzig kleinen Blick auf die Elbe erhaschen können, die sich durch Hamburg schlängelte. Jetzt lebte sie am anderen Ende Deutschlands und war fast 600 Kilometer von der altehrwürdigen Hansestadt entfernt.
Helena lief zu ihrem Auto und stieg ein. Der Weg zum Präsidium führte an einigen schmucken Patrizierhäusern vorbei, deren Pracht von ihren heutigen Bewohnern liebevoll erhalten wurde. Auch die Fuggerstadt konnte auf eine lange, stolze Geschichte zurückblicken. Einst goldene Stadt genannt, in der der reichste Mann der Welt, Jakob Fugger, wohnte und arbeitete, hatten sich hier Kaiser und hohe Würdenträger ein Stelldichein gegeben. Etliche Gebäude zeugten noch von der ehemaligen Bedeutung der über 2000 Jahre alten Stadt. Viele davon waren nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgebaut worden, waren doch große Teile der Innenstadt von einer Feuersbrunst im Bombenhagel zerstört worden. Helena war besonders von der prachtvollen Maximilianstraße fasziniert, in der neben den bekannten Brunnen der Stadt unter anderem die Fuggerhäuser zu sehen waren. Wenn sie Zeit hatte, ging sie dort abends gerne spazieren. Meist lief sie von der St. Ulrichskirche am einen Ende der Maxstraße, wie sie von Augsburgern liebevoll genannt wurde, bis zum berühmten Rathaus aus der Renaissancezeit und besah sich dabei gerne die Schaufenster entlang des Weges. Von Antiquitätenhändlern über Immobilienmakler, Friseurläden, Innenausstattungsläden und Bäckereien, In-Schuppen, vor denen sich abends die Augsburger Jugend tummelte, und Juwelieren war hier alles geboten, was das Herz begehrte. Manchmal genehmigte sie sich auch ihr Abendessen in einem der zahlreichen Restaurants entlang des Weges. Helena liebte es, an einem der einladenden Tische unter einem großzügigen Sonnenschirm Platz zu nehmen und bei ihrer Mahlzeit die flanierenden Augsburger oder die zahlreichen Touristengruppen auf Stadtführungen zu beobachten. In solchen Momenten war sie mit ihrer Wahlheimat mehr als zufrieden.
Inzwischen war die Kommissarin beim Augsburger Polizeipräsidium angekommen. Mit Geschick lenkte sie ihren Wagen in die letzte freie Parklücke in der dazugehörigen Parkgarage und machte sich auf den Weg in ihr Büro, das sie mit ihrer Partnerin Franziska Danner teilte. Die junge Beamtin am Eingang nickte ihr freundlich zu, um sich dann wieder dem Bildschirm ihres PCs zu widmen. Inzwischen war es früher Nachmittag und die Gänge waren relativ leer. Als Helena in ihr Büro trat, stellte sie überrascht fest, dass Franzi schon an ihrem Schreibtisch saß.
„Hoi, du hasch di ja um’zogn“, stellte diese nach einem kurzen Blick auf das veränderte Outfit ihrer Kollegin fest.
Offensichtlich war ihr Helenas vormals derangierter Zustand überhaupt nicht aufgefallen. Ihre Partnerin nickt ihr deshalb resigniert zu und setzte sich an ihren Schreibtisch, der Franzis genau gegenüberstand, sodass sich die beiden Frauen ansehen konnten, wenn sie an ihren Arbeitsplätzen saßen.
„I hab mir ’dacht, dass wir am beschten damit anfangen, die Angehörigen von unsrem Toten zu suchen“, meinte Franzi.
Helena stimmte ihrer Kollegin zu. Sie freute sich, dass sie den gleichen Gedanken gehabt hatten.
„Bist du schon fündig geworden?“, wollte sie interessiert wissen.
„I hab bis jetzt nur einen Familienangehörigen g’funden, einen gewissen Damian Strakowic, wohnhaft in unsrem schönen Augschburg.“
Helena erhob sich und lief um den Schreibtisch herum, um interessiert auf Franzis Bildschirm zu sehen.
„Damian Strakowic, geboren am 12.11.1981 im Josefinum in Augsburg-Oberhausen. Adresse: Am Forellenbach 2 in Augsburg-Lechhausen“, las sie die vorliegenden Informationen halblaut vor.
„Es liegen einige Vorstrafen gegen ihn vor.“ Franzi klickte auf eine andere Seite und referierte: „Ein Raubüberfall auf eine Tankstelle in Oberhausen im Alter von 21 Jahren. Damian wurde zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt, die er in der alten JVA in der Karmelitengasse abg’sessn hat, woraus er jedoch nach knapp zwei Jahren wegen guter Führung vorzeitig entlassen word’n isch. Danach kam er durch mehrmaliges Schwarzfahren mit der Straßenbahn mit dem Gesetz in Konflikt und der letzte Eintrag isch von 2010, als er betrunken in ne Schlägerei auf’m Plärrer verwickelt war und sei’m Kontrahenten Joch- und Nasenbein brach.“
„Plärrer? Was ist denn das?“ Helena sah Franzi verständnislos an.
„Was? Du kennsch den Augschburger Plärrer net?“ Franzi wirkte ehrlich entsetzt. „Des isch unser Volksfescht, des zweimal im Jahr stattfindet, nämlich im Frühjahr und im Herbscht.“
„Ach so! Du meinst sowas wie den Hamburger Dom?“
Franzi schaute Helena an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Des isch doch keine Kirche! Ein Volksfescht! Mit Riesenrad und Bierzelten!“
Sie sprach jedes Wort extra langsam und betont aus, als würde sie mit einer Schwachsinnigen reden.
Helena überlegte, ihrer Kollegin zu erklären, dass der Hamburger Dom ein riesiges Volksfest war, welches dreimal im Jahr stattfand: Der Winterdom, Frühlingsdom und Sommerdom, verwarf aber den Gedanken, um sich wieder ihrem Fall zuwenden zu können.
„Ist eigentlich etwas über die Eltern des Toten bekannt?“
„Leider net viel. I hab nur den Namen des Vaters rausg’funden. Er isch aber schon lang verstorben.“ Franzi schüttelte bedauernd den Kopf.
„Dann lass uns mal hinfahren, um dem Bruder die Nachricht vom Tod seines Bruder zu überbringen. Aber zuerst muss ich noch den E-Reader des Toten zur Datenanalyse bringen, dann kann es losgehen.“
Zehn Minuten später saßen die beiden Frauen in Helenas Auto und fuhren zu der angegebenen Adresse. In diesem Teil Augsburgs war die Kommissarin noch nie gewesen. Nachdem sie den Lech überquert hatten, fuhren sie eine scheinbar endlos lange Straße entlang, in der sich ein Dönerladen an den anderen reihte, nur unterbrochen von Autohäusern und Supermärkten, was dem Ganzen in etwa den Charme eines Industriegebietes verlieh. Kurz vor der Autobahn bogen sie in eine Straße ab, die direkt an der Augsburger Müllverbrennungsanlage vorbeiführte. Staunend besah sich Helena den riesigen Kamin und bekam auch allerlei Fakten zum dazugehörigen Müllberg, wo man „voll gut radeln konnte“, von ihrer Kollegin zu hören. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Kollegin fröhlich pfeifend zwischen allerlei Müllbergen auf ihrem grünlackierten, geblümten Fahrrad herumfahren. Bei der Vorstellung musste Helena schmunzeln.
Ein paar Minuten später zeigte das Navi an, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Helena fuhr langsam auf das Grundstück zu, wobei es sich um einen Schrottplatz handelte, der von einem großen eisernen Tor bewacht wurde. Sie fuhr nahe an das Tor und hielt den Wagen an. Die beiden Frauen stiegen aus und rüttelten einmal probehalber am Griff. Verschlossen. Sie sahen sich nach einer Klingel um, konnten jedoch keine entdecken. An der linken Seite des Tores hing ein halbverwittertes Schild mit den Öffnungszeiten.
„Mittwochs geschlossen”, las Franzi vor.
Die Kommissarinnen blickten sich enttäuscht an. Es sah so aus, als ob sie den weiten Weg hierher umsonst gemacht hätten. Die beiden nahmen das Gelände erstmal in Augenschein. In der Mitte des Platzes befand sich ein heruntergekommenes Haus, neben dem ein alter ockerfarbener Ford geparkt war. Der braune Putz blätterte an zahlreichen Stellen von den Wänden ab und die wenigen Fensterläden, die noch an der Wand angebracht waren, hingen schief in den Angeln. Die Fenster waren so verschmiert, dass man nicht richtig hindurchsehen konnte. Mindestens zwei Scheiben waren kaputt. Allerlei Schrott lagerte ordentlich sortiert um das Haus herum, darunter mehrere zerlegte Autos, ein fast turmhoher Stapel mit Autoreifen und ein weiterer mit Felgen, dann fanden sich noch gebogene Rohre in allen Größen und sonstige Kleinteile aller Art. Sogar das Gestell eines alten Kinderwagens war zu sehen. Vor dem Haus stand eine schiefe Hundehütte, deren Bewohner, ein respekteinflößender Dobermann, an einer langen Kette angebunden war und die neugierigen Frauen aus schläfrigen Augen beobachtete. Momentan schien er keine Bedrohung in ihnen zu sehen, da er seinen Kopf wieder auf die Pfoten legte.
Auf einmal nahm Helena aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Angestrengt kniff sie ihre Augen zusammen und schirmte sie mit einer Hand gegen die inzwischen kräftigeren Sonnenstrahlen ab. Da hinten hatte sich etwas bewegt! Ja, da war eindeutig jemand!
„Hallo?! Sie da! Bitte öffnen Sie die Tür!“, rief sie laut und deutlich über den verwaisten Schrottplatz.
Franzi sah sie verständnislos an. Offenbar hatte sie die Bewegung nicht gesehen. Helena deutete auf die linke hintere Ecke des Schrottplatzes. Jetzt nahm auch Franzi den Schatten wahr. „Polizei! Öffnen Sie das Tor!“, brüllte sie los.
Helena hätte der kleineren Franzi ein solch energisches Auftreten gar nicht zugetraut. Zuerst rührte sich nichts, doch endlich löste sich zögerlich eine Gestalt aus dem Schatten und lief langsam auf das Tor zu.
„Na, wird’s bald“, versuchte Franzi den Mann zur Eile zu bewegen.
Tatsächlich ging er daraufhin etwas schneller und blieb auf der anderen Seite des Tores stehen. Durch die große Ähnlichkeit des Mannes mit dem Toten bestand kein Zweifel, dass sie einem Mitglied seiner Familie gegenüberstanden. Er war nur wesentlich schlanker als sein Bruder und trug seine schulterlangen Haare in einem lässigen Dutt auf dem Hinterkopf. Auch trug er einen relativ kurz rasierten Vollbart, der auf der linken Backe von einer groben Narbe unterbrochen war. Wohl ein Überbleibsel einer Rauferei. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie die seines Bruders.
„Was woll’n Sie?“, fragte er barsch. „Ich hab heute geschlossen.” Er sah die beiden Frauen finster an.
„Des werden Sie glei erfahren, wenn Sie uns reinlassen.“
Franzi sah ihn herausfordernd an, was ihr wiederum einen bewundernden Blick von Helena einbrachte. Der Mann zögerte kurz, dann kramte er einen alten rostigen Schlüssel aus seiner ausgewaschenen Jeans und schloss das Tor auf, das sich quietschend öffnete. Sich ausweisend, betraten die beiden Polizistinnen das Gelände.
„Ich hab nix gemacht!“, folgte seine unmittelbare Reaktion.
Helena sah ein nervöses Flackern in den Augen des Mannes, der sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle hatte.
„Damian Strakowic?“
„Was woll’n Sie von mir?“
„Können wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen?“
„Sagen Sie, was Sie zu sagen haben und verschwinden Sie wieder.“
Das Überbringen von Todesnachrichten war nichts, was die beiden Kommissarinnen gerne erledigten, obwohl sie in ihrer Ausbildung von Psychologen darin geschult worden waren. Jeder Mensch reagierte anders auf eine solch tragische Nachricht und normalerweise versuchte man, es dem Betroffenen so schonend wie möglich beizubringen, aber das schien hier unmöglich zu sein.
„Herr Strakowic, wir ham ne traurige Nachricht für Sie“, begann Franzi zögerlich. Als der Angesprochene weiterhin völlig ungerührt dastand und die beiden Frauen unverwandt anstarrte, sprach sie weiter.
„Ihr Bruder Adrian wurde heute tot in seiner Wohnung aufg’funden.“
„Aha.“
Helena war fassungslos. Sie konnte es nicht glauben, wie gelassen der Mann auf die Nachricht vom Tode seines Bruders reagierte.
„Wollen Sie nicht wenigstens wissen, was passiert ist?“, platzte es aus ihr heraus.
Damian sah sie kurz an und zuckte dann mit den Schultern. Erneut nahm Helena das nervöse Flackern seiner Augen wahr, bevor sein Gesicht wieder einer Maske glich.
„Also? Was ist passiert?“, fragte er scheinbar völlig teilnahmslos.
„Wir kennen zwar no net alle Einzelheiten, aber Fakt isch, dass Ihr Bruder heut Morgen tot aufg’funden wurde. Die Todesursache isch no unklar. Wir können ein Verbrechen zum momentanen Zeitpunkt no net ausschließen“, schloss Franzi ihren Bericht.
Helena, die Damian Strakowic genau beobachtet hatte, hatte deutlich sehen können, wie er bei dem Wort „Verbrechen“ zusammengezuckt war.
„Ich hab nix damit zu tun!“, kam auch postwendend sein Einwand.
„Herr Strakowic, keiner hat behauptet, dass Sie Ihren Bruder auf dem Gewissen haben. Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht vor einem Monat oder vor zwei? Wir waren nicht besonders eng miteinander, müss’n Sie wiss’n.“
Helena hielt das für die Untertreibung des Jahrhunderts. Dass das Verhältnis zwischen den Brüdern nicht das Allerbeste war, war ja mehr als offensichtlich!
„Können Sie uns sagen, ob er mit jemandem Probleme oder Ärger hatte?“
Der Angesprochene reagierte mit einem spöttischen Lachen.
„Der hatte doch immer irgendeinen Ärger! Was weiß ich, mit wem der Händel hatte!“
Hier kamen sie offensichtlich nicht weiter. Die Kommissarinnen nahmen erstmal die Kontaktdaten des Mannes auf, bevor sie sich zum Gehen wandten.
„Wenn wir noch Fragen an Sie haben, melden wir uns. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wenn die Leiche ihres Bruders von der Gerichtsmedizin freigegeben wird, lassen wir es Sie wissen.“
Damian Strakowic nickte knapp und schloss hinter den beiden Frauen sorgfältig das Tor. Dann wandte er sich ohne Gruß ab und schlurfte davon.
„Was hältst du von der Sache?“, wollte Helena von ihrer Kollegin wissen, kaum dass sie wieder im Auto saßen.
Franzi rieb sich nachdenklich die Nase.
„Hm, dieser Strakowic isch scho a seltsamer Vogel. Der Tod von sei’m Bruder scheint ihn ja ziemlich kalt zu lassen!“
Helena stimmte Franzi zu: „Du hast völlig recht und ich habe ein komisches Gefühl bei ihm! Irgendwie war er unruhig. Er schien geradezu erleichtert, uns wieder los zu sein!“
Auf der Rückfahrt ins Präsidium diskutierten die beiden Frauen Theorien, wie Adrian Strakowic zu Tode gekommen sein könnte. War er ermordet worden? Oder war er betrunken auf den Tisch gestürzt, wobei er sich tödliche Verletzungen zugezogen hatte? Für diese Theorie sprach, dass das Opfer offensichtlich ein Alkoholproblem gehabt hatte. Aber wie passte das mit dem leuchtend roten Fleck in dessen Nacken zusammen?
„Ich sag’s dir! Des war a Nackabatsch!“, beharrte Franzi auf ihrer ursprünglichen Theorie.
Helena zog skeptisch ihre Augenbraue nach oben. Da war es wieder, dieses irrsinnig blöde Wort!
„So ein“, sie zögerte merklich, „Nack-a-batsch wird ihn ja wohl kaum umgebracht haben.“
„Wohl eher net“, musste auch ihre Kollegin zugeben. „Da wird uns nix andres übrigbleiben, als auf den Bericht von Dr. Lysander z’ warten.“
Helena nickte. „Hoffentlich bekommen wir den Bericht sobald wie möglich! Jetzt fahren wir erst mal ins Präsidium zurück und schreiben unseren Bericht, sonst sitzt uns noch der Chef im Nacken!“
„Ach was, der Meier isch scho in Ordnung.“
Helena hoffte, dass ihre Partnerin recht hatte. Trotzdem wollte sie den Bericht so schnell wie möglich fertigstellen. Für einen Tag war sie schon genug aufgefallen.
Zurück im Präsidium machten sich die beiden Frauen gleich an die Arbeit. Mit vereinten Kräften schafften sie es, den Bericht rechtzeitig abzugeben, was Helena sehr erleichterte. Als sie ihre Sachen zusammenpackten, um für diesen Abend Feierabend zu machen, dämmerte es draußen bereits. Ein weiteres Anzeichen für den nahenden Herbst, wie Helena bedauernd feststellte. Inzwischen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt.
„Soll ich dich nach Hause fahren?“, bot Helena ihrer neuen Kollegin nach einem prüfenden Blick aus dem Fenster an.
„Des isch aber lieb, Lena.“
„Helena“, murmelte die Hamburgerin leise.
„Aber des bissle Regen hat no kei’m g’schadet. I bin doch net aus Zucker!“
Franzi nahm ihren quietschgelben Regenmantel vom Haken an der Wand und warf ihn sich über. Dann schnappte sie sich noch ihre Fahrradtasche, die auf einem Stuhl in der Ecke lag und verabschiedete sich fröhlich winkend.
„Servus, Lena! I freu mi, dass du jetzt da bisch! Bis morgen!“
Dann verschwand sie durch die Tür. Helena packte ihr Notizbuch ein und machte sich ebenfalls auf den Weg. Am Ausgang traf sie ausgerechnet auf den unfreundlichen Beamten von heute Morgen.
„Wiederschau’n, Fräulein“, rief er lautstark und tippte sich dabei leicht an die uralte Ledermütze. Helena nickte ihm kurz zu, hastete dann durch den Regen zu ihrem Auto in der Parkgarage und fuhr nach Hause.
Als sie fünfzehn Minuten später in ihre Wohnung trat, fiel nach und nach die Anspannung des heutigen Tages von der jungen Frau ab. Zuerst hängte sie ihre nasse Jacke an den Haken und zog ihre Schuhe aus. Dann ging sie ins Schlafzimmer und schlüpfte in bequeme Leggings und einen extra großen Kuschelpulli. Anschließend machte sie sich noch einen schönen, knackigen Salat. Sie liebte Salate in allen Variationen. Heute briet sie dafür Champignons in der Pfanne an. Manchmal gab es auch anderes Gemüse wie Zucchini oder Auberginen, was eben gerade angeboten wurde. Auch ein gekochtes Ei durfte nicht fehlen. Sie setzte sich mit ihrer Mahlzeit an den Küchentisch und ließ es sich schmecken. Währenddessen dachte sie über den heutigen Tag nach. Was würde sich im Fall Strakowic ergeben? War es tatsächlich Mord oder nur ein unglücklicher Unfall? Wie würde sie mit Franzi zusammenarbeiten können? Ihre Kollegin war ja echt nett, hatte aber einige merkwürdige Angewohnheiten. Helena hatte schon davon gehört, dass es Leute gab, die mit ihren Pflanzen sprachen, doch live danebenzustehen war eine ganz andere Nummer. Aber zeigte das nicht, dass ihre Partnerin ein besonders feinfühliger Mensch war? Und das war doch nichts Schlechtes …
Der Salat schmeckte wirklich ausgezeichnet. Kurz erinnerte sich Helena an ihre schwäbische Mahlzeit von heute Mittag: die Leberkässemmel. Sie musste zugeben, dass der Imbiss eigentlich recht lecker gewesen war, wenn er auch mit Sicherheit keinerlei gesundheitlichen Mehrwert hatte. Das Bild des unfreundlichen Metzgers drängte sich ihr auf, und Helena seufzte. Würde sie sich jemals mit den Augsburgern anfreunden? Die Menschen hier waren so anders als die in ihrer Heimat. Während die Hamburger jedermann höflich grüßten, und dabei war es egal, ob sie ihr Gegenüber kannten oder nicht, trafen einen hier misstrauische Blicke, wenn man es wagte, einen Fremden zu grüßen. Franzi war die erste Augsburgerin, die ihr von Anfang an freundlich begegnete. Sie schien sowieso ein ausgesprochen fröhlicher Mensch zu sein. Helena hoffte, dass sie sich schnell in der neuen Stadt würde einleben können. Von erneutem Heimweh geplagt, beschloss sie, ihre Eltern anzurufen. Vielleicht konnten sie Neuigkeiten aus der alten Heimat aufheitern. Helena griff zum Hörer und wählte die Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln meldete sich ihre Mutter.
„Hallo Mama. Ich bin es, Helena.“
„Hallo, mein Mädchen. Was ist denn los? Was hast du denn?“
Ihre Mutter hatte schon immer ein untrügliches Gespür dafür gehabt, wenn etwas mit ihrer Tochter nicht stimmte.
„Es ist alles in Ordnung, Mama. Ich habe nur ein wenig Heimweh.“ Helena fasste kurz die Erlebnisse des heutigen Tages für ihre Mutter zusammen.
„Deine Kollegin klingt doch ganz nett. Das ist doch schon mal gut. Erinnere dich daran, warum du nach Augsburg wolltest. Es ging dir darum, unabhängig zu werden und mal etwas anderes zu erleben. Geh weiterhin offen auf die Leute zu. Irgendwann wird es einfacher werden. Du wirst sehen, mein Schatz!“
Helena und ihre Mutter plauderten noch ein ganzes Weilchen, dann beendeten sie das Gespräch. Die junge Frau fühlte sich tatsächlich besser. Auf ihre Mutter war eben Verlass! Sie wusste immer, was sie sagen musste, damit es ihr besser ging.
Es war erst 21 Uhr, also machte Helena es sich noch auf ihrer Couch gemütlich und schaute sich einen Film an. Sie wählte bewusst keinen Krimi, sondern eine unterhaltsame Komödie. Obwohl sie danach todmüde in ihr Bett fiel, wirbelten die Gedanken weiterhin durch ihren Kopf. Dass die Anfangszeit nicht einfach werden würde, war ihr von Anfang an klar gewesen. Sie würde den Rat ihrer Mutter beherzigen und den Augsburgern offen und herzlich begegnen. Mehr konnte sie nicht tun und dann würde sich schon alles fügen.