Kapitel 1
Kit hatte den Brief schon mindestens ein Dutzend Mal gelesen. Ein erneuter Blick darauf würde ihm nichts Neues verraten – nicht zuletzt, weil er seine Lesebrille unten vergessen hatte. Unruhig zog er das Papier dennoch aus seiner Brusttasche und entfaltete es.
Das Kauderwelsch kaum leserlicher Worte hätte genauso gut zu dem anderen, ähnlich lebensverändernden Brief gehören können, den er vor fast einem Jahr erhalten hatte, als man ihn über den Tod seines jüngeren Bruders in Kenntnis setzte.
Diese Nachricht war keineswegs überraschend gekommen. Ein Leben voller Rebellion und Risikofreude konnte zu keinem anderen Ergebnis führen. Dennoch hatte Kit Edmunds Verlust betrauert, und er tat es immer noch. Die Welt hatte einen ihrer Sterne verloren. Edmunds Gaben hätten zu einem besseren Zweck dienen können. Damals wie heute war Kit dankbar, dass seine Eltern nicht erlebt hatten, wie es ihrem Liebling ergangen war.
Verloren in seinen Gedanken hörte er nicht, wie Mrs Rushworth den Raum betrat.
„Lord Stalbridge?“, fragte die Haushälterin besorgt.
Kit faltete den Brief zusammen, steckte ihn wieder in seine Tasche und sah sie kurz an, bevor er seine Aufmerksamkeit auf die Kisten und Verschläge richtete, die sie umgaben – verschiedene Überbleibsel aus dem Leben eines anderen Mannes. „Ich möchte, dass dieses Zimmer leergeräumt, gründlich geschrubbt und wieder in Ordnung gebracht wird, Mrs Rushworth.“
„Natürlich, Mylord“, antwortete sie und neigte den Kopf. Aber sie drehte sich nicht sofort um und ging. Das hatte er auch nicht von ihr erwartet. „Darf man fragen, warum?“
Der frühere Earl, ein entfernter Cousin, den Kit nie kennengelernt hatte, war ein bekannter Reisender und Sammler gewesen. All seine Schätze wurden im obersten Stockwerk von Ferncliffe aufbewahrt. In den vier Jahren, die vergangen waren, seit er sein unerwartetes Erbe angetreten hatte, war Kits Aufmerksamkeit auf andere Teile des Anwesens gerichtet gewesen. Dem Haus selbst hatte er wenig Aufmerksamkeit geschenkt, schon gar nicht diesem Raum. Er hatte ihn nicht gebraucht. Bis jetzt.
„Weil das Kinderzimmer bald belegt sein wird, Mrs Rushworth.“
„Oh?“ Spekulatives Interesse ersetzte die frühere Besorgnis in Mrs Rushworths Stimme.
„Edmunds Kinder werden Ende des Monats hier einziehen“, erklärte er. Schweigen lag in der Luft und vermischte sich träge mit den Staubmotten. „Ich bitte um Verzeihung, Mylord“, sagte sie schließlich, „ich wusste nicht, dass Ihr Bruder sich eine Braut genommen hat.“
Kit räusperte sich. Die Ehrbarkeit der Haushälterin passte noch besser zu ihr als das anthrazitfarbene Wollkleid, das sie trug. Wenn er nicht aufpasste, würde sie kündigen – oder ihn zumindest das Kinderzimmer allein aufräumen lassen.
„Das hat er“, erwiderte er, zweifelte jedoch selbst am Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Wahrscheinlich hatte die Trauung unter den wachsamen Augen des Vaters eines armen Mädchens stattgefunden – oder vor dem Lauf seines Jagdgewehrs oder der auf ihn gerichteten Spitze eines Schwertes.
„Die Kinder und ihre Mutter lebten mit Edmund in Sizilien“, erklärte er und tätschelte den Brief in seinem Mantel. „Während sie ihn pflegte, ist sie an demselben Fieber erkrankt und starb einige Monate später. Ihre Freunde wussten zunächst nicht, wem die Kinder übergeben werden sollten.“ Das einzig Erstaunliche daran war, wie viel Zeit verstrichen war, bevor ihn jemand gebeten hatte, einen weiteren – und hoffentlich letzten – Schlamassel seines Bruders aufzuräumen.
Zu seiner Überraschung seufzte Mrs Rushworth. „Dann sind die armen Dinger Waisen.“
„Ja.“ Kit betrachtete den trostlosen, schmutzigen Dachboden. „Ich würde gerne einen angemessenen Empfang für meine Nichte und meinen Neffen arrangieren, Mrs Rushworth.“
„Natürlich, Sir“, sagte sie, obwohl die enorme Größe der Aufgabe etwas von ihrer üblichen Zuversicht zu nehmen schien. Von seiner eigenen ebenso.
Wie konnte ein Mann von fünfundvierzig Jahren, ohne Ehefrau und Heiratsabsichten, ohne Erfahrung in der Erziehung und mit einem Haus, in dem selbst er sich nicht willkommen fühlte, zwei kleinen Kindern das Heim geben, das sie brauchten?
„Sie brauchen Mrs Goode“, erklärte die Haushälterin.
War das wieder einer von Mrs Rushworths Verkupplungsversuchen? Seit er den Titel geerbt hatte, wies die Haushälterin gnadenlos auf die Notwendigkeit einer Lady Stalbridge hin.
Kit hatte der Ehe zwanzig Jahre zuvor abgeschworen, als das Mädchen, das er liebte, einen anderen geheiratet hatte. Er hatte gelernt, zu lächeln, zu nicken und ihr sanftes Drängen höflich zu ignorieren.
Diesmal aber platzte er heraus: „Wie bitte?“
„Mrs Goode“, wiederholte Mrs Rushworth, als wäre die Identität der Frau offensichtlich. „Von Mrs Goodes Leitfaden für die Haushaltsführung“, fügte sie zur Erklärung hinzu, obwohl sie sichtlich erstaunt schien, überhaupt eine solche abgeben zu müssen. Schließlich zwang sie sein verwirrter Gesichtsausdruck, ihre Niederlage einzugestehen. „Es ist ein Buch, Mylord. Sehr populär. Unverzichtbare Ratschläge, wie man den Haushalt führt, gestaltet und für jeden Gast oder Anlass vorbereitet.“
„Ah. Schade, dass diese Mrs Goode nicht persönlich zu uns kommen kann.“ Kaum hatte er den Scherz ausgesprochen, sah er sich ernüchtert im Raum um. „Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können.“
Mrs Rushworth machte ein Geräusch, dessen Bedeutung für ihn nicht zu entziffern war. „Ich kümmere mich sofort darum, Sir.“ Sie verbeugte sich und eilte dann davon.
Obwohl der Winterwind durch das zerbrochene Fenster pfiff und die Luft um ihn herum abkühlte, blieb Kit auf dem Dachboden. Er dachte nicht an die Arbeit, die vor ihm lag, sondern an Edmund und die Abenteuer, die sie in einem solchen Raum erlebt hätten, als sie noch kleine Jungen waren. Damals war seine größte Herausforderung gewesen, seinen Bruder vor Schnittwunden, Splittern und Rissen in seiner Kleidung zu bewahren. Die Leute – und auch er selbst – sahen in Kit Killigrew immer einen ernsten, berechenbaren, geordneten Mann.
Warum war dann in seinem Leben nichts so gelaufen, wie er es geplant hatte?
***
Tabetha Holt Cantwell, Dowager Viscountess Manwaring, starrte auf das graue Pflaster drei Stockwerke tiefer und seufzte. London im November stellte ihre Geduld auf die Probe. Ihre Freunde hatten sich längst zu den Herbstvergnügen aufs Land zurückgezogen, und die Weihnachtsfeiertage ließen noch Wochen auf sich warten. Sie lief Gefahr, der Ennui zu erliegen.
Um die Wahrheit zu sagen, allmählich fiel es ihr ebenso schwer, die Langeweile in den anderen elf Monaten des Jahres zu bekämpfen.
Zu Beginn ihrer Witwenschaft hatte London eine unvergleichliche Anziehungskraft gehabt. Der Landsitz ihres verstorbenen Mannes, in dem sie den größten Teil der zwanzig Jahre verbracht hatte, besaß nicht einmal eine Bibliothek. London aber bot Theaterstücke, Vorträge, Bücher und Menschen. Sie hatte die Freuden der Stadt verschlungen wie eine hungrige Frau, der man einen Teller Windbeutel vorsetzt.
Und jetzt hatte sie Bauchschmerzen.
Am anderen Ende des Raums stieß ihr Stiefsohn Oliver, Lord Manwaring, einen ähnlichen Seufzer aus. Oder vielleicht sollte man das Geräusch, das er gemacht hatte, besser als Keuchen bezeichnen. Oliver hatte einen Hang zum Dramatischen, das war klar. Als sie zum Fenster gegangen war, hatte er müßig in seiner Korrespondenz geblättert. Er war nicht die Sorte junger Mann, die sich über die Post echauffierte.
Jedenfalls brachte das Geräusch sie dazu, sich umzudrehen. Normalerweise war seine Körperhaltung träge, in diesem Moment aber saß er so kerzengerade, wie sie es noch nie gesehen hatte, auch wenn er den Kopf über einen Brief gebeugt hielt. Nein, zwei Briefe, einer in jeder Hand. Während sie ihn musterte, knüllte er die Papiere in einer Faust zusammen und fuhr mit den zitternden Fingern der anderen Hand durch seine dunkelbraunen Locken.
Sie begann, auf ihn zuzueilen, doch dann zwang sie ihre Schritte zu einem mäßigeren Tempo. Sie war so lange Olivers Beschützerin gewesen, zuerst vor seinem Vater und später vor dem Rest der Welt, dass der Impuls, ihm die Haare aus der Stirn zu streichen und seine Probleme zu lösen, zur zweiten Natur geworden waren. Manchmal vergaß sie, dass er nun ein erwachsener Mann war und die Einmischung vielleicht nicht mehr schätzte.
„Was gibt es, mein Lieber?“
Sie musste die Frage wiederholen, bevor er von den Papieren aufsah, und als er es tat, funkelten seine braunen Augen fast schon wild. „Es scheint, als wäre ich in Schwierigkeiten geraten, Mamabet“, sagte er und verzog die Lippen zu einem selbstironischen Lächeln.
Er hatte den Namen für sie am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft ausgesucht, indem er die Anrede, auf die sein Vater bestanden hatte, mit einer Kurzversion des Namens kombinierte, die Familie und Freunde immer verwendet hatten.
Sie hatte Oliver erlaubt, sie im Privaten so zu nennen.
Tabetha legte eine Hand auf die geschwungene Lehne eines grün–gold gestreiften Sessels.
„Welche Art von Schwierigkeiten?“
„Die Art, die dem Namen von Manwaring schadet, fürchte ich.“ Er unterstrich den Satz mit einem humorlosen Lachen.
Schädlich für den Namen Manwaring. Der Satz seines Vaters – sie hatten ihn beide oft genug gehört. Er bezog sich auf Olivers Verhaltensweisen, auf sein mangelndes sportliches Können und seine Abneigung gegen das Schießen mit dem Gewehr, und in letzter Zeit auf sein Versäumnis, eine Braut zu wählen und seine Pflicht dem Titel gegenüber zu erfüllen. Olivers Wünsche und sein zukünftiges Glück interessierten seinen Vater nicht.
Der verstorbene Lord Manwaring war beileibe kein idealer Ehemann gewesen, aber für Oliver war er ein wahrhaft schrecklicher Vater.
Sie hatte ihn geheiratet im Besitz aller wünschenswerten Fähigkeiten, die eine junge Dame erwerben konnte – Tanzen, Zeichnen, moderne Sprachen – und mit einer klaren Vorstellung von dem, was von ihr erwartet wurde.
Zumindest hatte sie das gedacht.
Wie sich herausstellte, waren die Bücher über Philosophie, die sie aus der Bibliothek ihres Vaters gestohlen hatte, und die Versteckspiele, die sie mit den Nachbarskindern gespielt hatte, eine bessere Vorbereitung gewesen. Der alte Viscount hatte sie nur aus einem Grund geheiratet: um einen zweiten, akzeptableren Sohn zu zeugen. Tabetha, die Kinder sehr mochte und sich auf die Mutterschaft gefreut hatte, beklagte nicht, dass sie ihrem Mann nicht das geben konnte, was er sich am meisten wünschte. Nach seinem Tod hatte sie die Riten vollzogen, die die Gesellschaft erwartete, aber im Herzen trauerte sie nicht um ihn.
Oliver lehnte sich in seinen Sessel zurück, dem Gegenstück zu dem, an dem Tabetha jetzt lehnte, und legte ein Bein über die gepolsterte Armlehne. Seine Haltung glich seiner üblichen entspannten Pose, nur der tödliche Griff um die Briefe verriet ihn.
„Sie haben von Mrs Goodes Leitfaden für die Haushaltsführung gehört?“, fragte er und wich ihrem Blick aus.
Tabetha gehörte zu der Sorte Mensch, die die Entscheidung über den wöchentlichen Speiseplan gerne ihrer Haushälterin überließ. Sie war lieber Gast denn Gastgeberin. Und als es darum ging, das gemeinsame Stadthaus neu zu dekorieren, hatte sie Oliver freie Hand gelassen.
Dennoch hätte man schon in einer Höhle leben müssen, um nicht von Mrs Goodes Ratgeber gehört zu haben. Nicht nur aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit, sondern auch wegen der Kontroverse, die er ausgelöst hatte, indem er die Geheimnisse eleganter Dekoration und der Gaumenfreuden für jeden zugänglich machte, der sich das Buch leisten konnte: Sechs Schilling für die Broschüre, zehn Schilling und sechs Pence für ein gebundenes Exemplar.
Wer hätte gedacht, dass Haushaltsführung eine solche Leidenschaft wecken könnte?
Sie nickte, und obwohl Oliver sie nicht wirklich ansah, schien er ihre Antwort vorausgesehen zu haben.
„Nun, dies“, sagte er und schob mit dem Daumen den obersten Brief nach vorn, „ist von einer treuen Leserin, der Haushälterin eines unverheirateten Herrn, der kürzlich zum Vormund der Kinder seines verstorbenen Bruders ernannt wurde. Sie sagt, er würde bei der Vorbereitung seines Kinderzimmers von Mrs Goodes Hilfe profitieren.“
„Und was, wenn ich fragen darf, hat das mit dir zu tun?“ Während sie sprach, trat Tabetha um den Sessel herum und setzte sich, da sie befürchtete, Olivers Antwort könnte dies erfordern.
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln und zuckte mit einer Schulter. „Ich bin Mrs Goode.“
Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder, als würde das Scharnier ihres Kiefers von einer Feder angetrieben, über die sie keine Kontrolle hatte. Aber es kamen keine Worte. Nur ein ersticktes Geräusch des Erstaunens entrang sich ihrer Kehle.
„Das heißt“, fuhr er fort, ohne zu bemerken, dass sie aussah, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen nach Luft schnappt, „ich habe den Leitfaden für die Haushaltsführung geschrieben.“
Mit noch immer aufgerissenen Augen sah sich Tabetha im Raum um. Vor vier Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, hatten sie und ihr Stiefsohn sich nach einer Veränderung gesehnt. Oliver hatte vorgeschlagen, in das selten genutzte Stadthaus der Familie am Berkeley Square umzusiedeln, und versprochen, dass es bezugsfertig wäre, wenn ihre Trauerzeit vorüber war. Schon immer hatte er ein Gespür für Farben und Textilien gehabt, dafür, den Dingen ein besonderes Flair zu geben – sehr zum Leidwesen seines Vaters. Tabetha hatte zugestimmt, auf dem Land zu bleiben, während Oliver jedes Material und jeden Stoff aussuchte. Er hatte die Handwerker beaufsichtigt. Und er hatte das Abenteuer in einer Reihe amüsanter Briefe an sie festgehalten, die den langen, tristen Winter erträglich machten.
Vielleicht hätte seine Enthüllung über das Buch sie nicht so überraschen dürfen, wie sie es tat.
„Weiß es sonst noch jemand?“, fragte sie und richtete ihren Blick wieder auf ihren Stiefsohn.
Seine Lippen verzogen sich zu einem vorwurfsvollen Lächeln, das ein Grübchen in einer seiner Wangen zum Vorschein brachte, als ob er ahnte, dass sie die Antwort bereits kannte. „Nicht einmal mein Verleger. Wir haben über Pläne für einen zweiten Band verhandelt.“
Er hielt ihr die beiden Briefe hin. „Und bevor diese Pläne umgesetzt werden, besteht er darauf, dass Mrs Goode nach Hertfordshire geht. Er glaubt, es wäre eine ausgezeichnete Werbemaßnahme.“
Tabetha überflog die Briefe. Die Drohung – wie könnte man sie sonst nennen? – war nicht explizit. Aber offensichtlich hing die Bereitschaft des Verlegers, Olivers zukünftiges Werk zu kaufen, davon ab, ob Mrs Goode dieser, dieser … Bitte nachkam. Sie vermutete, dass es zumindest zum Teil ein Schachzug war, um die Identität von Mrs Goode aufzudecken. Aber der Verleger würde nicht zufrieden sein mit dem, was sein kleiner Plan hervorbringen würde.
Es war nicht der Fakt, dass Mrs Goodes Leitfaden von einem Mann geschrieben worden war. Gentlemen mischten sich immer in die Angelegenheiten der Damen ein, sagten ihnen, was sie tun, anziehen oder kaufen sollten. Dass ein Mann ein Buch mit Ratschlägen zu solchen Themen vorlegte, war nicht weiter bemerkenswert. Aber Gentlemen hatten sich nicht für solche weiblichen Kleinigkeiten wie Wohnkultur, Rezepte und Pelzmäntel zu interessieren. Wenn sich herumsprach, dass Oliver Mrs Goodes Leitfaden aus echter Begeisterung für das Thema geschrieben hatte, würde er mit Spott, Hohn oder Schlimmerem rechnen müssen. Er wäre gezwungen, eine weitere seiner Leidenschaften aufzugeben, nur, damit andere in Frieden leben konnten.
„Was wirst du tun?“
Er zuckte mit den Schultern, als wäre ihm die Angelegenheit völlig gleichgültig, so als stünde nicht ein Teil seines Glücks auf dem Spiel.
Sie hatte dieses Achselzucken schon einmal gesehen.
„Ich werde an deiner Stelle gehen“, bot sie voreilig an. „Ich kann vorgeben, Mrs Goode zu sein.“
Eine seiner Augenbrauen schoss in die Höhe. „Sie wissen, dass ich Sie liebe, Mamabet. Aber nein, das können Sie nicht.“
Zögerte er um ihretwillen oder um seiner selbst willen? Wollte er sich nicht an einer Täuschung beteiligen, die dem Charakter seiner Stiefmutter schaden könnte? Oder fürchtete er, dass ihr Geschmack so abscheulich war, dass Mrs Goodes guter Ruf ruiniert würde?
„Wir könnten uns einen Vorwand einfallen lassen, damit du mich begleiten kannst“, schlug sie vor. „Auf diese Weise könntest du immer noch alle wichtigen Entscheidungen treffen, während ich nur die öffentliche Rolle spiele.“
„Wenn ich in der Lage und geneigt wäre, mich als Zofe zu verkleiden“, spottete er, „könnte ich wohl auch eine passable Mrs Goode abgeben.“
„Nicht als mein Dienstmädchen“, sagte sie, richtete sich auf und begann, umherzulaufen. „Als mein … mein Bräutigam?“
Er schürzte die Lippen, und Abscheu durchzuckte seine geschmeidige Gestalt.
„Mein Diener also. Oder – oh, ich weiß! Mein Sekretär! Sicherlich beschäftigt jemand, der so erfolgreich ist wie Mrs Goode, einen Sekretär?“
Sie hielt den Atem an und wartete auf seine Reaktion. Nach einem unvorstellbar langen Moment nahm er sein langes Bein von der Armlehne des Sessels, und sein glänzender Stiefel ließ sich neben seinem Gegenstück auf dem Boden nieder. „Fahren Sie fort …“
„Wir werden nach Hertfordshire reisen und uns bei … bei …“ Sie setzte sich und überflog den Brief erneut. „… bei der Haushälterin von Lord Stalbridge vorstellen als die geschätzte Mrs Goode und ihr Sekretär, Mr Oliver. Ein oder zwei Tage mit Diskussionen und Skizzen sollten ausreichen, meinst du nicht auch? Dein Verleger kann sicher nicht mehr erwarten. Und dann werden wir frei sein, um in die Stadt zurückzukehren. Im Namen von Mrs Goode kannst du alle Vorbereitungen für die Renovierung des Kinderzimmers von hier aus treffen, und niemand wird etwas erfahren.“
Oliver lehnte sich vor. „Das würden Sie tun? Für mich?“
„Wie kannst du daran zweifeln?“ Der Schmerz in ihrer Stimme war nicht aufgesetzt.
Sie tat es bestimmt nicht für Lord Stalbridge, wer auch immer er sein mochte.
Sie hatte den Titel gehört, konnte ihm aber kein Gesicht zuordnen. Unter normalen Umständen wäre vielleicht ihre Neugierde geweckt worden, vor allem, weil sie so wenig zu tun hatte. Aber jetzt überwog Irritation ihr Interesse. Ein Junggeselle zu sein, entschuldigte nicht die völlige Ignoranz in Sachen der Haushaltsführung.
Oliver ergriff ihre Hände, ohne Rücksicht auf die Papiere, die zwischen ihnen zerknittert wurden, zog sie auf die Beine und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.
„Gott segne Sie, Mamabet. Ich kümmere mich um alles.“ Mit diesem Versprechen verschwand er in einem Wirbelwind.
Ein auf dem Land verstecktes Haus in Trauer, das renoviert und bald von Kinderlärm erfüllt sein würde, war nicht gerade das Mittel gegen die Niedergeschlagenheit, das sie sich erhofft hatte. Aber sie ging gerne, nur um Oliver zu helfen.
Und vielleicht für das zusätzliche Vergnügen, diesem Lord Stalbridge ihre – oder besser gesagt, Mrs Goodes – Meinung zu sagen.
***
Nicht ganz eine Woche später blickte Kit von seinem Geschäftsbuch auf. Mrs Rushworth stand in der Tür seines Arbeitszimmers, ihr gestärktes Leinentaschentuch hob sich weiß von ihrem dunklen Kleid ab. Er musste über den Rand seiner Brillengläser schauen, um ihren Gesichtsausdruck deutlich zu erkennen: eine Mischung aus Besorgnis und Überraschung.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er. Einen Moment lang antwortete sie nicht und veranlasste ihn damit, sich eine Reihe von Katastrophen vorzustellen. „Haben Sie auf dem Dachboden etwas Ungewöhnliches entdeckt?“ Vielleicht enthielt eine der Kisten des verstorbenen Earls wider Erwarten etwas Interessantes oder gar Schockierendes …
„Nein, Mylord. Das heißt, es ist alles in Ordnung. Es hat nichts mit irgendetwas oben zu tun … nicht genau.“
Er schloss das Buch, legte seine Brille beiseite und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. „Was genau gibt es denn dann?“
„Es geht um Mrs Goode, Sir.“ Mrs Rushworths Mund bewegte sich seltsam. Er vermutete, dass sie auf der Innenseite ihrer Lippe kaute. Ihre Stimme wurde leiser. „Sie ist hier.“
Sein Hirn fühlte sich plötzlich so dick und undurchdringlich an wie die Kruste eines übergekochten Plumpuddings. Ihre geflüsterten Worte schienen es kaum zu durchdringen. Mrs Goode? Er hatte angenommen, der Name sei nichts weiter als eine höfliche Erfindung, um Bücher zu verkaufen.
Bevor er auch nur einfache Fragen stellen konnte – Wie? Warum? – fuhr Mrs Rushworth fort: „Ich habe an Mrs Goodes Verleger geschrieben. Sie, Mylord, waren es, der mich auf die Idee gebracht hat. Ich dachte, wenn sie nicht zu beschäftigt wäre, könnte sie mir vielleicht einen kostenlosen Rat geben. Aber ich hätte mir nie träumen lassen …“ Nun begann sie, mit den Händen unruhig ihr Taschentuch zu kneten.
„Sie ist hier.“ In seinem stotternden Versuch, etwas zu verstehen, kamen die Worte halb als Erklärung, halb als Frage heraus.
„Ja, Sir. Mit ihrem Sekretär, Mr Oliver. Um uns zu helfen.“ Ihre Miene hellte sich auf. „Soll ich sie hereinführen?“
Er glaubte nicht, dass er ihr eine Antwort gegeben hatte. Ebenso glaubte er immer noch nicht, dass Mrs Goode real war. Aber als die Haushälterin sich umwandte und zielstrebig aus dem Zimmer schritt, ertappte er sich dabei, wie er seine Hände flach auf die Tischplatte legte und sich vorsichtshalber erhob.
Einen Augenblick später hörte er Schritte auf dem Korridor. Mrs Rushworth tauchte auf und knickste. „Mrs Goode möchte Sie sprechen, Mylord.“
Hinter ihr trat eine Dame ein. Eine Dame aus Fleisch und Blut, gehüllt in einen kobaltblauen Mantel. Mehr konnte er nicht sagen, denn ihr Kopf war so gedreht, dass er nichts außer dem Schirm ihrer Haube sehen konnte, nicht einmal ihr Profil oder die Farbe ihrer Haare.
Sie sprach leise mit jemandem hinter ihr, ihrem Sekretär, wie er vermutete. Er konnte die Worte nicht entziffern. Aber die Stimme … Ihre heisere Tonlage durchfuhr ihn wie ein Funke, wie eine Berührung, die die Konturen eines jeden Wirbels seines Rückgrats nachzeichnete. Eine vertraute Berührung …
Er presste seine Hände fest auf den Schreibtisch und war sich plötzlich dessen bewusst, dass, wenn er sie anhob, zwei perfekte Abdrücke zum Vorschein kämen – dunkle Abdrücke seiner feuchten Handflächen auf der ledernen Schreibunterlage.
Mr Oliver, der Sekretär, trat hinter Mrs Goode ein. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit einem Schopf dunkelbrauner Locken. Sein Mantel und Rock klafften auf und gaben den Blick frei auf eine rosa–grün karierte Weste. Mrs Goode hob eine Hand, um ein paar Regentropfen von Mr Olivers Schulter zu streichen, eine erstaunlich intime Geste zwischen einer Dame und ihrem Sekretär.
Bevor es Kit gelang, einen Anflug von Eifersucht zu unterdrücken, ganz zu schweigen von der Absurdität einer solchen Reaktion, drehte sich die Frau um, und sein Gehirn, das kurz zuvor noch so fest und unempfindlich wie ein gebrannter Ziegelstein gewesen war – verwandelte sich zu Brei.
Beth, unverkennbar seine Beth – obwohl zwanzig Jahre vergangen waren seit er zum Abschied einen letzten Blick auf sie geworfen hatte – kam auf ihn zu.
Dieselbe Hand, mit der sie den Regen von Mr Olivers Mantel gestrichen hatte, reichte sie ihm nun zur Begrüßung, und obwohl ihr starrer blauer Blick auf ihn gerichtet zu sein schien, konnte er erkennen, dass sie ihn nicht wirklich sah. Noch nicht.
Er erkannte den Moment genau, in dem sie es tat. Das Aufflackern des Erkennens. Das Aufblitzen des Unglaubens. Ihre Wangen wurden erst blass, dann rosa. Sie zog die ausgestreckte Hand zurück und legte sie an ihre Kehle. „Lord Stalbridge?“
Die Notwendigkeit, um den Schreibtisch herum zu treten und ihr auf einen Stuhl zu helfen, hinderte ihn daran, der Versuchung nachzugeben, selbst in einen solchen zu sinken. Er stützte sie am Ellbogen und half ihr, sich zu setzen, wobei er sich nah genug vorbeugte, um ihr Parfüm zu riechen, eine einladende Mischung aus Birnenblüten und Vanille.
„Geht es Ihnen gut … Mrs Goode?“ In seinen Gedanken war sie nie weit weg gewesen, doch die Anrede kam ihm nur schwerfällig über die Lippen. Manwaring war der Titel des mürrischen alten Einsiedlers gewesen. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie ihn heiratete, nur damit er seine einzige Tochter mit Mylady anreden konnte.
Sie antwortete nicht, sondern musterte nur sein Gesicht, die Augen weit aufgerissen und voll schmerzhafter Verwunderung. Dann fiel ihr Blick auf seine Hand, die von ihrem Ellenbogen nach oben geglitten war und sich um ihren Oberarm geschlungen hatte – eine recht dreiste Geste, trotz ihrer Vorgeschichte. Er versuchte, seinen Verstand zu ordnen, der eher Soße als Pudding, eher Mörtel als Ziegelstein zu sein schien, und seinen Fingern zu befehlen, seinen Griff zu lockern.
Aber jeder Instinkt sagte ihm, dass er sie nie wieder loslassen durfte.