Al & Emmas Küche, Samstag, 19.September 2003, 00:35 Uhr
Vince betrachtete seine Freunde, die mit ihm am Tisch saßen. Sie waren alle ungefähr im selben Alter wie er – fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre alt. Ein Gespräch, wie sie es führten, oder zumindest ein ähnliches, fand wahrscheinlich in eben diesem Augenblick an tausend anderen Esstischen in London statt. Aber ihr heutiges Gespräch war etwas Besonderes, wie edles Porzellan, das nur zu Ehren eines speziellen Gastes – seinetwegen, und weil man sich lange nicht mehr gesehen hatte – hervorgeholt wurde. Das war das erste Treffen der Freunde, seit er und Jess sich getrennt hatten, und alle schienen besonders aufgekratzt zu sein wie Gäste bei einer TV-Dinnerparty. Vince kannte das von früher. Das war immer so gewesen, wenn jemand seine neue Freundin mitgebracht hatte oder wenn alte Freunde urplötzlich hereingeschneit waren wie neue Mitspieler in einer Daily Soap. Sie wollten ihm damit zu verstehen geben, dass er noch einer der ihren war, ganz gleich, welchen Status er hatte. Sieh nur, wollten sie ihm sagen, du hast tolle Freunde und dein Leben wird bald wieder ebenso toll sein. Und indem sie sich Vince von ihrer besten Seite zeigten, versicherten sie sich auch ihrer gemeinsamen Geschichte. Weißt du noch, hieß das Motto des Abends. Weißt du noch, damals in Amsterdam – Simons Junggesellenabschied —, auf der Fähre zurück nach England, als Simon sich in hohem Bogen über das Büfett erbrach? Und dann das Wochenende in Cornwall. Weißt du noch, wie Al um fünf Uhr früh auf diesem Felsen mitten im Meer stand, voll auf Speed? Und wie plötzlich diese Welle kam, über ihm zusammenbrach und wir alle dachten, jetzt ist er tot? Erinnerst du dich noch? Die Unterhaltung wandte sich einer Zeit zu, als Vince noch nicht einmal die Hälfte seiner Freunde am Tisch gekannt hatte. Die meisten waren schon zusammen an der Universität gewesen, bevor er in ihr Leben getreten war. Geschichten von Apfelwein- und Lagerbierschorlen, LSD-Trips und Tripper, von trostlos leeren Kühlschränken, grausigen Eintöpfen, Schlafwandelattacken und Inkontinenz. Vince stützte sein Kinn auf beiden Händen ab und ließ die Atmosphäre auf sich wirken, während er den nostalgischen Erinnerungen seiner Freunde lauschte. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte 00:38 Uhr. Zu normalen Zeiten wäre er längst zu Hause, sinnierte er, würde den Babysitter bezahlen und nach Lara sehen. Stattdessen hockte er immer noch hier herum. Er hatte kein Zuhause mehr und niemanden, der ihn erwartet hätte. Er war ein verheirateter Mann, der nicht verheiratet war, ein Vater, der nicht mit seinem Kind zusammenlebte. Nichts war bei ihm so, wie es sein sollte. Alles in seinem Leben fühlte sich schief und unausgewogen an. Aber hier in der vertrauten, heimeligen Wärme von Al und Emmas Küche, mit reichlich Rotwein und Whisky in den Adern, wurde alle Unordnung der Welt wieder zurechtgerückt. Das Gespräch tauchte noch tiefer in die Vergangenheit ein. Jetzt sprachen sie über ihre Schulzeit, als sich sogar die ältesten Freunde am Tisch noch nicht gekannt hatten. Sie sprachen über erste Schwärmereien, erste Fummelversuche und den Zustand rasender Verliebtheit, als Natalie plötzlich eine Frage in die Runde warf.
„Sagt mal“, fing sie an und lächelte niederträchtig über ihre aneinander gelegten Fingerspitzen hinweg, „wie alt wart ihr eigentlich, als ihr eure Unschuld verloren habt? Und an wen? Du fängst an, Al.“
Al stöhnte zwar, erzählte aber allen bereitwillig, dass er seine Unschuld mit sechzehn während einer Klassenfahrt nach Paris an ein Mädchen namens Karen verloren hatte. Sie schliefen miteinander im unteren Abteil eines Stockbettes in ihrer Jugendherberge, während sein Freund Joe über ihren Köpfen hörbar, riechbar und vorsätzlich furzte. Emma hatte zum ersten Mal Sex mit siebzehn, mit einem verheirateten Mann, der ihr versprach, ihretwegen seine Frau zu verlassen, sich danach aber nie mehr bei ihr meldete. Natalie hatte ihre Jungfräulichkeit auf traditionellere Weise im Alter von vierzehn Jahren an einen Typen namens Darren verloren, der aussah wie Steve Norman von Spandau Ballet. In dreißig Sekunden war alles vorbei gewesen. Er hatte hinterher geheult, weil sie nicht geblutet hatte. Er hatte geglaubt, das würde bedeuten, dass sie keine richtige Jungfrau mehr war. Bei Steve war es eine österreichische Touristin im Haus seiner Eltern gewesen – sie vermieteten Zimmer an Bed & Breakfast-Gäste – die ihn als Fünfzehnjährigen mitten in der Nacht in ihr Zimmer gelockt hatte, als er auf dem Weg zur Toilette war. Sie war vierundfünfzig und hatte die schlimmsten Schwangerschaftsstreifen, die man sich vorstellen konnte, dazu eine Narbe von einer Notoperation, die sich von der Mitte des Brustbeins bis in die Leistengegend zog. Sie packte ihn an seinen (damals noch langen) Haaren und zog so fest daran, während sie rittlings auf ihm auf und nieder hopste, dass sie ihm tatsächlich ein Büschel davon ausriss, das sie danach wie eine Trophäe schwenkte. Claire schockierte alle mit ihrer Enthüllung, sie habe ihre Unschuld mit dreizehn Jahren während einer Hausbootfahrt in den Ferien an einen siebzehnjährigen Cousin verloren. Sie trieben es miteinander unter einem Busch am Ufer des Coventry Kanals, während ihre Eltern sich im Boot volllaufen ließen und lautstark miteinander stritten. Fünf Jahre später kam Claire dahinter, dass ihre ältere Schwester ihre Jungfräulichkeit auch an diesen Cousin verloren hatte, der im Alter schwul wurde und mit einem Siebzigjährigen zusammenlebte. Tom verlor seine Unschuld hinten in einem Lieferwagen, den sein Freund fuhr, der kurz zuvor zwei LSD-Trips eingeworfen hatte. Der Freund, der Tom und das Mädchen für zwei riesige, ineinander verkeilte Eidechsen hielt, steuerte den Wagen an den Seitenstreifen, rupfte büschelweise Gras aus und bewarf das junge Glück damit. Vielleicht waren die Eidechsen ja hungrig. An den Namen des Mädchens konnte Tom sich nicht mehr erinnern.
Und dann war Vince an der Reihe. Aufmunternd lächelnd wandten ihm seine Freunde das Gesicht zu. „Nun mach schon, Mr. Mellon“, sagte Al und rieb sich die Hände. „Raus mit der Sprache. Wie verdorben, abstoßend und pervers war dein erstes Mal?“
Vince grinste und spielte kurz mit dem Gedanken, seinen Freunden eine Lüge aufzutischen, um ihren Erwartungen zu entsprechen, aber dann fiel sein Blick auf Natalie. Ihr Gesicht schimmerte sanft im Kerzenlicht, und sie hatte zärtlich einen Arm um ihren schon leicht betrunkenen Mann gelegt. Da beschloss er, bei der Wahrheit zu bleiben. „Die Nacht, in der ich meine Unschuld verlor, war die tollste Nacht in meinem Leben“, begann er. Eine Sekunde lang herrschte sprachloses Staunen.
„Ach, komm“, brach Tom schließlich das Schweigen. „Kein Mensch hat Spaß beim ersten Mal.“
„Ich schon“, sagte Vince nur. „Es war einfach alles perfekt.“
Die Freunde verstummten und versuchten, diese ungewöhnliche Aussage zu verdauen. Die Männer schienen irgendwie enttäuscht, während die Frauen Vince fragend ansahen.
„Los, weiter“, forderte Claire ihn auf. „Jetzt erzähl schon. Wer war sie?“
„Es war ein Mädchen, das ich in Norfolk kennenlernte. Ich war neunzehn. Sie hieß Joy.“
Juli 1986
Spätzünder
1
Vince warf seine Tasche auf das unterste der muffig riechenden Stockbetten und schob die mit hässlichen, grobstrichigen Gänseblümchen bemalten, papierdünnen Vorhänge beiseite. Da sah er sie das erste Mal. Sie kauerte in einem Liegestuhl, hatte die Knie bis ans Kinn hochgezogen und hielt eine Zeitschrift in der rechten Hand, während sie mit der anderen geistesabwesend an ihren schwarz bemalten Zehennägeln zupfte. Sie hatte dunkelbraunes, kinnlanges, leicht gewelltes Haar, das ihr wie Korkenzieherlocken ins Gesicht fiel. Sie war ganz in Schwarz gekleidet – ärmellose Weste, übergroße Shorts aus Militärbeständen – und trug ein ausgefranstes Leinenband im Haar. „Vince, hilf mir mal mit dem Gas.“ Chris steckte seinen Kopf durch die Tür aus beigefarbenem Kunststoff und zwinkerte. „Gleich. In einer Minute.“ Vince kehrte ans Fenster zurück und hob den Vorhang wieder etwas an. Sie blätterte gerade eine Seite um und bewegte graziös ihre langen, makellosen Gliedmaßen. Dabei spielte sie mit einem kleinen silbernen Kreuz, das an einem Lederband um ihren Hals hing, und stützte sich mit den Zehen am Holzrahmen des Liegestuhls ab. Bang, bang, bang. Eine haarige Faust, die an das Fenster hämmerte, riss Vince aus seinen Träumereien.
„Jetzt komm schon, Kumpel.“ Chris' Gesicht rückte bedrohlich in sein Blickfeld. „Ja, ist ja schon gut.“ Vince ließ den Vorhang fallen und richtete sich auf. Scheiße. Ein schönes Mädchen. Gleich im Wohnwagen nebenan. Die vier Jahre zuvor hatten dort immer drei Jungen, zwei Staffordshire Bullterrier und ein Paar namens Geoff und Diane aus Lincolnshire gehaust. Vince starrte auf sein Spiegelbild über dem Gasherd im Wohnbereich des Caravans. Er war zutiefst verunsichert. Mit der Gegenwart eines schönen Mädchens während seiner zwei Wochen Ferien in Hunstanton hatte er nicht gerechnet. Auf diesem Campingplatz hatte es noch nie ein schönes Mädchen gegeben. Nur einmal ein hässliches Mädchen namens Carol mit einer noch hässlicheren Freundin, die Theresa hieß, die ihm gestammelte Beleidigungen an den Kopf warf und dann versuchte, die kräftigen Burschen anzubaggern, die bei den Tanzveranstaltungen am Hunstanton Pier agierten und so taten, als gefielen ihnen die hässlichen Mädchen, die sie im Kreis schwenkten. Als Vince mit Chris und seiner Mum zum ersten Mal nach Hunstanton gekommen war, hatte es genügend Kinder in seinem Alter gegeben. Die Clique war unzertrennlich gewesen und hatte sich auf dem Rummel herumgetrieben; einmal hatten sie sich sogar in einen Nightclub gewagt. Aber im Laufe der Jahre waren immer weniger gekommen. Sie blieben lieber zu Hause und unternahmen dort etwas mit ihren Freunden oder Freundinnen, oder sie fuhren mit ihrer Clique ins Ausland an Orte, an die man nur mit einem Reisepass gelangte. Sogar die hässliche Carol und die noch hässlichere Theresa schienen in diesem Sommer etwas Besseres zu tun zu haben, wie die geschlossenen Vorhänge ihres Campingwagens auf der anderen Seite des Weges bewiesen.
Vince konnte hören, wie Chris sich draußen freundlich mit dem geheimnisvollen Mädchen unterhielt. Aus Angst, etwas zu versäumen oder – schlimmer noch – von Chris irgendwie bloßgestellt zu werden, fuhr Vince sich mit beiden Händen durch seinen James-Dean-Schopf, berührte kurz die flammend roten Narben an seinem Kinn und eilte nach draußen. „Etwas außerhalb von London“, sagte Chris gerade, „in Enfield. Und ihr?“
„Aus Colchester“, erwiderte sie und schob das silberne Kreuz an dem Lederband hin und her. „Kennst du das? Das ist in Essex.“
„Ja“, antwortete Chris, „ich kenne Colchester. Na so was, wen haben wir denn da?“ Er drehte sich zu Vince um. „Vince“, sagte er, „komm her. Ich möchte dir unsere neue Nachbarin vorstellen. Das ist Joy.“ Aus der Nähe war sie sogar noch schöner. Ihre Haut war alabasterweiß, aber irgendetwas an ihren Gesichtszügen — die kleine, fein geschnittene Nase und die hohen Wangenknochen — ließ auf ferne Länder schließen. Doch am ungewöhnlichsten waren die weit auseinander stehenden Augen mit den flachen Lidern und den dichten, dunklen Wimpern – die Augen einer chinesischen Porzellanpuppe. „Hallo“, sagte er und lächelte sein neues, steifes Lächeln. „Hallo“, erwiderte sie, ließ die Zeitschrift auf ihren Schoß sinken und schob beide Hände unter die Oberschenkel. Vince bemerkte, dass ihr Blick auf den Narben an seinem Kinn ruhen blieb. Energisch ballte er seine Hände zu Fäusten, um zu verhindern, dass sie schützend vor sein Gesicht hochschnellten. „Seid ihr zwei Freunde?“, fragte sie. Vince betrachtete Chris mit gespieltem Entsetzen. „Gott, nein“, widersprach er. „Chris ist mein Stiefvater.“
„Tatsächlich? Wie das denn?“
„Tja, weil er meine Mum geheiratet hat.“ Vince und Chris sahen sich an und brachen in Gelächter aus.
„Oh, richtig. Natürlich. Aber ihr scheint mir fast gleich alt zu sein.“
„Ja, das sagen alle. Nur, Chris ist zehn Jahre älter als ich. Er ist neunundzwanzig, und ich bin neunzehn.“
„Aha“, meinte sie und sah von einem zum anderen, als zweifelte sie an ihrer Geschichte. „Und wo ist deine Frau? Oder deine Mum?“
„Sie ist im Supermarkt“, erklärte Chris, zerrte die Propangasflasche aus dem kleinen, hölzernen Verschlag und blies ein paar Spinnweben fort. „Sie holt Tee. Sie müsste jede Minute wieder hier sein. Ach, wenn man vom Teufel spricht – da ist sie.“ Kirstys grüner Mini kam auf dem knirschenden Kies neben dem Wohnwagen zum Stehen. „Jetzt helft mir mal, ihr zwei“, bat sie und ging zur Heckklappe. Chris ließ augenblicklich die Gasflasche los und eilte seiner Frau zu Hilfe. Vince nickte bestätigend Richtung Joy und befummelte seine Narben. „Gott, das ist deine Mum?“, staunte Joy. „Hm-hm.“
„Eine tolle Frau.“ Vince drehte sich um und erwartete, Beatrice Dali oder sonst einen Vamp dort stehen zu sehen, aber es war nur seine Mutter. „Wie alt ist sie? Sie sieht nicht aus, als ob sie einen Sohn in deinem Alter haben könnte.“
„Siebenunddreißig, glaube ich. Oder achtunddreißig. Irgendwas in die Richtung.“
„Unglaublich. Sie ist jünger als meine Mum damals war, als sie mich bekam.“ Beide betrachteten eine Weile stumm Vince' Mutter, und Vince zermarterte sich das Hirn, was er noch sagen sollte. Das war sein offiziell längstes Gespräch mit einem Mädchen, das weder in seiner Klasse war noch mit einem seiner Freunde ging. Er kam sich dabei vor, als versuchte er, mit reiner Willenskraft einen Federball in der Luft zu halten. Vince wollte Joy eine interessante Frage stellen, etwas über Musik vielleicht oder über ihre verführerischen Augen. Oder zu dem Thema, was ein schönes Mädchen wie sie auf einem drittklassigen Campingplatz wie diesem hier zu suchen hatte. Ein Dutzend mögliche Themen für einen Gesprächseinstieg blubberten in seinem Kopf hoch wie Blasen und wurden im Bruchteil einer Sekunde wieder verworfen – zu persönlich, zu ätzend, zu langweilig, zu viel von allem. Das Schweigen dehnte sich wie ein Gummiband. Vince' Blick wanderte von Joy zum Wagen seiner Mutter und wieder zurück. Angestrengt überlegte er, was er als Nächstes sagen sollte. „Bleibst du lange?“, brachte er schließlich über die Lippen, während ihm das Blut in den Kopf schoss. „Noch zwei Wochen“, antwortete sie. „Leider.“
„Was ist aus Geoff und Diane geworden?“
„Aus wem?“
„Aus den Leuten, denen euer Wohnwagen gehört.“
„Keine Ahnung“, sagte sie. „Mum und Dad haben den Wagen nur gemietet.“ Sie zog ihre Hände unter ihren Oberschenkeln hervor und hob sie zu einer Geste, die absolutes Nichtwissen ausdrücken sollte. Offensichtlich war es ihr völlig egal, ob der Caravan Geoff und Diane oder sonst wem gehörte. Eine langweiligere Frage war ihm wohl nicht eingefallen. „Aha“, sagte er, während sich das Schweigen erneut auf sie senkte. Joy raschelte mit ihrer Zeitschrift, und Vince spürte, wie sich eine tiefe Röte von seinem Brustkorb ausbreitete. „Na dann“, meinte er schließlich und tastete unbewusst wieder nach seinen Narben, „man sieht sich.“
„Ja“, erwiderte sie, „man sieht sich.“ Joy hatte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder ihrer Zeitschrift zugewandt. Er hatte sie verloren. Aber eigentlich hatte er sie ja noch gar nicht gehabt, überlegte Vince, als er seiner Mutter eine Ladung prall gefüllter Plastiktüten abnahm und die paar Stufen in den Wohnwagen hinaufstieg. Wie hätte es auch anders sein können. Er war schließlich Vince Mellon oder Melonenkopf, wie er an der Schule genannt wurde. Er war so dumm gewesen und hatte geglaubt, dass ein bisschen plastische Chirurgie etwas daran ändern könnte. Er hatte nicht mit Mädchen reden können, als er hässlich gewesen war, und konnte es jetzt auch nicht, obwohl er angeblich so gut aussehen sollte. Als Vince zwei Minuten später wieder aus dem Wohnwagen kam, war der Liegestuhl leer, und das Mädchen namens Joy war nirgendwo zu sehen.
Vincent Mellon war mit einem Unterbiss zur Welt gekommen, der sich allerdings erst gezeigt hatte, als er ein paar Jahre alt gewesen war. Von dem Moment an hatte er ausgesehen wie eine winzige, unbehaarte Bulldogge. Als Vince älter wurde, stellte sich heraus, dass er nicht nur einen Unterbiss hatte – im besten Fall ein kleiner, charmanter Schönheitsfehler, der seinem Gesicht Charakter verlieh –, sondern dass sein gesamter Unterkiefer so weit unter seinem Oberkiefer herausragte, dass er nicht richtig kauen konnte. Er konnte nichts essen, das man abbeißen musste – also auch keinen Döner und keine Kekse. Alles musste für ihn zerkleinert und dann mit einer Gabel oder einem Löffel Bissen für Bissen in seinen Mund eingeführt werden. Und als ob das alles noch nicht gereicht hätte, waren zwei seiner Backenzähne wegen der Fehlstellungen der oberen und unteren Zahn reihen regelrecht zerrieben worden. Vince musste auf alles verzichten, das zäher war als ein zartes Stückchen Huhn. Mit anderen Worten, Vince' Kieferanomalie war nicht nur eine ästhetische Beeinträchtigung, für die er sich maßlos schämte, sondern stellte auch eine beträchtliche körperliche Behinderung dar. Das war der Grund, weshalb der staatliche Gesundheitsdienst NHS im Jahr zuvor endlich die Kosten für die plastische Chirurgie übernommen hatte, nachdem jahrelang an dem Jungen herumgedoktert worden war. Die Operation kam zwar zu spät, um ihn während der Schulzeit vor dem Status eines absoluten Außenseiters zu bewahren oder gar etwas an der Tatsache zu ändern, dass er mit beinahe neunzehn Jahren noch eine männliche Jungfrau war. Aber vielleicht kam sie gerade noch rechtzeitig, um ihn in die unwahrscheinliche Lage zu versetzen, ein Mädchen zu überreden, ihm vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag einen Zungenkuss zu geben. Nicht ein einziges Mädchen hatte ihm mit seinem Unterbiss einen Kuss geben wollen. Und nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, hatte mal eines ein paar Worte mit ihm gewechselt. Als Vince schließlich operiert worden war, hatte er die Schule hinter sich und damit die einzige Möglichkeit verloren, mit Mädchen in Kontakt zu treten. Die Operation selbst war der reinste Albtraum gewesen, eine Quälerei, die sich über Monate hingezogen hatte – mit sperrigen Spangen im Mund, pürierter Nahrung und Unmengen von Schmerztabletten. Vince hatte keinen Schritt mehr aus dem Haus gesetzt. Als Frankensteinverschnitt, der sich wie ein Krüppel fühlte, war es ihm unmöglich gewesen, sich den Blicken Fremder auszusetzen. „Nein, ich fasse es nicht“, hatte seine Mutter geschluchzt, als vor zwei Monaten die letzte Zahnspange entfernt worden war. „O mein Gott, schau dich an. Schau dich nur an. Unglaublich – du siehst so … so gut aus.“ Vince hatte auf sein neues Spiegelbild gestarrt und versucht zu begreifen, was er da sah. Aus dem Spiegel blickten ihm zwei ver traute haselnussbraune Augen aus umschatteten Höhlen entgegen, und er erkannte die breite Boxernase, die er von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte. Alles, was er unterhalb dieser Nase sah, war neu: ein starker, fester Unterkiefer, ein voller, geschwungener Mund mit Lippen, die nicht verschoben waren, und ein gut geformtes Kinn. Vince öffnete die Lippen und blickte voller Ehrfurcht auf die beiden Zahnreihen oben und unten, die endlich aufeinandertrafen. Dann drehte er den Kopf, um sich im Profil zu betrachten. Der Schwung seiner Lippen er schien ihm geradezu königlich, und endlich war es seine Nase, die am weitesten aus seinem Gesicht herausragte, und nicht sein Unterkiefer. Er sah nicht mehr länger aus wie eine Bulldogge. Er sah aus wie … wie … „Du siehst aus wie dein Dad“, sagte seine Mutter schließlich und nahm die Hand vom Mund. „Genau wie er. Es ist … unheimlich. Es ist, als ob … als ob …“ Und dann brach sie in Tränen aus. Max, der Vater von Vince, war mit seinem Motorrad tödlich verunglückt, als Kirsty im neunten Monat mit Vince schwanger war. Vince kannte seinen Vater nur von Fotos, ein großer, kräftiger, langhaariger Mann in Jeans und Lederjacke, der in jeder Hinsicht so völlig anders als er zu sein schien, dass er es bisher nie in Betracht gezogen hatte, er könnte jemals so aus sehen wie er. Vince hatte an diesem Tag im Behandlungszimmer versucht, sich an das Gesicht von Max zu erinnern und es wie eine Blaupause über das eigene zu legen. Aber es gelang ihm nicht. Er sah nichts weiter als einen hoch aufgeschossenen, mageren Kerl in einem schwarzen Rollkragenpullover mit einem Gesicht, das ihm irgendwie fremd war und das er nie mit seiner Vorstellung von dem seines machohaften, Schnurrbart tragenden toten Vaters in Einklang bringen konnte. Vince hatte sich eigentlich geschworen, nach Beendigung der Schule nie mehr mit nach Hunstanton zu fahren. Der vergangene Sommer sollte das letzte Mal gewesen sein, hatte er sich selbst versprochen. Letztes Jahr um diese Zeit hatte er auf seine Operation gewartet. In glühenden Farben hatte er sich ausgemalt, dass er im Sommer darauf bestimmt keine Gelegenheit mehr haben würde, mit seiner Mutter und Chris auf diesen Campingplatz zu fahren, da er sich vor eindeutigen Angeboten sexhungriger Mädchen nicht mehr würde retten können. Aber ganz so war es dann doch nicht gekommen. Seit seiner Operation war sein Gesellschaftsleben – falls das überhaupt möglich war – noch armseliger, da er auch noch den Kontakt zu seinen Schulfreunden verloren hatte. Und jetzt, fünf Tage vor seinem neunzehnten Geburtstag, hockte er hier auf einem Stockbett in einem vergammelten alten Wohnwagen, mit seiner Mutter, deren Mann und einem Chemieklo. Positiv allerdings war, dass er sich einen Sony Discman und fünf brandneue CDs gekauft hatte, dass die Sonne schien und dass nebenan ein schönes Mädchen wohnte. Ein wirklich außergewöhnlich schönes Mädchen. Jetzt musste er nichts weiter tun, als sich in einen interessanten, sexy, dynamischen und unwiderstehlichen Mann zu verwandeln, mit dem sich zu unterhalten besagtes schönes Mädchen eventuell Interesse haben könnte. Und vielleicht würde sogar was Gutes dabei herauskommen.
2
„Scheiße“, fluchte Joy, stürmte in den Caravan zurück und fächelte sich mit der Zeitschrift Kühlung zu. „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Sie knallte die Tür hinter sich zu und lehnte sich atemlos dagegen. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder Luft bekam und vor den Spiegel trat. „Scheiße“, wiederholte sie, betrachtete angeekelt ihr kalkweißes Gesicht und wischte mit ihrem Zeigefinger die verschmierten Kajalspuren unter den Augen ab. Sie hob die Arme und starrte entsetzt auf die dunklen Haare in ihren Achselhöhlen, die dort munter sprossen. Dann neigte sie den Kopf nach rechts und links und roch an sich. Widerlich. Hoffentlich war ihm nichts aufgefallen. Während der gesamten Dauer der peinlichen Begegnung hatte sie die Arme fest an ihren Körper gepresst und an nichts anderes denken können, als dass sie an diesem Morgen vergessen hatte, ein Deodorant aufzutragen. Im Geist ging Joy ihr unbeholfenes Gestammel durch und spürte die Angst wie die Schleimspur einer Schnecke über ihren Rücken kriechen. „Scheiße“, wiederholte sie ein drittes Mal. „Scheiße.“ Vince. Gott, sah dieser Typ göttlich aus. Einfach blendend. Das war der bestaussehende Typ, dem sie jemals begegnet war. Groß und lässig und attraktiv. Er sah auf eine altmodische Art gut aus – starkes Kinn, sanfte Augen, so, als hätte er schon einiges im Leben hinter sich. Und dann diese Narben. Joy liebte Narben. Ein Bild von einem Mann. Wie James Dean, Humphrey Bogart oder Marlon Brando. Und sie hatte alles vermasselt, weil ihr nichts Vernünftiges eingefallen war. Bis auf diese blöde Frage natürlich, warum sein Stiefvater sein Stiefvater war. Er musste sie für leicht beschränkt gehalten haben. Joy ging vom Bad in den vorderen Teil des Caravans, in den Wohnbereich, und spähte vorsichtig zwischen den grell orangefarbenen Vorhängen hindurch, die nach Staub und fremden Menschen rochen. Seine Mutter sperrte gerade ihren grünen Mini ab. Joy betrachtete sie interessiert. Gepflegt und zierlich, mit engen weißen Shorts, einem pinkfarbenen Sonnentop und Turnschuhen, sah sie keinen Tag älter als vierundzwanzig aus. Ihr Haar war aschblond gefärbt und umrahmte ihr fein geschnittenes Gesicht wie ein Helm. An einem Band um den Hals baumelte eine Rayban-Sonnenbrille. Joy hatte noch nie zuvor eine Mutter gesehen, die so mädchenhaft und frisch wirkte, so lässig und sorglos. Sie sah nicht aus, als wäre sie fähig gewesen, ein Kind zur Welt zu bringen, das so groß und männlich war wie ihr Sohn. Sie sah überhaupt nicht aus, als hätte sie überhaupt jemals ein Kind zur Welt gebracht. Ihre Hüften waren zu schmal, ihr Schritt zu leicht. Die Tür des Wohnwagens nebenan ging auf, und der Stiefvater trat heraus. Er sah aus wie B. A. Robertson, nur ohne dessen Kinn. Sein Haar war dunkel und glänzend und lockte sich am Kragen und an den Ohren; ein paar Fransen fielen ihm in die Stirn. Er trug ein dünnes, blaues Baumwollhemd, das er in seine enge Jeans gestopft hatte, die ein, zwei Nuancen dunkler war, dazu einen breiten Nietengürtel. Joy sah eine Tätowierung auf seinen dunkel behaarten Armen durchschimmern, und sein Kinn zierte ein Drei-Tage-Bart. Er war groß und breit, ein Bilderbuchmacho. Wahrscheinlich fuhren viele Frauen auf ihn ab, überlegte sie, obwohl er ein ziemlicher Klotz war. Joys Typ war er jedenfalls nicht. Zu behaart, zu machohaft, zu alt. Interessiert beobachtete sie, wie Mutter und Stiefvater miteinander umgingen. Sie kannten sich offensichtlich noch nicht so lange. Ihre Körperhaltung und ihre häufigen Berührungen ließen darauf schließen. Sie waren immer noch frisch verliebt. Das erklärte auch den mädchenhaften Gang der Mutter. Joy war fasziniert von anderen Familien. Das war schon immer so gewesen, seit ihrer Kindheit. Sie hatte gern andere Kinder dabei beobachtet, wenn ihre Eltern sie nach Schulende am Tor abholten. Neugierig hatte sie registriert, was die anderen Mütter anhatten, welche Autos sie fuhren, wie sie ihre Kinder begrüßten. Sie verglich Frisuren, Nagellackfarben und Absatzhöhen. Auch jetzt noch hatte sie das Gefühl, einen Menschen erst dann wirklich zu kennen, wenn sie dessen Eltern traf. Und auch mit fast achtzehn Jahren verglich sie ihre Eltern mit denen anderer. Gerade als die Tür gegenüber erneut aufging und Vince herauskam, schaute Joy wieder hinüber. Jetzt konnte sie ihn in aller Ruhe von Kopf bis Fuß betrachten. Er sah aus, als hätte er mit französischen Mädchen geschlafen und amerikanische Zigaretten geraucht. Er sah aus, als könnte er an einem einzigen Nachmittag einen Boxkampf gewinnen und hinterher ein Gedicht darüber schreiben. Joy fuhr mit der Fingerspitze über die nackte Unterseite ihres Arms und spürte, wie die feinen Härchen sich aufrichteten, bis ihre Haut aussah wie ein explodierendes Minenfeld. In dem Moment hörte sie das vertraute Motorengeräusch des Wagens ihres Vaters, der über den mit Schlaglöchern übersäten Kies und die Stolperschwellen auf ihren Wohnwagen zuholperte. Seufzend ließ sie den Vorhang fallen. „Hallo, mein Schatz.“ Joy hörte das schwere Atmen ihrer Mutter am anderen Ende des Campingwagens. „Hallo, Mum.“
„Um welche Zeit bist du endlich aus den Federn gekrochen, junges Fräulein?“, fragte ihr Vater, der mit energischen Schritten seiner Frau folgte. Aus den Federn kriechen, dachte Joy genervt. Sie hasste die gespreizte Ausdrucksweise ihres Vaters. Sie zuckte nur die Schultern und spielte mit ihrem Kreuz. „Wir haben Nachbarn bekommen“, fuhr ihr Vater fort, legte einige muffig riechende Päckchen auf den Esstisch und deutete mit einer Bewegung seines grauen Haarschopfes auf den Caravan nebenan. „Ja“, bestätigte ihre Mutter und lehnte sich, nach Luft schnappend, an die Küchenzeile, während ununterbrochen Schweißtropfen aus ihrem Haaransatz perlten und in ihren buschigen Augenbrauen verschwanden. „Hast du die Leute schon gesehen? Ich komme aber nicht ganz dahinter, wie sie zusammengehören – ob sie eine Familie sind.“
„Ein komisches Pack“, sagte ihr Vater, rollte ein Paket aus alten Zeitungen auf, das mit einem Strick zusammengebunden war, und brachte einen Gegenstand aus Messing zum Vorschein, der wie die x-te Kohlenschütte aussah, die ihre Eltern bereits hatten. „Du hast heute Morgen wirklich was versäumt“, sagte er und hielt, zufrieden lächelnd, den Gegenstand aus Messing gegen das Licht. „Rund um den Burnham Market gibt es jede Menge kleine Trödelläden. Und hinterher haben wir wunderbar im Pub zu Mittag gegessen.“
„Hast du denn schon was gegessen, Schatz?“, fragte Joys Mutter, die endlich wieder genügend Luft bekam, um zum anderen Ende des Wohnwagens zu gelangen, wo sie ihrer Tochter gegenüber auf einem Sessel zusammensackte. Sie trug ein viel zu enges Kleid aus schwerer Baumwolle, mit einem Gürtel in der Taille und engen Puffärmeln, die in das dicke Fleisch an ihren Oberarmen einschnitten und sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkten. Als ob Rheuma, Asthma und dreißig Kilo Übergewicht, die sie mit sich herumschleppte, sie nicht bereits genügend behinderten. Joy blickte auf die geschundenen Beine ihrer Mutter hinunter, deren Schienbeine und Waden mit bläulichen Besenreisern überzogen waren. Ihre Knöchel ragten rot und wund aus den unförmigen Gesundheitsschuhen. Arme Mum. Der Sommer war der reinste Albtraum für sie … die Hitze, die schlechte Luft und der Zwang, ihren unförmigen, ungeliebten Körper, den sie den Rest des Jahres nur allzu gern unter weiten Kleidern verbarg, zu enthüllen. Und dann fiel Joys Blick auf ihren Vater. Kühl und schlank, im sauberen weißen Polohemd und beigefarbenen Sporthosen, stand er vor ihr und schien für das heiße Wetter wie geschaffen. Man hätte meinen können, er verhöhnte seine Frau mit seiner Fähigkeit, dass ihm weder Zeit noch Witterung etwas anhaben konnten. Barbara und Alan hatten ihre Tochter erst spät im Leben bekommen – ihre Mutter war vierzig Jahre alt gewesen, ihr Vater zweiundvierzig. „Und, wie sehen deine Pläne für heute Nachmittag aus?“, fragte ihr Vater. Joy seufzte. Pläne. Wieder eine seiner Phrasen, die nur zu dem Zweck zu existieren schienen, sie zu ärgern. Was stellte er sich vor, was sie für Pläne haben konnte? Hier in diesem schmuddeligen Campingwagen am Rand von Hunstanton? Sie zuckte die Schultern und kratzte sich am Oberarm. Joy hatte keine Ahnung, wo ihre Eltern diese gottverlassene, verlauste alte Sardinenbüchse aufgetrieben hatten. Selbst im Vergleich zu anderen Geschmacksverirrungen auf diesem Campingplatz war ihr Wohnwagen besonders hässlich. Die Inneneinrichtung war schmutzigbraun und wenig ansprechend, und alle Sitzgelegenheiten waren mit genopptem Nylonstretch bezogen. Wie ihre Eltern auf die Idee gekommen waren, dass ein zweiwöchiger Aufenthalt in dieser trostlosen Kiste – eingesperrt mit einem permanent vor sich hin brabbelnden, der Vergreisung nahen Paar – ihr dabei helfen sollte, die noch offenen Wunden der letzten Monate zu heilen, war ihr ein Rätsel. Noch dazu an dieser abweisenden Küste Nord-Norfolks. Joy hatte den Verdacht, dass die beiden selbst nicht wussten, was sie sich da bei gedacht hatten. Aber nach außen hin ließen sie sich nichts anmerken und schienen fest entschlossen, diesen Urlaub zu genießen, ganz gleich, wie unbequem oder abstoßend sie ihre Umgebung auch fanden. In dieser Familie war man nicht negativ, man jammerte nicht oder beschwerte sich gar. Und sie würde sich in ihr Schicksal fügen, weil schließlich alles ihre Schuld war. Nach allem, was sie ihren Eltern zugemutet hatte, war es das Mindeste, dass sie jetzt ein lächelndes Gesicht zeigte und so tat, als würde es ihr hier gefallen. Als Joy den orangeroten Vorhang wieder beiseiteschob und hinter den Fenstern nebenan schemenhaft die Bewegungen ihrer Nachbarn sah, kam ihr der Gedanke, dass sie mit etwas Glück ihren Eltern vielleicht nicht einmal etwas vorspielen musste.
3
Das Nelson's Arms wimmelte von rotgesichtigen Paaren in bunten Polyestertrainingsanzügen, und der angrenzende Garten war voll mit den dazugehörigen Kindern, die auf einem mehrfarbigen Klettergerüst herumturnten und die riesige rote Zunge eines großen Plastikclowns als Rutschbahn benutzten. Chris stellte eine Runde mit Getränken auf den Tisch und setzte sich. „Prost“, sagte er und stieß mit Kristy und Vince an, die Weißwein und Guinness tranken. „Auf den Sommer und einen tollen Urlaub.“
„Hört! Hört!“, feixte Kirsty. „Und stoßen wir darauf an, dass unser Vincent mit etwas Glück endlich mal bei den Weibern zum Zug kommt.“
„Chris!“
„Und? Warum hast du denn das alles durchgemacht, wenn du nicht endlich was davon hast? Du lebst schließlich nicht ewig. Du bist jetzt fast neunzehn, es ist Sommer, und um dich herum sind lauter tolle Bräute. Worauf wartest du noch?“ Vince sah sich in gespieltem Entsetzen in dem Pub um: nur verheiratete Paare und wabbelige Teenager in billigen, bauchfreien Tops und ausgewaschenen Jeans. Er warf Chris einen vernichtenden Blick zu. „Tolle Bräute?“, fragte er. „Wo?“
„Ach, der Abend ist noch jung. Es ist noch nicht einmal sechs Uhr. Man weiß nie, wer noch alles auftaucht.“
„Chris, das ist nicht St. Tropez. Tolle Bräute fühlen sich von den Glühbirnen am Hunstanton Pier nicht angezogen wie die Motten vom Licht.“
„Ach, ich weiß nicht“, meinte Chris, griff nach seinem Glas Bier und zwinkerte Kirsty zu. „Was ist mit dem Mädchen von nebenan?“ Vince spürte, wie er rot wurde, und versteckt rasch sein Gesicht hinter dem Guinnessglas. „Welches Mädchen?“
„Du weißt schon, welches Mädchen. Dieses blasse, reizende Ding mit dem Kreuz und den schwarzen Klamotten. Du weißt schon.“
„Was – dieses Mädchen aus dem Wohnwagen von Geoff und Diane?“
„Ja, die meine ich. Die ist doch genau dein Fall. Sieht aus, als hätte sie ähnlich deprimierende Erfahrungen wie du hinter sich. Und sie hat wirklich schöne Beine. Hast du sie gesehen, Kirsty? Unsere kleine Punk-Lady?“ Chris wandte sich an seine Frau, die aber nur den Kopf schüttelte und lachte. Vince schnalzte missbilligend mit der Zunge und sah Chris böse an. Vince hatte gerade seine Punk-Phase durchgemacht, als Kirsty vor fünf Jahren Chris kennengelernt hatte. Chris schien einfach nicht akzeptieren zu wollen, dass er sich weiterentwickelt hatte und jetzt mehr ein … na ja, er wusste selbst nicht, was er eigentlich war, aber in Chris' Augen würde er wohl ewig ein Punk sein. „Also, auf jeden Fall ist die eine Wucht, und sie sieht aus, als hätte sie Blut geleckt.“
„Ach, Chris, lass den Jungen in Ruhe“, tadelte Kirsty liebevoll ihren Mann. „Ja, Chris, lass mich in Ruhe“, wiederholte Vince. Aber seine Empörung war nur geheuchelt. In Wahrheit hatte er ganz und gar nichts dagegen, dass Chris ihn aufzog. Im Gegenteil, das war die Basis ihrer Beziehung, seit Chris – damals war er vierzehn gewesen – in sein Leben getreten war.
Kirsty, die seit vielen Jahren am Empfang der Belling-Fabrik in Ponders End arbeitete, hatte vor Chris andere Freunde gehabt. In ihrem Betrieb, den Kirsty den „Puff“ von Ponders End nannte, kamen zwanzig Männer auf eine Frau. Obwohl sie im Büro tagtäglich von leitenden Angestellten in Anzügen und mit Eheringen an den Fingern angemacht wurde, bevorzugte Kirsty Männer, die mit den Händen arbeiteten. Und so verabredete sie sich meistens mit den Typen aus der Produktion. Vince hatte bereits gewusst, dass die Sache mit Chris etwas Ernstes war, ehe er ihn überhaupt kennenlernte. Wochen vorher hatte seine Mutter ihm schon von diesem tollen Kerl aus Sheffield vorgeschwärmt. „Ach, übrigens, der Typ, von dem ich dir erzählt habe, Chris, du weißt schon, dieser Neue aus Sheffield, also, er hat sich letzte Woche Omen 3 angesehen. Er hält den Film für den letzten Mist.“
„Ach, weißt du, dieser Chris aus Sheffield, er hat einen neuen Wagen – einen Golf GTI. Hellgrün, mit Spoiler und Alu felgen.“
„Dieser Chris aus Sheffield – der hat einen Freund, der war früher mal Installateur. Er hat ihn gebeten, dass er sich mal unseren Boiler im Bad anschaut.“ Auch Chris' Freundin war ein Thema. „Die Freundin von Chris hat sich ihre Haare braun gefärbt. Komisch, sich die Haare dunkel zu färben.“
„Die Mutter von Chris' Freundin ist aus Sheffield zu Besuch – ich glaube, die Frau nervt ihn. Scheint eine richtige alte Schreckschraube zu sein.“
„Sieht aus, als herrschte dicke Luft zwischen Chris und seiner Freundin.“ Als die Freundin mit den braunen Haaren und der Schreckschrauben-Mutter verschwunden und Chris endlich zu haben war, hatte Vince das Gefühl, als habe es nie ein anderes Thema als diesen Mann gegeben, den er seit Ewigkeiten zu kennen schien. Vince war sich zuerst nicht sicher, ob sie miteinander auskommen würden. Chris mochte Soft-Rock und bastelte gern mit öligen Fingern an Autos herum. Seine Haare waren einen Tick zu lang und seine Hosen eine Spur zu eng. Der Unterschied zu ihm, dem blassen, melancholischen, einsamen Teenager mit dem Riesenkinn und der Vorliebe, sich in sein Zimmer zu sperren und sich mit Selbstmordmusik zuzudröhnen, hätte nicht krasser sein können. Aber er hatte sich schnell mit Chris angefreundet. Ihm gefiel, mit welchem Respekt Chris seine Mum behandelte. Er rief immer an, wenn er es versprach, er brachte sie jedes Mal bis an die Tür, er stellte sie seinen Freunden und seiner Familie vor und enttäuschte sie nie. Und Vince gefiel es, dass er sich bemühte, mit ihm auszukommen, ohne sich ihm aufzudrängen. Er versuchte nicht, sich bei ihm einzuschmeicheln, und respektierte Vince' Privatsphäre. Wenn er im Wohnzimmer saß und Fernsehen schaute, setzte Chris sich still daneben und las die Zeitung, bis die Werbung lief, erst dann sprach er ihn an. Chris war einer von denen, die irgendwie alles richtig machten. Er war ein scharfer Beobachter, und sein Timing war immer perfekt. Einschließlich der Verlobung mit seiner Mutter. Chris kannte Kirsty seit sechs Monaten, und Vince hatte gerade angefangen, sich auszumalen, wie toll es wäre, Chris auf längere Sicht um sich zu haben. Warum kann er Mum eigentlich keinen Antrag machen, sie heiraten und permanent bei uns bleiben, hatte Vince sich gedacht. Genau in dem Moment war Kirsty eines Abends mit einem Verlobungsring am Finger nach Hause gekommen. Sechs Monate später hatten sie im Standesamt in Wood Green geheiratet und danach eine riesige Party in einem Pub in Enfield gefeiert. Chris hatte mit seiner Amateurband, deren Musik irgendwo bei Status Quo angesiedelt war, ein paar Lieder gespielt. Und Vince hatte in seiner Eigenschaft als Trauzeuge eine Rede gehalten und allen erklärt, wie froh er sei, dass es einen neuen Mann in seinem Leben gebe. Als er fortfuhr und schilderte, wie glücklich Chris nicht nur seine Mutter, sondern auch die ganze Familie gemacht habe und wie stolz er sei, Chris seinen Stiefvater nennen zu dürfen, da war Chris tatsächlich vor versammelter Hochzeitsgesellschaft in Tränen ausgebrochen. In der ganzen Zeit, in der Vince die unzähligen Operationen über sich ergehen lassen musste, hatte Chris sich als Fels in der Brandung erwiesen. In den dunkelsten Momenten war er immer für ihn da gewesen, hatte das Essen für ihn püriert, hatte ihn aufgeheitert und seinen Blick auf das Positive gelenkt. Und obwohl sie in fast jeder Hinsicht so verschieden wie Tag und Nacht waren und unter anderen Umständen wahrscheinlich nie etwas miteinander zu tun gehabt hätten, hatte Vince in Chris seinen besten Verbündeten gefunden.
„Schau nicht hin“, murmelte Chris in sein Bier, „aber rate mal, wer gerade hereingekommen ist.“ Sein Blick wanderte an Vince' Schulter vorbei zur Eingangstür des Pubs. Vince drehte sich unauffällig um. Und da war sie – Joy. Sie sah weniger wild und punkig aus als zuvor. Ihr Haar war zu einem strengen Mittelscheitel gekämmt, und sie trug ein sauberes, weißes Herrenhemd ohne Kragen über einem Paar grauer Leggings, dazu klobige Doc-Martens-Schuhe. Vince fiel auf, dass sie sich sehr gerade und aufrecht hielt, als würde sie nur von ihren Muskeln getragen und nicht von ihren Knochen. In ihrer Begleitung war ein ältliches Paar, eine dicke Frau in einem viel zu engen Jeanskleid mit übergroßer Sonnenbrille, die sich in ihrer Haut überhaupt nicht wohlzufühlen schien, und ein schlanker, sonnengebräunter Mann in Hemd, beigefarbener Hose und Blazer. Sie wirkten völlig fehl am Platz in dieser Umgebung, so, als hätten sie sich bei einem Ausflug zum Shakespeare-Haus in Stratford-on-Avon auf dem Rückweg verfahren. Als Joy sich umdrehte und mit den beiden sprach, wurde Vince klar, dass sie wahrscheinlich ihre Eltern waren, was ihn aus irgendeinem Grund ziemlich überraschte. Er drehte sich schnell wieder um und stellte fest, dass Chris und seine Mutter ihn schmunzelnd beobachteten. „Was ist?“
„Das ist sie“, sagte Chris und tippte sich an die Nase. „Mein Riecher sagt mir, das ist die Richtige.“
„Ach, halt deinen Mund.“
„Nein, ich meine es ernst. Schau sie dir doch nur an. Sie ist wie geschaffen für dich. Weißt du, was? Ich lade die drei auf ein Glas ein“, sagte er und erhob sich von seinem Stuhl. „Was? Nein!“, rief Vince, packte Chris am Handgelenk und zog ihn zurück. Chris löste sanft seine Finger und stand auf. „Sei nicht so schüchtern, Vincent. Es wird alles gut. Vertrau mir.“ Und schon war er weg. „O Gott.“ Vince schlug die Hände zusammen und betete, dass sie die Einladung ablehnen würden, aber er wusste, dass es kein Entrinnen gab. Das war das Problem mit Chris – keiner konnte ihm widerstehen. Und kurze Zeit später kam es, wie es kommen musste. Vince rückte seinen Stuhl zur Seite und machte Platz für drei weitere Stühle am Tisch, während Joy und ihre Eltern verlegen danebenstanden. Er drehte sich um und lächelte Joy kurz zu. Joy erwiderte sein Lächeln, und er zog schnell den Kopf wieder ein. Man stellte sich einander vor, und Joys zierliche Gestalt nahm Platz auf dem Stuhl neben Vince. Vince starrte angestrengt in sein Guinness-Glas und versuchte, nicht rot zu werden. „Nun“, eröffnete Chris den Smalltalk und rieb sich die Hände, „was führt Sie denn in das sonnige Hunstanton?“
„Ach, wissen Sie“, erwiderte Alan, der Vater, „wir wollten einfach mal ein wenig Abwechslung haben.“
„Abwechslung, sagen Sie?“, erwiderte Chris lachend. „Na, dann sind Sie hier goldrichtig. Hier in Hunstanton ist wirklich nichts normal. Habe ich Recht?“, fragte er, an Kirsty und Vince gewandt. Vince betrachtete Joys Eltern, die steif und verlegen ihm gegenübersaßen. Barbara umklammerte ein Weinglas mit lauwarm aussehendem Orangensaft, während Alan bedachtsam einen Schluck Bier trank. Joys Mutter hatte ein aufgedunsenes Mondgesicht, Augen von undefinierbarer Farbe mit tiefen Ringen, eine leicht gebogene Nase und einen rötlichen Teint. Sie lächelte wohlwollend, während Alan und Chris sich unterhielten, und nippte hin und wieder maßvoll an ihrem Glas. Auf ihrer Oberlippe glänzte ein leichter Schweißfilm. Sie sah nicht aus, als sei sie jemals in ihrem Leben wirklich hübsch gewesen. Der Vater machte den Eindruck eines Mannes, der sich vor langer Zeit eingeredet hatte, er sei eine gute Partie, und der diese unsinnige Vorstellung um keinen Preis aufgeben wollte. Er hatte ein fein geschnittenes, symmetrisches Gesicht, das aber irgendwie zu klein war für seinen Kopf. Es sah aus, als hätte irgendjemand alles in die Mitte seines Gesichtes geschoben, um Platz für etwas zu schaffen, das niemals hinzugefügt wurde. Irgendwie wirkte er, als hätte er lange Zeit in den Kolonien gelebt, umgeben von einheimischen Bediensteten, die ihn mit Sonnenschirmen vor dem heißen Klima schützten, während er beim Kricket zusah. Es war nur allzu offensichtlich, dass er der festen Überzeugung war, er habe der unansehnlichen Barbara einen Riesengefallen erwiesen, als er sie heiratete. Seine Körpersprache und seine herrische Art ihr gegenüber sprachen Bände. Und so plätscherte das Gespräch dahin: Chris leistete Schwerstarbeit, es am Laufen zu halten, Kirsty tat ihr Bestes, das Ganze etwas aufzulockern, und Alan sagte gerade das Nötigste, während Barbara, Vince und Joy verlegen schwiegen. „Dann kommen Sie also regelmäßig nach Hunstanton?“, fragte Alan. „Ja“, erwiderte Chris, „das ist unser vierter Sommer hier.“
„Und, gefällt es Ihnen?“
„Und wie. Es ist nichts Besonderes, aber der Ort hat was. Und außerdem sind die Strände fantastisch.“
„Ja, ich habe schon von den Stränden gehört. Das war auch einer der Hauptgründe für uns, um ehrlich zu sein. Die wogenden Sanddünen, die belebende, solehaltige Seeluft, die Kiefernwälder.“
„Ah, ja, richtig, Alan. Ich habe in meinem Leben schon viele Strände gesehen, aber die hier – also, man kann kaum den Horizont erkennen, so weit reichen sie. So viel freien Raum zwischen sich und dem Rand der Welt bekommt man nicht oft zu sehen. Man fühlt sich ganz klein und unbedeutend …“
„Ja, ich kann Ihnen folgen“, stimmte Alan ihm zu. „Klingt wunderbar“, warf Barbara ein, als das Gespräch einzuschlafen drohte. „Hm“, meinte Kirsty und lächelte steif. „Und jetzt zu dir, Joy!“ Dröhnend durchbrach Chris das immer dichter werdende Schweigen mit der Wucht eines Ziegelsteins, der durch ein Fenster flog. „Was bist du denn für eine?“
„Wie bitte?“ Sie sah ihn verwirrt an. „Erzähl uns was. Was treibst du so? Was macht dich an?“ Joy lachte. „Ich habe gerade mein Abitur gemacht.“
„In welchen Fächern?“
„In Kunst, Theater und Englisch.“
„So so, dann bist du also eher der kreative Typ, wie?“
„Ja, so in der Art.“
„Wie unser Vincent. Er ist auch sehr kreativ. Nicht wahr, Vince?“ Vince zuckte die Schultern und gab ein seltsam gurgelndes Geräusch von sich, das man noch nie von ihm gehört hatte. „Ja – er zeichnet, malt und macht alle möglichen Dinge. Du hättest mal sehen soll, was er mit seinen Haaren und einer Dose Haarspray von seiner Mum angestellt hat, als er noch jünger war.“ Chris lachte schallend, und Alan sah Vince an, als hätte er ihn eben erst bemerkt. „Willst du an die Uni gehen?“, erkundigte sich Kirsty bei Joy und kam Chris zu Hilfe. Joy rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. „Tja, eigentlich sollte ich dieses Jahr mit dem Studium anfangen. Ich hatte auch schon einen Platz in Bristol. Aber ich, äh … ich musste verschieben. Hoffentlich kann ich nächstes Jahr anfangen.“
„Gut“, sagte Kirsty und nickte aufmunternd, „schön.“
„Ja“, murmelte Joy. „Hm“, meinte Barbara, offensichtlich ohne tiefere Bedeutung. Vince holte tief Luft und versuchte, das wachsende Gefühl von Nervosität zu unterdrücken. Das war ein Albtraum. Niemals in der Geschichte des Universums hatten sechs Menschen weniger miteinander zu tun gehabt. Nicht einmal Chris mit seiner jungenhaften Geselligkeit schaffte es, dieser bunten Mischung ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu entlocken. „Und ihr zwei armen Teufel müsst jetzt hier mit euren Eltern Urlaub machen. Und das in eurem Alter.“ Chris blickte von Joy zu Vince und wieder zurück. „Zwei Wochen Teneriffa mit euren Freunden wären euch bestimmt lieber, wie? Vielleicht wäre es lustiger für euch, wenn ihr euch woanders amüsiert.“
„Häh?“, fragte Vince. „Ja – haut ab, macht euch aus dem Staub. Amüsiert euch und tut das, was Teenager in eurem Alter so machen, wenn sie ihren alten Eltern entkommen sind.“ Vince verspürte Aufregung in sich aufsteigen. So ungeschickt sich Chris mit seiner plumpen Direktheit auch angestellt haben mochte, so verlockend war die Vorstellung, dieser grässlichen Situation zu entkommen, einfach zur Tür hinauszuspazieren, frische Luft zu schnappen und die Abendsonne auf der Haut zu spüren. Aber Alan hatte anscheinend bereits andere Pläne. „Ah, ja, das ist im Prinzip eine gute Idee, Chris“, sagte er steif, „aber Barbara, Joy und ich wollten heute Abend zusammen essen gehen.“ Er lächelte verkniffen und verschränkte die Arme vor der Brust. Offenbar war er es gewohnt, immer das letzte Wort zu haben, nur war er noch nie an einen so hartnäckigen Menschen wie Chris geraten. „Ach, jetzt geben Sie Ihrem Herzen mal einen Stoß, Alan. Wären Sie als junger Spund lieber mit Ihren Eltern zum Essen gegangen? Sie und Barbara genießen jetzt in aller Ruhe ein romantisches Dinner zu zweit. Oder noch besser. Warum leisten Sie nicht meiner Frau und mir Gesellschaft? An der Uferpromenade gibt es ein paar tolle Fritten-Buden. Mögen Sie Hamburger, Alan?“ Er musterte Alan mit einem schelmischen Funkeln in den Augen. „Nun, Chris, um ehrlich zu sein, wir sind nicht die Klientel für Fast-Food-Ketten. Zu fettiges Essen bekommt mir nicht.“
„Gut, wie wäre es dann mit einem pikanten Curry?“
„Ah, ja. Ich mag Curry, sehr sogar, aber Barbara verträgt kein scharfes Essen. Sie bekommt davon Blähungen. Und um ganz offen zu sein, wir wollten heute eigentlich einen ruhigen Abend verbringen. Sie wissen schon – nur wir drei. Ich hoffe, Sie nehmen uns das nicht übel.“
„Nein, selbstverständlich nicht, Alan. Aber was halten Sie davon, wenn unsere beiden Teenager sich den Abend ohne uns um die Ohren schlagen, während Sie und Barbara irgendwo einen ruhigen Abend verbringen und meine Frau und ich uns ein Curry einverleiben? Wir können ja irgendwann später in dieser Woche mal abends zusammen ausgehen. Wenn Ihnen etwas mehr nach … äh, Rummel zumute ist. Ja? Was halten Sie von diesem Vorschlag?“
„Also, ich weiß nicht.“ Alan warf seiner Tochter einen verzweifelten Blick zu. „Joy, äh … wie siehst du die Sache?“
„Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee. Ich habe ohnehin keinen Hunger. Was meinst du, Vince?“ Sie drehte sich zu Vince um und sah ihn fragend an. „Gott — was soll ich sagen? Ja. Wieso nicht? Es ist schön draußen. Wir könnten an die Promenade hinunter.“
„Super, das ist gut. Gehen wir.“ Joy stand auf und griff nach ihrer Tasche. „Was – jetzt?“
„Ja. Komm schon.“
„Cool. Okay. In Ordnung.“ Zwei Minuten später verließ Vince das Nelson's Arms und trat hinaus in einen warmen, lauen, verheißungsvollen Sommerabend, neben ihm die schönste Frau, mit der er jemals in seinem Leben allein gewesen war.
Draußen vor dem Pub blieben sie stehen, neben einem großen, verwitterten Schild, auf dem stand: „Willkommen auf dem Seavue-Campingplatz“. Das Schild knarrte leise, während eine sanfte, salzige Brise darüber hinwegstrich. „Himmel, was für ein Albtraum!“, seufzte Joy. Vince lachte. „Die Sache da drinnen tut mir wirklich leid. Chris kann manchmal etwas … etwas sehr einnehmend sein.“
„Gott, das muss dir doch nicht leidtun! Er hat mir leidgetan. Er und deine Mum. Die haben jetzt meine Eltern am Hals.“
„Ach, mach dir um Chris mal keine Sorgen. Der findet schon einen Weg, sie wieder loszuwerden, wenn er genug von ihnen hat. So clever ist er schon.“ Draußen vor dem Pub war ein kleiner Hund angebunden, weiß mit braunen Flecken und unproportional kurzen Beinen. Sein Besitzer hatte dem Tier eine Tupperware-Schale mit Wasser hingestellt. Der Hund sah sie flehend an, und beide bückten sich gleichzeitig, um ihn zu streicheln. Zur Begrüßung zerrte der Hund begeistert an seiner Leine. „Hallo“, sagte Joy und kraulte ihn am Hals. „Du bist aber ein freundliches Kerlchen“, sagte Vince und streichelte die Flanken des Tieres. Der kleine Hund wand sich vor Verzückung. Als Vince aufblickte, sah er, dass Joy ihn anlächelte. „Ich mag Menschen, die Hunde lieben“, sagte sie. „Tatsächlich?“
„Ja. Traue nie einem Menschen, der keine Hunde mag. Das ist mein Motto.“
„Aha“, erwiderte Vince und senkte den Blick. Er starrte auf Joys Hand, die auf dem Hals des Hundes lag. Es war eine lange, feine Hand mit hervorstehenden blauen Adern, die sich wie eisige Wasserläufe von ihrem Handgelenk bis zu ihren Knöcheln zogen. Joy trug einen Silberring in Form eines zusammengerollten Drachens an ihrem Zeigefinger. Während Vince auf diesen Ring schaute, bildete sich in seinem Kopf ein Gedanke, der so überwältigend war, dass er seine Zähne zusammenbeißen musste, um nicht laut damit herauszuplatzen. Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? „Was sollen wir jetzt mit unserer Freiheit anfangen, in die sie uns so großzügig entlassen haben?“, fragte er, während er so schnell aufstand, dass ihm das Blut in den Kopf schoss. Joy versetzte dem kleinen Hund einen letzten zärtlichen Klaps und stand ebenfalls auf. Ihre Knie knacksten hörbar, als sie ihre Beine ausstreckte. „Du kennst dich hier besser aus in Hunstanton“, sagte sie. „Entscheide du.“
„Okay.“ Vince' Blick wanderte über die Straße und wieder zurück. Er hatte keine Ahnung, was er vorschlagen sollte. Er hatte hier in Hunstanton noch nie zuvor allein etwas entschieden. Er hatte immer das getan, was seine Mutter und Chris vorgeschlagen hatten. Was würde ein Mädchen wie Joy gerne unternehmen wollen, fragte er sich. Sie sah aus, als würde sie russische Romane lesen und sich schwierige Musik anhören. Wahrscheinlich sprach sie fließend Französisch und wusste, wie man Austern aß. Im Geist ging er alle Möglichkeiten durch und versuchte, etwas Passendes für sie zu finden, irgendetwas, das auch nur im Entferntesten nach Kultur oder Klasse roch. „Unten an der Uferpromenade gibt es ein Kino“, schlug er schließlich vor. „Wir könnten mal schauen, was dort läuft.“
„Weißt du, was“, antwortete Joy, „wir suchen uns jetzt ein nettes Pub und saufen uns die Hucke voll. Was hältst du davon?“ Vince drehte sich zu ihr um und lächelte sie erleichtert an. Und dann marschierten sie los.