Leseprobe Das fremde Kind

Kapitel 1

Mein Fruchtwasser sollte nicht abgehen, während ein Sturm wütet, mein Mann nicht auf der Insel ist und der Strom immer wieder ausfällt. In völliger Dunkelheit umklammere ich meinen Bauch. So habe ich es mir nie vorgestellt. Doch die letzten sechzehn Monate in meinem Leben haben mich gelehrt, dass im Leben nichts nach Plan verläuft. Ich bin nicht negativ. Nur realistisch. Das bin ich zumindest jetzt. Zuvor war ich ein Ausbund an Optimismus. Sorge beschleicht mich, als ich darüber nachdenke, zu was für einer Art Mutter mich das machen wird.

So oder so werde ich es bald genug herausfinden.

Eine weitere Wehe schießt durch mich hindurch. Ich klammere mich an der Arbeitsplatte fest. „O Gott“, schreie ich. Der Schmerz ist nicht gänzlich unvertraut, doch ich hatte vergessen, wie schlimm er ist. Ich hasse es, allein zu sein. Das gehört nicht zum Geburtsplan. Ich wollte eine beruhigende Playlist, meine Akkupunkteurin dabei und eine Wassergeburt, um mein Kind sanft in die Welt zu entlassen.

Mein Handy liegt außerhalb meiner Reichweite, doch ich strecke mich danach über die Arbeitsplatte, weil ich unbedingt die beruhigende Stimme meines Mannes hören muss. Ivan. Ich brauche Ivan. Mehr als je zuvor.

Sobald der Schmerz der Wehe vorübergeht, tippe ich auf dem Bildschirm des Smartphones auf den Namen meines Mannes und bete um eine klare Verbindung. Es gibt viele Gründe, das Leben auf den San-Juan-Inseln zu lieben, doch auf Shaw Island leben nur zweihundert Menschen und die Instandhaltung des Funkmastes hat keine Priorität. In unserer kleinen Hütte im Wald an der Felsenküste ist der Empfang selbst an ruhigen Tagen unbeständig.

„Maggie?“, sagt Ivan fröhlich, ohne sich der Situation bewusst zu sein, was völlig verständlich ist. Seit drei Tagen hält er ein Yoga-Retreat auf Lopez Island und ist möglicherweise so tiefenentspannt, dass er nichts mehr mitbekommt. Er erfasst meine Situation überhaupt nicht.

„Ich habe Wehen“, flüstere ich und stelle am Handy den Lautsprecher an.

„Wie lange schon?“, fragt er. Er ist mit einer Hebamme verheiratet und weiß, welche Fragen er stellen muss.

„Ich habe es gerade überprüft“, keuche ich. „Mindestens acht. Ich bin nahe daran.“ Tränen brennen in meinen Augen und rinnen meine Wange hinab. Warum bin ich jetzt allein? „Zu nahe.“

„Oh, Mags, es wird schon werden. Ich schaue mal, wann die Fähre fährt. Ich wünschte, du hättest früher angerufen.“

Ich drücke meine Hand auf meinen Bauch, als das Baby sich nach unten bewegt, tiefer, näher. Der Schmerz frisst sich in meine Gedanken. Stöhnend suche ich nach Worten. Schließlich keuche ich auf. „Ich glaube, es war nur falscher Alarm. Es sind noch drei Wochen. Ich habe ein Bad genommen und ein Nickerchen gemacht. Dann bin ich aufgewacht und …“

Ich verstumme, als mein Körper sich zusammenzieht. Das Handy gleitet mir aus den Fingern und fällt auf den Boden. Ich sinke auf die Knie.

„Magnolia? Mags!“ Ivans Stimme dringt durch die Wehe. „Süße, du schaffst das. Du schaffst alles.“

Ich wünschte, das wäre wahr, doch wir beide wissen, dass das nicht der Fall ist. Als ich das letzte Mal ein Kind zur Welt gebracht habe, war es ein Desaster gewesen. Diesen Schmerz wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht. Ja, ich bin darüber hinweggekommen, aber stärker hat es mich nicht gemacht. Es hat mich verängstigt, schwach und zerbrechlich gemacht. Nicht die Frau, die ich gewesen bin. Nicht die, die ich sein möchte.

Zuvor war ich eine zuversichtliche Hebamme und bestens in der Lage, mich gegenüber meinen Patienten, mir selbst und in meiner Ehe zu behaupten.

Und jetzt?

Ich stöhne, als die nächste Wehe meine Aufmerksamkeit verlangt. Auf Händen und Knien krabble ich über den Holzboden zu meinem Bett. Die Hütte ist klein und hat zwei Schlafzimmer und ein Bad. Gemütlich. Nun bin ich dankbar für die geringe Größe, weil es so leichter ist, mein Bett zu erreichen, bevor das Kind kommt.

Auf Knien kralle ich mich in die Matratze und lege meinen Kopf auf die Baumwolldecke. Aus der Küche höre ich Ivan aus dem Lautsprecher des Handys. „Maggie, ich komme, sobald ich kann. Sobald die Fähren wieder fahren, bin ich bei dir. Ich rufe …“ Seine Stimme bricht ab. Der Anruf ist beendet und ich bin allein. Ganz allein in unserem sturmumtosten Zuhause an der Küste von Shaw Island. Der Strom ist noch immer nicht zurück und im Zimmer ist es völlig dunkel.

Ich habe nur einen Nachbarn. Rooney ist mindestens siebzig Jahre alt und mobilitätseingeschränkt und dank des Flachmanns, der sich immer in der Brusttasche seines Flanellhemds befindet, ist auch seine Erinnerung nicht mehr die Beste. Er ist niemand, den ich jetzt um Hilfe bitten kann. Wenn ich das hier schaffen will, dann muss ich es allein schaffen. Und, Gott, natürlich. Ich schaffe das. Es ist alles, was ich will. Die Mutter eines gesunden, lebendigen Kindes sein.

Tränen treten mir in die Augen, als der Schmerz mich zu übermannen droht. Doch ich habe Hunderten anderer Frauen geholfen, das durchzustehen. Das gibt mir die Zuversicht, dass ich das auch schaffe. Als ich aus der Badewanne gekommen bin, habe ich alles für die Geburt zurechtgelegt, inklusive Handtücher und Laken. Im Dunkeln taste ich in meiner Instrumententasche herum. Im Mondlicht, das durchs Fenster fällt, erkenne ich die Scheren und Salben.

Es ist surreal. Das ist nicht das erste Mal, dass ich auf Händen und Knien bin und ein Kind gebäre. Diesmal muss es nur anders enden. Ich kann es nicht ertragen, ein weiteres Kind auf die Welt zu bringen, das bereits tot war, bereits wieder fort.

Während der Schmerz mich durchfährt, ziehe ich mein Nachthemd aus. Ich schwitze und suche nach Erleichterung. Ich gleite mit meinem Finger zwischen meine Schenkel, spüre den brennenden Schmerz, das glitschige Köpfchen, das aus mir herausdrängt. Ich schließe die Augen und atme.

Ich schaffe das. Ich schaffe das. Ich schaffe alle möglichen schwierigen Sachen. Nachdem ich Lucy verloren hatte, ließ mein Therapeut mich das als mein Mantra wiederholen.

„Sie können schwierige Dinge bewältigen, Magnolia“, hatte Dr. Bryerson gesagt. Ich hatte es im Schlaf, unter der Dusche, beim Geschirrspülen und auf Spaziergängen wiederholt. Ich atmete ein und wieder aus. „Ich kann schwierige Dinge bewältigen.“

Dieses Mantra ist nun mein Rettungsanker. Heute. Ich kann es schaffen. Ich habe schon so viele Dinge geschafft, von denen ich es nie geglaubt hätte. Wie zum Beispiel meine Tochter zu begraben, vor einem Jahr die Psychiatrie zu verlassen und meine Medikamente abzusetzen, als ich vor neun Monaten erneut schwanger geworden war. Und ich hatte meinen Weg zurück zu Ivan gefunden, nachdem unsere Ehe nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen war.

Es war alles meine Schuld. Lucy zu verlieren, hat mich auf eine Weise getroffen, die ich nicht erwartet hatte. Aber das hier, das wird mich nicht zerbrechen. Das hier wird meine Erlösung.

Der Schmerz ist qualvoll und frisst sich in mich, bis ich weiß, dass es kein Entrinnen gibt. Es ist an der Zeit.

Ich schließe die Augen und presse. Ich presse, wie ich noch nie zuvor gepresst habe. Ich bin die Einzige, auf die dieses Baby sich im Moment verlassen kann. Ich werde es nicht enttäuschen.

Als ich das letzte Mal in den Wehen lag, war Hollis bei mir und hielt meine Hand, half mir hindurch. Sie ist nicht nur meine Hebamme, sondern auch eine Kollegin und gute Freundin. Und nun ist sie nicht hier. Und Ivan auch nicht.

Ich habe nur meine eigene Stärke. Und vielleicht ist es so perfekt. Vielleicht brauche ich diesen Moment. Vielleicht muss ich allein durch diese Geburt, damit ich eine letzte Lektion lerne: dass ich es kann.

Ich bin mehr als fähig dazu. Ich bin eine Mutter.

Wieder und wieder presse ich und dann, mit viel Druck und einem erleichterten Stöhnen, schreie ich dieses Kind in die Welt hinaus.

Wir haben uns das Geschlecht des Kindes nicht sagen lassen. Ich wollte diesen magischen Moment. Und da ist er nun, als dieses sich windende, schreiende Baby, das über die Nabelschnur noch mit mir verbunden ist, in meinen Armen liegt.

Ich schaue sie an, ich sehe sie und ich kenne sie. Ich habe sie schon immer gekannt.

„O mein Gott“, flüstere ich, mein Gesicht ebenso wie meine Seele nass von Schweiß und Tränen. Immer wieder küsse ich ihr Gesicht und taste nach meinen Utensilien, wische ihr die Nase ab und drücke ihren süßen kleinen Körper an meine Brust.

„Ich habe dich“, sage ich. „Mama ist bei dir.“ Und das bin ich. Ich halte sie in meinen Armen, endlich.

Das Adrenalin durchströmt mich. Meine Beine zittern, doch die Geburt der Plazenta liegt noch vor mir. Ich wickle meine Tochter in eine weiche Baumwolldecke. Sie darf nicht auskühlen. Neben meinem Bett steht ein Korb, den ich zu mir heranziehe, sodass ich meine Tochter hineinlegen kann.

„Ist schon gut“, sage ich. „Mama ist hier.“ Sie windet sich, so wie ich es noch vor wenigen Minuten getan habe.

Ich richte meine Aufmerksamkeit nach innen und presse stark, schließe meine Augen und zucke zusammen, weil die Geburt der Plazenta ebenso schmerzhaft ist wie die des Kindes.

Es sieht chaotisch aus. Blut, Flüssigkeit und ein Teil meines Körpers liegen auf dem Boden. Ich lasse die Plazenta noch an der Nabelschnur, lasse sie mein Baby noch versorgen, während ich mich saubermache. Ich fahre mit einem Handtuch zwischen meinen Beinen entlang und versuche zu ertasten, ob ich gerissen bin. Erleichtert stelle ich fest, dass das nicht der Fall ist. Ich schaue sie an. Sie ist klein, wiegt vielleicht drei Kilogramm. Sie ist drei Wochen zu früh. Rosig, schreiend, lebendig. So lebendig.

Hunderte Male habe ich das für andere Frauen getan, aufgeräumt, nachdem sie geboren haben, also machen mir die Überbleibsel und ihr Geruch nichts aus. Es ist in Ordnung. Es ist mehr als in Ordnung. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes mein Herz, das in einem perfekten Takt schlägt. Sie gehört mir.

Wieder und wieder küsse ich sie, nehme sie aus dem Korb und halte sie in den Armen, wickle eine Decke um uns beide. Mit Tränen in den Augen biete ich ihr meine Brust an. Sie saugt das für sie bestimmte Kolostrum. Alles von mir gehört ihr, und sie gehört mir.

Endlich halte ich ein lebendiges, atmendes Baby in meinen Armen. Tränen kullern von meinen Wangen, als ich daran denke, dass Ivan diesen Moment verpasst. Ich weiß, wie unfair das ist, nach allem, was er durchgemacht hat. Er war im letzten Jahr immer an meiner Seite, und nun hat er das verpasst.

Jeden Tag haben wir uns so viele Sorgen gemacht, weil wir nicht wussten, wie diese Schwangerschaft enden würde, nachdem wir mit der letzten ein solches Trauma erlebt hatten.

Doch ich kann mich nicht mit dem Gedanken aufhalten, dass der Vater meiner Tochter gerade nicht hier ist. Diesen Moment möchte ich nur mit Freude und Stolz füllen.

„Du bist vollkommen“, flüstere ich.

Sie hat helles Haar, Pausbacken und eine kleine Stupsnase. Sie ist mein Ebenbild. Ein Spiegelbild, das ich nicht zu verdienen glaube.

„Ich liebe dich“, sage ich. „Ich habe auf dich gewartet.“ Wieder wickle ich sie sorgfältig in eine Decke und merke, wie mich Erschöpfung überkommt. Ich setze ihr eine winzige, cremeweiße Strickmütze auf. Dann lege ich sie wieder in das Körbchen neben meinem Bett, um mich sauber zu machen. Wackligen Schritts gehe ich ins Bad und lasse das Wasser laufen, bis es warm wird. Mit einem Tuch fahre ich sanft über meine empfindlichen Stellen, lege eine Binde in meine Unterwäsche und ziehe ein sauberes, geknöpftes Nachthemd über.

In der Küche schenke ich mir ein eiskaltes Glas Wasser ein und trinke es komplett leer, während ich noch an der Spüle stehe, nehme mir dann ein zweites und gehe damit ins Schlafzimmer. Ich verlangsame meinen Schritt und nehme mir einen Apfel, beiße in sein festes Fleisch und stöhne, während ich den süßen Geschmack genieße und mir der Saft übers Kinn läuft. Ich wische ihn mit meinem Handrücken fort und betrete wieder das Schlafzimmer. Ich möchte sie unbedingt wieder im Arm halten.

Ich nehme sie wieder aus ihrem Körbchen und möchte sie nie wieder loslassen. Doch so sehr ich auch auf dem Bett sitzen und sie in den Armen wiegen möchte, werden meine Augenlider schwer. Mein Körper ist völlig erschöpft. Ich brauche Schlaf, wie ich ihn nie zuvor gebraucht habe.

Es gibt keinen Strom, nur Mondlicht. Ich höre keine Geräusche außer den donnernden Sturm, der am Dach rüttelt. Ich öffne das Schlafzimmerfenster und lasse den Duft des Meeres ins Zimmer. Er breitet sich aus und umgibt uns mit salzigem Nebel. Ich liege im Bett, die Hand auf der Brust meiner Tochter. Ihr Heben und Senken ist das Großartigste, das ich je gespürt habe.

„Ich lasse dich niemals los“, sage ich. Ich möchte wach bleiben, kann meine Augen aber keinen Moment länger offenhalten. Ich will nur ein paar Minuten lang schlafen, denke ich, und sie dann wieder halten. Sie ist sicher eingewickelt. Wenn sie schreit, höre ich sie sofort.

So lange wie möglich versuche ich, wach zu bleiben, danke Gott für sie und bete, dass Ivan bald nach Hause kommt. Bald. „Bitte“, flüstere ich. „Komm nach Hause.“

Meine Augen fallen zu und der Schlaf übermannt mich.

***

Als ich aufwache, scheint Licht durchs Fenster. Zuerst bin ich orientierungslos, wund und empfindlich wie nie zuvor. Mein Körper fühlt sich an, als wäre ich von einer Tonne Ziegelsteine getroffen worden. Als ich meine Hand zu meinem Bauch hinabgleiten lasse und ihn berühre, erschrecke ich mich kurz, bevor mir wieder einfällt, dass ich letzte Nacht ein Kind zur Welt gebracht habe. Sofort fällt mein Blick auf den Korb neben dem Bett.

Er ist leer.

„O Gott.“ Entsetzen ergreift mich. Wie konnte ich so lange schlafen? Es müssen Stunden gewesen sein. Wieso habe ich nicht gehört, dass das Baby aufgewacht ist? Wo ist sie?

„Ivan?“, rufe ich. „O Gott.“ Ich stehe auf, meine Beine zittern und schmerzen.

„Mags?“

Ivan. Er ist hier. Gott sei Dank.

„Magnolia. Mags. Ich bin hier. Ich bin hier, Süße.“ Er kommt ins Zimmer und hält ein eingewickeltes Baby im Arm.

Erleichtert atme ich auf.

„Ich dachte …“, flüstere ich und schüttle den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich dachte. Ich hatte Angst.“

„Ich bin hier“, sagt er. „Ich bin vor einer Stunde nach Hause gekommen. Dieser Sturm hatte es in sich. Die Fähre von Orcas hierher ist ein paar Stunden lang nicht gefahren. Als ich nach Hause kam, sahst du so wunderschön aus, so friedlich. Ich glaube nicht, dass ich dich im letzten Jahr so tief habe schlafen sehen.“ Er schweigt, weil er nicht sagen will, wie die Dinge vor einem Jahr standen und wie sie seitdem geworden waren. Wie ich mich jede Nacht herumgewälzt habe, aus Albträumen erwacht bin, verängstigt und verschwitzt.

Er kommt ans Bett und setzt sich neben mich. „Du bist so stark“, sagt er, beugt sich vor und küsst mich sanft.

Mit geschlossenen Augen genieße ich den Moment. Meine Brüste sind empfindlich und tun weh. Ich muss mein Kind anlegen. Und ich muss auf Toilette. Ich muss essen.

Aber zuerst muss ich ihr Gesicht wiedersehen.

Ivan lächelt auf mich herab. „Er ist perfekt.“

Ich runzle die Stirn. „Er?“, sage ich. „Wer?“

„Unser Sohn.“

Ich schüttle den Kopf. „Ich habe keinen Sohn bekommen. Wir haben eine kleine Tochter, Ivan.“

Er zieht die Brauen zusammen. „Mags …“ Er legt den Kopf schief. „Unser Baby ist kein … Mädchen. Du hast einen Jungen bekommen.“