Leseprobe Das fremde Mädchen

Prolog

Sam Helsdown saß in der Ankunftshalle eines belebten Flughafens und las den Brief seiner Ex-Frau. Er hatte ihn sich mittlerweile bereits zweimal durchgelesen, doch er ergab immer noch keinen Sinn. Sie habe ein „Problem“, sagte sie darin, und da er sie schon seit Ewigkeiten damit nerve, dass er ihre gemeinsame Tochter gern bei sich zu Besuch hätte, sei jetzt ein guter Zeitpunkt.

Er hatte keine Ahnung, worum es sich bei dem Problem handelte, und Julia hatte sich dazu entschieden, ihn nicht darüber aufzuklären. Für Sam könnte das Timing kaum schlechter sein, denn auf der Arbeit ging es gerade gelinde gesagt intensiv zu. Aber bislang hatte Julia ihm immer wieder verweigert, Zoe zu sehen, also konnte er es ihr jetzt wohl kaum abschlagen. Zum Glück hatte seine Chefin selbst eine schwierige Scheidung hinter sich und ihm in Anbetracht seiner Lage gewährt, spontan seinen ausstehenden Urlaub zu nehmen.

Obwohl er noch viel zu früh dran war, hielt er seinen Blick bereits auf das Ankunftsgate gerichtet und fragte sich dabei, wie Zoe mittlerweile wohl aussähe. Ihre letzte Begegnung lag zwei Jahre zurück und heutzutage wurden Kinder ja so schnell groß. Sie musste jetzt zehn Jahre alt sein.

Zwei Jahre verpasst, dachte er bitter. Zwei Jahre, in denen er ihre Kindheit hätte miterleben und dabei beobachten können, wie sie sich entwickelte. Zwei Jahre ihres Lebens waren ihm entrissen worden. Das bedeutete einen Diebstahl höchsten Grades und der schmerzte.

Er riss seinen Blick vom Gate los und lenkte ihn auf der Suche nach den neuesten Informationen auf die Ankunftstafel. Endlich stand es da: Flug BA631 aus Athen, gelandet. O Gott! Nicht mehr lange.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so nervös gewesen war. Sich mit Sorgen zu plagen passte nicht zu ihm. Sam neigte zu Vorfreude, Enthusiasmus und einer Art Eifer, wenn ihm ein gefährliches Unterfangen bevorstand. Nach fünfzehn Jahren als Polizist bei der Fenland Constabulary vollkommen verständlich. Nervosität lag ihm nicht im Blut und er empfand das Gefühl als beunruhigend.

Sam atmete tief durch und stellte sich Zoe so vor, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte: ein schmales, zierliches Mädchen mit beinah puppenhaften, elfenartigen Zügen, blassblondem Haar und blaugrauen Augen. Der Anblick hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Er lächelte. Zoe war das perfekte Beispiel für Diskrepanz zwischen Aussehen und Persönlichkeit. Hinter ihren zarten Gesichtszügen und ihrer geringen Körpergröße verbargen sich Entschlossenheit und Stärke, und zwar von Geburt an.

Zoe hatte ihren eigenen Kopf. Sie litt nicht ansatzweise darunter, Einzelkind zu sein und sich nicht mit Geschwistern austauschen zu können. Sie war ein äußerst ausgeglichenes kleines Mädchen, das sowohl auf sich allein gestellt, als auch in Gesellschaft von Freunden, zufrieden war. Ihr Selbstvertrauen schien nie ins Wanken zu kommen. Ganz im Gegenteil. Sam spürte bei seiner Tochter einen unerschütterlichen Glauben an die eigenen Fähigkeiten.

Er sah sich selbst in dem Kind widergespiegelt und liebte es deshalb umso mehr.

Es war viel los am Terminal, in dem ständig Bewegung herrschte. Wellen von Reisenden und Mitarbeitern strömten in beide Richtungen. Beim Anblick der eilenden Menschenmassen wurde ihm beinahe schwindelig. Er mochte Action, aber nicht so. Der unübersichtliche Ansturm an Menschen erinnerte ihn an Lemminge auf dem Weg zum Klippenrand.

Er schüttelte den Gedanken ab, stand auf und ging sich einen Kaffee kaufen. Es würde eine Weile dauern, bis das Gepäck auftauchte und Zoe es durch den Zoll schaffen konnte, auch wenn Julia angekündigt hatte, dass Zoe mit leichtem Gepäck reiste. Auch das verwirrte Sam. Sie würde zwei oder drei Wochen bleiben und Mädchen hatten doch gern ihre Sachen bei sich. Als alleinlebender Mann besaß er nur sehr wenig an Kleidung und Ähnlichem, also konnte er sich vorstellen, dass dieser Besuch teuer würde. Nicht, dass ihn das störte. Er würde Zoe die Welt kaufen, wenn sie das wollte.

 

Zwanzig Minuten später strömten die ersten Reisenden mit Rollkoffern durch die Türen, die meisten von ihnen für einen Morgen im Januar unangemessen gekleidet. Sam wurde plötzlich bewusst, dass er den Atem anhielt.

Nach einer Weile ließ der Ansturm nach. Wo blieb sie nur? Für einen Augenblick erspähte er blassblondes Haar. Hinter anderen, leicht verdeckt von einer Familie, die sich um drei Kinder und einen Koffer mit einem defekten Rad kümmerte, erblickte er ein schlankes Mädchen in Jeans und blauem Sweatshirt. Das Mädchen hielt ein Foto in der Hand und zeigte es gerade einer Mitarbeiterin der Fluggesellschaft, die die Kleine begleitete und ihren Handgepäckkoffer trug.

Zoe? Sams Herz machte einen Satz.

Die Stewardess sah sich um. Ihr Blick fiel auf ihn, sie lächelte und wies das Mädchen auf ihn hin.

Mit gesenktem Kopf rannte die Kleine auf ihn zu und lag ihm im Handumdrehen in den Armen. „Daddy! Oh, Daddy! Ich hatte Angst, dass du nicht kommst!“

Er gab ihr einen Kuss auf den Kopf und hielt sie fest im Arm. Als er schließlich wahrnahm, dass die Stewardess immer noch mit dem Koffer wartete, drückte er das Kind sanft ein Stück von sich weg, damit er es richtig ansehen konnte.

Schlagartig lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Das Mädchen, das ihn voller Bewunderung anschaute, war nicht Zoe.

Es war nicht seine Tochter.