Leseprobe Der Lord und die Gouvernante

1. Kapitel

1836

Alles begann mit einem Brief.

Die anderen Lehrkräfte saßen beim Abendessen, doch Annabelle Quinn eilte durch den düsteren Flur in Mrs. Baxters Academy for Young Ladies. Ihre Schritte hallten im Foyer wider, und sie hatte es so eilig, dass sie beinahe über eine der zersprungenen Fliesen gestolpert wäre. Sie hielt sich an einem Treppenpfosten fest, fand das Gleichgewicht wieder und ging auf die Tür zu. Es war sehr ungewöhnlich, abends Gäste zu empfangen. Die Schülerinnen lagen schon im Bett, und sie und die anderen Lehrkräfte würden sich auch bald zurückziehen. Es verschlug überhaupt nur wenige Besucher in diese abgelegene Schule in den Mooren von Yorkshire – eigentlich nur den Pfarrer und dann wann einen Kesselflicker oder Postboten.

Die massive Tür quietschte, als sie sie öffnete. In der Abenddämmerung stand ein Fremder, er hatte hängende Schultern und trug die Kleidung eines Arbeiters. „Sie haben sich Zeit gelassen“, brummte er und hielt ihr einen Brief hin. „Das soll ich Ihnen geben.“

Annabelle war seit ihrer Geburt verwaist und hatte noch nie einen Brief bekommen. „Mir? Aber wer …?“

Der Mann reagierte nicht auf ihre Fragen. Er stapfte die Treppe hinunter und schwang sich auf einen klapprigen Gaul. Er schlug mit den Zügeln und das Pferd setzte sich in Trab.

Sie musterte den versiegelten Brief mit großem Interesse und ein lange begrabener Kindheitstraum wurde wieder wach: Ein lange verlorener Verwandter tauchte auf und erklärte, Annabelle sei nach ihrer Geburt entführt worden. Er wollte sie mitnehmen und nach Hause holen, in den Schoß einer liebevollen Familie …

Die letzten Strahlen des Tageslichts fielen auf den Umschlag. Sie schaute blinzelnd auf die krakelige und doch elegante Schrift. Der Brief war an die Schulleiterin adressiert. Annabelle kam sich sofort albern vor. Natürlich war der Brief nicht für sie. Der Mann hatte den Auftrag bekommen, den Brief jemandem – irgendwem – in der Schule auszuhändigen, statt ihn in den Briefkasten zu werfen, wo er erst morgen früh bemerkt werden würde. Annabelle war seit vierundzwanzig Jahren im Internat; zuerst als Schülerin, die aus Wohltätigkeit aufgenommen worden war, und dann als Lehrerin. In der ganzen Zeit hatte Mrs. Baxter nie einen Brief bekommen, der von einem Eilboten zugestellt wurde. Wenn dieses Schreiben nicht bis zur Mittagspost warten konnte, musste es ungeheuer wichtig sein. Der Gedanke verlieh Annabelle Flügel, und sie eilte durch den finsteren Flur zurück zum Esszimmer, das sich hinten in dem alten umgebauten Herrenhaus befand. In der Tür blieb sie stehen.

Kerzen in Zinnleuchtern warfen ihr spärliches Licht auf den langen Tisch, der mit Porzellangeschirr und Besteck aus Zinn gedeckt war. Der Duft nach Roastbeef und Kartoffeln stieg von den abgedeckten Tellern auf der Anrichte auf. Die zwölf Lehrerinnen saßen am Tisch und hörten zu, während Mrs. Baxter aus ihrer abgegriffenen Bibel vorlas.

Annabelle überlegte, ob sie sie unterbrechen sollte. Wagte sie es, die Regel – eisernes Schweigen bei den abendlichen Lesungen – zu brechen? Doch was war, wenn der Brief eine dringende Nachricht enthielt? Würde sie dann Ärger bekommen, weil sie nicht sofort Bescheid gegeben hatte?

Sie räusperte sich. „Entschuldigen Sie bitte.“

Mrs. Baxter hielt inne und sah sie über ihre randlose Lesebrille hinweg finster an. Sie war eine spindeldürre Frau mit flacher Brust und grauem Haar, das sie in einem Knoten trug und unter einer weißen Witwenhaube verbarg.

„Haben Sie so wenig Achtung vor der Heiligen Schrift, Miss Quinn?“

„Verzeihen Sie mir“, murmelte Annabelle. Sie hielt es für klug, demütig den Blick zu senken. „Aber Sie haben einen Brief bekommen, der von einem Eilboten gebracht wurde.“

„Keine irdische Korrespondenz kann wichtiger sein als das Wort Gottes.“ Die Schulleiterin schlug die Bibel zu. „Aber da Sie nun einmal so dreist waren, mich zu unterbrechen, stehen Sie nicht da wie eine Kuh, wenn es donnert. Geben Sie mir sofort den Brief.“

Ein unterdrücktes Kichern ertönte von einer Lehrerin, dann wurde getuschelt. Annabelle musste nicht hinsehen, sie wusste auch so, wer es war – die scharfzüngige Mavis Yates und ihre stumpfsinnige Jüngerin, Prudence Easterbrook. Sie steckten unter einer Decke.

Die anderen Frauen wichen Annabelles Blick aus, als sie zum Kopfende des Tisches ging. Beinahe zu spät entdeckte sie Mr. Tibbles, der neben dem Stuhl der Schulleiterin lag. Der orangfarbene Kater war Mrs. Baxters Ein und Alles – und ein Fluch für alle anderen. Als Annabelle den Brief übergab, fauchte Mr. Tibbles warnend. Seine grünen Augen sahen im Kerzenlicht dämonisch aus und er schlug mit seinem langen Schwanz.

Annabelle hatte in der Vergangenheit schon Kratzer abbekommen. Sie machte einen Bogen um den Kater und setzte sich auf den einzigen leeren Stuhl an dem langen Tisch.

Mrs. Baxter zerbrach das Siegel und entfaltete den Brief. Sie überflog die Zeilen und ihr verkniffenes Gesicht zeigte ungewohnte Aufregung. Zwei rosa Flecken erschienen auf ihren wachsbleichen Wangen. „Das ist außergewöhnlich. Wirklich ganz außergewöhnlich!“

„Stimmt etwas nicht, Ma’am?“, fragte Mavis in dem unterwürfigen Ton, den sie der Schulleiterin gegenüber immer anschlug. „Ich würde Ihnen gern in jeder Hinsicht behilflich sein, wenn Sie es wünschen.“

„Ich natürlich auch“, schloss sich Prudence an. „Es sei denn, es ist eine Privatangelegenheit.“

Mrs. Baxter nahm die Brille und schenkte ihren beiden Lieblingslehrerinnen ein zerstreutes Lächeln. „Das ist sehr gütig von Ihnen, aber Ihre Sorge ist unbegründet. Ich habe die Ehre, morgen einen Gast aus London zu empfangen, eine vornehme Dame vom Königshof. Sie möchte das Personal treffen, also müssen Sie alle Ihre besten Kleider tragen.“

Diese Neuigkeit sorgte für Aufregung.

„Vom Königshof?“, riefen mehrere Lehrerinnen.

„Wer ist sie?“

„Bringt sie ihre Tochter zu uns?“

„Sie heißt Lady Milford und sucht eine Gouvernante für den jungen Duke of Kevern in Cornwall. Sie möchte mit einigen von Ihnen sprechen, um zu entscheiden, welche die Stelle bekommt.“

Annabelle war wie elektrisiert. Cornwall! Das klang so fern und exotisch wie China oder Indien. Sie sehnte sich schon seit vielen Jahren danach, über den Tellerrand ihrer einsamen Insel zu sehen, denn mit einer solchen war die Schule zu vergleichen. An ihren seltenen freien Tagen wanderte sie durch die Moore und malte sich aus, was wohl jenseits der unfruchtbaren, sturmgepeitschten Hügel liegen mochte. Ihr Hunger nach Wissen war unstillbar und sie hatte alle Erdkundebücher in der Bibliothek verschlungen. Sie hatte über Karten von England und fremden Ländern und Städten gebrütet, die faszinierende Namen wie Ägypten, Konstantinopel und Shanghai hatten. Sie hatte gelernt, geträumt und gespart, während die anderen Lehrerinnen ihren Lohn für neue Kleider, Haarschleifen und anderen Tand verplempert hatten. Jetzt bot sich ihr die Chance, zu fliehen – aus der nervtötenden Arbeit, kichernden jungen Mädchen, die sich nur für Mode und Tratsch interessierten, Manieren beizubringen. Sie musste sich gründlich überlegen, was sie in dem Gespräch sagen würde, um sich als die ideale Lehrerin für einen jungen Adligen zu präsentieren …

Mrs. Baxters Blick schweifte über den Tisch und blieb an Annabelle hängen. Ihre fahlen Augen wurden frostig. „Miss Quinn, Sie müssen den Hausmädchen auftragen, meinen Salon gründlich sauber zu machen. Und da Sie morgen nicht dabei sein werden, haben Sie reichlich Zeit, den anderen Lehrerinnen bei Flickarbeiten zu helfen, falls es nötig ist. Nun gehen Sie schon, und machen Sie die Tür hinter sich zu!“

Annabelles Freude erlosch. Sie wurde verbannt. Sie würde sich der Lady nicht vorstellen dürfen. Die kolossale Ungerechtigkeit ließ sie alle Vorsicht vergessen.

Sie stand so abrupt vom Tisch auf, dass dessen Beine auf dem Boden quietschten. „Bitte, ich würde auch gern die Gelegenheit nutzen, Lady Milford zu treffen.“

„Sie wagen es, mir zu widersprechen?“, sagte Mrs. Baxter schmallippig. „Ich habe Ihnen einen Befehl erteilt und Sie werden gehorchen.“

„Aber ich bin genauso gut geeignet wie alle anderen hier, um die Gouvernante eines Herzogs zu werden, vielleicht sogar mehr. Ich habe Latein und Griechisch gelernt, bin gut in Mathematik, bewandert in Naturwissenschaften und Literatur …“

„Ihre Qualifikationen spielen keine Rolle. Die Lady wird eine Dame einstellen wollen, die aus einer ehrenwerten Familie kommt. Sie würde nie auf die Idee kommen, ein Findelkind einzustellen, das nicht einmal weiß, wer seine Eltern sind.“

Die verächtlichen Worte hallten in dem höhlenartigen Esszimmer wider. Mavis und Prudence hatten die Dreistigkeit, zu grinsen. Die anderen Lehrerinnen musterten Annabelle mitleidig oder mit Unbehagen. Die meisten waren nett zu ihr, doch sie wagten nicht, Partei für sie zu ergreifen, weil sie fürchteten, selbst zur Zielscheibe zu werden.

Annabelles Wangen glühten. Sie fühlte sich gedemütigt und musste sich sehr zusammennehmen. Mit weiteren Protesten hätte sie sich nur den Zorn der Schulleiterin zugezogen, was meistens dazu führte, dass sie ihren ohnehin kümmerlichen Lohn nicht bekam. Sie konnte es sich nicht leisten, auch nur einen Penny einzubüßen.

Sie machte einen Knicks vor Mrs. Baxter, verließ das Esszimmer und schloss die Tür. In dem düsteren Korridor blieb sie stehen, legte den Kopf schief und lauschte auf Mrs. Baxters gedämpfte Stimme. Was sagte die Schulleiterin zu den anderen? Erteilte sie ihnen Anweisungen, wie sie sich verhalten und was sie sagen sollten? Legte sie die Reihenfolge fest, in der sie Lady Milford vorgestellt werden sollten?

Annabelle merkte, dass sie die Fäuste geballt hatte, und atmete ein paar Mal tief durch. Sie durfte sich nicht zu Wutausbrüchen hinreißen lassen, sondern musste einen klaren Kopf behalten, um zu überlegen, was sie tun sollte. Eins stand fest: Sie würde sich diese fabelhafte Gelegenheit nicht entgehen lassen. Eine solche Chance würde sich nicht so bald – vielleicht nie – noch einmal bieten.

Irgendwie musste sie es schaffen, der Lady vorgestellt zu werden.

***

Am nächsten Tag, kurz nach dem Mittagessen, wurde die Disziplin in Annabelles Klassenzimmer durch das Poltern einer Kutsche gestört. Gerade eben waren die Fünfzehnjährigen noch artig im Kreis geschritten, und balancierten ein Buch auf dem Kopf, um die richtige Haltung zu lernen. Im nächsten Moment brachen mehrere Schülerinnen aus dem Kreis aus und eilten zu den Fenstern, von denen aus man den Schulhof sehen konnte.

„Oh, schaut euch das an!“, rief Cora, ein Rotschopf mit Sommersprossen. „Habt ihr je eine so prächtige Kutsche gesehen?“

Neben ihr drückte eine rundliche Brünette die Nase ans Fenster und blickte auf die Auffahrt. „Wer kann das sein?“, fragte Dorothy. „Meint ihr, es ist ein neues Mädchen? Aber warum kommt jemand hierher, der so reich ist – und nachdem das Schuljahr schon begonnen hat?“

Annabelle klatschte in die Hände. „Meine Damen, es gehört sich nicht, Leute anzustarren. Kommt sofort zurück.“

„Oh, bitte, Miss Quinn, lassen Sie uns einen Moment“, sagte Cora und warf einen bittenden Blick über die Schulter. „Wollen Sie nicht auch wissen, wer da kommt?“

Sie ahnten offenkundig nicht, dass Annabelle es schon wusste und dass ihr Magen sich zusammengezogen hatte. Die Besucherin musste Lady Milford sein. Zum x-ten Mal zerbrach Annabelle sich den Kopf darüber, wie sie sich der Dame am besten präsentieren konnte. Sie hatte bis zum Morgengrauen gegrübelt, während sie beim Licht einer einzigen Talgkerze abgerissene Säume geflickt und neue Spitze an die Kleider genäht hatte, die die anderen Lehrerinnen heute trugen. Während der Arbeit hatte sie zahlreiche Pläne geschmiedet und wieder verworfen. Das Haar in der Suppe war natürlich Mrs. Baxter. Die Direktorin würde ein wachsames Auge auf alles haben, doch wenn sie Glück hatte, würde es vielleicht eine Möglichkeit geben …

Das Poltern herunterfallender Bücher riss Annabelle aus ihren Gedanken. Die anderen Schülerinnen hatten ihr Schweigen als Erlaubnis gedeutet, waren zum Fenster geeilt und scharten sich um Cora und Dorothy. Ihre Aufregung steckte Annabelle an. Als ehemalige Wohltätigkeitsstudentin kannte sie die Ödnis endloser Stunden in Benimm, Kunst, Musik und anderen Dingen, die eine Dame beherrschen musste. Wie konnte sie die Mädchen ausschimpfen, wenn sie selbst vor Neugier platzte?

Sie wahrte einen Anschein von Würde und gesellte sich zu ihnen. Ausnahmsweise war ihre Größe von Vorteil. Sie schaute über die Köpfe der Schülerinnen hinweg und musterte die Kutsche, die den Kiesweg entlang rollte. Kein Wunder, dass die Mädchen in „Ah!“ und „Oh!“ ausbrachen. Ein Gespann aus vier Schimmeln zog einen cremefarbenen Wagen, dessen Türen mit goldenen Schnörkeln verziert waren. Die gewaltigen vergoldeten Räder glänzten im Sonnenlicht. Ein Kutscher in grüner Livree fuhr die Kutsche, und zwei Diener mit weißer Perücke saßen hinten.

Annabelle vergaß sich und starrte das Gefährt ungeniert an. Sie hatte noch nie etwas so Prächtiges gesehen. Die meisten Schülerinnen waren Bürgerliche, Töchter von Gutsbesitzern aus der Umgebung, und kamen in Ponykutschen oder anderen bescheidenen Wagen, wie sie auf dem Land üblich waren.

Doch diese Kutsche stammte aus einem Märchen.

Sie hielt vor dem Säulengang. Einer der Diener sprang hinunter, um die Stufen herunterzulassen und die Tür zu öffnen. Einen Moment später stieg eine Frau aus dem Wagen. Sie war klein und zierlich und trug eine schwarze Jacke, die bis zur Taille reichte, über einem türkisfarbenen Kleid mit einem weiten Rock, wie es der Mode entsprach. Ein schwarzer Schleier an dem mit Pfauenfedern geschmückten Hut verhüllte ihr Gesicht. Ganz plötzlich schaute sie nach oben. Einen Moment lang schien sie Annabelle durch den dunklen Tüll anzustarren. Dann senkte die Frau den Kopf und stieg die Treppe hinauf.

Der Vorfall machte Annabelle nervös. Ihre Haut kribbelte, sie stand wie versteinert da und starrte die Frau an. Wie albern, sich einzubilden, deren interessierter Blick hätte ihr gegolten. Wahrscheinlich hatte Lady Milford einfach nur die Fassade des Hauses gemustert.

Mrs. Baxter erschien. Sie versank in einem tiefen Knicks und wechselte ein paar Worte mit ihrem Gast. Dann verschwanden die beide Frauen in dem von Efeu überwucherten Gebäude.

Die Mädchen seufzten wie aus einem Mund. Dann wandten sie sich vom Fenster ab und fingen an zu reden.

„Ist es vielleicht Prinzessin Victoria?“, fragte Dorothy in ehrfürchtigem Ton.

„An dieser Schule für Hinterwäldlerinnen?“, sagte Cora und warf ihre rötlichen Locken zurück. „Wohl kaum. Außerdem ist Prinzessin Victoria erst siebzehn, und ich finde, diese Dame sieht etwas älter aus.“

Annabelle sagte nichts, aber in Gedanken stimmte sie zu. Lady Milford trat mit einer reifen Würde auf, einer anmutigen Selbstsicherheit, und Annabelle fühlte sich in ihrem oft geflickten Kleid aus grauem Kammgarn wie eine echte Landpomeranze. Wie konnte sie hoffen, dass eine so elegante Erscheinung sie einstellen würde? Dann schlug sie sich die Frage aus dem Kopf. Zweifel brachten sie nicht weiter. Nur ihre Qualifikationen zählten – und der feste Vorsatz, sich als die beste Kandidatin zu präsentieren.

Dorothy verschränkte ihre pummeligen Hände unter dem Kinn mit dem Grübchen. „Miss Quinn, Sie müssen herausfinden, wie sie heißt. Bitte! Sonst sterben wir alle vor Neugier.“

Die anderen Mädchen bekundeten laut ihre Zustimmung.

„Alles zu seiner Zeit“, sagte Annabelle. „Bis es so weit ist, müssen Sie an Ihrem Auftreten arbeiten, damit Sie wissen, wie Sie sich in Gegenwart so feiner Damen zu benehmen haben.“

Murrend fingen die Mädchen wieder an, mit einem Buch auf dem Kopf durch den Raum zu schreiten. Aber die Konzentration ließ zu wünschen übrig. Mehr als eine Schülerin quietschte, weil ihr Buch zu Boden fiel. Die anderen kicherten und tuschelten miteinander.

Annabelle war selbst zu abgelenkt, um sie zurechtzuweisen. Die Ungeduld, ihren Plan in die Tat umzusetzen, machte ihr zu schaffen. Aber es war noch zu früh, sagte sie sich. Lieber eine Weile abwarten und Lady Milford die Gelegenheit geben, mit der Schulleiterin zu reden und Tee zu trinken. Annabelle ließ die Schülerinnen auf ihre Plätze zurückkehren und aus einem Benimmbuch vorlesen. Sie hörte kaum zu, sondern schaute auf die Uhr, die langsam tickte. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit – dabei war es nur eine Dreiviertelstunde –, bis es endlich klingelte. Die Mädchen strömten schwatzend aus dem Zimmer, einige zum Kunstunterricht, andere zur Klavierstunde und wieder andere zum Gesangsunterricht.

Annabelle folgte ihnen auf den Korridor. Ihr Herz schlug schneller, als sie eine Tür öffnete und die Treppe hinaufstieg, die von den Dienstboten genutzt wurde. Während Mrs. Baxter und Lady Milford mit den anderen Lehrerinnen sprachen, hatte Annabelle Zeit, ihre Falle zu stellen. Mit etwas Glück würde der Plan gelingen. Er musste gelingen.

Ihre Schritte hallten auf dem schmalen Gang wider. Die anderen Lehrerinnen nahmen die Haupttreppe, aber sie nutzte oft diese Abkürzung, um der Schulleiterin aus dem Weg zu gehen, denn die halste ihr gern Extra-Arbeit auf, wenn sie der Meinung war, Annabelle hätte freie Zeit.

Jetzt war sie im dritten Stock. Hier befanden sich die Schlafsäle der Schülerinnen und die Schlafzimmer der Lehrerinnen. Annabelle eilte den Gang entlang und blieb vor einem Wäscheschrank stehen, um einen Kissenbezug zu holen. Dann ging sie schnurstracks zu Mrs. Baxters Zimmer. Die Tür war wie meistens nur angelehnt, damit Mr. Tibbles kommen und gehen konnte, wie er wollte.

Annabelle zitterte bei dem Gedanken, dass sie erwischt werden konnte. Sie schaute noch einmal nach links und rechts, dann schlüpfte sie in das Schlafzimmer. Grüne Brokatvorhänge und dunkle Mahagonimöbel schufen eine höhlenartige Atmosphäre. Der Geruch verwelkter Rosen hing in der Luft. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre sie vielleicht in Versuchung gewesen, dieses verbotene Gelände zu erkunden, aber nicht heute. Heute musste sie Mr. Tibbles finden.

„Komm her, Kätzchen“, gurrte sie.

Der Kater schlief tagsüber meistens hier oben. Sie hatte gesehen, wie er am späten Nachmittag die Stufen herunter kam. Aber jetzt war er nicht zu sehen. Hatte er seine Gewohnheiten geändert? Das machte ihr Sorgen. Er konnte überall im Haus sein – oder sogar draußen.

Annabelle schaute unters Bett, ins Ankleidezimmer und in die Schränke. Die Uhr, die auf dem Kaminsims tickte, erinnerte sie daran, dass die Zeit knapp wurde. Sie wollte gerade aufgeben und ihn woanders suchen, als sich zwischen den Gardinen etwas bewegte – die Spitze eines orangefarbenen Schwanzes. Sie zog die Vorhänge auf und fand den Kater. Er lag im Sonnenlicht auf der Fensterbank. Jetzt sah er sie böse an und fletschte fauchend die Zähne.

„Lieber Mr. Tibbles“, murmelte sie, beugte sich vor und hielt den Kissenbezug bereit. „Sei ein braver Junge …“

Der Kater versetzte ihr einen Hieb mit der Pfote und hinterließ vier rote Streifen auf ihrem Handrücken. Annabelle biss die Zähne zusammen. Dann warf sie den Kissenbezug über den kleinen Teufel und hob ihn hoch – ein zappelndes, fauchendes Bündel der Wut. Sie packte grimmig zu, das weiße Leinen schützte sie davor, dass er seinen ganzen Groll an ihr ausließ.

„Ich habe es im Guten versucht“, sagte sie dem Kater und trug ihn ins Ankleidezimmer. „Du hast mir den Krieg erklärt.“

Ohne viel Federlesen öffnete sie die Wäschetruhe, warf den verpackten Kater auf einen Stapel Unterröcke, schüttelte ihn aus dem Kissenbezug und schloss hastig den Deckel. Er jaulte und kratzte am Deckel, aber er würde nicht herauskommen. Ein paar Minuten konnte er da drinnen ausharren, sagte sie sich, bis Mrs. Baxter ihm zu Hilfe eilte.

Annabelle ging die Treppe hinunter, diesmal bis ins Erdgeschoss, und schaute in den Korridor. Sie hatte nur einen flüchtigen Blick für die Landschaftsbilder, die sich im Laufe der Jahre dunkel verfärbt hatten, und die Stühle mit den geraden Rückenlehnen, die vor den vertäfelten Wänden standen. Ihre Aufmerksamkeit galt der geschlossenen Tür am Ende des Ganges. Zu ihrer Überraschung wartete keine Schlange hoffnungsvoller Lehrerinnen vor dem Salon. Sie bekam einen Schreck. Hatte sie Mr. Tibbles umsonst eingesperrt? Hatte Lady Milford die allererste Bewerberin genommen? Wenn Mrs. Baxter Mavis Yates für die Stelle empfohlen hatte und die Sache schon geregelt war? Nein, die Dame wollte sicher alle Kandidatinnen besichtigen. Es war bestimmt eine ernste Angelegenheit, eine Gouvernante für einen Herzog auszuwählen. Allerdings wusste Annabelle nicht viel über die Sitten und Gebräuche des Adels. Sie war erst einem Adligen begegnet, und das war ein steifer alter Viscount gewesen, der seine Tochter in der Schule abgeliefert hatte.

Bei dem Gedanken bekam ihr Selbstvertrauen einen Knacks, aber nur für einen Moment. Sie rückte die Jungfernhaube zurecht, die ihr dunkles Haar verbarg, und wischte dann mit dem Finger die Blutspuren weg, die Mr. Tibbles’ Krallen hinterlassen hatten. Zaudern würde nichts bringen. Es ging um ihre Zukunft.

Sie marschierte kühn den Gang entlang. Sie würde anklopfen und Mrs. Baxter sagen, dass ihr Kater in Not war. Mrs. Baxter würde ihm sofort zu Hilfe eilen, und dann würde sie die Gelegenheit nutzen und um ein Gespräch bitten. Der Trick würde funktionieren. Ganz bestimmt. Sie war schon fast an der Tür zum Salon, da weckte das Rascheln eines Kleides ihre Aufmerksamkeit. Aus einem nahe gelegenen Zimmer kam Mavis Yates.

2. Kapitel

Mavis vertrat ihr den Weg. Die langen braunen Locken, die das schmale Gesicht mit den dunklen Augen umrahmten, erinnerten an einen Hund mit Schlappohren. Ihre stämmige Figur steckte in einem rotbraunen Kleid, und ihre Nasenflügel bebten, als wittere sie Unrat.

„Du solltest gar nicht hierherkommen“, sagte sie und reckte das Kinn. „Aber ich dachte mir schon, dass du ungehorsam sein würdest!“

Annabelle setzte ein freundliches Lächeln auf. Ein Wachhund war das Letzte, was sie brauchte. „Hast du mir aufgelauert? Hast du solche Zweifel daran, dass du die Stelle bekommst?“

„Keineswegs! Lady Milford wird mich wählen, das hat sie schon mehr als deutlich gemacht. Sie hat meine Qualifikationen in den höchsten Tönen gelobt.“

Also hatte Mavis ihr Gespräch schon gehabt. Annabelle warf einen Blick auf die Tür aus poliertem Eichenholz. Wer war jetzt da drinnen?

„Aber die Dame spricht noch mit einer anderen Bewerberin, nicht wahr?“

Mavis verzog den Mund. „Das ist nur noch eine Formalität. Mrs. Baxter hat mir eine überschwängliche Empfehlung versprochen.“

„Wie schön für dich.“

„Die Lady war auch tief beeindruckt von meiner makellosen Herkunft.“ Mavis sah überlegen aus. „Mein Vater war Pfarrer, und unser Stammbaum reicht bis zu den vornehmsten Familien von England zurück. Natürlich muss man die armen Seelen bedauern, die auf der falschen Seite der Bettdecke geboren wurden und nicht wissen, von wem sie abstammen.“

„Mmm.“ Annabelle war klug genug, nicht auf die Beleidigung zu reagieren. „Nun, vielleicht sollte ich dich darauf aufmerksam machen, dass all deine Träume zerrinnen werden, wenn die Tür aufgeht und Lady Milford dich hier beim Lauschen erwischt.“

„Beim Lauschen …“

„Du wirst als Schnüfflerin dastehen, und das spricht nicht für deinen Charakter, nicht wahr? Die Gouvernante eines Herzogs muss äußerst diskret sein.“

Mavis schluckte den Köder und entfernte sich von der Tür. „Pst! Sprich doch leise!“

„Es wäre klug von dir, sofort zu verschwinden. Dann ist das Problem gelöst.“ Annabelle scheuchte die andere Lehrerin davon.

Mavis gehorchte mit gerunzelter Stirn, doch nach ein paar Schritten blieb sie stehen und stemmte die Fäuste in die breiten Hüften. „Du Biest!“, fauchte sie. „Du willst mich loswerden, damit du der Lady etwas vorlügen und mir meine Stelle wegschnappen kannst! Nun! Das wird schiefgehen, dafür wird Mrs. Baxter schon sorgen.“

„Da hast du sicher recht. Deshalb kannst du auch völlig unbesorgt das Feld räumen.“ Annabelle griff nach dem Türknauf, doch Mavis war im Nu bei ihr und ging dazwischen.

„Nichts da! Du kannst nicht hineingehen. Du darfst nicht …“

Plötzlich ging die Tür auf. Auf der Schwelle erschien Prudence Easterbrook, die ihre dickliche Gestalt in ein olivgrünes Kleid mit zu vielen Rüschen gezwängt hatte. Der Blick ihrer braunen Schielaugen fiel auf Mavis, die sich neben der Tür an die Wand gedrückt hatte, und dann auf Annabelle.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Prudence dumm. „Es hat doch keine mehr ein Gespräch. Ich war die Letzte.“

„Ich habe eine dringende Nachricht für Mrs. Baxter.“ Annabelle flüsterte Mavis zu: „Lass dich ja nicht sehen! Wer an Türen horcht, ist keine zuverlässige Angestellte.“

Damit drängte Annabelle sich an den beiden vorbei und betrat den Salon. Der penetrante Geruch von Bienenwachs und Holz weckte ungute Erinnerungen. Als Mädchen hatte sie hier viele Gardinenpredigten erduldet und dann und wann Schläge mit der Weidenrute bekommen, die in einer großen Vase neben der Tür stand – zur Strafe für ihr großes Mundwerk. Mit der Zeit hatte sie gelernt, sich zu beherrschen, ihren Stolz herunterzuschlucken und demütig aufzutreten.

Das tat sie auch jetzt. Sittsam und bescheiden näherte sie sich den beiden Frauen, die am Kamin saßen. Im Gegensatz zu der spartanischen Möblierung für die Lehrerinnen und Schülerinnen war Mrs. Baxters privater Salon ebenso prächtig eingerichtet wie ihre Gemächer im Obergeschoss. Rote Samtvorhänge rahmten die hohen Fenster ein, an der Wand stand ein Tisch aus Rosenholz. Auf allen Tischen und Regalen standen Hirtinnen und Katzen aus Porzellan und anderer Nippes. Stühle und Sofas standen vor dem Marmorkamin, in dem ein lustiges Feuer prasselte.

Annabelles Blick fiel auf Lady Milford. Die Dame saß auf einem prächtigen Stuhl, der aussah wie ein Thron. Sie hielt sich kerzengerade, die behandschuhten Hände ruhten auf den vergoldeten Lehnen. Sie trug immer noch ihren Hut mit der Pfauenfeder, doch der schwarze Schleier war zurückgeschlagen, und man sah ein Gesicht von faszinierender Schönheit. Sie hatte dunkles Haar und blaue Augen, und auf ihrer Haut zeigten sich feine Fältchen, die ihr einen ehrwürdigen Ausdruck gaben.

Jetzt schaute sie Annabelle an und zog eine ihrer schmalen Brauen hoch. Ihre Miene wirkte nicht hochnäsig, sondern interessiert, und ihr prüfender Blick gab Annabelle das Gefühl, taxiert zu werden. Mit Unbehagen stellte sie sich vor, wie sie in Lady Milfords Augen aussehen musste – eine zu große Frau in einem oft geflickten Kleid von unvorteilhaftem Grau.

Sie versuchte, ihre Erscheinung durch gute Manieren wettzumachen, und versank in einem tiefen Knicks. „Mylady“, murmelte sie.

„Miss Quinn! Was hat das zu bedeuten?“, ertönte Mrs. Baxters schrille Stimme. Ihr Gesicht, das ohnehin schon aussah wie ein Totenschädel, war nun missbilligend verzerrt.

Annabelle musste ihre Worte mit Bedacht wählen, um sich nicht verdächtig zu machen. Sie stand auf und machte ein besorgtes Gesicht. „Ich bitte um Verzeihung, Ma’am. Es ist etwas passiert, das Ihre sofortige Aufmerksamkeit erfordert.“

„Was immer es auch sein mag, es kann warten, bis mein Gast wieder gegangen ist. Und nun verschwinden Sie.“ Mrs. Baxter machte eine Handbewegung, als wolle sie Annabelle wegwischen, wandte sich an Lady Milford und schlug einen honigsüßen Ton an. „Mylady, verzeihen Sie bitte die unhöfliche Unterbrechung. Es ist eine schwere Prüfung, unverschämte Dienerinnen zu haben, die Anweisungen missachten.“

Annabelle ballte die Hände zu Fäusten. Dienerin! Was für eine Schmach, nicht einmal als Lehrerin bezeichnet zu werden, die sie doch war! Es bestärkte sie in ihrem Entschluss.

Sie trat energisch vor. „Ich fürchte, es ist sehr wichtig. Es geht um Ihren Kater, Mr. Tibbles. Er sitzt fest.“

Mrs. Baxter wurde blass. Sie sprang auf und drückte sich ein Taschentuch auf die schmalen Lippen. „Fest? Was soll das heißen?“

„Er hat es irgendwie fertiggebracht, in die Wäschetruhe zu klettern. Vielleicht hat eines der Hausmädchen sie offen gelassen, und er hat irgendwie den Deckel zugeschlagen. Ich habe ihn jaulen hören, als ich gerade an Ihrem Zimmer vorbeiging.“

Mrs. Baxter war schon im Begriff, hinauszueilen. „Er ist doch nicht verletzt, oder?“

Annabelle sah vor sich, wie der dicke alte Kater mürrisch auf einem Stapel weicher Unterröcke lag. „Das weiß ich nicht, aber sein Jaulen klang sehr jämmerlich.“

„Dumme Gans, warum haben Sie ihn nicht herausgelassen?“

Annabelle zeigte ihr die Striemen auf ihrer Hand. „Ich habe es versucht, Ma’am, aber Sie wissen ja, wie er jeden außer Ihnen anfaucht und kratzt.“ Sie hielt inne und versetzte der Schulleiterin den Gnadenstoß. „Wenn er so weitermacht, fürchte ich, dass er sich ernsthaft verletzt.“

„Oh!“, keuchte Mrs. Baxter und wandte sich an ihren Gast. „Bitte entschuldigen Sie mich, Mylady. Es kann nur ein paar Augenblicke in Anspruch nehmen.“

Die Freude stieg Annabelle fast zu Kopf. Gott sei Dank, ihr Plan war aufgegangen! Doch ihr Triumph war von kurzer Dauer.

Auf dem Weg zur Tür packte die Schulleiterin sie am Arm. „Kommen Sie mit. Sie werden hier nicht gebraucht.“ Aus ihren Augen sprach Misstrauen. Trotz aller Sorge um ihren Kater hatte Mrs. Baxter noch die Geistesgegenwart, Annabelle zu zeigen, wo ihr Platz war.

„Sollte ich nicht lieber hierbleiben?“, sagte Annabelle. „Mein Unterricht beginnt erst in einer halben Stunde. Vielleicht möchte die Lady, dass ich ihr eine Erfrischung bringe.“

„Sie braucht nichts von einem Mädchen niederer Herkunft, wie Sie es sind.“ Mrs. Baxters Griff war fest, und sie zerrte Annabelle mit sich. „Und nun zügeln Sie Ihre unverschämte Zunge. Sie müssen endlich lernen, nur zu reden, wenn Sie gefragt werden.“

Annabelle wollte sich wehren. Aber wenn sie eine Szene machte, würde Lady Milford einen schlechten Eindruck von ihr bekommen. Mit Bitterkeit nahm Annabelle zur Kenntnis, dass Mrs. Baxter sie schon in ein schlechtes Licht gerückt hatte. Wahrscheinlich war die Chance, sich zu präsentieren und aus der Schule zu flüchten, jetzt dahin.

„Lassen Sie sie bleiben.“ Lady Milfords Stimme klang sanft, doch es war ein unmissverständlicher Befehl.

Mrs. Baxter drehte sich entgeistert um und hielt immer noch Annabelles Arm umklammert. „Mylady?“

„Sie sagten, ich hätte mit allen Lehrerinnen gesprochen. Aber diese haben Sie wohl vergessen.“

„Weil sie offensichtlich ungeeignet ist. Sie wünschen sicher keine Gouvernante zweifelhafter Herkunft …“

„Ich möchte trotzdem mit Miss Quinn sprechen. Sie können jetzt gehen.“

Mrs. Baxter ließ Annabelles Arm widerwillig los, warf ihr einen warnenden Blick zu und verließ das Zimmer.

„Bitte schließen Sie die Tür, damit wir in Ruhe reden können“, sagte Lady Milford.

Annabelle kam der Aufforderung eiligst nach. Dabei erhaschte sie einen Blick auf Mavis und Prudence, die Mrs. Baxter nachliefen. Sicher beschwerten sie sich über die Ungerechtigkeit, dass auch Annabelle mit Lady Milford sprechen durfte. Sollten die Ziegen nur meckern. Annabelle hatte ausnahmsweise die Oberhand, und das würde sie nutzen.

Sie zählte in Gedanken auf, was sie alles konnte, und ging auf Lady Milford zu. Mit ehrerbietig gefalteten Händen blieb sie vor der Adligen stehen. Sie musste ihr Ziel erreichen, bevor Mrs. Baxter wieder da war.

„Mylady, ich …“

Lady Milford brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Einen Moment. Sie haben noch reichlich Zeit zum Reden.“

Sie schaute zu Annabelle auf und musterte sie kritisch. Nach welchen Gesichtspunkten beurteilte Lady Milford die Kandidatinnen? Modegeschmack oder Stammbaum? Dann war Annabelle verloren. Ihr Mut sank. Sie war noch nie einer so eleganten Erscheinung begegnet. Mit ihrem türkisfarbenen Kleid und dem schwarzen Hut mit den Pfauenfedern erinnerte Lady Milford an ein exotisches Geschöpf aus einem fernen Land. Warum verschlug es so eine feine Dame in diese abgelegene Gegend? Sie konnte doch jemanden aus London einstellen. Besuchte sie vielleicht Freunde oder Verwandte in dieser Gegend? Aber egal – für Annabelle zählte nur, dass sie die Stelle bekam.

„Miss Quinn, ich habe den Verdacht, dass Sie die Sache mit dem Kater als Vorwand genutzt haben, um hereinzukommen“, sagte Lady Milford. „Darf ich davon ausgehen, dass Sie sich für die Stelle als Gouvernante des Dukes of Kevern interessieren?“

„Ja, Mylady. Wenn es nicht zu gewagt von mir ist – ich hoffe, dass Sie mich in Betracht ziehen.“

Lady Milford nickte. „Es ist wichtig, dass ich mit allen Lehrerinnen spreche, damit ich die beste Wahl treffen kann. Einem Herzog zu dienen, ist eine große Ehre, auch wenn er noch sehr jung ist.“

„Wie alt ist Seine Gnaden, wenn ich fragen darf?“

„Nicholas ist acht und der Urenkel einer sehr lieben verstorbenen Freundin von mir. Das Kind wird in etwa einem Jahr ins Internat kommen, und ich habe die Sorge, dass er noch nicht reif dafür ist, sein Zuhause zu verlassen. Er hat letztes Jahr beide Eltern bei einem tragischen Unfall verloren.“

Annabelle hatte sich gedacht, dass der Vater verstorben war, denn sonst hätte der Junge den Titel noch nicht getragen. Aber sie hatte nicht geahnt, dass er Vollwaise war. Der Gedanke daran, wie einsam er sein musste, brach ihr das Herz. Vielleicht war es ein Glück, dass sie ihre Eltern nie kennengelernt hatte. „Das tut mir leid“, murmelte sie. „Es muss schrecklich für Seine Gnaden gewesen sein.“

„O ja.“ Lady Milford schaute in die züngelnden Flammen im Kamin. „Nicholas war immer ein stiller Junge, und nun hat er sich noch mehr zurückgezogen. Darum denke ich, dass er mehr braucht als nur Hauslehrer und Kindermädchen.“ Sie sah Annabelle an. „Ich glaube, er braucht die Liebe einer Mutter.“

Eine Mutter? Annabelle bekam einen trockenen Mund. Was wusste sie über die Aufgaben einer Mutter? Das war die eine Sache, mit der sie keinerlei Erfahrung hatte. Im Gegensatz zu den anderen Lehrerinnen, denn sie hatten alle Familie in der Gegend.

„Der Herzog hat doch sicher Tanten oder Cousinen, die diese Rolle einnehmen können.“

„Ich fürchte, es gibt nur einen Onkel – seinen Vormund, Lord Simon Westbury. Und der ist ein … recht schwieriger Herr.“ Lady Milford lächelte rätselhaft und wies dann auf das Sofa. „Nun setzen Sie sich aber, Miss Quinn. Sie sind so groß, und ich möchte mir nicht den Hals ausrenken.“

„Oh! Natürlich.“ Annabelle nahm Platz und faltete die Hände im Schoß. Das Gespräch verlief wirklich nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Lady würde sicher finden, dass eine der anderen Lehrerinnen geeigneter war, einem verwaisten Jungen die Mutter zu ersetzen. Es war ratsam, ihre Stärken zu betonen, bevor Mrs. Baxter wieder da war und Annabelle noch schlechter machte.

Sie atmete tief durch. „Mylady, seien Sie sicher, dass ich bereit bin, mich ganz dem Herzog zu widmen. Ich bin auch mehr als befähigt, ihn zu unterrichten. Ich kenne mich mit allem aus, was er lernt: Mathematik, Botanik, Literatur, Erdkunde und viel mehr. Ich bin nur zu gern bereit, mit ihm zu arbeiten, bis er …“

Lady Milford hob die behandschuhte Rechte. „Ich bin sicher, dass all das stimmt. Ich bin eine ausgezeichnete Menschenkennerin und halte Sie für eine intelligente Frau, die offensichtlich geeignet ist, den Jungen zu unterrichten. Deshalb möchte ich die Zeit lieber dafür nutzen, mehr über Sie zu erfahren.“

Annabelle wusste nicht, ob sie sich über das Lob freuen sollte – oder ob sie eher Grund zur Sorge hatte, weil die Lady vielleicht ihren familiären Hintergrund erforschen wollte. Sie fragte vorsichtig: „Was möchten Sie wissen?“

„Zuerst einmal Ihren Vornamen.“

„Annabelle, Mylady.“

Wieder zeigte sich das leichte, unergründliche Lächeln auf Lady Milfords Lippen. „Wie hübsch. Ist der Name in Ihrer Familie üblich?“

„Das … hat man mir nie gesagt“, wich Annabelle aus.

„Ich verstehe.“ Lady Milford legte den Kopf schief. „Ich interessiere mich für Ihre Verbindungen. Wo kommen Sie her?“

Annabelle hatte die Hände fest gefaltet. Ihr Stammbaum – oder vielmehr dessen Fehlen – war das Letzte, worüber sie reden wollte. Ihre einzige Hoffnung war, die Klippe zu umschiffen. „Ich habe immer hier in Yorkshire gelebt, Mylady. Vielleicht ist das der Grund, warum ich eine neue Stelle suche. Ich würde sehr gern erfahren, wie es ist, in einem anderen Teil von England zu leben. Ich würde mich sehr gern Seiner Gnaden widmen.“

„Wie sind Sie Lehrerin an dieser Schule geworden?“

Die Lady ließ sich nicht ablenken. Alle möglichen Ausreden und Lügen wirbelten Annabelle durch den Kopf. Sie hatte gehofft, dass ein Wunder geschehen und sie nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt werden würde. Aber es führte kein Weg an der Wahrheit vorbei. Wenn sie es nicht gestand, würde Mrs. Baxter sie bei ihrer Rückkehr verraten.

Sie reckte das Kinn und machte sich darauf gefasst, wegen der Umstände ihrer Geburt abgelehnt zu werden. „Man hat mir erzählt, Ma’am, dass ich als Baby auf der Schwelle dieser Schule abgelegt wurde. Ich weiß nicht, von wem.“

Jetzt hatte sie es ausgesprochen. Würde die Lady glauben, dass sie genauso unmoralisch war wie ihre namenlosen Eltern? Die meisten Leute taten das. Ihre Mutter musste eine gefallene Frau gewesen sein. Und ihr Vater? Sie konnte die Tochter eines Feldarbeiters oder eines Hufschmieds oder sogar eines Wegelagerers sein. Und als solche wäre sie keine angemessene Erzieherin für einen Herzog.

Lady Milford beugte sich vor. „Hat Mrs. Baxter je versucht, herauszufinden, wer Sie ausgesetzt hat?“

Ausgesetzt. Das Wort weckte einen Hauch Bitterkeit in Annabelle. Sie schüttelte den Kopf. „Sie war damals noch nicht Schulleiterin. Ihre Vorgängerin starb, als ich noch keine fünf Jahre alt war.“ Annabelle schaute auf ihre verschränkten Finger hinunter. Sie hatte jahrelang nicht mehr daran gedacht. Verschwommene Erinnerungen stiegen in ihr auf – an eine sanfte Stimme, die ein Schlaflied sang, an Hände, die ihr über die Haare strichen …

„Ein Jammer“, sinnierte Lady Milford. „Dann werden Sie es wohl nie erfahren.“

Annabelle wünschte verzweifelt, sie würde aus dem Gesichtsausdruck der Frau klug werden, doch deren Miene gab nichts preis. Lady Milford sah nicht aus, als würde sie die Geschichte schockieren, aber vielleicht war sie zu wohlerzogen, um sich etwas anmerken zu lassen.

„Bedenken Sie bitte, welche Vorteile es mit sich bringt, dass ich keine Familie habe“, sagte Annabelle, entschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen. „Mich wird man nie wegrufen, damit ich eine kranke Verwandte pflege. Ich werde nie Urlaub brauchen, um auf eine Hochzeit oder ein Begräbnis zu gehen. Wenn Sie mich einstellen, werde ich Seiner Gnaden immer zu Diensten sein. Nichts wird mich ablenken. Sie können sicher sein, dass ich es ihm nicht an Aufmerksamkeit werde fehlen lassen.“

„Sie sind sehr überzeugend, Miss Quinn.“ Lady Milfords Blick war aufmerksam, und sie senkte die Stimme. „Es fehlt nur noch eine Prüfung.“

Prüfung? Annabelle fragte sich, um was es dabei gehen würde. Vielleicht sollte sie einen Aufsatz darüber schreiben, warum sie die Richtige für die Stelle war. Oder die Lady wollte sie in Erdkunde oder Literatur abhören. Die Vorstellung beruhigte sie. Worin sie auch geprüft werden würde, sie war zuversichtlich, dass sie besser sein würde als alle anderen Lehrerinnen.

Dann tat Lady Milford etwas Seltsames. Sie stand auf und setzte sich neben Annabelle auf das Sofa. „Würden Sie bitte die Schuhe ausziehen?“

„Wie bitte?“

Die Lady wies auf Annabelles Füße. „Ziehen Sie sie bitte aus. Ich weiß, es klingt seltsam, aber tun Sie mir den Gefallen. Sie werden gleich verstehen, warum.“

Sie hatte einen Samtbeutel dabei, und nun öffnete sie ihn und griff hinein. Zum Vorschein kam ein Paar schöner Schuhe, die sie auf den Boden stellte.

Annabelle blinzelte überrascht. Es waren hochhackige Schuhe aus Satin, rot wie Granat und kunstvoll mit Perlen bestickt, die im Licht des Feuers funkelten.

„Ohh“, hauchte sie. „So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen!“

„Es ist nur ein altes Paar, das ich vor langer Zeit von einer Freundin bekommen habe“, sagte Lady Milford. „Es wäre doch eine Schande, wenn sie in meinem Ankleidezimmer verstauben würden. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie anzuprobieren?“

„Aber … die sind so zierlich“, sagte Annabelle. Sie konnte den Blick nicht lange genug von den prächtigen Schuhen abwenden, um klar zu denken. „Wir können unmöglich die gleiche Größe haben.“

„Das wissen wir erst, wenn Sie sie anprobiert haben.“

Annabelle hatte das Gefühl, unter einem seltsamen Bann zu stehen. Sie schnürte ihre klobigen Schuhe auf und zog sie aus. Braun und hässlich plumpsten sie auf den Teppich, ein Sakrileg neben den zierlichen Schuhen von Lady Milford. Ehrfürchtig probierte sie einen an, und – oh Wunder – er passte genau. Er drückte auch nicht, ganz im Gegensatz zu ihren eigenen billigen Schuhen. Der Satin fühlte sich so weich und geschmeidig an, als würde sie auf einer Wolke wandeln. Hastig zog sie auch den anderen an, stand auf und hob ihren Rock hoch, um den Anblick zu bestaunen. So musste sich eine Prinzessin fühlen, dachte sie. Wunderschön in jeder Hinsicht.

Sie wirbelte auf den Zehenspitzen herum und stellte sich vor, dass sie mit einem Prinzen tanzte. „Oh, Mylady, sie passen! Wie kann das sein?“

„Es sieht so aus, als wären sie für Sie gemacht“, sagte Lady Milford. „Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie sie mir abnehmen.“

Annabelle blieb abrupt stehen und erwachte aus ihren Träumen. Sie klammerte sich an ihren Rock. „Sie scherzen. Sie können mir doch nicht ernsthaft so ein kostbares Geschenk machen.“

„Nun, wenn es Ihnen lieber ist, betrachten Sie sie als Leihgabe. Das ist mein einziges Zugeständnis. Sie müssen Nachsicht mit mir haben, denn ich bin eine alte Frau und bekannt für meine Schrullen.“

Weisheit leuchtete in den tiefblauen Augen. Wie alt war sie?

Annabelle vergaß die Frage, als sie bekümmert auf die Schuhe hinabschaute. Sie waren so hinreißend, aber leider völlig unpraktisch. „Aber wo soll ich denn so schöne Schuhe tragen?“

„Auf einem Ball oder einem Fest auf Schloss Kevern. Auf dem Land ist es durchaus üblich, dass eine Gouvernante mitkommt, wenn nicht genug Damen auf der Gästeliste stehen.“ Sie musterte Annabelle kritisch von Kopf bis Fuß. „Abgesehen von den Reisekosten brauchen Sie wohl auch noch Geld für eine neue Garderobe. Wer im Haushalt eines Herzogs arbeitet, kann nicht wie eine Bettlerin herumlaufen.“

Annabelles Gedankenkarussell kam zum Stehen. „Heißt das … dass Sie mich einstellen?“

Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte Lady Milfords Mund. „Allerdings. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand besser geeignet wäre als Sie.“

3. Kapitel

Die Postkutsche rumpelte davon. Annabelle stand neben ihrem abgenutzten Koffer vor einem Gasthof am Rand des Dorfes Kevernstow und sah sich um. Hühner pickten auf dem kahlen Boden, und auf einer Weide hinter dem Stall grasten ein paar Pferde. Der Gasthof war nicht viel mehr als ein zweistöckiges Häuschen mit Strohdach. Sein verblichenes Namensschild mit der Aufschrift The Copper Shovel quietschte im Wind.

Wo war die Kutsche, die sie zum Schloss bringen sollte? Lady Milford hatte versprochen, einen Brief an Annabelles Arbeitgeber zu schicken, damit bei ihrer Ankunft alles vorbereitet war. Doch es war keine Menschenseele zu sehen. Annabelle packte den Ledergriff und schleifte den Koffer in Richtung Haus. Dabei wirbelte Staub auf, und der Saum ihres Kleides wurde schmutzig. Sie fühlte sich steif und müde nach der Reise, die zweieinhalb Tage gedauert hatte. In der Postkutsche hatte sie zwischen anderen Reisenden eingezwängt gesessen; ständig waren Leute aus- und zugestiegen. Sie sehnte sich danach, endlich Schloss Kevern zu erreichen. Sie wollte hier nicht darauf warten müssen, dass sie abgeholt wurde.

Die Tür zum Gasthof stand offen. Annabelle blieb auf der Schwelle stehen und klopfte an. Dabei linste sie in das dämmerige Innere. Ein Torffeuer schwelte im Herd, aber an den Tischen saß niemand. Schlief der Wirt oben? Oder war er ins benachbarte Dorf gegangen, um etwas zu erledigen? Die tägliche Ankunft der Postkutsche war in einer so abgelegenen Gegend sicher eine wichtige Sache. Also warum war er nicht da?

„Hallo?“, rief sie. „Ist hier jemand?“

Stille war die Antwort. Sie ließ den Koffer stehen, ging über den Hof und schaute in den Stall. In den kühlen Schatten konnte sie kein Lebenszeichen entdecken, die Pferde waren ja auf der Weide. Annabelle ging hinter das Haus und gelangte auf einen Hof, der an einen gewaltigen Hügel grenzte. Das Sonnenlicht fiel auf ein kümmerliches Gemüsebeet, und an einer Leine zwischen zwei großen Eichen flatterte Wäsche. Am Rand des Grundstücks öffnete sich quietschend die Tür des Plumpsklos, und ein gebückter alter Mann kam heraus. Er war noch dabei, sich die Hose hochzuziehen, als er sie sah, und humpelte auf sie zu.

„Habe ich die Post verpasst?“

„Ja, Sir.“ Annabelle tat so, als merke sie nicht, dass er sein schlichtes Hemd in den Hosenbund stopfte. Diese Gegend war ihr neues Zuhause, also war es sicher klug, Bekanntschaften zu machen. „Guten Tag, ich bin Miss Quinn. Und Sie sind …?“

„Pengilly, Miss.“ Der alternde Gastwirt nickte und schenkte ihr ein zahnloses Lächeln. „Otis Pengilly.“ Er reichte ihr die Hand, und sie nahm sie, dankbar für ihre Handschuhe.

„Es ist mir ein Vergnügen, Mr. Pengilly. Haben Sie heute vielleicht eine Kutsche von Schloss Kevern gesehen? Sie sollte mich abholen.“

Er kratzte sich den kahlen Schädel. „Zum Teufel, nein!“

Annabelle schürzte die Lippen und blinzelte in die Nachmittagssonne. Wenn sie zu lange wartete, würde sie gezwungen sein, ein paar kostbare Münzen für ein Zimmer im Gasthof auszugeben. Hatte Lady Milford nicht gesagt, dass das Schloss nur zwei Meilen vom Dorf entfernt war?

„Dann gehe ich zu Fuß“, sagte sie. „Können Sie mir den Weg zum Schloss beschreiben?“

Er zeigte mit einem knotigen Finger über ihre Schulter und sagte: „Nehmen Sie den Weg hinter der Weide. Über die Bruck und die Klipp rauf.“

Bruck? Klipp?

Bevor sie nach einer Übersetzung fragen konnte, nickte er in Richtung der dunklen Wolken, die sich am fernen Horizont zusammenballten. „Beeilen Sie sich lieber, Miss. Es wird pustig!“

Wahrscheinlich meinte er einen Sturm. Und Regen. Doch der Himmel war immer noch blau, und die Anzeichen eines Unwetters schienen noch weit weg zu sein. Annabelle war an kräftezehrende Märsche durch das Moor gewöhnt und war sicher, dass sie ihr Ziel erreichen würde, lange bevor der Regen kam.

Sie bat ihn, auf ihren Koffer aufzupassen, bis ihn jemand vom Schloss abholen würde. Dann machte sie sich auf den Weg in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Als sie an einem zerklüfteten Felsen am Rand des Grundstücks vorbeiging, rief Mr. Pengilly ihr nach: „Wenn der Himmel brennt, passen Sie auf die Elben auf.“

Sie wandte sich um. „Wie bitte?“

Er formte mit den Händen einen Trichter und trompetete: „Wenn Sie kleine Leute im Wald sehen, seien Sie vorsichtig! Damit sie Sie nicht verzaubern!“

Elfen! Er meinte Elfen! Machte er Witze? Doch Mr. Pengilly sah aus, als meine er es ganz ernst.

Annabelle winkte ihm zum Abschied fröhlich zu und schlug den Pfad ein, der sich über ein paar kleine Hügel schlängelte. Es war ein schöner Spätsommertag, warm und mild. Vögel zwitscherten in den Bäumen, und irgendwo murmelte ein Bach. Das Geräusch wurde lauter, bis sie zu einer Steinbrücke kam, die über das Gewässer führte.

Ah, die bruck.

Annabelle lachte laut auf. Sie musste wohl den örtlichen Dialekt lernen. „Die Klipp rauf“ bezog sich sicher auf den Pfad auf der anderen Seite des Baches, der steil nach oben führte, einen Hügel hinauf, der von Bäumen und Gebüsch überwuchert war. Sie überquerte die seltsame Brücke. Karpfen flitzten durch das Wasser und spielten zwischen den Felsen Fangen. Wenn Annabelle nicht an einem Scheideweg gestanden hätte, hätte sie vielleicht die Friedlichkeit der Umgebung genossen.

Aber sie hatte keine Zeit zum Träumen. Sie wollte ihre Arbeit so schnell wie möglich antreten, den kleinen Herzog kennenlernen und ihr neues Leben anfangen. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Es war sicher wunderbar, sich um ein kleines Kind zu kümmern, statt ewig Benimmunterricht zu erteilen.

Annabelle raffte ihren Rock zusammen und stapfte den Hügel hinauf. Das konnte unmöglich die Hauptstraße nach Schloss Kevern sein. Mr. Pengilly musste ihr eine Abkürzung empfohlen haben, denn der Pfad war zu schmal für eine Kutsche. Außerdem waren keine Furchen zu sehen, die davon gekündet hätten, dass hier jemals Räder gefahren waren.

Annabelle erreichte den Gipfel des Hügels und blieb stehen, um Atem zu holen. Vor ihr erstreckte sich eine Landschaft aus waldigen Hügeln und grünen Tälern. Winzige weiße Punkte – Schafe – grasten inmitten der Bauernhöfe. Die idyllische Landschaft bildete einen scharfen Kontrast zu dem heraufziehenden Sturm.

Rabenschwarze Wolken verfinsterten den Horizont. In der Ferne brodelte die See mit weißen Schaumkronen. Annabelle starrte fasziniert in die Richtung. Sie hatte in Büchern über das Meer gelesen, sich aber keine Vorstellung von seiner erhabenen Weite gemacht. Vor dem dramatischen Hintergrund zeichneten sich die grauen Türme einer mittelalterlichen Festung ab, die auf einer Klippe thronte. Schloss Kevern. Ein Schauer überlief sie. Der herrliche Anblick erinnerte sie an Geschichten über König Artus und die Ritter der Tafelrunde, die Skandale der Tudor-Dynastie, die tragische Romanze von Tristan und Isolde …

Ein Blitz zuckte am dunklen Himmel, Sekunden später polterte der Donner. Ein kalter Windstoß zerrte an ihrem Strohhut und riss ihn ihr vom Kopf. Die Bänder blieben jedoch verschnürt, also ließ sie ihn auf dem Rücken baumeln. Nicht einmal die bevorstehende Sintflut konnte ihre Hochstimmung dämpfen. Auf dem Weg nach unten staunte Annabelle wieder über die glückliche Fügung, die sie hierhergebracht hatte.

Eine andere Lehrerin hätte die Stelle bekommen können. Und es waren auch alle gelb vor Neid gewesen, vor allem Mavis und Prudence. Auch Mrs. Baxter hatte verschnupft reagiert, aber nicht gewagt, Lady Milford zu widersprechen. Doch nach der Abreise der Dame hatte die Schulleiterin ihrem Groll Luft gemacht und Annabelle alles Mögliche vorgeworfen – sie sei eine intrigante Thronräuberin und ein ungehorsames Flittchen, mit dem es ein schlimmes Ende nehmen würde.

Annabelle war zu glücklich gewesen, um sich darüber zu grämen. Die Trennung von ihrem alten Leben war nicht schwer – nur die von ihren Schülerinnen, die ihr zum Abschied einen schönen grauen Seidenumhang geschenkt hatten. Die Schule war bisher ihr einziges Zuhause gewesen, und sie würde die Mädchen und ihre wenigen Freundinnen unter den Kolleginnen vermissen, doch all das war jetzt Vergangenheit. Vor ihr lag die Zukunft, und die bot glänzende Möglichkeiten.

Der Wind klatschte ihr ein paar Regentropfen ins Gesicht, als wolle er ihren Übermut dämpfen. Die schwarzen Wolken verhüllten die Sonne, und es wurde immer finsterer. Dornenbüsche zerrten am Saum ihres Kleides, doch sie riss sich los und marschierte unverzagt vorwärts. Dieses endlose Gelände musste zu den Ländereien des Herzogtums gehören. Kätner und Pächter wurden gebraucht, um die Felder zu bewirtschaften. Aber sie sah niemanden. Vielleicht hockten sie alle in ihren Katen und warteten das Unwetter ab.

Sie näherte sich der letzten Steigung und hörte ein dumpfes, rhythmisches Rauschen. Das mussten die Wellen sein, die an die Küste brandeten. Die Zinnen ragten über ihr in den Himmel. Um dort hinzugelangen, musste sie einen steilen Pfad hinauf, der im Wald verschwand. Das Dickicht der Bäume schuf ein unheimliches Zwielicht. Man hörte den Ozean nicht mehr, sondern nur noch ihre Schritte und das gelegentliche Grollen des Donners. Sogar die Vögel hatten vor dem Unwetter Zuflucht gesucht. Die unnatürliche Stille gab ihr das Gefühl, dass ein böser Zauber über dem Schloss und seinen Ländereien lag.

Wenn der Himmel brennt, passen Sie auf die Elben auf.

Die feinen Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Annabelle schüttelte das Unbehagen ab. Wie albern, zu glauben, sie würde beobachtet werden! Sie hob ihren Rock an und konzentrierte sich darauf, den felsigen Weg zu erklimmen. Sie stieg gerade über einen umgestürzten Baumstamm hinweg, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie sich etwas bewegte.

Annabelle fuhr herum. Sie stützte sich an der rauen Rinde eines Baumes ab und sah sich eingehend um. Ihr Blick blieb an einer Stelle hängen, an der sich etwas im Gebüsch regte. Die Blätter dicht über dem Boden zitterten. Ihr Herz raste und sie rechnete damit, dass jeden Moment eine elfenhafte Gestalt zum Vorschein kommen würde …

Ein dicker Igel watschelte unter dem Busch hervor. Das kleine Tier kümmerte sich nicht um Annabelle, sondern verschwand gleich wieder im Unterholz. Sie lachte laut auf. Elfen und Feen, so ein Unsinn! Solche Figuren gab es doch nur im Märchen. Sie durfte sich so etwas nicht ausmalen, sonst würde sie noch hysterisch werden.

Ein Blitz beleuchtete den Himmel und der Donner krachte. Annabelle brauchte keine weitere Aufforderung, um ihren Weg fortzusetzen. Sie beeilte sich und richtete den Blick auf den Pfad, um nicht zu stolpern. Endlich näherte sie sich dem Gipfel des Hügels. Die Schlossmauern waren schon zu sehen, das Tor jedoch noch nicht …

Ein Mann kam hinter einem gewaltigen Felsbrocken hervor. Groß und bedrohlich stellte er sich ihr in den Weg. „Was machen Sie hier?“

„Sir!“ Sie blieb wie angewurzelt stehen, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. „Sie haben mich erschreckt!“

Er packte sie sie am Oberarm. „Ich werde noch viel mehr tun, wenn Sie mir nicht antworten!“

Annabelle kreischte, doch der Donner übertönte sie. Vergeblich versuchte sie, sich loszureißen. „Aufhören! Lassen Sie mich los!“

„Erst, wenn Sie mir sagen, warum Sie hier sind.“

Sein aggressives Auftreten schüchterte sie ein. Er war sehr muskulös, ein Mann in der Blüte seiner Jahre. War er ein Schlosswächter? Sicher nicht. Er trug ein Hemd aus grobem Stoff und Hosen wie ein gewöhnlicher Arbeiter.

Annabelles Herz raste, doch sie musterte ihn mit der eisigen Miene, die sie auch bei ungehorsamen Schülerinnen angewandt hatte. „Ich antworte nicht, wenn ich so grob behandelt werde. Nehmen Sie sofort die Finger von mir!“

Er schaute finster auf sie herab. Seine Augen waren eisengrau, die Haut gebräunt wie die eines Menschen, der viel im Freien ist. Der Wind zauste ihm die schwarzen Haare.

Ein seltsames, beunruhigendes Gefühl stieg in Annabelle auf. Sie hatte noch nie so dicht vor einem Mann gestanden, schon gar nicht vor einem, der so feindselig auftrat. Er konnte sie überwältigen, wenn er wollte. Sie gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass sie sich nicht kampflos ergeben würde.

Er ließ ihren Arm jäh los und zog die Hand zurück. „Ich will Ihren Namen wissen. Sie sind auf meinen Grund und Boden eingedrungen.“

Sie blinzelte. Seinen Grund und Boden? Wie konnte das sein? Der Herzog war doch erst acht. „Gehört dieses Land nicht Seiner Gnaden, dem Duke of Kevern?“

Der Fremde nickte. „Er ist mein Neffe.“

Jetzt begriff Annabelle, wen sie vor sich hatte. Dieser ungehobelte Kerl war kein Geringerer als Lord Simon Westbury. Er war der Vormund des kleinen Herzogs – und ihr Arbeitgeber. Es ging ihr gegen den Strich, doch sie musste seine Unhöflichkeit hinnehmen, wenn sie nicht gefeuert werden wollte, bevor sie angefangen hatte.

„Ich bin Miss Annabelle Quinn“, sagte sie und reichte ihm die behandschuhte Hand. „Sie müssen Lord Simon sein. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Aus seinen schroffen und doch attraktiven Zügen sprach Argwohn. Er starrte stirnrunzelnd auf ihre Finger, bis sie sie zurückzog. „Was auch immer Sie verkaufen wollen, ich bin nicht interessiert. Und jetzt verschwinden Sie.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und stiefelte in Richtung Schloss.

Verkaufen? Warum hielt er sie für eine fahrende Händlerin, obwohl sie gar keine Waren dabei hatte? Verblüfft eilte Annabelle ihm nach.

„Haben Sie keinen Brief von Lady Milford bekommen? Er hätte vor ein paar Tagen ankommen müssen!“

Er blieb stehen und musterte sie verächtlich von Kopf bis Fuß. „Warum sollte Clarissa Sie hierherbeordern? Wenn sie mich schon wieder verkuppeln will, hätte sie eine Frau aussuchen sollen, die bessere Aussichten hat.“

Was für ein Grobian! Ihm würde etwas Anstandsunterricht gut bekommen. Aber natürlich wagte Annabelle nicht, das zu sagen.

Sie knirschte mit den Zähnen und zwang sich zu einem Lächeln. „Anscheinend wissen Sie es nicht, Mylord – ich bin die neue Gouvernante des Herzogs.“

Lord Simons Miene wurde noch finsterer. „Nichts da! Der Junge hat schon einen Hauslehrer … Zum Teufel mit allen!“

Wie zur Strafe für seinen Fluch öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Sturm brach richtig los. Eine kalte Sintflut durchweichte sie beide. Annabelle hob die Arme, um sich zu schützen, aber vergeblich. Durch den Regen sah sie nur noch verschwommen, und sie fror entsetzlich.

„Mistwetter“, murmelte er.

Er legte seinen muskulösen Arm um sie und lotste sie in Richtung Schloss. Annabelle hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, denn ihr durchnässter Rock und der Gegenwind behinderten sie. Plötzlich packte Lord Simon sie wie einen Mehlsack, klemmte sie sich buchstäblich unter den Arm und marschierte schnellen Schrittes durch den Sturm. Die Wärme seines Körpers hüllte sie ein. Instinktiv hielt sie sich an ihm fest und vergrub das Gesicht an seiner Schulter, um dem Regen zu entgehen, denn es goss wie aus Eimern.

Lord Simon trug sie mühelos durch das Unwetter, und sie ließ es geschehen. Ein Teil von ihr war schockiert davon, dass er sie an seinen muskulösen Körper drückte, doch die Notwendigkeit, ins Trockene zu gelangen, gewann die Oberhand über mädchenhafte Züchtigkeit. Er bog um eine Ecke und ging an einer massiven Eisenpforte vorbei. Sie blinzelte die Tropfen weg und bemerkte, dass er auf die Klippen zuging. Das Rauschen der Wellen, die sich an den Felsen brachen, übertönte das Trommeln des Regens. Eine Schrecksekunde lang fürchtete sie, er wolle sie von der Klippe ins Meer werfen, und sie setzte sich heftig zur Wehr. „Nein …!“

Ihm rann das Wasser in Bächen über das Gesicht, und er schnitt eine Grimasse. Seine Lippen bewegten sich, aber was er sagte, wurde vom Geheul des Windes übertönt. Mit der Schulter stieß er eine kleine Holztür in der grauen Steinmauer auf und ging hindurch. Drinnen angekommen, ließ er sie sofort ohne großes Aufheben los.

Annabelle stand tropfnass in dem tunnelartigen Gang. Sie rieb sich schaudernd die Arme, denn jetzt war ihr wieder kalt. Sie hoffte, dass die Düsternis ihr Erröten verbarg. Wie albern von ihr, sich auch nur eine Sekunde einzubilden, dass er einen Mord begehen wollte. Der wilde Sturm hatte wohl ihren Geist verwirrt – ebenso wie das völlig neue Gefühl, von einem Mann gehalten zu werden.

Lord Simon fuhr sich mit den Fingern durch das nasse Haar und warf ihr einen verärgerten Blick zu. Sie war ihm eindeutig lästig, und sie konnte sich auch lebhaft vorstellen, dass sie in ihrem durchweichten Kleid nicht aussah wie eine zuverlässige Gouvernante. Würde er sie wegschicken, sobald der Regen vorbei war?

„M-Mylord“, sagte sie unter Zähneklappern, „wenn – wenn Sie mir erlauben würden, zu erklären, warum ich hier bin …“

„Kommen Sie“, fuhr er sie an.

Seine Stiefel hallten auf den steinernen Fliesen des Bodens wider, als er den Flur entlangging.

Sie blieb beleidigt stehen. Hielt er sie für einen Hund, den er herumkommandieren konnte? Dann meldete sich ihre Vernunft wieder, und sie eilte ihm nach. Er hatte jedes Recht, Befehle zu erteilen, und sie war nur eine Dienerin. Schlimmer noch, sie war nur eine Bewerberin für die Stelle der Gouvernante, denn der Posten, den sie schon für den ihren gehalten hatte, wackelte jetzt gefährlich. Ihre nassen Schuhe quietschten auf dem steinernen Boden. Ihr ganzer Optimismus war verflogen, sie war verwirrt und unsicher. Oh, warum hatte er nichts von ihrer Ankunft gewusst? Lady Milfords Brief musste verloren gegangen sein. Aber das war nicht das einzige Problem. Anscheinend hatte er nicht einmal mitbekommen, dass überhaupt eine Gouvernante engagiert werden sollte. Es stellte sich die Frage, warum die Lady keine Genehmigung vom Vormund des Herzogs eingeholt hatte.

Lord Simon ging eine enge Wendeltreppe hinauf, Annabelle folgte ihm auf den Fersen. Der Regen wurde durch einen Fensterschlitz geblasen. Trotz ihrer Besorgnis sah sie sich interessiert um. Den runden Wänden nach zu urteilen, war dies einer der Türme. Die steinernen Stufen waren nach jahrhundertelanger Nutzung in der Mitte ausgetreten. Sie wollte unbedingt die Geschichte des Schlosses erkunden. Würde sie die Gelegenheit dazu haben?

Ihr zog sich der Magen zusammen. Die Aussicht, weggeschickt zu werden, hing über ihr wie ein Damoklesschwert. Sie konnte nicht in Mrs. Baxters Institut zurückkehren. Diese Brücke hatte sie hinter sich abgebrochen. Und selbst wenn sie ihr früheres Leben wieder aufnehmen könnte, müsste sie ihre Träume an den Nagel hängen. Sie schauderte bei dem Gedanken, als alte Jungfer zu verwelken, eingesperrt im Gefängnis der Schule, nie die Außenwelt kennenzulernen …

Der Mann, in dessen Händen ihr Schicksal lag, schritt vor ihr her. Es ging durch einen langen Korridor, an dessen Wänden staubige alte Gobelins und Schilde hingen. Lord Simon passte mit seinem arroganten Auftreten ausgezeichnet in diese düstere Umgebung. Annabelle stellte ihn sich als Ritter vor, der seine Gegner beim Turnier gnadenlos besiegte und sich danach im Triumph zur Dame seines Herzens begab …

Sie starrte seinen breiten Rücken an. War Lord Simon verheiratet? Sicher nicht. Lady Milford hatte ja gesagt, dass der kleine Herzog keine weiblichen Verwandten hatte, die ihm die Mutter ersetzen konnten. Und mit seinem rüpelhaften Auftreten schreckte Lord Simon sicher alle anständigen Frauen ab. Er war noch grantiger als Mr. Tibbles. Annabelle hielt sich den Mund zu, um ein unangebrachtes Kichern zu unterdrücken. Sie durfte ihren hoffentlich baldigen Brötchengeber nicht mit einem aggressiven Kater vergleichen. Und ihre Lage war auch wirklich nicht zum Lachen, sondern eher zum Weinen.

Er blieb vor einer offenen Tür stehen, warf einen prüfenden Blick auf ihre Brust und sah ihr dann ins Gesicht. „Sie brauchen trockene Sachen. Sie haben wohl keine mitgebracht?“

Sehe ich so aus? Sie verkniff sich die patzige Antwort. „Mein Koffer ist im Gasthof. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu transportieren.“

Lord Simons Miene bewölkte sich noch mehr. „Ich sage der Haushälterin, dass sie etwas für Sie holen soll. Wenn Sie umgezogen sind, kommen Sie sofort in mein Arbeitszimmer.“ Er wandte sich mürrisch ab und stapfte den Flur hinunter.

Annabelle hatte schon den Mund geöffnet, um ihn daran zu erinnern, dass sie sich in dem Schloss nicht auskannte. Aber vielleicht war es besser, wenn sie den Mund hielt. Ihn nach etwas zu fragen, und sei es nur eine Richtung, würde ihn nur in dem Glauben bestärken, sie sei schwach und dumm – und somit ungeeignet, einen Herzog zu erziehen.

Annabelle schauderte. Ihr Frösteln hatte mehr mit ihrer ungewissen Zukunft zu tun als mit ihrem durchnässten Kleid. Sie würde – durfte – sich nicht von seiner Frauenfeindlichkeit einschüchtern lassen. Irgendwie musste sie sich bei Lord Simon Westbury unentbehrlich machen.