Kapitel 1
„Sie werden nicht glauben, was ich für Neuigkeiten habe“, begrüßte Lady Farnsworth ihre Freundin, die gerade den Hutladen betreten hatte. „Der Duke of Carlin hat schon wieder eine Gouvernante verloren.“
Mrs Ludington schnappte nach Luft. „Aber sie war doch kaum eine Woche bei ihm angestellt.“
„Vier Tage. Meine Cousine wohnt in der Nähe Seiner Gnaden am Grosvenor Square, müssen Sie wissen. Heute Morgen hat ihr Dienstmädchen gesehen, wie die Frau mit einem Reisekoffer in der Hand das Carlin House verließ.“
Tessa James, die hinter der Ladentheke stand, lauschte ungeniert jedem Wort. Sie hielt Nadel und Garn zwischen Daumen und Zeigefinger, während sie den Hals reckte, um an einer Reihe von Hüten vorbeizuspähen. Beide Damen waren Stammkundinnen des Geschäfts. Während sie plauderten, betrachtete Lady Farnsworth ihr Spiegelbild und Mrs Ludington probierte einen rostfarbenen, krempenlosen Hut über ihren graumelierten Locken an.
Tessa kannte die Frauen nur vom Sehen, da Madame Blanchet niemandem außer sich selbst zutraute, ihre aristokratischen Kundinnen zu bedienen. Die Ladenbesitzerin hielt sich stets in der Nähe der Damen auf, machte Vorschläge und pries überschwänglich deren Modegeschmack. Zwischen den farbenfrohen Hauben in der Auslage wirkte Madame Blanchet in ihrem strengen schwarzen Kleid wie ein Rabe, der in einem Garten voller Frühlingsblumen gelandet war.
„Dieser Chapeau ist très magnifique“, sagte sie und ermutigte Lady Farnsworth, einen anderen Hut anzuprobieren.
Tessa unterdrückte den Drang, hinter dem Tresen hervorzutreten und der Dame ein besser passendes Modell zu empfehlen, da der üppige Strauß aus gelb gefärbten Straußenfedern deren pummelige Gesichtszüge blass wirken ließ. Wenn es ihr Geschäft wäre, würde sie mit Takt und Diplomatie dafür sorgen, dass jede Dame, die es wieder verließ, auch bestens aussah.
Aber sie war nicht die Inhaberin. Ihr fehlten die Mittel, um ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Zumindest noch.
Vor ein paar Minuten war sie hierher gerufen worden, um eine kleine Änderung vorzunehmen. Es war eine willkommene Abwechslung vom engen Arbeitsraum, in dem sie und zwei weitere Angestellte von früh bis spät arbeiteten. Jeder Hut erforderte von Anfang bis Ende stundenlange Arbeit: das Formen der Basis aus Steifleinen, das Zusammenfügen mit Draht und Krinolinenband, das Einlegen des Futters und das Aufbringen von Besätzen.
In den letzten acht Jahren hatte Tessa alle Fertigkeiten des Handwerks gemeistert. Sie hatte auch ein Notizbuch mit eigenen Skizzen gefüllt, obwohl es eine andere Sache war, diese Hüte tatsächlich herstellen zu dürfen. Die Madame bevorzugte verzierte Monstrositäten, die mit Bändern und Spitze, Federn und Vögeln, Seidenblumen und Pappmaché-Früchten geschmückt waren. Folglich wurde das Geschäft vor allem von älteren Damen aufgesucht, in deren Jugend aufwändige Puderperücken üblich gewesen waren.
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die aktuelle Mode war eher von eleganten und schlichten Formen geprägt – ein Geschmack, den Tessa teilte. Vor ein paar Tagen hatte sie endlich eine Haube nach einem ihrer Entwürfe anfertigen dürfen. Wie stolz sie gewesen war, als sie sie gestern ausgestellt hatte. Und wie bestürzt sie war, als sie erfahren hatte, dass …
Ein Kribbeln im Nacken machte sie darauf aufmerksam, dass Madame Blanchets scharfe schwarze Augen von der anderen Seite des Ladens streng auf sie gerichtet waren. Die Schmeicheleien für ihre Kundinnen erstreckten sich nicht auf das Personal. Tessa war sich sicher, dass Wellington selbst kein strengerer General sein könnte als die Madame.
Um fleißig zu wirken, stach sie mit der Nadel in die steife Einlage der Haube. So gern sie der Madame auch ihre Meinung gesagt hätte, konnte Tessa es sich nicht leisten, ihre Stelle zu verlieren. Sie verdiente ohnehin schon wenig. Jeder Penny, den sie sparen konnte, landete in der Blechdose, die unter einer losen Diele in ihrer winzigen Wohnung versteckt war. Jeder Penny brachte sie dem Traum, eines Tages selbst eine Ladenbesitzerin zu sein, einen Schritt näher.
Im Moment musste sie die Zähne zusammenbeißen und auf Geheiß ihrer Arbeitgeberin diese Haube umändern, die Tessa selbst entworfen hatte. Sie war mit einer breiten Strohkrempe sowie mit einem zarten himmelblauen Satinbüschel am Scheitel versehen. Das passende Hutband, das in einem Zickzack-Muster in das Grundmaterial eingearbeitet war, wurde durch eine zierliche Satinrosette fixiert. Sie hatte eigentlich beabsichtigt, dass dieses stilvolle Accessoire die Gesichtszüge einer hübschen jungen Dame umrahmen sollte.
Stattdessen hatte Lady Farnsworth mit ihren multiplen Kinnfalten die Haube bewundernd ins Auge gefasst. Die Dame hatte dann darauf bestanden, ihre Eleganz mit drei riesigen Sträußen aus rosa Rosenknospen zu ruinieren, und Madame hatte sich unterwürfig gefügt. Mit einem Schlag war die Haube von einem Kunstwerk zu einer weiteren übertriebenen Scheußlichkeit geworden. Tessas einziger Trost war, dass sie dem Gespräch lauschen konnte, während sie halbherzig die Seidenblumen annähte.
„Carlin verschreckt seine Gouvernanten offenbar“, sagte Mrs Ludington. „Es ist sicher unausweichlich, dass ein Mann, der so viele Jahre um die Welt in entlegene Länder gesegelt ist, dabei die Feinheiten des guten Benehmens verlernt hat. Weiß der Himmel, welch seltsame Bräuche er sich dabei angeeignet haben könnte.“
„Unsinn, der Duke wurde als Gentleman erzogen, auch wenn er nie damit rechnete, den Titel zu erben.“ Lady Farnsworth probierte eine andere Haube auf, eine aus burgunderrotem Samt, die mit einer ausgestopften Wachtel und künstlichem Herbstlaub verziert war. „Als Witwer ist er Londons begehrtester Junggeselle. Und man kann nicht leugnen, dass er neulich auf dem Ball der Sedgwicks eine gute Figur gemacht hat, als er mit mehreren der jungen Damen tanzte.“
„Aber es muss einen Grund für den hohen Verschleiß geben.“ Mrs Ludington senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Glauben Sie, dass er den Gouvernanten unangemessene Avancen macht?“
„Diesen alten, ausgedörrten Jungfern? Nein, ich glaube, es liegt daran, dass seine Tochter während Carlins Abwesenheit ungebändigt herumtobt. Gerüchten zufolge terrorisiert Lady Sophy den gesamten Haushalt des Dukes. Ihre Großeltern mütterlicherseits haben sie erzogen und jeder weiß, wie geistlos die Norwoods sind.“
„Nun, das Mädchen sollte inzwischen gelernt haben, sich angemessen zu benehmen. Wenn sie mit vier Jahren immer noch so verzogen ist, muss das augenblicklich im Keim erstickt werden.“
„Carlin braucht eine Frau, die die Dinge in die Hand nimmt“, stimmte Lady Farnsworth zu. „Meine Enkelin wird im Frühjahr ihr Debüt geben und es wäre eine ausgezeichnete Partie für sie, wenn sie das Diadem einer Duchess erlangen könnte.“
„Hoffen wir, dass sich Lady Sophys Manieren in der Zwischenzeit verbessern.“ Mrs Ludington hielt einen goldgesäumten lila Turban ins Sonnenlicht. „Das ungezogene Kind braucht Disziplin, und zwar schnell. Durchlaucht muss sich jemanden mit mehr Durchsetzungsfähigkeit suchen, wenn er eine neue Gouvernante einstellt.“
Tessas Finger hielten mitten in der Bewegung inne, während sie gerade einen Faden festknoten wollte. Ihr Herz machte einen überraschenden Satz. Der Gedanke, der ihr in den Sinn kam, war völlig verrückt. Sie musste übergeschnappt sein, um eine solche Idee überhaupt in Betracht zu ziehen. Doch die letzten Worte des Gesprächs durchfuhren sie wie ein Blitz.
Eine neue Gouvernante.
Der Duke of Carlin war auf sich allein gestellt. Er brauchte kurzfristig jemanden, der mit seiner ungehorsamen Tochter fertig wurde. Vielleicht konnte Tessa selbst diese Person sein.
Das Leben im Haushalt eines Dukes würde ihr eine Position mitten in der Welt des Adels bescheren. Und es wäre ein deutlich schnellerer Weg, um die Mittel für die Eröffnung eines eigenen Geschäfts zu beschaffen. Zum Teil wegen des höheren Gehalts, aber auch, weil sie so endlich ihren Vater finden könnte.
Den Mann, dessen Name ihr immer ein Rätsel geblieben war.
Sie berührte die Stelle, an der sich das zierliche Oval ihres goldenen Medaillons unter dem grauen Stoff ihres schlichten Kleides verbarg. Es war ihr wertvollster Besitz. Sie hatte es in den sechzehn Jahren nie abgenommen, seit ihre Mutter es Tessa mit letzter Kraft um den Hals gehängt hatte. Ihre Finger fuhren über das kleine Medaillon, dessen eingraviertes Bild sie schon unzählige Male betrachtet hatte. Das Wappen war ohne Zweifel das einer Adelsfamilie – der Familie ihres Vaters.
Doch wer war er? Da sie die meiste Zeit ihrer Tage damit verbrachte, hier zu arbeiten, hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, die Antwort auf diese Frage zu finden. Tessa wagte es auch nicht, jemanden zu fragen. Wenn sie es einer der adeligen Kundinnen dieses Geschäftes zeigte, würde man sie vielleicht beschuldigen, den Anhänger gestohlen zu haben.
Als Gouvernante konnte sie jedoch nach dem Wappen Ausschau halten. Irgendwo würde sie es vielleicht an einer Kutschentür oder eingemeißelt in den Türsturz eines Hauses sehen. Sobald sie einen Namen dazu hatte, könnte sie ihren Vater zur Rede stellen und ihn davon überzeugen, ihr einen Kredit zu gewähren.
Doch ihr gesunder Menschenverstand lieferte ihr schnell ein Gegenargument. Was wusste sie schon davon, Gouvernante zu sein? So gut wie nichts! Im Gegensatz zu ihr waren diese Ladys, die in vornehmen Familien aufgewachsen waren. Manchmal hatte sie an ihren freien Nachmittagen beim Schaufensterbummel solche schlicht gekleideten Frauen im vornehmen Stadtteil Mayfair gesehen, wie sie unter strengen Blicken ihre Schützlinge durch die Straßen führten.
Sie konnte nicht ernsthaft glauben, eine von ihnen zu werden.
Gouvernanten hatten die Aufgabe, Kinder aus der Oberschicht zu unterrichten, und Tessas Schulbildung war bestenfalls lückenhaft. Sie hatte sich selbst das Lesen beigebracht, indem sie Modemagazine durchblätterte. Von dort aus war sie zu Zeitungen, Theaterzetteln und Groschenromanen übergegangen, die sie aus dem Mülleimer hinter dem Gebrauchtwarenladen gerettet hatte. Sie ging sonntags in die Kirche, unter anderem, um das Gesangsbuch zu lesen.
Sie wusste jedoch wenig über Literatur, Geografie oder Geschichte. Fremdsprachen wie Französisch und Italienisch klangen für sie wie Kauderwelsch. Und mussten nicht alle jungen Damen Musikunterricht nehmen? Da Tessa selbst keine dieser Fähigkeiten besaß, würde man sie sofort als Betrügerin entlarven.
Aber mit vier Jahren würde man von Lady Sophy sicherlich nicht erwarten, dass sie mehr als ein paar einfache Kinderlieder kannte. Das Mädchen würde gerade erst Buchstaben und Zahlen lernen. Tessas Beruf hatte sie durch Zählen und Messen zu einer Expertin für grundlegende Rechenarten gemacht. Selbst Lady Sophys schwieriges Verhalten dürfte kein Problem darstellen. Schließlich war Tessa in einem Waisenhaus aufgewachsen und war mit der Aufgabe betraut worden, sich um die jüngeren Mädchen zu kümmern. Also hatte sie einige Erfahrung im Umgang mit solchen Wildfängen.
Und es war nicht zu leugnen, dass die Stelle als Gouvernante sie der Erfüllung ihres größten Traums einen Schritt näher bringen könnte. Nächstes Jahr um diese Zeit wäre sie vielleicht schon Inhaberin ihres eigenen Hutgeschäftes.
Tessa verfiel ihrer Lieblingsfantasie. Sie würde ein Ladenlokal in der Bond Street anmieten, eines mit einem großen Erkerfenster, das perfekt wäre, um ihre Kreationen in Szene zu setzen. Die modebewussten Kundinnen würden ihre Entwürfe lieben – die Sorte Damen, die mehr Stilbewusstsein besaßen als die beiden alternden Matronen, die hier gerade durch die Hauben und Hüte stöberten. Wie sollte sie ihr Geschäft nennen? Vielleicht Millinery by Miss James. Ein Name so elegant und schlicht wie die Ware, die …
„Hör auf, die feinen Herrschaften so zu begaffen!“
Die zischende Stimme schreckte Tessa derart auf, dass sie sich mit der Nadel in den Finger stach. Sie zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt, dass ihre Arbeitgeberin sie von der anderen Seite der Theke aus anfunkelte. Madame Blanchets französischer Akzent wurde außerhalb der Hörweite ihrer Kundinnen von dem der Londoner Arbeiterklasse verdrängt. Sie wussten nicht, dass sie als einfache Polly Brewster im Schatten der Kirche St Mary-le-Bow geboren worden war.
„Ich bezahle dich nicht fürs Herumsitzen“, fuhr die Madame in dem rauen Flüsterton fort. „Sind die Rosenknospen immer noch nicht angenäht?“
Tessa beeilte sich, die Fäden zu verknoten und die Enden mit der Schere abzuschneiden, die am Bund ihrer Schürze baumelte. „Doch, Madame.“
Die Ladenbesitzerin nahm ihr die Haube ab und begutachtete die Arbeit kritisch. Ihre Nasenflügel blähten sich und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Tollpatsch. Da ist Blut am Rand.“
Tessa beugte sich näher vor und sah bestürzt einen roten Punkt auf der Krempe. Es muss gerade eben passiert sein, als sie sich mit der Nadel in den Finger gestochen hatte. „Ich nehme an, ein kurzes Abwaschen mit Seife und Wasser …“
„Egal, sie ist ruiniert. Ich hätte mich sowieso nie dazu überreden lassen sollen, so ein langweiliges Stück anfertigen zu lassen. Dein ach so feines Teil.“ Spöttisch ließ Madame Blanchet die Haube auf die Theke fallen. „Da ich den Schaden nicht verursacht habe, werden die Kosten von deinem Lohn abgezogen.“
„Aber … das ist ein monatelanger Lohnausfall!“
„Das wird dir eine Lehre sein. Und jetzt zurück in die Werkstatt!“
Tessa stand wie gelähmt da, als sich ihre Arbeitgeberin abwandte. Wie sollte sie die Miete bezahlen, die am Ende der Woche fällig war? Ganz zu schweigen von den Lebensmitteln und einer Reihe anderer Ausgaben. Sie hatte nur noch den Stummel einer Talgkerze und ein Stück Seife. In ihrer Nachbarschaft ließen die Händler Lohnarbeiterinnen wie sie nur selten anschreiben. Sie würde auf ihre sorgfältig gehüteten Ersparnisse zurückgreifen müssen …
„Nein, das werde ich nicht!“
Tessa merkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als die Madame herumwirbelte und sie mit einem Blick so finster wie der schlimmste Herbststurm anfunkelte. Ungläubigkeit schimmerte in ihren glühenden Augen, denn sie war es nicht gewohnt, Widerworte von ihren Angestellten zu erhalten. „Was?“
Ihr Herz pochte, Tessa spürte die Angst und die Erregung, als würde sie an den Rand einer Klippe treten. All die Jahre, in denen sie sich ihre Bemerkungen verkniffen hatte, wurden plötzlich unerträglich. Sie hatte es satt, zu schweigen. „Sie haben mich gehört“, sagte sie bestimmt. „Ich kündige.“
***
Ein Klopfen an der Tür hallte durch die Wohnung.
Das kleine Zimmer könnte man treffender als Abstellkammer bezeichnen, aber es war Tessas Zuhause. Da sie in einem überfüllten Schlafsaal aufgewachsen war, schätzte sie es sehr, einen Raum ganz für sich allein zu haben. Er war gerade groß genug für ein einzelnes Bettgestell aus Eisen, einen wackeligen Tisch und Stuhl und eine ramponierte Kommode, auf der ein kleiner Spirituskocher stand, mit der sie sich Teewasser kochen konnte. Das einzige Fenster bot eine Aussicht auf eine Backsteinmauer. Sie hatte das trostlose Zimmer mit einem bunten Flickenteppich auf dem Boden und einigen ihrer Hutzeichnungen, die sie an der sich abschälenden Tapete befestigt hatte, etwas verschönert.
Eigentlich war sie gerade damit beschäftigt, eben diese inspirierenden Skizzen abzuhängen, doch als es erneut klopfte, hielt sie inne. Es kam selten vor, dass sie mitten am Tag zu Hause war. Allein aus diesem Grund sollte sie vorsichtig sein, die Tür zu öffnen. Obwohl die meisten Bewohner der Pension fleißige Leute wie sie selbst waren, gab es in der Nachbarschaft auch eine Reihe von Landstreichern und Taugenichtsen.
Aber sie erkannte das Muster. Zwei Mal klopfen, eine Pause, dann noch ein Klopfen. Tessa wusste kaum, ob sie sich über die Unterbrechung beim Packen freuen oder ärgern sollte.
Sie drückte den Stapel Papiere an ihre Brust und beeilte sich, die Tür zu öffnen. „Orrin! Warum bist du nicht bei der Arbeit?“
Ein drahtiger junger Mann in einem braunen Cordanzug betrat den Raum. Orrin Nesbitt nahm seine flache Schirmmütze ab und enthüllte eine Mähne rostroter Haare. Obwohl er mit Mitte zwanzig etwas älter war als sie, hatte er ein rundes, sommersprossiges Gesicht, das ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Sie hatten sich über das vergangene Jahr angefreundet, seit er in eine der Wohnungen im Erdgeschoss gezogen war. Da er als Schriftsetzer für eine Boulevardzeitung arbeitete, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr die Tageszeitung mitzubringen.
Er hielt eine unter dem Arm, machte aber keine Anstalten, sie ihr zu übergeben. „War heute früher mit der Zeitung fertig und bin zum Laden gegangen. Sukie meinte, du bist abgehauen und hast die alte Blanchett ganz schön aus der Fassung gebracht.“
Tessa bedauerte, ihre Kolleginnen im Stich lassen zu müssen. „Arme Sukie und Nell. Ich hoffe, die Madame hat ihren Zorn nicht an ihnen ausgelassen.“
„Keine Ahnung. Ich bin sofort wieder los und hierhergekommen.“ Orrins haselnussbraune Augen musterten sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Neugier. „Verdammt noch mal, Tess, was ist denn passiert? Erzähl mir nicht, dass du einfach so gekündigt hast!“
Ihr Magen verkrampfte sich. Zum hundertsten Mal, seit sie den Hutladen verlassen hatte, stellte sie ihre impulsive Entscheidung infrage. Was hatte sie getan? Was, wenn sie die Stelle als Gouvernante gar nicht bekam? Was, wenn der Duke of Carlin ihren Schwindel durchschaute? Schlimmer noch: Was, wenn sie nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde? Der Duke lebte in einer prächtigen Villa in Mayfair, die zweifellos von einer kleinen Armee hochnäsiger Bediensteter bewacht wurde. Wenn man ihr den Zutritt verweigerte, wie sollte sie dann ihren Lebensunterhalt bestreiten? Feste Arbeit war schwer zu finden und es könnte Wochen dauern, bis sie eine neue Anstellung bekam.
Ein ängstlicher Teil von ihr war versucht, zurückzukriechen und die Madame um Verzeihung zu bitten. Die Frau mochte eine Tyrannin sein, aber zumindest hatte sie Tessa als vierzehnjährige Ausreißerin eingestellt und ihr die Kunst des Hutmachens beigebracht.
Nein, sie durfte ihre Entscheidung nicht bereuen! Sie konnte nicht in einer Position bleiben, die ihre Kreativität erstickte und kaum Aufstiegschancen bot. Ihre Zukunftsträume standen auf dem Spiel.
Sie begegnete Orrins Blick. „Ja, es stimmt. Ich habe gekündigt und werde nicht zurückgehen.“
„Was hat dir die alte Schachtel angetan?“ Er schlug wütend mit seiner braunen Filzkappe in die Luft. „Ich sollte dieser Harpyie mal gehörig die Meinung sagen!“
„Das darfst du nicht. Es war nicht ihre Schuld, zumindest nicht ganz.“
„Du willst also gehen?“ Er warf einen Blick an Tessa vorbei auf die Spuren ihres Packens, den kleinen Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten. „Ohne mir etwas davon zu sagen?“
Seine niedergeschlagene Miene und seine treuherzigen Augen erfüllten sie mit Bedauern. In ihrer Eile, ihre Sachen zu holen, bevor sie zum Grosvenor Square ging, hatte sie keinen Gedanken an Orrin verschwendet. Er verdiente eine Erklärung.
„Ich habe mich erst heute dazu entschieden“, sagte sie. „Aber ich hätte dir natürlich eine Nachricht hinterlassen. Heute Morgen habe ich zufällig mitbekommen, wie zwei Damen über einen Lord sprachen, der eine Gouvernante für seine kleine Tochter sucht. Ich habe vor, mich auf die Stelle zu bewerben.“
Orrin brach in schallendes Gelächter aus. „Was, du? Eine Gouvernante? Bist du verrückt?“
„Im Waisenhaus habe ich auf die Kleinen aufgepasst. Ich habe also viel Übung im Umgang mit Kindern.“
Er wurde schnell wieder ernst. „Ich wollte nicht andeuten, dass du schlecht darin wärst. Du bist schlau wie eine Füchsin und redest viel feiner als ich.“
„Ich habe den Kundinnen der Madame immer sehr genau zugehört, um mich auf die Eröffnung meines eigenen Geschäfts vorzubereiten. Und vergiss nicht, dass meine Mutter eine Zeit lang als Kammerzofe gearbeitet hat. Sie hat gelernt, ihre Arbeitgeberin nachzuahmen, und dann hat sie es mir beigebracht.“
Zumindest bis Tessa sechs Jahre alt war. Alles, was ihr blieb, waren Erinnerungsfetzen. Mamas klare Stimme, die ihr vor dem Schlafengehen etwas vorsang. In einer kalten Nacht von mütterlicher Wärme umschmeichelt zu werden. Mit Garnrollen zu spielen, während Mama von früh bis spät nähte, um für Essen und Unterkunft zu sorgen.
Die lebhafteste Erinnerung von allen war die letzte. Sie überquerten gerade die Straße, um ein Paket mit fertigen Hemden auszuliefern, als Tessa das Klappern von Hufschlägen und das Rattern von Rädern hörte. Wie aus dem Nichts kam eine Kutsche mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf sie zu. Mama stieß Tessa weg, sodass sie in den Rinnstein fiel. Ihre Zähne krachten bei dem Sturz schmerzhaft aufeinander, aber das war nicht das Schlimmste. Es war Mamas Anblick, die völlig regungslos und blutüberströmt auf dem Kopfsteinpflaster lag. Als Tessa sich neben sie kauerte und schrie, schlug Mama die Augen auf. Ihre Hand tastete nach ihrem Anhänger und sie legte die filigrane Goldkette um Tessas Kopf. „Versteck sie … finde ihn … Vater … Pein …“
Diese abgehackten Worte waren Mamas letzte Äußerung gewesen. Vor allem Pein hatte Tessa das Herz zerrissen. Aber die wahre Bedeutung des Restes wurde ihr erst viel später klar, als sie als Angestellte in der Hutmacherei bemerkte, dass Damen oft in edlen Kutschen mit einem Rautenmuster an der Tür vorfuhren, das der Gravur auf dem Anhänger ähnelte. Da kam ihr der Gedanke, dass das, was sie nur für eine hübsche Verzierung gehalten hatte, tatsächlich dazu dienen könnte, den Mann zu identifizieren, der ihr Vater war.
„Er ist es, oder?“
Orrins scharfer Tonfall erschreckte sie ebenso wie die Neugier in seinen Augen. „Wer?“, fragte sie.
„Dieser Lord, den du treffen wirst, ist er dein Vater? Derjenige, der deine Mutter benutzt und dann rausgeschmissen hat? Hast du ihn gefunden?“
Sie hatte Orrin die Geschichte über ihre Herkunft erzählt, obwohl sie ihm das Medaillon nie gezeigt hatte. Sie hatte sich angewöhnt, es unter ihrem Kleid zu verstecken, und das schon als Kind im Waisenhaus, wo man selbst eine Brotkruste vor Diebstahl schützen musste. „Nein, ist er nicht. Es ist der Duke of Carlin, der eine neue Gouvernante braucht.“
„Ein Duke, wirklich? Die vornehmste Sorte aller Snobs.“ Orrins Mundwinkel verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Seine revolutionären Überzeugungen sorgten dafür, dass er die Aristokratie nicht gerade schätzte. „Verdammt noch mal, Tess, du machst keine halben Sachen.“
„Das ist eine einmalige Chance. Mit so einer Gehaltserhöhung könnte ich meinen Laden viel schneller eröffnen.“
„Jedenfalls, wenn du diesen Duke hinters Licht führen kannst. Er wird eine blaublütige Lady erwarten. Und er wird nach deinen familiären Wurzeln fragen. Du kannst ihm ja schlecht sagen, dass du eine Hutmacherin aus dem East End bist.“
Tessa hatte genau über dieses Problem nachgedacht. Das Wenige, das sie über Aristokraten wusste, hatte sie durch Beobachtung gelernt, sowohl bei der Arbeit als auch beim Schaufensterbummel auf der Bond Street an ihren freien Nachmittagen. Aber wenn sie sich von Orrin davon abbringen ließ, würde sie mit Sicherheit nie Erfolg haben. „Mir wird schon etwas einfallen. Jetzt muss ich mich aber auf den Weg machen, damit der Duke nicht jemand anderen einstellt.“
Die Sorge, dass er bereits Vorstellungsgespräche führen könnte, beschleunigte ihr Packen. Sie legte einen Stapel Hutschablonen zu den Kleidungsstücken in den offenen Koffer und hob dann eine lose Bodendiele an, um die Blechdose mit ihren Ersparnissen herauszuholen. Das Gewicht der Münzen in ihren Händen fühlte sich gut an, auch wenn ihr Wert weit hinter der riesigen Summe zurückblieb, die sie benötigte.
Nachdem sie ein paar Pennys in ihr Retikül gesteckt und den Rest im Koffer versteckt hatte, richtete sie sich auf und bemerkte, dass Orrin sie mit gerunzelter Stirn ansah. „Schade, dass du den Namen deines Vaters nicht kennst“, sagte er mit unverändertem Tonfall. „Er schwimmt sicher in Geld. Der Drecksack schuldet dir was.“
Orrin war nah dran, ihre wahren Absichten zu erraten. Zu nah. Sollte sie ihm von ihrem geheimen Plan, den Mann zu finden, erzählen? Doch ihre schmerzlich gelernte Vorsicht ließ sie zögern, das Medaillon zu enthüllen.
„Aber ich kenne seine Identität nicht“, sagte sie. „Womit jeder weitere Gedanke daran überflüssig ist.“
Sie wandte sich ab, um sich die Haube mit Strohkrempe aufzusetzen, die die Madame abgelehnt hatte. Tessa hatte es für gerechtfertigt gehalten, diese anstelle ihres Monatsgehalts mitzunehmen. Den winzigen Fleck auf der Krempe hatte sie mit vorsichtigem Reiben beseitigt. Sie verknotete die himmelblauen Bänder unter ihrem Kinn und warf einen Blick in den kleinen quadratischen Spiegel auf dem Tisch. Wie hübsch die Haube jetzt aussah, nachdem sie die kitschigen Rosenknospen entfernt hatte, wie elegant und selbstbewusst sie sie fühlen ließ.
Aber war sie nicht zu fein?
Lady Farnsworth hatte die anderen Gouvernanten als ausgedörrte alte Jungfern beschrieben. Solche Frauen trugen meist hässliche runde Hauben, die Tessas Sinn für Mode beleidigten. Alles an ihr sehnte sich danach, die stilvolle Haube zu tragen, sodass sie sich einredete, dass der Rest ihres Aussehens nicht im Geringsten auffallen würde. Sie war von kleiner Statur, hatte blaue Augen, gewöhnliche Gesichtszüge, und unter der Krempe war ein Hauch von ihrem hellen Haar zu sehen. Sie hatte ihr zweitbestes Kleid angezogen, ein hochgeschlossenes aus dunkelblauem Musselin, das sie nüchtern und buchstäblich wie eine Gouvernante aussehen ließ.
„Wie hieß deine Mutter?“, fragte Orrin unvermittelt.
„Florence.“ Sie zog an ihrem einzigen Paar Handschuhe, dessen Fingerkuppen bis auf die letzten Fäden abgenutzt waren. „Warum willst du das wissen?“
„Weil ich es nicht mag, dass du für diesen Duke arbeitest. Diese adeligen Schnösel sind Lüstlinge. Wenn einer deiner Mutter nachstellte, kann dir dasselbe passieren.“
Unruhe nagte an ihr. Aber Lady Farnsworth hatte die Vorstellung, dass der Duke of Carlin seine Gouvernanten auf diese Weise missbrauchte, abgetan. Sie hatte nur gesagt, dass die kleine Lady Sophy von ihren Großeltern verwöhnt worden war, während der Duke außer Landes gewesen war. Was hatte Mrs Ludington noch gesagt?
Es ist sicher unausweichlich, dass ein Mann, der so viele Jahre um die Welt in entlegene Länder gesegelt ist, dabei die Feinheiten des guten Benehmens verlernt hat. Weiß der Himmel, welch seltsame Bräuche er sich dabei angeeignet haben könnte.
Tessa verspürte ein Kribbeln der Neugier, als ihr natürlicher Optimismus in den Vordergrund trat. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sukie hat mir gezeigt, wie ich mit meinem Knie einen Mann dort treffen kann, wo es ihm am meisten wehtut.“
Orrin zuckte leicht zusammen. „Ich mag den Gedanken trotzdem nicht. Wenn du Geld brauchst, kann ich deinen Vater ausfindig machen und dann damit drohen, in einem Zeitungsartikel seine Sünden offenzulegen, wenn er dir nicht eine ansehnliche Summe zahlt.“
„Verdammt, Orrin, das ist Erpressung! Ich will nicht, dass du meinetwegen in Newgate landest.“ Tessa hatte nicht vor, kriminelle Methoden anzuwenden, um ihren Vater zur Kooperation zu bewegen. Falls sie es überhaupt schaffte, ihn zu identifizieren. Aus Neugier fügte sie hinzu: „Wie würdest du überhaupt nach ihm suchen?“
„Indem man in allen großen Häusern nachfragt. Einer der Bediensteten erinnert sich vielleicht an ein Dienstmädchen namens Florence James.“
„Das ist über zwanzig Jahre her. Höchstwahrscheinlich würden sie dich auf der Stelle rausgeworfen.“
„Ach was, ich habe ein Näschen dafür, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“ Orrin tippte sich an seine sommersprossige Nase. „Sieh nur, wie schnell ich herausgefunden habe, wer Mrs Beasleys Köter geklaut hat.“
„Es war wirklich sehr geschickt, wie du diesen Hundediebstahlring aufgedeckt hast.“
„Außerdem wurde die Geschichte abgedruckt. Ich habe dir eine Ausgabe mitgebracht.“ Strahlend nahm er die Zeitung unter seinem Arm hervor, blätterte zur letzten Seite und zeigte mit einem tintenbefleckten Finger auf einen kleinen Artikel weiter unten. „Siehst du? Mein erster veröffentlichter Artikel.“
Tessa überflog die wenigen Zeilen und bemerkte, dass bei der reißerischen Schlagzeile kein Autor genannt war. „Orrin, das ist wunderbar. Herzlichen Glückwunsch!“
„Noch keine Urhebernennung, aber ich hoffe, dass ich bald eine haben werde. Alles, was ich brauche, ist eine große Geschichte. Vielleicht kannst du ja die Augen für mich offen halten, oder? Es gibt sicher viele Lords wie deinen Vater, die bis über beide Ohren in Skandale verwickelt sind.“ Er sah sie verträumt an. „Ich werde nicht immer nur ein einfacher Schriftsetzer sein, weißt du. Sobald ich zum Reporter befördert werde, kann ich für Frau und Kinder sorgen.“
Tessa verspürte kurz den Wunsch nach einer eigenen Familie. Seit sie ihre Mutter verloren hatte, meldete sich gelegentlich eine stechende Einsamkeit, das Verlangen, jemanden zu lieben. Dennoch hatte sie kein dringendes Verlangen, Orrin zu heiraten – oder irgendeinen anderen Mann, was das betraf. Einem Ehemann verpflichtet zu sein, würde ihren Traum, ein Hutgeschäft zu eröffnen, zunichtemachen. Vielleicht zögerte sie deshalb so sehr, ihn um Hilfe zu bitten. Sie wollte sich nicht verpflichtet fühlen, wenn sie sein Angebot annahm.
„Das ist ein schönes Ziel“, sagte sie und lächelte, um ihre Ablehnung abzumildern. „Aber du darfst nicht erwarten, dass ich Klatsch und Tratsch über meinen Arbeitgeber verbreite. Jetzt muss ich mich wirklich auf den Weg machen.“
Orrin erklärte sich bereit, Tessas Koffer aufzubewahren, bis sie ihn abholen konnte. Als sie ihn nach unten in seine Wohnung trugen, ignorierte sie seinen missbilligenden Blick. Sie konnte kein weiteres Wort seiner Schwarzmalerei ertragen.
Vor allem, da sie bereits ein Nervenbündel war.
Kapitel 2
Guy Whitby, der 7. Duke of Carlin, saß an seinem Schreibtisch und versuchte, sich auf den von seinem Verwalter weitergeleiteten Packen von Papieren zu konzentrieren. Sein unruhiger Geisteszustand wurde nicht dadurch gemildert, dass er sich in dem Arbeitszimmer, das einst seinem Großvater gehört hatte, wie ein Eindringling fühlte.
Der weite Raum war mit vergoldeten Zierleisten und grünen Seidendamastvorhängen ausgestattet und in den deckenhohen Bücherregalen standen Büsten von Dichtern und Philosophen. Er hatte einige gerahmte botanische Zeichnungen von seinen Reisen aufgehängt, aber der Ort fühlte sich immer noch nicht ganz wie sein eigener an. Jedes Möbelstück war überdimensioniert und einzigartig gestaltet, um die gehobene Stellung seines Besitzers zu demonstrieren. Sogar der massive Schreibtisch ruhte auf den ausgestreckten Flügeln eines geschnitzten Adlers, eine Hommage an das Familienwappen der Carlins.
Auf der polierten Mahagoni-Oberfläche vor ihm lagen Vorschläge zur Verbesserung der Entwässerung auf der Westweide, zum Kauf eines neuen Bullen für die Milchkuhherde, zur Erneuerung der Dächer der Cottages der Landpächter und eine Vielzahl anderer Angelegenheiten im Zusammenhang mit seinem Familiensitz in Derbyshire.
Guy verzog das Gesicht. Wie naiv von ihm, sich vorzustellen, er könne den Nachmittag der Arbeit an dem Buch über seine vierjährige Weltreise widmen, das er noch zu veröffentlichen hoffte. Seit seiner Rückkehr war er von einem endlosen Strom von Rechtsdokumenten, Investitionsübersichten und detaillierten Berichten über die verschiedenen Anwesen, die er geerbt hatte, überflutet worden – und alle waren mit Problemen verbunden, die fundierte Entscheidungen erforderten. Zu allem Übel hatten die hohen Steuern aufgrund des jüngsten Krieges das Vermögen aufgezehrt, seine Aktienbestände waren vernachlässigt worden und er würde bald seinen Sitz im Oberhaus antreten müssen, obwohl ihn Politik einen Dreck interessierte.
Das alles konnte einen Mann in den Wahnsinn treiben.
Er warf einen Blick auf seinen Sekretär, der sich Notizen auf einem Blatt cremefarbenen Papiers machte. „Snodgrass will sogar eine Erlaubnis, um die verdammten Schafe gegen Parasiten zu behandeln. Ich verstehe nicht, warum zum Teufel ich ihn bezahle, wenn er für alles meine Zustimmung einholen muss.“
„Die herzoglichen Besitztümer sind seit dem Tod des sechsten Dukes vor einem Jahr herrenlos“, erwiderte Banfield. „Natürlich gibt es da einen Rückstau an Problemen. Ihr Großvater sah es als seine Pflicht an, alle Ausgaben abzusegnen.“
Guy erkannte in dem respektvollen Tonfall einen leisen Vorwurf, obwohl sich in der gelassenen Art des Sekretärs kein Hinweis darauf zeigte. Banfield war ein schlanker Mann in den Fünfzigern mit kaffeebraunem Haar, das an den Schläfen silbern geworden war, und einem unscheinbaren Gesicht, das sich egal in welcher Umgebung unauffällig in den Hintergrund einfügte. Er diente der Familie seit über einem Jahrzehnt. Früher, wenn er den Sommer über aus Oxford herkam, hatte Guy den Mann oft in diesem Arbeitszimmer gesehen, wenn Großvater ihm etwas diktierte. Er konnte immer noch die raue Stimme des alten Dukes hören, wenn seine Befehle den marmornen Flur hinunterhallten.
Ein tiefer Schmerz ergriff Guy. Es war schwer zu glauben, dass ein so starker und robuster Mann wie sein Großvater nicht mehr da war. Eines Nachts hatte er einen Herzinfarkt erlitten und Guy erfuhr erst sieben Monate später von seinem Tod. Während er um die Welt gesegelt war, botanische Probeexemplare sammelte und Pflanzen zeichnete, hatte sich seine Zukunft unwiderruflich verändert.
Und zwar auf eine Weise, die er nie erwartet hätte.
In seiner Kindheit war an den Duke-Titel nie zu denken gewesen, da er an vierter Stelle der Erbfolge stand. Aber durch eine Reihe von Unglücken während seiner Abwesenheit aus England waren die anderen Erben gestorben. Onkel Sebastian, der älteste der drei Söhne seines Großvaters, war vor der Isle of Wight gesegelt, als seine Yacht bei rauer See kenterte und er und Charles, sein einziger Sohn und Erbe, ertranken. Dann erlag Guys Vater, der zweite Bruder, einer tödlichen Magenerkrankung. Die Belastung durch diese Unglücke muss es gewesen sein, die den sechsten Duke ins Grab gebracht hatte.
Guy trauerte am meisten um seinen Großvater. Trotz ihrer Differenzen hatte der alte Duke einen starken Einfluss auf sein Leben genommen, viel mehr als Guys Vater. Es hatte oft Streit mit seinem Großvater gegeben, da Carlin ihn zu einem Leben als adeligen Landbesitzer drängte, während Guy entschlossen war, einen akademischen Weg einzuschlagen. Sie hatten heftig gestritten über Guys Entscheidung, ein privates Schiff auszurüsten, um sein Interesse an der Erforschung von Pflanzen zu vertiefen. Carlin hatte die Weltreise als närrisches Unterfangen bezeichnet und sie waren mit harten Worten auseinandergegangen, die Guy heute bedauerte.
Jetzt war er Carlin. Er, der den Titel nie gewollt hatte.
Guy hatte von der Abfolge tragischer Ereignisse erfahren, als er die Post mehrerer Jahre abholte, die bei einem britischen Konsul auf der anderen Seite der Welt für ihn aufbewahrt worden war. In einem Zustand von Schock und Trauer hatte er die Briefe in chronologischer Reihenfolge stundenlang immer wieder gelesen: Klatsch von verschiedenen Verwandten, knappe Schreiben des alten Dukes und schließlich die Nachricht von Carlins Tod von Tante Delia, zusammen mit einer Vielzahl von Briefen der Anwälte der Familie, in denen Guy aufgefordert wurde, sofort nach Hause zu kommen.
In dieser Nacht war er wach geblieben, hatte getrunken und bis zum Morgengrauen in Erinnerungen geschwelgt. Die unschöne Aussicht, in die Fußstapfen seines Großvaters treten zu müssen, hatte ihn sehr in Versuchung geführt, seine Rückkehr zu verschieben. Aber am Ende hatte er sich seiner Pflicht gestellt, war nach England zurückgesegelt und hatte das Erbe angetreten.
Nach Jahren auf hoher See fühlte sich London laut und überfüllt an. Die Gesellschaft war noch schlimmer. Sein Aufstieg hatte Scharen von kriecherischen Gratulanten und Neugierigen vor seine Tür gebracht. Nur das Nörgeln von Tante Delia, Lady Victor, hatte ihn davon abgehalten, die Tür zu verriegeln und Einsiedler zu werden. Dennoch war jeder Haiangriff besser, als sich einem Ballsaal junger Damen zu stellen, die sich um die Aufmerksamkeit eines unverheirateten Dukes rissen.
Sie ahnten nicht, dass er mit dem Heiraten fertig war.
Banfields Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Vielleicht würde es Seiner Durchlaucht besser gefallen, wenn ich zu jedem Punkt eine Empfehlung aussprechen würde, die Ihr dann nur billigen müsstet?“
„Eine ausgezeichnete Idee.“ Guy schob den Papierhaufen zum Sekretär hinüber und scherzte: „Schade, dass Sie nicht an meiner Stelle erben konnten. Sie verstehen weit mehr von dieser Rolle als ich.“
Banfield warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf die Papiere auf dem Schreibtisch richtete. Guy ignorierte dieses Aufblitzen von Entrüstung. Natürlich war sein Gegenüber der Meinung, dass es Guy an herzoglichem Gebaren mangelte, aber zum Teufel damit, er hatte nie mit diesem Leben gerechnet. Vielleicht würde er mit der Zeit akzeptieren, dass es ein Segen und kein Fluch war, einer der reichsten Männer Englands zu sein.
Vielleicht.
Kurz darauf begann der Sekretär, die Vorschläge zu sortieren, und gab Guy Empfehlungen, die dieser nur annehmen musste. Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, sich durch den Stapel zu arbeiten und Lösungen zu besprechen. Als sie kurz vor dem Abschluss standen, betrat ein Bediensteter das Arbeitszimmer und blieb direkt hinter der Tür stehen. Er wartete darauf, dass man ihn bemerkte. Seine jungen Gesichtszüge unter der weißen Perücke blieben völlig unbeweglich, seine Haltung steif wie die blaue Uniform, die mit goldenen Nähten verziert war.
Viele der Bediensteten hatten diese steife Art, wie Guy aufgefallen war, und er fragte sich, ob sie erwarteten, dass er ein Tyrann wie sein Großvater sein würde. Er konnte nur hoffen, dass die Zeit dieses Missverständnis ausräumen würde. „Ja, Francis?“
„Verzeihung, Durchlaucht. Es ist eine Gouvernante von der Agentur hier.“
„Der Termin ist für morgen früh um elf Uhr angesetzt“, warf Banfield ein. „Bitten Sie sie, zur entsprechenden Zeit wiederzukommen. Der Duke ist viel zu beschäftigt, um jetzt gestört zu werden.“
Guy empfand die Sorgfalt des Sekretärs, der als Puffer gegen unerwünschte Besucher fungierte, als ausgesprochen nützlich, insbesondere wenn ehrgeizige Mamas irgendeine Ausrede erfanden, um ihre heiratsfähigen Töchter zu einem Besuch vorbeizubringen. Da es hier jedoch um Sophy ging, spürte er die Last der Dringlichkeit.
„Im Gegenteil, wir haben für einen Nachmittag genug erreicht“, sagte er. „Schicken Sie sie sofort herein.“
Als der Bedienstete ging, rückte Guy seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine Beine waren vom stundenlangen Sitzen verkrampft. Er betete zu Gott, dass diese neue Gouvernante seine Tochter besser im Griff haben würde als die anderen. Es verwirrte ihn, wie ein kleines Mädchen ihre Kinderstube mit derart eiserner Faust regieren konnte. Er wusste, dass Sophy Disziplin brauchte, aber er konnte es nicht ertragen, derjenige zu sein, der sie durchsetzte, da er sich bereits schuldig fühlte, weil er sie zurückgelassen hatte.
Das Problem war, dass er es ebenfalls nicht ertragen konnte, wenn jemand anderes sie bestrafte. Es war nicht ihre Schuld, dass ihre Manieren vernachlässigt worden waren.
Als er den über eine Stuhllehne geworfenen Mantel anzog, fürchtete Guy, dass er Sophy im Stich gelassen hatte. Er war kurz nach dem Tod seiner Frau Annabelle aus England gereist, weil er glaubte, dass es für seine kleine Tochter besser wäre, wenn sie von ihren Großeltern mütterlicherseits großgezogen würde. Wie hätte er schließlich ein guter Vater sein können, wenn er schon bei der Ehe so kläglich versagt hatte?
Aber Lord und Lady Norwood hatten seine Anweisung missachtet, Annabelles launisches altes Kindermädchen Mooney zu entlassen und jemanden mit mehr Kompetenz einzustellen. Unter Mooneys schlampiger Obhut war Sophy zu einem echten Schrecken geworden. Im vergangenen Monat war ein halbes Dutzend Gouvernanten gekommen und gegangen. Die letzte hatte er heute Morgen entlassen, als er sie dabei ertappte, wie sie seine Tochter mit einer Rute schlug.
Sophys markerschütternde Schreie hatten ihn in die Kinderstube eilen lassen, in der Vorstellung, sie sei bei einem schrecklichen Unfall verstümmelt worden. Wie sich herausstellte, hatte sie die Gouvernante in einem Wutanfall gebissen, als sie aufgefordert worden war, ihr Spielzeug liegen zu lassen und das Alphabet zu üben. Ihre kleinen Zähne hinterließen einen roten Halbmond auf der Hand der Frau.
Dennoch machte der Anblick seiner kleinen Tochter, wie sie über dem Schoß der Gouvernante lag, Guy wütend. Es weckte schmerzhafte Erinnerungen an seinen Großvater, wenn dieser den Rohrstock geschwungen hatte. Sophy war in die Ecke gerannt, um sich dort zu verkriechen, und selbst jetzt noch schnürte ihm die Erinnerung an ihr leidvolles Gesicht die Brust zusammen. Verdammt, es musste doch eine bessere Möglichkeit geben, ein vierjähriges Mädchen zum Benehmen zu erziehen!
Wie diese Methode aussah, war ihm jedoch nicht klar.
Er ging zum goldumrahmten Spiegel hinter der Tür, um seinen Mantel zurechtzurücken. An diesem Morgen hatte er einen strengen Brief an die Agentur diktiert, in dem er darum bat, dass sie ihre erfahrenste Gouvernante schicken sollten. Jemanden mit der Fähigkeit und Kompetenz, mit einem widerspenstigen kleinen Mädchen umzugehen. Er beschloss grimmig, diese neue Bewerberin einer gründlicheren Prüfung zu unterziehen als die anderen. Sie musste verstehen, dass er nichts weniger als den vollständigen Erfolg bei der Bändigung von Sophys widerspenstigem Benehmen akzeptieren würde.
Banfield nahm den ordentlichen Stapel Papiere und verbeugte sich respektvoll. „Ich nehme an, Sie möchten, dass ich das hier in meinem Büro fertigstelle?“
Guy winkte ungeduldig. „Ja ja, gehen Sie nur.“
Während der Sekretär zur Tür ging, trat der Bedienstete wieder ein. „Miss James, Durchlaucht.“
Eine zierliche Frau erschien im Türrahmen. Guys Sicht wurde teilweise von der Tür versperrt, aber er hatte den Eindruck, dass sie wie eine Touristin die opulente Einrichtung bestaunte. Ihre Gesichtszüge waren halb von der breiten Krempe einer Haube mit Strohkrempe verdeckt. Sie trat in das Arbeitszimmer und blieb vor Banfield stehen.
Sie warf dem Sekretär einen kurzen Blick zu, raffte leicht den Rock ihres dunkelblauen Gewandes und machte einen kunstvollen Knicks, der dem Salon der Königin würdig gewesen wäre. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Euer Durchlaucht.“
Ihre Stimme war sanft und melodisch, aber vorsichtig, als würde sie sich auf die richtige Aussprache konzentrieren. Bevor Guy vortreten und ihr Missverständnis korrigieren konnte, ergriff Banfield das Wort. „Die Agentur hat uns mitgeteilt, dass wir eine Miss Williston erwarten sollen. Von einer Miss James war nicht die Rede.“
„Ich fürchte, Miss Williston musste absagen. Sie … wurde zu einem kranken Verwandten gerufen. Die Verwirrung tut mir leid.“
„Sie sollten außerdem erst morgen vorstellig werden.“
„Oh? Das hat mir niemand gesagt, nur dass Sie dringend eine neue Gouvernante benötigen. Ich dachte, es wäre das Beste, sofort zu kommen, Durchlaucht.“
Er warf ihr einen strafenden Blick zu und deutete auf Guy. „Sie können sich beim Duke entschuldigen, Miss James. Ich bin Banfield, der Sekretär Seiner Gnaden.“
Das kurze Stocken ihres Atems war beinahe ein Husten. Mit raschelnden Röcken drehte sie sich zu Guy um. Sofort begriff er, dass Banfields skeptische Miene wenig mit Planungsfehlern oder Verwechslungen zu tun hatte. Sie besaß die sanften Züge einer jungen Dame Anfang zwanzig und nicht das strenge Gesicht einer Jungfer mittleren Alters, die sie beide erwartet hatten.
Miss James musterte ihn mit so großem Interesse, dass er sich fragte, ob sein Halstuch schief saß. Ihre Wangen waren vor Verlegenheit gerötet und das bezaubernde Blau ihrer Augen passte zu dem der Bänder, die sie sich in einer eleganten Schleife unter dem Kinn zusammengebunden hatte. Sie war eine zierliche Frau und strahlte trotz des bescheidenen hochgeschlossenen Kleides eine subtile Anziehungskraft aus.
Guy konzentrierte sich wieder auf den Zweck des Treffens. Ihre weiblichen Reize waren irrelevant. Dies war ein Vorstellungsgespräch, kein Flirt im Ballsaal. Miss James war völlig anders als alle ihre Vorgängerinnen – und das war kein Pluspunkt für sie. Sie war für diese Position viel zu unerfahren.
Frustration baute sich in ihm auf. So viel zu der Hoffnung, dass diese Bewerberin eine Verbesserung gegenüber all den anderen sein würde. Da sie selbst noch nicht lange aus dem Schulzimmer heraus war, konnte sie unmöglich über das nötige Fachwissen verfügen, um mit Sophy fertig zu werden.
„Verzeihen Sie mir, Durchlaucht.“ Sie vollzog einen weiteren ausladenden Knicks, diesmal vor Guy, bevor sie sich erhob und einen Blick auf den Sekretär warf. „Ich bitte auch Sie um Verzeihung, Mr Banfield.“
Sein Sekretär warf Guy einen mitleidigen Blick zu, der Bände sprach. Es war klar, dass auch er sie für die falsche Besetzung für die Stelle hielt.
Als der Sekretär das Arbeitszimmer verließ, wunderte sich Guy über ihre Verwendung des Begriffes Mister. Sicherlich wusste sie doch, dass Bedienstete nicht so förmlich angesprochen wurden. Hatte sie noch nie in einem großen Haushalt gearbeitet? Die Wahrscheinlichkeit dieser Tatsache ärgerte ihn noch mehr.
Verdammt, er hatte genug von diesen mittelmäßigen Kandidatinnen. Dies war die dritte Agentur, bei der er es versucht hatte, und er war mit allen fertig. Von nun an würde er selbst in den Zeitschriften inserieren und Banfield die Bewerberinnen prüfen lassen. Was Miss James betraf, so konnte sie sich woanders Arbeit suchen.
„Ich fürchte, Sie wurden irrtümlich hergeschickt“, sagte Guy unverblümt. „Ich habe um jemanden gebeten, der älter ist, jemanden mit jahrzehntelanger Erfahrung als Gouvernante.“
Sie trat einen Schritt näher. „Oh, aber ich verfüge über die notwendigen Qualifikationen, Sir. Ich habe mich einen Großteil meines Lebens um kleine Kinder gekümmert und habe ein besonderes Händchen für schwierige Fälle. Bitte, würden Sie mich nicht wenigstens anhören?“
Ein Großteil ihres Lebens könnte nicht mehr als ein halbes Dutzend Jahre bedeuten, wenn überhaupt. Doch an ihrer angespannten Haltung war deutlich zu erkennen, dass sie großes Interesse an dieser Stelle hatte. Sie stand vor ihm, die schmalen Schultern gestrafft und die behandschuhten Finger fest um ihr Retikül geschlossen. Guy wusste, wie es war, auf Widerstand zu stoßen, und widerwillig räumte er ein, dass es grausam wäre, ihre Hoffnungen einfach so zu zerstören, ohne überhaupt ein Vorstellungsgespräch geführt zu haben.
„Na gut. Ich gebe Ihnen fünf Minuten.“
Er schritt hinter den Schreibtisch und bedeutete Miss James mit einem Winken auf dem Sitz gegenüber Platz zu nehmen. Als sie sich darauf niederließ, betonte der massive geschnitzte Stuhl die Zartheit ihrer Figur noch stärker. Seltsam, dass ihre Haube viel stilvoller war, als man es von einer Gouvernante erwarten würde. Die breite Krempe bildete einen perfekten Rahmen für ihr cremeblondes Haar und ihre jugendliche Ausstrahlung.
„Ich nehme an, die Agentur hat Ihnen die Situation geschildert, Miss James.“
Sie nickte. „Während Sie um die Welt reisten, wurde Ihre vierjährige Tochter von ihren Großeltern verwöhnt. Seit Ihrer Rückkehr ist es niemandem gelungen, Lady Sophys ungezogenes Verhalten zu zügeln.“
Die offene Beschreibung brachte Guy in die Defensive. „Sophy ist ein temperamentvolles Mädchen. Wie kommen Sie darauf, dass Sie Erfolg haben werden, wo andere gescheitert sind?“
„Ich habe schon mit allen möglichen widerspenstigen Kindern zu tun gehabt. Es gibt immer eine Möglichkeit, sie auf den richtigen Weg zu bringen. Darf ich fragen, wie genau Lady Sophy die anderen Gouvernanten vergrault hat?“
Er rechnete damit, dass die Liste der schändlichen Vorfälle das Selbstvertrauen von Miss James schwächen würde, und zählte sie an seinen Fingern ab. „Die erste Gouvernante hatte etwas gegen das Kratzen und Treten, die zweite schämte sich, weil ihre Unterwäsche aus dem Fenster auf die Straße geworfen wurde, und der dritten wurde im Schlaf ein gutes Stück ihres Haares abgeschnitten. Die vierte habe ich entlassen, weil sie Sophy während eines Ausflugs in den Park entkommen ließ, und die fünfte, weil sie meiner Tochter Laudanum verabreichte, um sie zu beruhigen. Und heute Morgen hat Sophy die sechste gebissen.“
„Ich verstehe.“ Anstatt sich erschrocken abzuwenden, sah Miss James ihn mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln an. Nach einem Moment sprach sie weiter: „Ich nehme an, es muss für ein kleines Mädchen ohne Mutter sehr aufwühlend sein, wenn so viele Menschen in ihrem Leben kommen und gehen. Vor allem, wenn sie erst kürzlich von ihren Großeltern getrennt wurde. Hat sie sie sehr gemocht?“
Guy biss die Zähne zusammen und erinnerte sich an die katastrophale Szene, als er Sophy hatte abholen wollen. Sie hatte mit den Füßen aufgestampft und sich geweigert, mit ihm zu gehen. Während Lord und Lady Norwood ihren Wutanfall entschuldigten, hatte Mooney düster etwas von Vätern, die ihre Kinder im Stich lassen, vor sich hin gemurmelt. Er war empört gewesen, als er erfuhr, dass seine Anweisungen, das mürrische alte Kindermädchen zu ersetzen, missachtet worden waren. Die Norwoods schienen keinerlei Einsicht für ihre Unfähigkeit zu besitzen und hatten nur eilig Sophys klammernde Finger gelöst, weil sie dringend zu einer Veranstaltung im Royal Pavillon in Brighton fahren wollten.
Statt des glücklichen Wiedersehens, das er sich vorgestellt hatte, war er gezwungen gewesen, seine Tochter streng zu maßregeln. Die Erinnerung an ihr tränenüberströmtes Gesicht schmerzte wie eine nicht verheilte Wunde. Noch schlimmer war der Hass, den sie ihm entgegenbrachte, als sie vor ihm zurückschreckte, obwohl er sie nur an die Hand nehmen wollte, um sie zur Kutsche zu bringen.
Er antwortete knapp: „Jedes Kind würde diejenigen mögen, die ihm erlauben, zu tun, was es will. Deshalb brauche ich jemanden mit langjähriger Erfahrung, der ihr angemessenes Verhalten beibringen kann.“
Miss James schien von seinem Hinweis auf ihre Jugend unbeeindruckt zu sein. „Es ist auch wichtig, dass sie eine Gouvernante hat, die länger als nur ein paar Tage bei Ihnen angestellt bleibt. Bedenken Sie bitte, dass sie aus der einzigen Familie, die sie je gekannt hat, aus einem Zuhause, in dem es keine Regeln gab, herausgerissen und in ein strengeres gesteckt wurde. Ein willensstarkes Kind wird sich zwangsläufig wehren. Diese neue Situation muss ihr sehr seltsam und beängstigend vorkommen.“
„Vielmehr sind es die Gouvernanten, die Angst vor ihr haben.“
„Aber ich werde keine Angst haben. Es gibt nichts, was Ihre Tochter tun könnte, um mich zu vergraulen. Ich würde Ihnen das sehr gerne beweisen, Durchlaucht.“
Guy zog eine dunkle Augenbraue hoch. Er war sich nicht sicher, ob ihre Gelassenheit aus Naivität oder von wahrem Können herrührte. Eines war sicher, dieses Gespräch verlief nicht so, wie er es erwartet hatte. Die anderen Gouvernanten waren respektvoll, zurückhaltend und alt gewesen. Sie hatten ihre Meinung nicht derart offen geäußert und ihn nicht mit so kühner Entschlossenheit angesehen.
Natürlich hatten sie auch nicht den Hauch einer Neigung gezeigt, Sophys Perspektive zu verstehen. Er musste verärgert zugeben, dass er das auch nicht getan hatte. Versteckte sich hinter ihren bösartigen Ausbrüchen nur ein verängstigtes kleines Mädchen?
Er war neugierig genug, um sich vorzulehnen und die Unterarme auf dem Schreibtisch zu verschränken. „Erzählen Sie mir von Ihrem Hintergrund, Miss James. Was genau sind Ihre Qualifikationen?“
Ihre dichten Wimpern blinzelten langsam. „Ich bin in einer großen Familie mit vielen Kindern aufgewachsen. Schon in jungen Jahren hatte ich die Aufgabe, auf die jüngeren aufzupassen und dafür zu sorgen, dass sie ordentlich und brav waren. Einige waren unartig und neigten zu Unfug wie Lady Sophy, aber ich habe Wege gefunden, sie zu gutem Benehmen zu erziehen.“
„Wege?“
„Jedes Kind ist einzigartig, sodass die Methoden variieren. Bevor ich mich für einen Plan entscheide, muss ich Ihre Tochter erst einmal kennenlernen und ihren Charakter einschätzen.“
Das Gefühl der Skepsis ließ ihn nicht los. „Das klingt alles schön und gut, Miss James, aber um ehrlich zu sein, finde ich Ihr Alter immer noch hinderlich. Sie können unmöglich besser wissen, wie man mit Sophy umgeht, als jemand, der älter und erfahrener ist.“
„Oh, aber Jugend kann ein Vorteil sein. Ich verstehe kleine Mädchen deutlich besser als eine alte Jungfer, die Sklavin ihrer Gewohnheiten ist. Ich habe schon oft mit eigensinnigen Kindern zu tun gehabt, die eine strenge Hand brauchten.“
Er kniff die Augen zusammen. „Sie wollen Sophy also mit Schlägen zum Gehorsam erziehen?“
Die Bänder an ihrem Hut schwangen hin und her, als Miss James den Kopf schüttelte. „Oh nein, das habe ich ganz und gar nicht gemeint. Es ist viel besser, ein Kind mit Freundlichkeit zu behandeln als mit Grausamkeit. Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht erwarten, dass ich sie verprügle.“
Da sie ihre Abneigung authentisch zum Ausdruck brachte, entspannte sich Guy. „Ganz sicher nicht. Ich dulde keine Gewalt gegen meine Tochter. Aber wie wollen Sie sie dann dazu bringen, sich zu benehmen?“
„Es geht darum, sie zu einem angemessenen Verhalten zu inspirieren. Sodass sie stolz darauf ist, das Richtige zu tun. Es erfordert Geduld und harte Arbeit, aber Sie werden bald hervorragende Ergebnisse sehen.“
Wenn Miss James ein so hohes Ziel wirklich erreichen konnte, würde er sie sofort einstellen. Doch bisher hatte sie nur leere Versprechungen gemacht. „Sie kommen also aus einer großen Familie“, wiederholte er. „Und weiter? Sie müssen Ihr Zuhause verlassen haben, um Gouvernante zu werden.“
„Natürlich“, sagte sie mit einem bescheidenen, höflichen Lachen. „In den letzten Jahren habe ich zwei Mädchen in einer vornehmen Familie, den Blanchets, in Northumberland unterrichtet. Sukie und Nell waren ziemlich schwierig, aber ich hatte sie bald auf dem rechten Weg. Als sie alt genug waren, um eine Mädchenschule zu besuchen, und meine Dienste nicht mehr benötigten, reiste ich nach London. Ich bevorzuge die Stadt, wissen Sie.“
„Blanchet ist ein französischer Name. Waren sie Emigranten?“
„Was? Nein! Mr Blanchet ist … ist vom Landadel. Ich hätte ihn nie für einen Franzosen gehalten. Er ist so englisch wie Kabeljau.“
„Sie brauchen nicht beunruhigt zu sein, Miss James, ich beschuldige Sie nicht, mit Spionen oder Verrätern Umgang zu haben. Der Krieg ist vorbei, Napoleon wurde besiegt. Ich nehme an, Mr Blanchet hat Ihnen ein Empfehlungsschreiben ausgestellt.“
Sie blinzelte ihn zweimal an, bevor sie den Blick nach unten richtete, um in ihrem Retikül zu suchen. Nach einem Moment stieß sie einen atemlosen Seufzer aus und hob eine behandschuhte Hand an ihre Wange. „Oh! Wie dumm von mir, ich muss es in der Agentur vergessen haben. Ich versichere Ihnen, Mylord, dass alles in bester Ordnung ist.“
Guy widerstand der Anziehungskraft dieser großen blauen Augen und ahnte, dass sie ihre Qualifikationen beschönigte. Vielleicht zeichnete das Empfehlungsschreiben ein weniger positives Bild von ihr, als sie sich selbst gewünscht hatte. Northumberland war weit genug entfernt, um eine Überprüfung ihrer Geschichte zu erschweren. Das Letzte, was Sophy brauchte, war eine weitere unfähige Gouvernante.
Er erhob sich. „Das ist sehr bedauerlich. Ich fürchte, ich kann Sie ohne Referenzen nicht einstellen.“
„Warten Sie bitte! Ich werde der Agentur eine Nachricht zukommen lassen. Der Brief wird sicher in ihren Akten sein. Es ist schon spät, aber morgen früh kann ich sie kontaktieren … Oh! Was ist das?“
Miss James hatte während ihres Monologs weggeschaut, stand nun auf und durchquerte das Arbeitszimmer. Sie blieb vor einem gerahmten Aquarell an der Wand stehen. Es zeigte den Kopfschmuck eines Stammeshäuptlings. Es war ein Perlenreif, der von hohen Papageienfedern in Regenbogenfarben gekrönt wurde.
Sie warf einen Blick über die Schulter. „Verzeihung, Durchlaucht, aber dieser Kopfschmuck ist mir aufgefallen. Darf ich fragen, ob Sie ihn von Ihren Reisen mitgebracht haben?“
Guy sah keinen Grund, sich ihr nicht anzuschließen. Obwohl der Zeitpunkt verdächtig war, schien das Interesse in ihrem Gesicht echt zu sein. „Es ist ein Kopfschmuck, der von den Menschen in Brasilien getragen wird.“
„Die Federn sind sehr auffällig“, staunte sie. „Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Sind solche Hüte bei den Frauen dort üblich?“
„Eigentlich wird dieser Kopfschmuck von einem Mann getragen. Er ist Teil der zeremoniellen Kleidung eines Häuptlings für besondere Feierlichkeiten.“
„Verstehe. Haben Sie denn an solchen Zeremonien teilgenommen?“
„Nein, der Zweck meiner Expedition war es, die Botanik in den Küstenregionen der Welt zu studieren. Deshalb sind die meisten Zeichnungen hier von Pflanzen.“
Er deutete mit der Hand auf mehrere andere gerahmte Gemälde an der Wand, und sie trat näher, um sie zu betrachten. „Gute Güte, die sind wunderschön. Sind die alle von Ihnen?“
„Ja. Das Skizzieren hat geholfen, mir die Zeit auf der langen Seereise zu vertreiben.“
„Nun, sie sind so gut, dass sie in einer Ausstellung präsentiert werden sollten. Vielleicht könnten sie im Somerset House ausgestellt werden. Ist das nicht der Ort, zu dem die feinen Herrschaften hingehen, um sich berühmte Gemälde anzusehen?“
Das Funkeln der Bewunderung in ihrem Blick erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Obwohl er eine Spur des Dialektes der einfachen Leute in ihrer Sprache bemerkte, verzog sich ein Mundwinkel zu einem Lächeln. „Ich glaube kaum, dass meine bescheidenen Bemühungen zu Meistern wie Turner oder Lawrence passen.“
„Dann sollten Sie vielleicht einen Vortrag hier in Ihrem Haus halten. Falls Sie das nicht schon getan haben. Sie könnten über Ihre Reisen sprechen. Die feinen Herrschaften würden Ihre Abenteuer im Ausland sicherlich faszinierend finden. Ich jedenfalls würde das.“
Guy war von Gelehrten und Akademikern mit Einladungen überschüttet worden, um vor ihren verschiedenen Organisationen zu sprechen. Er begrüßte die Gelegenheit, sein Wissen mit denen zu teilen, die es wirklich zu schätzen wussten. Die feine Gesellschaft war eine andere Sache. Er wurde als Kuriosität angesehen. Als der Duke, der die höfische Gesellschaft verschmäht hatte, um die Welt zu bereisen.
Doch vielleicht hatte Miss James recht und er sollte es sich noch einmal überlegen.
Sie ging zurück, um sich das Gemälde des Kopfschmucks noch einmal anzusehen. „Die Farben der Federn sind so leuchtend“, murmelte sie, „besonders das Blau und Gelb. Wissen Sie, welche Art von Farbe dafür verwendet wurde?“
„Gar keine. Es sind Papageienfedern. In den Tropen sind Papageien so häufig wie Zaunkönige und Krähen hier in England. Tatsächlich habe ich ein paar Vögel mitgebracht. Sie leben im Gewächshaus.“
„Gewächshaus?“
„Es ist ein großer, verglaster Raum mit einem Garten darin.“
Guy presste die Lippen zusammen, um eine enthusiastische Erzählung über die Orchideen, Bananen und anderen tropischen Pflanzen zu unterbinden, die er importiert hatte, um zu sehen, ob sie sich dazu überreden ließen, im kühleren Klima Englands zu wachsen. Was war in ihn gefahren, dass er einer potenziellen Mitarbeiterin so ausführlich von seinen Interessen erzählte? Vor allem einer Frau, die er kaum kannte und die ihre Berufserfahrung möglicherweise überhöht darstellte. Die Tatsache, dass sie noch nie von einem Gewächshaus gehört hatte, bestätigte nur, dass sie mit aristokratischen Haushalten nicht vertraut war.
„Genug dieser Ablenkungen“, sagte er und kühlte seine Stimme ab. „Wir sprachen über Ihre mangelnden Qualifikationen.“
„Bitte, Durchlaucht, was kann es schaden, mir eine Probezeit zu gewähren?“ Miss James trat näher und hob das Kinn, um ihm ernst in die Augen zu blicken. „Wenn sich Lady Sophys Benehmen nicht verbessert, haben Sie allen Grund, mich zu entlassen. Würden Sie mir nicht wenigstens eine Chance geben?“
Guy wusste es besser, als einem Blick mit großen Augen zu trauen, der nur darauf abzielte, ihn zu bezirzen. Doch Miss James war keine kokette Debütantin, die hoffte, das Diadem einer Duchess zu gewinnen. Trotz ihres traurigen Mangels an Referenzen und der gelegentlichen Spuren des Akzents der einfachen Leute war sie nur eine Frau, die eine Anstellung brauchte.
Und er war ein Mann, der inzwischen verzweifelt war.
Wann immer er Sophy in der Kinderstube besuchte, stand ihre schmollende Gereiztheit wie eine Mauer zwischen ihnen. Wie hatte er jemals denken können, dass seine Tochter ihn mit Umarmungen und Küssen willkommen heißen würde, nachdem er sie verlassen hatte? Sie betrachtete ihn als Fremden, weil er ein Fremder war. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er die Dinge in Ordnung bringen sollte. Vielleicht könnte ein neuer Ansatz funktionieren, wo andere Gouvernanten gescheitert waren. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass Miss James helfen konnte, wäre er ein Narr, sie abzuweisen.
„Nun gut, vorausgesetzt, Sie können mir diesen Brief nachreichen, gebe ich Ihnen eine Woche.“ Guy hielt inne, bevor er grimmig hinzufügte: „Wenn Sie so lange durchhalten.“