Leseprobe Die Nacht, in der mein Kind verschwand

KAPITEL EINS

Sechzehn Jahre später

„Das ist total sinnlos“, sagte ich, weil ich mich nicht mehr im Kleiderschrankspiegel ansehen konnte. Jedes Outfit, das ich anzog, schien entweder unpassend oder stand mir einfach nicht. In dem blauen Kleid, das ich jetzt trug und in dem ich mich damals wohlgefühlt hatte, fühlte ich mich jetzt dick, und ich hatte Mühe, es über den Kopf zu ziehen. Vielleicht würde ich es eines Tages wieder tragen, aber viele junge Mütter erlangten nie ihre einstige Schönheit zurück. Ich ließ das Kleid aufs Bett fallen und seufzte, weil mir zu heiß war und ich keine Lust hatte, ein weiteres Outfit anzuprobieren. Von ihrem Sitzplatz auf der Bettkante aus sprach Michelle.

„Warum nicht das? Darin sahst du doch gut aus.“

„Ich sah aus wie ein gestrandeter Wal.“

„Es sind nur noch ein paar Wochen, bis du dein Baby bekommst. Du bist kein Wal, du bist einfach schwanger.“

Ich sah sie im Kleiderschrankspiegel an und lächelte. Ich würde nicht im Traum daran denken, mich nur in Unterwäsche vor irgendjemanden sonst hinzustellen, aber Michelle war anders. Sie war meine beste Freundin, meine Familie. Wir standen uns zumindest so nah wie es nur ging. Sie kannte alle meine Geheimnisse. Fast.

„Ich bin zwar schwanger, aber ich bin auch dick.“

„Sei nicht albern, Emily, du siehst toll aus. Du strahlst richtig.“ Michelle nippte lässig an ihrem Rosé, meinem Rosé, den ich nicht mehr trinken durfte. Hinter ihr spielte Taylor Swift aus ihrem Telefon und obwohl ich mich schrecklich fühlte, milderte die Kombination aus meiner Freundin und meiner Lieblingskünstlerin meine gedrückte Stimmung.

„Ich sehe alles andere als toll aus“, antwortete ich. In dieser Phase meiner Schwangerschaft wollte ich Umstandsshorts und T-Shirts tragen, im Wohnzimmer sitzen, mir Schrott im Fernsehen anschauen und mir von einem Ventilator ins Gesicht blasen lassen, um mich abzukühlen.

Jetzt, da ich das blaue Kleid zu den anderen Klamotten geworfen hatte, die ich wahrscheinlich nie wieder tragen würde, durchstöberte ich die Kleiderstange noch einmal. Als ich meine Kleidung durchging, konnte ich Michelle im Spiegel sehen, die ohne zu blinzeln auf meinen Bauch starrte. Sie wusste nicht, dass ich sie ansah, und ihr Blick sprach Bände. Ich konnte ihre Fragen fast hören.

Wann ist es so weit? Wie fühlt es sich an? Weiß Emily, wie viel Glück sie hat?

Ich sagte jedoch nichts und ließ mir auch nicht anmerken, dass ich ihren Blick bemerkt hatte. Es wäre nicht fair.

„Ich schwöre bei Gott, ich finde nie wieder etwas, das mir passt“, sagte ich und sah, wie sie wegschaute, bereit, den Blickkontakt aufzunehmen, als ich mich zu ihr umdrehte. „Mein Schicksal ist, auf ewig ein Wal zu sein. Ein verschwitzter, gestrandeter Wal, der in dieser Hitze verreckt.“

„Ach komm schon, Emily, es ist nicht so schlimm“, sagte sie und schenkte mir ein Lächeln, das dennoch von Traurigkeit zeugte.

„Es ist zu heiß.“

„Es ist wunderschön. Herrgott, nach diesem beschissenen Frühling haben wir endlich schönes Wetter.“

„Es ist nicht schön, wenn man so schwanger ist“, sagte ich und nahm ein hellgrünes Kleid von der Stange, von dem ich verzweifelt hoffte, dass es mir passen oder mich zumindest vor dem Gras beim Grillen tarnen und unsichtbar machen würde. „Erinnere mich noch mal, warum ich zugestimmt habe?“

„Ich brauche einen Fahrer, der keinen Alkohol trinkt. Heute gebe ich mir die Kante“, sagte Michelle und ich hüstelte. „Bald bekommst du dein Baby, und dann wird dich keiner von uns je wiedersehen, oder?“

„So ein Quatsch.“

„Es wird anders sein“, sagte sie. Sie versuchte, neutral zu klingen, aber ich konnte sehen, dass sie sich irgendwie im Stich gelassen, vergessen fühlte, oder vielleicht lag es auch einfach an ihrem beschissenen Schicksal, weil sie keine eigenen Kinder haben konnte.

Ich nickte, unsicher, was ich antworten sollte. Sie hatte natürlich recht, es würde anders sein, denn statt die unbeschwerte, zu jedem Spaß und jedem Drink bereite Emily, diese glückliche und unkomplizierte Emily – zumindest nach außen hin – würde ich jemand anderes sein. Die nicht trinkende, übermüdete Mutter Emily. Ich wusste, wie sehr dieser Titel „Mutter“ die Welt eines Menschen verändern und ihn zu seiner Persönlichkeit machen konnte. Und als ich darüber nachdachte, überkam mich ein Anflug von Furcht. Ich hatte gesehen, was aus ihr geworden war. Ich wusste, dass manche Frauen keine guten Mütter waren. Ich wusste, dass manche Mütter unfreundlich waren. Und zum tausendsten Mal, seit ich herausgefunden hatte, dass ich schwanger war, fragte ich mich, wie sehr ich meiner Mutter ähnelte. Wie viel von ihr steckte irgendwo in meinem Inneren verborgen? Wie viel von ihrer Natur steckte in meinen Knochen? Meine Mutter war schlimm, aber ich war einmal noch schlimmer gewesen. Ich fragte mich, ob diese Version von mir zum Vorschein kommen würde, wenn mein Baby da wäre.

Ich verdrängte die Fragen. Ganz, ganz tief in meinem Innern.

„Em?“, sagte Michelle, als sie meine Furcht bemerkte. „Geht es dir gut?“

„Mir geht es gut. Ich fühle mich nur nicht wohl“, sagte ich und meine Gedanken wanderten davon. Unser Freundeskreis hatte keine Kinder. Ich würde der Außenseiter sein. Ich hatte Michelle einmal von meiner Angst erzählt, deswegen ausgeschlossen zu werden, und sie hatte versucht, diese Angst zu beschwichtigen, aber sie blieb hartnäckig da und wartete im Verborgenen, um mir gelegentlich zuzuflüstern, dass ich wieder ganz auf mich allein gestellt sein würde.

Das hatte mir in den ersten Tagen der Schwangerschaft solche Angst gemacht, dass ich rasch versuchte, neue Freunde zu finden, damit ich nicht allein zurückblieb. Aber seit ich meine strampelnde Tochter in mir spürte, seit ich das erste Mal ihren Herzschlag gehört hatte, konnte ich nur noch Freudentränen über dieses kleine Wunder weinen. Es gefiel es mir, dass ich vorerst der Außenseiter sein würde, der Vorreiter. Sie würden aufholen – zumindest einige von ihnen. Ich hatte gehofft, Michelle würde es vor allen anderen sein.

„Wessen Idee war dieses Barbecue?“, fragte ich und versuchte, nicht in meinen Gedanken zu verharren.

„Meine – also, meine und Jacks.“

„Na ja, auch wenn ich mir wünschte, dass es nicht so verdammt heiß wäre, ist es eine nette Idee.“

„Das dachte ich auch“, sagte sie, stand auf und ging zur Tür.

„Bin gleich wieder da, muss mal pinkeln.“

In ihrer Abwesenheit holte ich ein paar Mal tief Luft und beruhigte mich. Konzentrierte mich einfach auf das Hier und Jetzt und betrachtete mich selbst im Spiegel. Schwanger zu sein bedeutete nicht nur, dort an Gewicht zuzunehmen, wo mein Baby wuchs; meine Knöchel waren breiter, mein Gesicht runder und ich hatte mehr Gewicht auf meinen Hüften und Oberschenkeln. Aber so gerne ich mich auch beschwerte, es war mir eigentlich egal. Ich hatte das nur gesagt, um mich von der Sache abzulenken, die mir wirklich Sorgen bereitete. Würde ich meiner Tochter jemals wehtun? Würde ich ihr jemals wehtun, so wie ich schon einmal jemandem wehgetan hatte? Und was für eine Mutter wäre ich? Würde ich so freundlich und liebevoll sein, wie ich es mir vorstellte, oder würde ich wie meine eigene Mutter werden? Würde ich Schwierigkeiten haben? Wäre ich grausam, unfreundlich und nachtragend? Es erschreckte mich, dass ich immer mehr so ​​aussah, wie ich sie in Erinnerung hatte. Aber würde ich auch so sein wie sie?

Ich rieb meinen Bauch, mein Baby, und die Liebe, die ich fühlte, verriet mir, dass ich trotz meiner Sorgen, trotz meiner Angst, trotz meiner Vergangenheit – trotz meines Verbrechens – nicht wie Mutter sein würde. Ich wusste, dass ich dieses Baby von ganzem Herzen liebte. Ich würde sie beschützen, sie wertschätzen und meinen schrecklichen Fehler wiedergutmachen, indem ich für sie sorgte. Sie und ich, gegen alles, für immer. Trotz dieses Vorsatzes konnte ich einen Moment lang die Stimme meiner Schwester hören, die mir vorwarf, dass ich wieder scheitern würde. Sagte mir, dass ich wieder töten würde. Aber sie war tot, und ich hatte das Bild von ihr seit dem Tag, an dem ich erfahren hatte, dass ich eine Tochter bekommen würde, nicht mehr in meine Welt projiziert. Dieser Teil von mir war weg.

„Geht es dir gut?“, fragte Michelle, als sie zurück ins Zimmer kam und mich erblickte.

„Hör auf, mich das zu fragen, mir geht’s gut!“

„Also, ich bin schon nervös. Was, wenn jetzt die Wehen einsetzen?“

„Ich habe noch zwei Wochen, und es heißt, die meisten Erstgebärenden gehen über ihren Fälligkeitstermin hinaus.“

„Aber was wäre, wenn es bei dir eben nicht so ist? Ich würde ausflippen.“

„Es wird alles gut, Michelle. Mütter bekommen selten Wehen und plumpsen innerhalb von Minuten ein Baby auf die Welt. Wenn die Wehen jetzt einsetzen würden, würden wir rechtzeitig ins Krankenhaus kommen.“

„Ich weiß nicht, wie du bei all dem so ruhig bleiben kannst.“

„Das bin ich einfach“, sagte ich. Ich spürte ihr Unbehagen und hängte an: „Michelle, lass mich einfach nicht im Stich, wenn mein Baby da ist, okay? Ich bestehe darauf, dir tausend Bilder von ihr im Schlaf zu zeigen.“

„Werde ich nicht“, antwortete sie, bereits wieder auf dem Bett sitzend und an ihrem Wein nippend.

„Weil du so ziemlich die einzige Familie bist, die ich habe.“

„Ähm, ich gehe nirgendwo hin. Ich möchte, dass sie mich Tante Michelle nennt.“

„Ich auch“, sagte ich, während ich mir das grüne Kleid über den Kopf zog. „Freya wird dich lieben.“

„Freya?“, fragte Michelle und nahm einen großen Schluck vom Rosé. Sie hatte keine Witze gemacht, als sie sagte, dass sie sich heute die Kante geben würde.

„Ja. Freya. Was denkst du?“, fragte ich, während ich das Kleid über meinen Bauch zog.

„Freya …“, sagte sie erneut und dachte über den Namen nach.

Ich holte tief Luft und hätte ihr beinahe verraten, dass meine Tochter den Namen meiner Schwester tragen würde. Aber Michelle wusste nicht, dass ich eine Schwester gehabt hatte. Sie wusste nicht, woher ich kam, sie wusste nicht, wer ich wirklich war.

„Gefällt er dir nicht?“, fragte ich.

„Doch, er ist wunderschön“, sagte Michelle. „Woher kam die Idee?“

„Ich habe ihn in einer Fernsehsendung gehört“, log ich. „Ich finde ihn schön.“

„Es ist perfekt. Freya Claywater. Das klingt wie eine Autorin oder eine preisgekrönte Journalistin oder so etwas.“

Ich lachte und war erleichtert, dass sie mich nicht weiter dazu bedrängte, warum ich den Namen gewählt hatte.

„Und mach dir keine Sorgen, du kannst mir so viele Bilder von Freya zeigen, wie du willst.“

„Gut.“

Ich lächelte und unterdrückte die letzte Welle der Schuld, die ich meiner Schwester gegenüber empfand. Meine Tochter würde ihren Namen annehmen, damit ich mein Verbrechen wiedergutmachen konnte. Und meine Schwester damit ehren, wie ich es immer hätte tun sollen. Ich könnte ihren Namen zum ersten Mal seit jenem Weihnachtsfest laut aussprechen und vielleicht, vielleicht könnte ich Frieden finden und dieses Trauma durch etwas Reines, etwas Wunderbares ersetzen.

„So ruhig ich auch wirke, ich kann ohne dich kein Baby auf die Welt bringen.“

„Und das wirst du auch nicht“, sagte Michelle, stellte ihr Weinglas ab und stand auf, um mir zu helfen, den verdrehten Saum des Kleides zurechtzuziehen. „Aber mit einem Baby ändern sich die Dinge, weißt du?“

„Ja, das tun sie“, sagte ich und musterte mich noch einmal im Kleiderschrankspiegel. Das Kleid war ein wenig eng und etwas kürzer, da es über mein Baby fallen musste, aber es war bequem genug. Ich schaute auf meine Beine. Wenn ich eine Shorts darunter trug, war das Kleid gerade lang genug, um die Narbe auf meinem Oberschenkel zu bedecken.

„Niemand wird es sehen“, sagte Michelle, die meinen Blick richtig gedeutet hatte.

„Bist du sicher?“

„Ja“, antwortete sie.

Meine Narbe war hässlich, aber für jeden bloß die Geschichte, wie ich damals mit elf mit dem Fahrrad in einen Busch gefahren war. Dass es hier in London passiert war, nicht in Schottland – und nicht an dem verhängnisvollen Weihnachten.

Aber ich wusste es, ich wusste es immer, und jedes Mal, wenn ich sie sah, erinnerte sie mich daran, was ich getan hatte. An das Verbrechen, das ich begangen hatte. Nur meine Großeltern hatten einen Teil der Wahrheit gekannt, einiges darüber gewusst, was in dieser Nacht passiert war und dass ich mit den Folgen nicht klarkam. Die Albträume, die Visionen meiner Schwester, die mich verfolgten. Und sie waren beide gestorben und hatten meine Geheimnisse mit ins Grab genommen.

Wenn ich nie darüber sprach, dann war es, als wäre es nie passiert.

„Du siehst fantastisch aus“, sagte Michelle hinter mir und riss mich davon los, auf meine Narbe zu starren.

„Das reicht.“ Ich lächelte und drückte alles nach unten.

„Und deine Brüste. Ugh, ich bin so neidisch.“

„Schwangere Brüste sind nicht sexy.“

„Ich bin anderer Meinung“, sagte Michelle lachend, als sie losging, um ihr Weinglas aufzuheben.

„Kannst du Auto fahren?“, fragte ich und sah neidisch zu, wie sie ihren Wein leerte.

„Ich hatte nur diesen. Mir geht es gut.“

„Also gut, wollen wir das hinter uns bringen?“, fragte ich und schnappte mir ein Paar hellbraune Flip-Flops vom Unterschrank. Ich wusste, dass sie nicht zum Kleid passten. Es war mir egal. Modische Absätze waren ein ferner Traum und meine Füße wurden in Schuhen oder Turnschuhen zu heiß.

Ich verließ das Zimmer, ging über den Absatz meines Hauses in Richtung Treppe. Ich ging an Freyas Zimmer vorbei, dem neben meinem, und schaute hinein. Ich fühlte mich darin immer ruhiger und sicherer und war zufrieden, dass es für sie bereit stand, gefüllt mit Spielsachen, Nachtlichtern und einem hübschen Mobile über dem Kinderbett, das ich selbst gebaut und dekoriert hatte. Ich wusste, dass sie die ersten sechs Monate ihres Lebens nicht darin, sondern mit mir schlafen würde, aber ich wollte, dass es bereit wäre. Michelle blieb neben mir stehen und schaute hinein. Ich konnte ihre Sehnsucht erneut erkennen und sie tat mir leid. Da war ich nun, alleinstehend, überrascht von Freyas Ankunft, und bis ich herausgefunden hatte, dass ich schwanger war, war es für mich nie ein Wunsch gewesen, Mutter zu werden. Ich spürte nicht, wie die biologische Uhr tickte, ich hatte nicht das Gefühl, dass die Zeit ablief. Wenn überhaupt, hatte ich mich mit dem Gedanken abgefunden, dass jemand wie ich, der so viel Unrecht getan hatte, niemals Mutter werden sollte. Mein Verständnis für solche Dinge war getrübt. Ich war überzeugt davon, dass ich wie meine eigene Mutter sein würde, und das brauchte kein Kind. Michelle hatte es jahrelang versucht, war aber nie auch nur einmal schwanger geworden. Es war so grausam. Aber so war das Leben, nicht wahr? Grausam. Ich würde Michelle bitten, die Patin meines Babys zu sein und auf sie aufzupassen, falls mir etwas zustoßen sollte. Für den Fall, dass ich das Gefühl hätte, wie meine eigene Mutter zu werden. Ich hoffte, es würde reichen.

„Dieses Zimmer ist perfekt“, sagte Michelle. Und ich wusste, dass sie es ernst meinte, aber ich spürte auch eine gewisse Traurigkeit darin.

„Das Bettchen hat mich fast umgebracht. Warum gibt es nie genug Schrauben? Und nie was zum Hämmern“, sagte ich und versuchte, sie zum Lächeln zu bringen und aus ihren Gedanken zu reißen. Sie hatte nie etwas gesagt, aber sie war meine beste Freundin. Ich wusste es. „Und ich rede nicht nur von denen für die Möbel“, fügte ich mit dem schmutzigen Witz hinzu, der normalerweise von ihr kam.

Sie lachte. „Ich schätze, wenn man so rund ist, könnte es schwierig mit dem Sex sein“, sagte sie lächelnd und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich, statt auf ihre eigenen Was-wäre-wenn-Gedanken.

„Ja, Mutter Natur weiß einem die Tour zu vermasseln“, sagte ich, und Michelle lachte erneut. Aus ihren Augen waren die Fragen und die Sehnsucht verschwunden.

„Also“, sagte sie entschieden. „Lass uns gehen.“

Ich nahm langsam die Treppe nach unten. Als ich jung gewesen und hierhergezogen war, gefiel mir die Steilheit der alten Treppe. Ich traute mich, immer höher zu springen, bis ich mir beim Versuch, vom Badezimmer zur obersten Stufe zu rennen und mich von oben nach unten zu katapultieren, den Knöchel brach. Ich werde nie den Moment vergessen, als ich abhob und in gefühlter Zeitlupe nach unten schwebte. Ich war überzeugt, dass ich es schaffen würde und wie die Sechs-Millionen-Dollar-Frau ganz unten auf meinen Füßen landen könnte. Ich war so sicher, dass ich auf meinen Füßen landen und weiterlaufen würde, als wäre die Treppe nur eine kleine Stufe. Mein Knöchel verdrehte sich, brach, und als ich gegen die Wand prallte, wusste ich schon am Geräusch, dass ich ihn schwer verletzt hatte. Meine arme Oma wäre fast ohnmächtig geworden, als sie das sah, und zwei Operationen später hatte ich nun einen Metallstift im Fuß, der ihn zusammenhielt. Selbst danach brachte die Treppe noch Abenteuer, Risiko und Spaß. Nun jedoch machten mich die steilen Stufen nervös. Vieles im Haus hatte sich geändert. Es war wunderschön, aber für mich und mein Baby allein zu groß. Und da es sich um ein denkmalgeschütztes Haus aus den 1850er-Jahren handelte, war es ein Albtraum, es kindersicher zu machen. Als ich mit meinen Großeltern hierhergezogen war, neckten mich die Kinder aus der Nachbarschaft deswegen. Sie sagten, es würde spuken und es seien Morde darin geschehen. Wahrscheinlich hatten sie recht, denn schon jüngere Menschen waren in Häusern gestorben. Ich hatte es damals abgetan; es machte mir keine Angst, schließlich kam ich aus einem Dorf in der Wildnis. Und schließlich wurde ich bereits von einem Geist verfolgt. Obwohl das Haus zu groß für mich war, konnte ich es nicht verkaufen; es war alles, was mir von meiner Familie geblieben war. Das alte Haus, umgeben von neueren, kleineren Häusern, hatte ich geerbt, und ich würde es eines Tages an meine Tochter weitergeben. Damit das aber auch klappte, musste ich es zuerst modernisieren. Das Erste: die Treppe. Ich wusste, dass ich einen Herzinfarkt erleiden würde, wenn sie so bliebe, bis die Kleine zu laufen begann.

Ich ging den Flur zur Küche entlang, überprüfte, ob die Hintertür verschlossen war, und schnappte mir meine Tasche. Michelle wartete an der Eingangstür und als sie diese öffnete, flutete grelles, heißes Licht in den Eingangsbereich und zwang mich, die Augen zusammenzukneifen. Augenblicke später strömte die Wärme von draußen herein. Es war heiß heute, heißer als ich dachte. Die alten Ziegel in den Wänden hielten den Ort kühl.

„Komm, wir sind spät dran.“

„Spät? Ich dachte, das wäre eine entspannte Sache nach dem Motto: Komm wann immer du willst?“

„Ist es auch, aber ich möchte an meiner Bräune arbeiten.“

Michelle trat hinaus in den Tag, wurde vom Licht absorbiert und ich folgte ihr. Als ich meine Haustür schloss, glaubte ich für den Bruchteil einer Sekunde, ein kleines Mädchen im Flur zu sehen, meine Schwester. Ich spürte den Schock in mir kribbeln. Ich dachte, sie wäre weg – hatte sie seit Monaten nicht gesehen, nicht, seit ich von meinem Baby erfahren hatte – und jetzt war sie wieder da. Was bedeutete das? Tief in meinem Inneren wusste ich, dass sie kein Geist war, aber sie war da und starrte mich an. Sah mich auf die gleiche fragende Weise an: Wann wirst du die Wahrheit sagen?

Ich blinzelte und sie war weg. Aber sie war wohl nie wirklich fort, zumindest nicht so, wie ich es gehofft hatte. Da wusste ich, dass sie immer zusah und immer wartete.

Stumm antwortete ich ihr: Niemals!

Die Wahrheit würde nie ans Licht kommen. Besonders nicht jetzt, da die Geburt meiner Tochter kurz bevorstand.

Ich schloss das Haus ab, zwang mich zu einem Lächeln und watschelte den Weg hinunter zur offenen Beifahrertür von Michelles Auto.

KAPITEL ZWEI

Die Straßen waren so voll, dass wir von meinem zu Jacks Haus etwas mehr als zwanzig Minuten brauchten. Zu Fuß wäre es schneller gegangen, selbst in meinem Zustand. Während der gemütlichen Fahrt – mit laufender Musik und heruntergekurbelten Fenstern – war ich jedoch froh, dass wir das nicht getan hatten.

Wir parkten vor dem Haus und ich hievte mich aus dem Auto. Wir gingen zum Seitentor, das in den Hintergarten führte, wie wir es schon hundertmal getan hatten.

Jack war seit vier Jahren ein gemeinsamer Freund von uns. Was als nächtliches Zusammentreffen im betrunkenen Zustand begonnen hatte, war in einer tiefen, dauerhaften Freundschaft gemündet. Michelle hatte mit ihm geflirtet, und er hatte ihr erzählt, dass er schwul sei und heiraten würde. Ich weiß noch, wie unbehaglich Jack reagierte, als er ihre nicht gerade subtilen Avancen abwehrte, und ich glaube, er hatte damit gerechnet, dass Michelle verlegen wäre und gehen würde, aber das tat sie nicht. Sie gratulierte ihm, fragte nach seinem Verlobten – Adam, wie wir erfuhren – und als er sich entschuldigte und ihr sagte, er sei geschmeichelt von ihrem Interesse, antwortete sie, dass es ihr nichts ausmache, da ihr die Idee gefiel, einen heißen schwulen Freund zu haben. Er lachte, genau wie ich, und an diesem Abend wurden die beiden dicke Freunde. Jack war auch mein Freund, aber er und Michelle waren wie Pech und Schwefel. Adam war ruhiger als Jack und überließ diesem in den meisten Dingen die Führung. Ich schätze, eine gesunde Beziehung braucht etwas davon, und Gegensätze können sich anziehen. Adam war mir ein bisschen ähnlicher und so waren wir höflich und freundlich, wahrten aber beide unsere Distanz.

Als wir an Jacks und Adams neu gebautem Haus entlanggingen, erwartete ich Musik, plaudernde und lachende Leute zu hören. Aber es war ruhig.

„Sind wir die Ersten?“, fragte ich.

„Weiß nicht, sieht so aus“, sagte Michelle achselzuckend.

Als ich um die Ecke in den Hintergarten bog, stand dort ein offenes Festzelt, das an drei Seiten befestigt und mit Abspannseilen im Boden verankert worden war. Drei Stühle standen im Schatten darunter. Ein Grill stand mit geschlossenem Deckel bereit und im hinteren Teil des Gartens war ein bis zum Rand gefülltes Planschbecken. Ich blickte zum Haus; die hinteren Terrassentüren zur Küche waren offen und ich ging darauf zu.

„Jack?“, rief ich und schaute durch die Tür. Die Küche war leer. „Adam?"

„Sind sie nicht da?“, fragte Michelle hinter mir.

„Nein.“

„Oh, vielleicht sind sie im Wohnzimmer?“

Ich trat ein und ging vorsichtig durch die Küche. Ich war schon oft in Jacks Haus gewesen, aber ohne eine Einladung fühlte ich mich komisch, als würde ich Hausfriedensbruch begehen. „Jack?“, rief ich erneut und ging zur Tür, die ins Wohnzimmer führte. Drinnen waren die Verdunkelungsvorhänge zugezogen, sodass es im ganzen Raum schummrig war. Mir gefiel die Dunkelheit nicht, aber sie hielt nicht lange an.

„Überraschung!“

Als das Licht anging, sprang ich erschrocken zurück und für den Bruchteil einer Sekunde verspürte ich den Wunsch, wegzurennen und mich zu verstecken. Die Angst durchfuhr mich wie ein Blitz, verging aber genauso schnell wieder. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, dann erkannte ich ein Dutzend Leute, die lachten und klatschten, und in deren Mitte Jack und Adam standen.

„Was ist los?“, fragte ich und versuchte, mein klopfendes Herz zu beruhigen.

„Es ist deine Babyparty“, sagte Michelle hinter mir und schlang ihre Arme in einer kräftigen Umarmung um mich.

„Hast du es nicht erraten?“, fragte Jack und kam näher, um mich ebenfalls zu umarmen.

„Nein!“

„Du meinst, Michelle hat es geschafft, das Geheimnis für sich zu behalten?“

„J-ja“, stammelte ich.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich gut mit Geheimnissen umgehen kann“, sagte Michelle und schlug Jack spielerisch auf den Arm.

„Oh, wie wundervoll“, sagte Jack.

„Jack, hast du vergessen, dass ich im achten Monat schwanger bin? Ich hätte mir fast in die Hose gemacht!“

Alle lachten, und da der Moment für Michelle und Jack, die Masterminds hinter der Überraschung, ein voller Erfolg war, kamen alle herbei, um mich zu begrüßen. Da waren Adam, Hayley, Penny, alle Mädchen von der Arbeit und Jacks beiden Neffen, die darauf bestanden, dabei zu sein, weil es Essen und einen Pool gab. Und zu meiner großen Überraschung stand Lucas am Ende der Gruppe. Er lächelte, hob sein Glas und ich lächelte zurück. Ich war froh, dass er da war. Es gab mir das Gefühl, dass ich ihm wichtig war, dass seine Tochter ihn auch interessierte. Nachdem alle anderen Hallo gesagt hatten, kam er herüber. Michelle behielt mich dabei im Auge.

„Du siehst fantastisch aus“, sagte er.

„Ich sehe riesig aus. Ich hätte nicht gedacht, dass du hier sein würdest.“

„Jack hat mich vor ein paar Wochen angerufen. Ich weiß, dass sich die Dinge zwischen uns nicht gut entwickelt haben, aber du liegst mir immer noch am Herzen.“

„Ich bin froh, dass du es geschafft hast.“

Ich gab Lucas einen sanften Kuss auf die Wange und drehte mich um, wo Jack und Michelle uns mit Argusaugen beobachteten. Ich lächelte sie an, um sie wissen zu lassen, dass es mir gut ging.

„Michelle, Jack, ihr hättet das alles wirklich nicht tun müssen.“

„Soll das ein Witz sein?“, sagte Jack. „Du würdest uns ernsthaft den Spaß verwehren, Babykleidung und Spielsachen zu kaufen?“ Er drückte meine Hand.

Adam führte uns in den Garten und nahm die Getränkebestellungen auf. Während er und Jack die Getränke zubereiteten, versammelten wir uns alle unter dem Festzelt. Mein Stuhl stand in der Mitte der Gruppe und Michelle neben mir. Lucas hielt sich außerhalb des Kreises. Michelle bemerkte meinen Blick und sah zu ihm hinüber. Ich lächelte ihn an, sank in meinen Stuhl. Als ich Michelle und Jack offenbarte, dass Lucas und ich Freya nicht gemeinsam großziehen würden, waren sie wütend gewesen. Michelle war sogar so wütend gewesen, dass sie nicht sprechen konnte. Doch nachdem ich ihr erklärt hatte, dass es wirklich eine einvernehmliche Entscheidung gewesen war und dass wir beide wussten, dass es falsch wäre, sie zu einer Beziehung zu zwingen und dass wir sie beide auch auf andere Weise lieben könnten, schienen sie etwas besänftigt. Lucas war mir nicht davongelaufen. Es war das Beste.

Lucas ging zum Grill und ich wandte mich an Michelle. „Du bist fürchterlich.“

„Ja, aber du liebst es.“

„Du hast es so gut versteckt.“

„Was kann ich sagen? Ich kann eben gut mit Geheimnissen umgehen“, antwortete sie, und in diesem Moment wollte ich ihr alles erzählen, aber ich wusste, dass ich das nie könnte. Niemand war so gut mit Geheimnissen. Niemand außer mir.

„Danke“, sagte ich. „Und dass Lucas gekommen ist, bedeutet mir sehr viel.“

„Es ist schön, ihn hier zu sehen, nicht wahr?“

„Ja. Ist es.“

Als Jacks Neffen zu spielen begannen und die Musik einsetzte,

heizte Lucas den Grill an und Adam kam von drinnen mit Flaschen Prosecco für diejenigen, die trinken konnten – alle außer mir und den Kindern – und einer ziemlich großzügigen Kleinigkeit für mich in einem Cocktailglas, von dem er sagte, es sei alkoholfrei. Und während er allen die Gläser füllte, stand Michelle auf. Nachdem die Getränke gefüllt waren, hob sie ihres.

„Ich möchte auf unsere wundervolle Freundin Emily anstoßen, die bald als Erste von uns in die Welt der Elternschaft eintauchen wird. Gott helfe ihr.“

Alle lachten, ich auch.

„Aber im Ernst: Auch wenn alle sagen, dass Mutterschaft furchterregend, schwierig und hart ist …“

„Mach mal langsam, Michelle“, scherzte ich. Ich sah zu Lucas rüber, der nicht mehr lächelte, sondern am Etikett seiner Bierflasche herumfummelte. Aber nicht nur ich schaute zu ihm, alle taten es. Obwohl alle behaupteten, sie fänden es okay, dass Lucas und ich nicht zusammen waren, blieben die Leute anscheinend immer noch der Meinung, er hätte etwas Falsches getan.

„Und vergessen wir nicht die Tatsache, dass sie etwas in der Größe einer Melone aus etwas in der Größe einer Zitrone pressen wird“, fügte Jack hinzu und brachte damit alle zum Lachen, auch Adam, der ihn anschließend für seine Grobheit tadelte.

„Das auch“, fuhr Michelle fort. „Trotz alledem fällt mir niemand ein, der fähiger und besser vorbereitet wäre und ein Kinder besser erziehen könnte als sie.“ Beim letzten Teil wandte sie sich bewusst mir zu.

„Hört, hört!“, sagte Jack.

„Em, du bist die mutigste Person, die ich kenne, und du wirst die leidenschaftlichste und liebevollste Mutter der Welt sein. Auf Em.“

„Auf Em“, sagten alle im Chor und hoben ihre Gläser, und ich sah Lucas noch einmal an. Er trat einen winzigen Schritt zurück und entfernte sich etwas. Michelle hatte es auch gesehen.

Ich wünschte, ich könnte glauben, was Michelle gesagt hatte. Ich wünschte, ich wüsste mit Sicherheit, dass meine Vergangenheit, meine Gene, mein Verbrechen mir die Mutterschaft nicht ruinieren würden. Ich kämpfte dagegen an, nicht die kleinste Träne entwischen zu lassen. Kämpfte und scheiterte, doch glücklicherweise verkündete Jack, bevor es jemand bemerken konnte, dass es Zeit für die Geschenke sei, und nach und nach kamen verpackte Schachteln und Geschenktüten hinter der geschlossenen Seite des Festzelts hervor. Es gab Strampler, Rasseln, Spielzeug, Teddybären, wunderschöne Babykleider und Schuhe, aber auch sensiblere Geschenke wie Windeln und Feuchttücher von Adam.

„Feuchttücher?“, sagte Jack. „Ich habe einen Mann geheiratet, der Feuchttücher für eine Babyparty kauft?“

„Hey, einer von uns muss ja praktisch denken.“

Mit jedem ausgepackten Geschenk fühlte ich, wie die Liebe in meinem Herzen wuchs. Ich hatte die letzten achteinhalb Monate damit verbracht, mich auf die Geburt meines Babys vorzubereiten, auf die Geburt meines kleinen Mädchens, meiner Freya. Achteinhalb Monate lang hatte ich mich darauf vorbereitet, sie ohne eine feste Vaterfigur oder Großeltern, ohne irgendeine biologische Familie außer mir auf die Welt zu bringen. Und jetzt, da ich wusste, dass die Menschen, die mir am nächsten standen, die ich Familie nannte, alle hier waren und es feierten, wusste ich, dass ich bereit war, sie ihnen vorzustellen.

Nachdem alle Geschenke ausgepackt waren, sagte Jack, dass er mit dem Essen anfangen würde, und alle begannen, sich über kleinere Dinge zu unterhalten. Lucas kam näher, stieß mit seinem Bierglas gegen mein Getränk und setzte sich.

„Alles in Ordnung?“, fragte er

„Ja, mir geht’s gut.“

„Ich glaube, ich sollte gehen.“

„Das musst du nicht.“

Er nickte. „Ich verstehe, dass die Leute denken …“

„Es ist mir egal, was sie denken, wir wissen, dass es richtig ist, oder?“

Er sah mich lange an, dann beugte er sich vor und küsste mich auf die Wange. „Brauchst du etwas?“

„Nein, uns geht es gut“, sagte ich und genoss es, dass ich nun ein ‚wir’ war. „Wirst du trotzdem da sein?“

„Ich würde es um nichts in der Welt verpassen.“

Ich lächelte. „Also, sehen wir uns in ein paar Wochen?“

„Wir sehen uns in ein paar Wochen.“

Lucas stand auf, drückte meine Hand und ging weg, Michelle

ein verlegenes Lächeln zuwerfend, als er zurück zum Grillen ging. Michelle setzte sich neben mich und wir sahen zu, wie Lucas sich bedankte, bevor er aus dem Garten schlich.

Als er weg war, drehte sich Michelle zu mir um.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Ja, ist es“, sagte ich wahrheitsgemäß.

Michelle nickte und sprang, etwas betrunken, schnell weiter, um Jack zu helfen, und verschaffte mir dadurch Zeit, mich umzusehen und mir dabei den Bauch zu reiben. Freya hatte eben getreten. Obwohl der Anblick von Lucas einige Gefühle in mir weckte, wusste ich, dass das, was wir taten, für uns alle das Richtige war, und diese Gewissheit gab mir ein Gefühl des Friedens. Meine Freunde plauderten und waren fröhlich, und ich sah Jacks Neffen beim Planschen im Pool zu. Ich stellte mir den Tag vor, an dem ich so etwas in meinem eigenen Garten hatte und meine Tochter darin planschen könnte. Jacks Neffen spielten ein Spiel und ich sah ihnen zu.

Einer der beiden war vielleicht zehn oder elf, der andere ein paar Jahre jünger. Mein Herz wurde etwas schwer davon, ihnen zuzusehen. Sie diskutierten eine Idee und ich hörte ihnen angestrengt zu.

„Fang nicht an zu zählen, bis ich unter Wasser liege“, sagte der Älteste.

„Das werde ich nicht.“

„Okay.“

„Auf die Plätze, fertig, los! Eins zwei drei …“

Der kleinere der Jungen begann laut zu zählen, während der größere seinen Kopf unter Wasser tauchte. Sie versuchten herauszufinden, wer am längsten den Atem anhalten konnte.

„Fünf, sechs, sieben …“

Der größere der Jungen lag flach auf dem Bauch, die Arme ausgestreckt, die Beine auch, wie ein Seestern, reglos, und so sehr ich auch versuchte, es nicht zu tun, so sehr ich auch wusste, dass es mir nicht gut tun würde, so sehr ich auch wusste, es war nicht die richtige Zeit, musste ich an eine Zeit zurückdenken, als ich zu viele Spiele gespielt hatte, vor dieser Nacht, vor diesem Weihnachten.

„Acht, neun, zehn …“

KAPITEL DREI

Damals − 17. Dezember

„Acht, neun, zehn. Ob du bereit bist oder nicht, ich komme!“

Sie drehte sich um. Der Raum war leer, fast so, als wäre nie jemand dort gewesen, und für den kürzesten Moment erinnerte sie sich an die Zeit, als sie noch allein war, bevor Freya geboren wurde. Sie lächelte. Freya wurde immer besser im Versteckspiel und obwohl es erst der erste Tag der Weihnachtsferien war, wusste Emily bereits, dass es einfacher werden würde als letztes Jahr. Freya war älter geworden, sie verstand mehr, sie konnte besser für sich selbst sorgen und sie lernte allmählich, wie man in der Nähe ihrer Mutter ein einfacheres Leben führte. Doch selbst wenn ihre jüngere Schwester in den Schulferien etwas länger auf eigenen Beinen stehen konnte, würde es trotzdem hart werden. Wenn die Weihnachtsfeste zuvor ihr eines gezeigt hatten, dann, dass es ihrer Mutter während der Feiertage am schlechtesten ging. Sie war trauriger, wütender. Gefährlicher. Aber das war sie nicht immer gewesen. Es hatte einmal eine schöne Zeit gegeben. Zeit, in der Weihnachten voller Freude, Lachen, Filme, heißer Schokolade und Übernachtungen im Wohnzimmer gewesen war. Bevor Freya geboren worden war. Emily vermisste diese Zeiten.

Sie verdrängte es, weil sie niemandem half. Sie sang leise „Ich werde dich finden“ und wartete darauf, ihre kleine Schwester kichern zu hören. Nichts. Lächelnd begann sie, sich lautlos auf Zehenspitzen zu bewegen, während sie ausrechnete, wie viele Tage es noch waren, bis sie und ihre Schwester wieder zur Schule gehen konnten.

Neunzehn. Neunzehn Tage.

Mit Versteckspielen würden sie nicht weit kommen.

Die Winterpause war immer härter als die Sommerpause. Im Sommer waren beide Mädchen von morgens bis abends draußen und spielten in der Wildnis hinter ihrem Haus. Sie fingen Schmetterlinge und gingen zum Bach, um den schwimmenden Elritzen zuzusehen. Wenn die Sonne zu heiß war oder der Himmel seine Schleusen öffnete, lagen sie im Schatten eines Baumes. Sie jagten Grillen und Heuschrecken und machten ab und zu Pause, um Ameisennester im Boden zu untersuchen. Sie beobachteten, wie Torfalken, Seeschwalben und Möwen mit Mündern voller kleiner Fische aus dem Meer über ihnen hinwegflogen. Die sechs Wochen Sommerferien waren ruhig, locker, frei. Im Sommer hasste Emily ihr Leben nicht so sehr und war auch nicht so verärgert über ihre Schwester, die ohne eigenes Verschulden das zerstört hatte, was sie und ihre Mutter einmal gehabt hatten. Der Sommer gab ihr ein Gefühl der Hoffnung.

Im Winter waren sie im Haus eingesperrt und dem unerbittlichen schottischen Wetter ausgesetzt. Während der Schule waren sie für die Zeit fort und konnten vorgeben, wie alle anderen Kinder zu sein, aber in den Ferien wurden sie nicht verschont, und obwohl die Winterferien nur halb so lang waren wie im Sommer, fühlten sie sich zehnmal länger an. Es lag wohl an den kurzen Tagen und dem wilden Wetter. Emily wusste, dass sie das akzeptieren musste, ihren Mut nicht verlieren durfte, Freya unterhalten und ihr Sicherheit und das Gefühl geben musste, geliebt zu werden.

Das Leben vor der Geburt ihrer Schwester war einfacher und angenehmer gewesen. Mutter zeigte Zärtlichkeit und Wärme. Und das vermisste sie. Aber nochmals: Es war nicht Freyas Schuld. Sie hatte nicht darum gebeten, geboren zu werden. Mutter wurde einfach traurig und wütend dadurch.

Emily begann, sich leise durch das Wohnzimmer zu bewegen und hinter die Vorhänge zu schauen, obwohl sie wusste, dass Freya nicht da sein würde. Letztes Jahr versteckte sich Freya bei jedem Spiel an dieser Stelle. Ihr Körper hatte von den Knien abwärts unter dem Vorhang hervorgeragt. Letztes Jahr hätte Emily sie mit verbundenen Augen finden können, da Freya auch immer kicherte. Mittlerweile hatte Freya gelernt, sich wie ein Geist zu bewegen und durch das Haus zu schweben. Sie war alt genug, um zu erkennen, dass es besser war, bei ihrer Mutter Ruhe und Unsichtbarkeit zu bewahren. Das hatte Emily in den Monaten nach der Geburt ihrer Schwester selbst gelernt. Unsichtbar war am besten. Schweigen war am besten.

„Ich weiß, dass du hier irgendwo bist“, flüsterte Emily und wartete darauf, etwas zu hören, doch im Zimmer war es still und ruhig. Sie verließ das Wohnzimmer, ging den kurzen, schmalen, unbeleuchteten Flur entlang Richtung Küche und öffnete leise die Tür. Draußen war es bereits dunkel geworden und als sie ihr Spiegelbild im Glas der Hintertür erblickte, erschrak sie, weil sie glaubte, ein Gespenst gesehen zu haben. Sie schauderte, als sie ihr eigenes Bild sah, dünn und blass, oder vielleicht wegen der Kälte. Wahrscheinlich war es beides.

„Ich weiß, dass du hier bist“, sagte sie mit leiser, singender Stimme und versuchte, das Unbehagen zu unterdrücken, das sie allmählich zu spüren begann. „Ich werde dich finden.“

Sie überprüfte die Schränke, von denen die meisten bis auf Krümel und vereinzelte staubige Nudeln leer waren, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Zurück im Korridor bewegte sie sich leise durch die Dunkelheit. Die Glühbirne im Flur war schon vor einigen Monaten kaputtgegangen, aber noch immer war sie nicht ausgetauscht worden. Es machte ihr nichts aus. In den letzten Monaten hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit des Hauses gewöhnt.

Als sie unten an der Treppe ankam, war ihr klar, dass Freya, nachdem sie das Wohnzimmer und die Küche überprüft hatte, nur nach oben hätte gehen können. Der Aufstieg war riskant und konnte in Schwierigkeiten enden. Und sie wusste nicht, ob ihre Schwester mutig oder dumm war. Mutters Tür war geschlossen und beide wussten, was das bedeutete. Sie wussten beide, was passieren würde, wenn man sie öffnete, bevor Mutter dazu bereit war.

Emily wollte ihrer Schwester zurufen – es war kaum mehr als ein Flüstern – dass das Spiel vorbei sei. Nicht einmal das wagte sie.

Auf Händen und Knien begann sie nach oben zu kriechen und hoffte, dass die Stufen nicht knarrten. Oben blickte sie den Flur entlang. Die Tür am Ende war unberührt. Mutters Tür war noch geschlossen und sie dankte Gott, dass Freya nichts so Dummes getan hatte. Emily drehte sich um und ging in ihr Schlafzimmer. Drinnen schloss sie leise die Tür und erst jetzt traute sie sich zu flüstern:

„Freya? Fry? Bist du hier?“

Sie wartete auf ein Geräusch, ein Schlurfen, eine Stimme, aber nichts.

„Wo bist du? Freya? Das Spiel ist vorbei. Wir sollten hier oben nicht spielen. Du weißt es besser. Komm raus, wir können unten weiterspielen.“

Sie schaute unter beiden Betten und im Kleiderschrank nach und geriet in Panik, als die Schranktür quietschte, als sie sie öffnete. Alles, was sie hier vorfand, waren Stapel von Kleidung, manche sauber, manche schmutzig. Manche passten auch nicht mehr.

„Komm schon, ich spiele nicht“, sagte sie mit aufkeimender Panik.

Sie wusste, was passieren würde, wenn sich die Tür am Ende des Korridors öffnete, und je länger sie oben blieb, desto wahrscheinlicher wäre das. Manchmal war Freya ein Geschenk des Himmels, manchmal wollte Emily sie umbringen.

„Du brockst uns noch richtig Ärger ein, Freya.“

Sie verließ ihr Schlafzimmer und sah ins Badezimmer. Ein Wasserhahn tropfte, der Duschvorhang hing an der Stange wie ein Betrunkener, der sich an einen Türrahmen klammerte. Freya war auch nicht hier.

„Bitte, bitte, das Spiel ist vorbei. Wo bist du?“, flüsterte sie und wurde immer genervter von ihrer Schwester, während sie zurück in den Flur blickte. Sie hatte alle Zimmer überprüft, alle bis auf eines.

Alle, außer das ihrer Mutter.

Emily war überzeugt, dass ihre Schwester nicht dorthin gehen würde, sie wusste es besser. Es gab jedoch keinen anderen Ort, an dem sie sonst sein konnte.

„Hast du nicht, oder?“, flüsterte sie vor sich hin.

Langsam bewegte sie sich auf die geschlossene Tür zu und erst, als sie nahe genug war, entdeckte sie, dass sie nicht ganz geschlossen war, sondern einen Spalt offenstand. Sie stieß die Tür vorsichtig auf, gerade weit genug, um hineinschauen zu können. Auf dem Bett erkannte sie in der Dunkelheit einen Hügel, einen Arm, der über die Kante hing, eine abgebrannte selbstgedrehte Zigarette zwischen den Fingern. Sie wollte nach ihrer Schwester rufen und ihr sagen, sie solle leise herauskommen, doch die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Was, wenn Mutter aufwachte? Was würde passieren?

Dann sah sie neben dem Bett, neben dem Hügel, unter den Decken, ein kleines Gesicht. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg, die aber schnell von der Wut auf ihre Schwester und ihre Dummheit verdrängt wurde. Sie unterdrückte sie so gut es ging. Langsam legte sie einen Finger auf die Lippen und forderte ihre Schwester lautlos auf, stillzuhalten.

Freya nickte und beide hielten den Atem an, als der Hügel auf dem Bett zuckte. Mutter murmelte etwas, das Emily nicht verstand, aber was auch immer es war, es klang wütend, als ob ihr der Schlaf an sich weh tat. Dann, gerade als Emily befürchtete, sie würde aufstehen und sie ansehen, wobei sich der Blick ihrer Augen in ihre Seele bohren würde, wie nur Mutters Augen es konnten, drehte sie sich um und beruhigte sich wieder.

„Das Spiel ist vorbei“, formte Emily mit den Lippen.

Freya schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Du musst mich berühren, um zu gewinnen“, flüsterte sie zurück.

Emily legte einen Finger auf die Lippen, um ihre kleine Schwester erneut zum Schweigen zu bringen. Freya wusste nicht, wie schlimm es wäre, wenn Mutter aufwachen würde. Sie wusste, dass ihre Mutter ein hitziges Gemüt hatte, aber Emily sorgte dafür, dass sich dieser Zustand vor allem gegen sie richtete. Sie würde die Schläge einstecken, sodass Freya es nicht musste, auch wenn Freya die meiste Zeit der Grund für Mutters Wut war.

Es bedeutete, dass Freya Mutter weniger fürchtete. Und obwohl Emily stolz ihr Wort gehalten hatte, ihre Schwester zu beschützen, war sie frustriert, denn je älter Freya wurde, desto größer wurde das Risiko für sie beide. Und obwohl sie es nie gesagt hat, war alles Freyas Schuld. Vor ihr war das Leben freundlicher. Vorher gab es nur Mama. Nun, Mutter hatte viele Formen. Es gab die wütende Mutter, die schläfrige Mutter, die ruhige Mutter, die traurige Mutter, die tanzende Mutter, die falsche Mutter, die lustige Mutter – die schon lange vermisst wurde – und die schlimmste, die Monstermutter. Wenn die Monstermutter in der Nähe war, versteckte sich Freya meistens. Versteckte sich unter ihrem Bett oder im Kleiderschrank. Immer ein Spiel, wie jetzt. Freya wusste nicht, wie schnell das Spiel hässlich werden konnte.

Sie winkte Freya herüber, sagte ihr, sie solle schleichen, doch diese schüttelte erneut den Kopf. „Du musst mich berühren, damit das Spiel vorbei ist“, sagte sie. Emily wusste, dass Freya nicht nachgeben würde, Regeln waren Regeln, also öffnete sie widerstrebend die Tür ein wenig mehr und betrat das Zimmer, wobei sie den Hügel über dem Bett im Auge behielt. Sie wusste, dass sie nicht hier sein sollte, dass keiner von ihnen hier sein sollte. Dieser Raum war nicht wie die anderen Räume im Haus, dieser Raum war dunkler, kälter. Sie hatte das Gefühl, als würden die Wände sie beobachten, und das auf dieselbe Art, wie Mutter sie beobachtete, wenn sie eine Flasche mit ihrem Spezialwasser in der Hand hielt und wegen der klaren Flüssigkeit jedes Mal das Gesicht verzog, wenn sie daraus trank. Vor ein paar Jahren, als sie etwa acht oder neun gewesen war, probierte Emily Mutters spezielles Wasser. Sie wollte wissen, was daran so besonders war und warum Mutter es in ihrem Schlafzimmer versteckte. Es schmeckte wie etwas, womit man eine Toilette putzen würde, und nachdem sie es getrunken hatte, geriet ihre Welt ins Wanken, bis ihr schlecht wurde. Aber Mama wurde davon nicht krank, sie lachte, tanzte und weinte manchmal, aber vor allem schlief sie davon. Und dann, am nächsten Tag, machte es sie wütend. Immer wütend, bis sie mehr trank.

Als sie auf gleicher Höhe mit dem Bett war, nur Zentimeter von dem Schlafhügel entfernt, trat Emily mit ihrem nackten Fuß auf etwas Spitzes und musste kämpfen, um nicht zu schreien. Schreien würde nur zu noch mehr Schreien führen. Der Schmerz in ihrem Fuß war hell und weiß wie ein Schneesturm, aber er war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den sie spüren würde, wenn Mutter aufwachte. Mit Tränen, die ihre Sicht trübten, setzte sie sich auf den nackten Boden und lächelte Freya an, die besorgt aussah. Sie zwinkerte ihrer jüngeren Schwester, um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Dann holte sie tief Luft und zog eine kleine Glasscherbe aus ihrem Fußballen. Sie versuchte, einen Schrei zu unterdrücken, und es gelang ihr, bis auf ein leises Wimmern. Der Hügel auf dem Bett bewegte sich und sie erstarrte mit weit aufgerissenen Augen. Mutter rollte sich herum, ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, ihr Atem übelriechend wie der eines sterbenden Tieres. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, bis sie sicher war, dass Mutter sich nicht weiter rührte. Während sie ihren Fuß hielt, lief Blut über ihre Ferse auf den Boden. Sie wollte weinen, aber zu weinen half nicht. Es half nie. Nicht länger.

Als Mutter wieder ruhig dalag, kroch sie am Kopfende des Bettes an ihrer Schwester vorbei und berührte ihre Schulter.

„So, jetzt hab ich dich. Wir müssen los, bevor Mutter aufwacht.“

Ihre Schwester nickte. Ihr Gesicht war grau vom Anblick des Blutes, und sie begannen davon zu kriechen. Emily blieb vor Mutter stehen, half ihrer Schwester vorbei, und als Freya die Tür erreichte, stand sie auf und öffnete sie, um zu gehen. Das Scharnier quietschte wütend und der Hügel bewegte sich.

„Geh in unser Zimmer und versteck dich sofort unter deinem Bett“, flüsterte Emily und Freya nickte, wobei sie nicht Emily ansah, sondern auf etwas hinter ihr. Als Freya davonhuschte, drehte sich Emily um und stand Mutter Auge in Auge gegenüber – nicht der lustigen Mutter, nicht der tanzenden Mutter, nicht der traurigen Mutter oder der glücklichen Mutter. In ihren Augen war ein Hass zu erkennen, den nur eine Mutter jemals zeigte. Emily stand vor Monstermutter.

KAPITEL FÜNF

Ein Sommerabend in London hatte etwas Besonderes. Vogelgezwitscher, spielende Kinder in ihren Gärten, überall hing der Geruch vom Grill in der Luft. Es fühlte sich so einfach an, als wäre das Leben nicht diese Herausforderung, zu der wir es machten, wenn es nass und kalt war. Die Sonne schien und alles wirkte unbeschwert. Und das dachte nicht nur ich. Ich sah die Leute während meines Spaziergangs lächeln, reden und lachen. Eine Gruppe Teenager kam vorbei und hörte Musik aus einem Telefon. Als sie mich entdeckten, traten sie auf die Straße, damit ich nicht ausweichen musste. Ich dankte einem der jungen Männer, der entgegnete, es sei ihm ein Vergnügen. Ältere Menschen begegneten mir ebenfalls. Eine Frau fiel mir ins Auge, in deren Gesicht tiefe Nostalgie aufblitzte, als sie mich sah, sie lächelte dabei jedoch.

Der Spaziergang tat mir gut. Ich spürte, wie sich die Verspannung in meinen Hüften etwas löste, und der Schmerz in meinen Füßen nachließ, als die Durchblutung zunahm. Das Gehen mit so viel Übergewicht tief in meinem Becken war harte Arbeit. Aber ich liebte es. Ein Spaziergang in der kühlenden Brise war das perfekte Gegenmittel gegen einen heißen und unangenehmen Nachmittag in der Sonne.

Eine Viertelmeile von meiner Haustür entfernt näherte ich mich der Unterführung, die unter der Hauptstraße verlief, einem kurzen, gut beleuchteten Gang, durch den ich im Handumdrehen hindurchschlüpfen konnte. Als der Schatten des Betons die Luft weiter abkühlte, seufzte ich. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass meine Haut wegen der Hitze nicht juckte. Ich ließ meine Hand am Geländer entlangleiten, wollte nicht den Halt verlieren und stürzen. Ich lachte in der Erinnerung auf; bei dieser Unterführung handelte es sich um dieselbe, die mir vor fünfzehn Jahren mehrere Nähte am Knie beschert hatte. Ich war mit Christine, einer alten Schulfreundin, auf unseren Rollerblades unterwegs gewesen und sie forderte mich auf, so schnell wie möglich nach unten zu fahren, und das war in Ordnung. Ich hatte es bestimmt schon fünfzig Mal gemacht, diesmal allerdings ohne zu wissen, dass ein Biker auf der anderen Seite dieselbe Idee hatte. Wir kollidierten unten. Der Fahrer trug ein paar Beulen und Prellungen davon, ich riss mir ein gutes Stück des linken Knies heraus. Ich humpelte an dem Tag blutend nach Hause, und Nana wäre wieder einmal fast ohnmächtig geworden. Ein weiterer Krankenhausaufenthalt, eine weitere schlaflose Nacht für sie. Jetzt, fünfzehn Jahre später, schlurfte ich hochschwanger und mich am Geländer festhaltend dieselbe Unterführung entlang. Es war schon lustig, wie sich das Leben ändern konnte. Wenn ich darüber nachdachte, war mir nie in den Sinn gekommen, wie schwer es für Nana gewesen sein musste, mich mit meinem ganzen Ballast und all meinen Komplikationen zu ertragen. Ich wünschte, ich hätte das verstanden, als sie noch lebte.

Als ich das Ende der Rampe erreichte, hielt ich inne, bevor ich die andere Seite der Unterführung hinaufging. Es war ein harter Weg und auf halber Strecke musste ich anhalten, mich festhalten und ein paar Lungenzüge kühle, stille Luft einatmen, bevor ich wieder in die warme, süßliche Stadtatmosphäre eintauchte. Von hinten kam rasch ein Mann auf mich zu, die Hände in den Taschen vergraben, und obwohl ich wusste, dass er da war, zuckte ich zusammen, als er mich ansprach.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Er sah, wie ich zurückschreckte.

„Scheiße, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte er.

„Nein, alles gut“, sagte ich.

„Sind Sie in Ordnung?“

„Ja, danke, ich genieße nur die kühle Luft.“

„Okay, ich wollte nur nachfragen. Einen schönen Abend noch.“ Er lächelte, aber es erreichte seine Augen nicht.

„Gleichfalls.“

Der Mann ging hinauf, und als er oben an der Rampe ankam, drehte er sich nicht um, sondern bog nach links ab und ging fort. Ich schätzte, die Schwangerschaft hatte mich übervorsichtig gemacht. Mit jedem Tag, der der Geburt meiner Freya näher rückte, kam mir auch die Vergangenheit, dieses Weihnachtsfest, näher vor.

Ich kämpfte mich hinauf und zurück in das Licht und die Wärme des Tages, drehte mich in die entgegengesetzte Richtung als der Mann und ging meine Straße entlang. Ich wollte reingehen, eine kühle Dusche nehmen, bevor ich mein Körpergewicht in Chips verdrückte und im Bett einen Serienmarathon hinlegte. Perfekt.

Während ich auf meine Tür zulief, griff ich in meine Tasche und holte die Schlüssel heraus. Ich suchte gerade den richtigen, als ich eine schnelle Bewegung hinter mir wahrnahm. Jemand rannte auf mich zu. Bevor ich reagieren konnte, blitzte ein strahlend weißes Licht vor meinen Augen auf und ein Knallen hallte in meinem Kopf wieder. Ich fiel. Legte die Arme auf meinen Bauch, um mein Baby zu schützen, als mein Gesicht auf den heißen Asphalt prallte. Benommen spürte ich ein heftiges Stechen in der Schulter, und als die Welt um mich herum zu verblassen begann, sah ich die Füße von jemandem. Ich hoffte, sie kämen, um zu helfen, aber im Gegenteil – sie rannten weg.

Die Welt wurde schwarz.