Kapitel 1
Ayleswick-on-Teme, Shropshire
Dienstag, 3. August 1813
Die Fliege verriet es ihm.
Im Dunst des frühen Morgenlichts sah die Tote aus, als schliefe sie. Ihre dunklen Wimpern ruhten auf den eierschalenfarbenen Wangen, ihre Lippen waren leicht geöffnet. Sie lag am Rand einer von Klee übersäten Wiese in der Nähe des Flusses, ihr Kopf ruhte auf einem moosbewachsenen Ast. Die Hände lagen gefaltet auf der hoch angesetzten Taille ihres modernen, taubengrauen Morgengewands.
Da kroch die Fliege aus ihrem Mundwinkel.
Archie schaffte es mit Mühe und Not zum nächsten Ginsterbusch, um sich seines Frühstücks aus Brot und Käse wieder zu entledigen.
»Nun, nun, mein Junge«, sagte Constable Webster Nash, der auch als Küster und Glöckner des Dorfes tätig war. »Nicht so empfindlich. Da ist doch kaum Blut.«
»Mir geht es gut.« Archie hob sich erneut der Magen, und sein dürrer Körper erzitterte, aber er schluckte hart und richtete sich mühsam auf. »Mir geht es gut.« Nicht dass es eine Rolle spielte; auch wenn er es noch hundertmal sagte, würde sich im Dorf bis Mittag herumsprechen, wie der junge Squire sich beim bloßen Anblick einer toten Frau übergeben hatte.
Archie fuhr sich mit dem Rücken seiner zitternden Hand über den Mund. Archibald Rawlins war erst seit fünf Monaten Squire of Ayleswick. Die Ehre war seinem Vater und dessen Vater, und weiter zurück durch die Jahrhunderte jenem kampferprobten Landjunker zugesprochen worden, der das Gehöft am Ufer des Flusses Teme erbaut und erfolgreich gegen alle Ankömmlinge verteidigt hatte. Eine der angesehenen Pflichten des Squire war es, als Friedensrichter oder Magistrat des Dorfes tätig zu sein. So war es dazu gekommen, dass Archie an diesem nebligen Morgen in der Flussaue stand und auf den Leichnam der schönen jungen Witwe hinunterblickte, die vor knapp einer Woche im Dorf eingetroffen war.
»Das ist eine sündige Tat«, sagte Nash und schnalzte mit der Zunge durch eine Zahnlücke. »Eine Sünde, wenn eine Frau sich so das Leben nimmt. In der Bibel steht ›Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.‹ Und ich schätze mal, das gilt für Frauen genauso wie für Männer.«
Archie räusperte sich. »Ich denke nicht, dass wir das schon so sagen können – dass sie sich das Leben genommen hat, meine ich.«
Constable Nash stieß einen Ton aus, der zwischen einem Grunzen und einem verächtlichen Lachen lag, bückte sich und hob die braune Glasflasche auf, die neben ihr im Gras lag. »Laudanum«, sagte er und drehte die Flasche mit dem Etikett »Gift« in Archies Richtung. »Die hat sie geleert.«
»Die habe ich ebenfalls bemerkt.«
Archie schaute auf den säuberlich zusammengelegten Spenzer der Frau. Er lag gemeinsam mit dem breitkrempigen Strohhut mit Samtbordüre neben ihr, als habe sie beides ausgezogen und sorgsam beiseitegelegt, bevor sie sich niederließ, um – was zu tun? Eine enorme Dosis einer Tinktur zu trinken, die in kleinen Mengen Schmerzen linderte, in großen jedoch den Tod brachte?
Das war die offensichtliche Schlussfolgerung. Und doch …
Archie ließ den Blick über die Lichtung wandern. Die Wiese wirkte geradezu unheimlich ruhig, und es war so still, als hätte der vom Fluss heranwabernde Nebel alle Geräusche verschluckt. Der Junge, der im Morgengrauen über die Leiche der Frau gestolpert war und sie beide hergeführt hatte, war inzwischen verschwunden, und die Lebewesen in Wald und Feld waren sämtlich geflohen oder hielten sich versteckt. Selbst die unsichtbaren Vögel in den Baumkronen schienen abgeneigt, das Schweigen mit ihrem üblichen, fröhlichen Morgengesang zu durchbrechen. Archie fühlte, wie es ihm kalt den Rücken hinauflief, als spürte er eine böswillige Präsenz an diesem Ort, etwas Übles, eine Störung in der friedlichen Ordnung der Dinge, die, obgleich unerklärlich, dennoch real war.
Aber er hatte nicht die Absicht, gegenüber dem unwirschen und pragmatischen Konstabler an seiner Seite solche überspannten Wahrnehmungen auszudrücken. Also sagte er lediglich: »Ich glaube, Sie sollten die Flasche an ihren Platz zurücklegen, Nash.«
»Was?« Der Konstabler zog eine Grimasse, und die Farbe seiner runden, geröteten Wangen intensivierte sich noch.
Archie gab sich alle Mühe, seiner Stimme die nötige Autorität zu verleihen. »Legen Sie sie genauso zurück, wie Sie sie gefunden haben, Constable. Bevor wir es nicht sicher wissen, sollten wir das Ganze wie einen Mord behandeln.«
Constable Nashs Gesicht legte sich in Falten. Seine kleinen, dunklen Augen verschwanden immer in den Rundungen seines Gesichts, wenn er belustigt oder verärgert war, und das taten sie just jetzt. Aber er sagte nichts.
»Im Dorf weilt ein Viscount«, sagte Archie. »Er ist gerade gestern Abend eingetroffen. Ich habe schon von ihm gehört; sein Name ist Devlin, und er arbeitet manchmal mit der Bow Street zusammen, um Morde aufzuklären. Ich werde ihn in dieser Sache um Rat fragen.«
»Is doch nich nötig, nen großen Londoner Lord zu belämmern. Ich sag doch, die hat sich selbst getötet.«
»Vielleicht. Aber ich möchte sicher sein.«
Archie richtete seinen Hut und glättete die Aufschläge seines schlichten Cordmantels. Sich gegen den großspurigen und rücksichtslosen Constable des Dorfes zu behaupten, war das eine; immerhin konnte Archie auf gute sechshundert Jahre Tradition und Vermächtnis der Rawlins zurückgreifen.
Sich dem Sohn und Erben des mächtigen Earl of Hendon zu nähern und ihn zu bitten, einem einfachen Dorfadligen bei der Ermittlung im Todesfall einer Fremden zu helfen, war schon eine deutlich beängstigendere Aufgabe.
Kapitel 2
Im Schatten der gedrungen wirkenden, altersgebeugten normannischen Kirche kuschelten sich die malerischen Fachwerk-Cottages des Örtchens Ayleswick in Shropshire aneinander, das südwestlich von Ludlow am Ufer des Flusses Teme lag. Einst war es Sitz der Benediktinerabtei St Hilary gewesen, die im Grenzland zu Wales als Pilgerstätte berühmt gewesen war, da sie eine antike Holzstatue der Jungfrau Maria beheimatete, der man Wundertätigkeit nachsagte.
Doch das Kloster war längst verschwunden, die berühmte Statue dem Feuer überantwortet und viele Steine des ausgedehnten Klosterkomplexes verkauft oder den Hügel hinaufgeschafft worden, um ein protziges Tudor-Anwesen zu errichten, das als Northcott Abbey bekannt war. Das einst florierende Dorf war in Düsternis versunken und beheimatete dieser Tage nur noch ein respektables Gasthaus, das Blue Boar. Das baufällige Fachwerkrelikt wies auf den Dorfanger und die enge, gewundene Hauptstraße hinaus.
Sebastian St Cyr Viscount Devlin stand in seinem Zimmer am Fenster. Der Ausblick auf den nebelverhangenen Anger, der vom Sprossenmuster der antiken Bleiglasfenster durchbrochen wurde, vermittelte den Eindruck ländlichen Friedens, von Unschuld, Harmonie und zeitloser Anmut. Doch Sebastian wusste, dass nicht immer alles war, wie es schien, genauso wie er wusste, dass diejenigen, die die Geheimnisse der Vergangenheit aufstöberten, Wahrheiten herausfinden konnten, die sie lieber niemals erfahren hätten.
Er sah auf die mechanische Nachtigall in seinen Händen. Sie war für eine alte Frau erworben worden, der er nie begegnet war – von einem Mann, der nun tot war. Deshalb war Sebastian in das Heimatdorf der alten Frau gekommen, um ihr das Geschenk ihres toten Enkels zu überreichen.
Er hörte das leise Geräusch von Röcken aus Musselin, als Hero zu ihm kam, die Arme um ihn legte und ihren dunkelhaarigen Kopf an seinen legte. Die große, klassisch schöne und beeindruckende Frau war nun seit einem Jahr seine Gattin. Ihr gemeinsamer kleiner Sohn schlief friedlich in seiner Wiege, und Sebastian liebte Mutter und Kind mit einer leidenschaftlichen Zärtlichkeit, die ihm Ehrfurcht, Bescheidenheit und zugleich Angst verlieh.
Sie nahm ihm die Nachtigall aus der Hand, drehte den Schlüssel, der geschickt unter den Schwanzfedern verborgen war, und stellte den Vogel auf die niedrige Fensterbank vor ihnen. Langsam schlugen die vergoldeten Flügel der Nachtigall auf und ab, und die Edelsteine an ihrem Kragen funkelten in der Sonne des frühen Morgens, während eine liebliche Melodie erklang.
Sie fragte: »Soll ich dich begleiten?«
Er zögerte; seine Aufmerksamkeit wurde von einem Landedelmann auf sich gezogen, der, in einen unmodernen Mantel aus Cordstoff gekleidet, auf die Tür des Gasthauses zuschritt. »Meinst du nicht, eine einfache, alte Landfrau könnte von einem Besuch von uns beiden überfordert sein?«
»Wahrscheinlich schon«, gestand sie ein, obgleich sie leicht die Stirn runzelte. Sie wusste, dass die Nachtigall nur zum Teil Grund für seine Reise in dieses kleine Dorf in Shropshire war. Die Möglichkeit, dass die unbekannte alte Frau die Antwort auf eine Frage besaß, die seine Welt erschüttert und für immer sein Selbstverständnis verändert hatte, beschleunigte seinen Puls und bereitete ihm Bauchgrimmen. Auch das wusste Hero.
Ein unerwartetes Pochen an der Zimmertür ließ Sebastian den Kopf drehen. »Ja?«
Eine rüstige, koboldgesichtige Frau mittleren Alters mit einem wuscheligen eisengrauen Haarschopf, den eine Morgenhaube nur unzureichend im Zaum hielt, öffnete die Tür und knickste hurtig. »Der junge Squire Rawlins, Mylord. Sagt, er bittet um Entschuldigung Seiner Lordschaft, aber er muss Euch unbedingt sehen, wirklich.« Sie beugte sich vor und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ich glaub, s’is wegen der Lady, Mylord. Hab gehört, wie Constable Nash der Köchin davon erzählt hat.«
»Welche Lady?«
»Na, die wo sie heut Mor’n unten in der Wiese beim Wasser gefunden haben. Die wo tot is!«
Er wechselte einen stummen Blick mit Hero.
Die mechanische Nachtigall auf der Fensterbank hörte auf, sich zu bewegen, und stand wieder still.
*
»Ich mein ja, der Squire is noch’n bisschen jung für’n Friedensrichter«, vertraute das Zimmermädchen Sebastian an, als es ihn die Treppe hinunter begleitete. »Hat erst vor ein paar Monaten das Amt von seinem Vater übernommen. Eine Tragödie, echt wahr. Der Squire selig is am einundzwanzigsten Geburtstag des Buben gestorben.«
»Das ist in der Tat tragisch«, sagte Sebastian.
Das Zimmermädchen nickte. »Hat drei Flaschen Port geleert und dann versucht, mit seinem besten Jagdpferd über die Steinmauer beim Teich zu springen. Der Klepper hat’s geschafft, aber der alte Squire nich. Hat sich das Genick gebrochen.«
»Wenigstens das Pferd hat überlebt.«
»Aye. Wär’ne Schande gewesen, wenn’s auch noch Black Jack gekostet hätt. Der is’n großartiger Jagdgaul. Der Beste im Stall vom Squire.« Sie schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, als sie die beflaggte Eingangshalle des Inns erreichten und zu dem kleinen Salon links der Treppe gingen. »Hier, bittschön, Mylord.«
Der Squire stand neben dem Kamin im Salon und drehte seinen Hut in den Händen. Er hatte ein weiches, jungenhaftes Gesicht. Seine Nase und die Wangen waren von der Sommersonne gerötet, und er sah eher wie sechzehn aus als wie einundzwanzig. Er war von mittlerer Größe, dünn und schlaksig, und bewegte sich, als müsse er sich erst noch an die Länge seiner Arme und Beine gewöhnen.
»Lord Devlin«, sagte er und machte einen hastigen Schritt nach vorn. Das Zimmermädchen knickste und zog sich zurück. »Ich bin Archibald – Archie – Rawlins, Friedensrichter in Ayleswick. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Euch ohne förmliche Bekanntmachung aufsuche, aber im Dorf ist ein recht eigenartiger Mord geschehen, und da mir bekannt ist, dass Ihr in solchen Dingen erfahren seid, hatte ich gehofft, Ihr seiet vielleicht bereit, mich zu beraten, wie ich in dieser Sache am besten vorgehe. Der Konstabler hält es für Selbstmord, aber ich … ich …«
Der junge Mann unterbrach seinen hastig vorgebrachten Redeschwall.
»Sie halten den Todesfall für verdächtig?«, mutmaßte Sebastian.
Archie schluckte mühsam, sodass sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, und nickte. Sebastian registrierte durchaus, dass der junge Mann nicht sagte, weshalb er den Fall für verdächtig hielt.
Er verspürte den Drang, dem jungen Squire zu sagen, dass seine Bitte nicht erfüllbar sei, dass er nur wenige Tage im Dorf weile und schon bald wieder weg sei. Er wollte sicher nicht in einen Dorfmord involviert werden.
Doch dann nahm er die Unsicherheit und Ernsthaftigkeit in den Augen des jungen Mannes wahr und erinnerte sich an die wohlwollende Verächtlichkeit in der Haltung des Zimmermädchens gegenüber dem frisch gebackenen Friedensrichter des Dorfs. Und so hörte er sich selbst sagen: »Warten Sie, ich hole meinen Hut und meine Handschuhe.«
Kapitel 3
»Ihr Name ist – oder ich sollte wohl sagen, war – Emma Chance«, erklärte der Squire, während sie einem schattigen Pfad folgten, der von der Hauptstraße aus durch eine dichte Waldung von Eichen und Buchen zum Fluss hinunterführte. »Sie ist eine junge Witwe, erst letzten Freitag im Dorf angekommen.«
»Hat sie hier Familie?«, fragte Sebastian und setzte vorsichtig seine Schritte auf dem rutschigen Trampelpfad, der von den Bäumen beschattet wurde und vom letzten Regen noch matschig war.
Rawlins schüttelte den Kopf. »Sie reiste durch Shropshire, um Zeichnungen zu machen. Ihr solltet ihre Gemälde und Aquarelle sehen; sie sind ganz außergewöhnlich.«
»Wie alt war sie, sagten Sie?«
»Sie hat mir erzählt, dass sie Captain Chance mit zwanzig Jahren kennengelernt hat und sieben Jahre verheiratet war. Ich denke also, sie muss sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt sein. Er ist vor sechs Monaten in einem amerikanischen Gefängnis am Fieber gestorben.«
»Wie tragisch. Wer reist mit ihr?«
»Nun, ihre Zofe hat sie begleitet.«
»Sonst niemand?«
»Nein.«
Es war höchst ungewöhnlich für eine Frau von guter Herkunft – selbst für eine Witwe –, ohne männlichen Verwandten zu reisen. Sebastian sagte: »Sie haben sich also mit ihr unterhalten?«
»Mehrere Male. Sie hat gefragt, ob sie den Grange zeichnen dürfe, und ich habe es ihr gestattet. Der ursprüngliche Teil des Anwesens geht auf das dreizehnte Jahrhundert zurück, müsst Ihr wissen.«
»Und den hat sie gezeichnet?«
»Am Samstag, ja.«
»Wann wurde sie zum letzten Mal gesehen?«
Rawlins blieb am Rand der Flussaue stehen, drehte sich um und sah ihn ahnungslos an. »Das weiß ich nicht genau. Das ist wohl eine der ersten Fragen, die ich klären sollte?«
Sebastian kniff zum Schutz vor der stärker werdenden Morgensonne die Augen zusammen, während er eine Baumgruppe am anderen Ende der Wiese betrachtete. »Es wäre hilfreich.«
Das ausgedehnte Grünland neben dem Fluss wurde bei Bedarf anhand eines sorgfältig kontrollierten Zusammenspiels aus Schleusentoren, Kanälen und Ackergräben bewässert. Die letzte Heuernte war noch nicht lange her; das Gras war kurzgeschoren, und in der Luft hing der liebliche Duft nach frischem Wachstum und dem kühlen Wasser des langsam fließenden Flusses. Nur das laute Gebrumm von Fliegen neben einem etwas entfernten Erlenhain deutete auf die Anwesenheit des Todes hin.
Sie überquerten die Lichtung und näherten sich einem angriffslustig wirkenden Mann mittleren Alters, den Rawlins als Constable Nash vorstellte. Er stand neben der Leiche der jungen Witwe und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Sebastian erinnerte sich, dass Rawlins gesagt hatte, der Konstabler sei von einem Suizid der Frau überzeugt. Constable Nash hielt augenscheinlich wenig davon, dass der neue Friedensrichter seine Einschätzung hinterfragte.
Die sterblichen Überreste von Emma Chance lagen zu seinen Füßen. Ihr Kopf war auf einen liegenden Baumstamm gebettet, ihre unbehandschuhten Hände über dem Herzen gefaltet, als liege sie bereits in ihrem Grab. Selbst im Tod war sie eine Schönheit mit anmutigen Zügen, makelloser Haut, einem langen und grazilen Hals und dichtem dunkelbraunem Haar. Eine modische Weste und ein Hut lagen neben ihr, unter der Krempe sah ein Finger eines feinen grauen Handschuhs hervor. Eine leere Laudanum-Flasche, die sorgsam entkorkt worden war, lag neben ihr.
»Suizid, sag ich Euch«, sagte der Konstabler. »So klar wie’s nur geht. Sie hat den Hut und das neckische kleine Manteldings ausgezogen, sich hingelegt, das Laudanum getrunken und sich so selbst um die Ecke gebracht.«
Anstatt einer Antwort ging Sebastian neben dem zierlichen Körper der Frau in die Hocke. Ihr Kleid war schlicht, aber von guter Qualität und nach der neuen Mode. Das weiche, abgetönte Grau ziemte sich für eine Witwe, die seit mehr als sechs Monaten in Trauer war. Er konnte keinerlei Anzeichen von Gewalt sehen, was jedoch nicht bedeutete, dass es keine gegeben hatte.
Er streifte einen Handschuh ab und berührte ihre Wange mit dem Handrücken. Ihre Haut war eiskalt.
»Wann wurde sie gefunden?«, fragte er.
Der junge Landedelmann warf einen raschen Blick auf die tote Frau und sah dann betont zur Seite auf das langsam fließende Flusswasser. »Kurz nach der Morgendämmerung. Einer der Knaben, die in Northcott Abbey logieren, war zum Vogelbeobachten schon früh unterwegs und ist auf sie gestoßen.«
Sebastian betrachtete das Gras um sie herum. Die kurzgeschorenen Stoppeln waren an einigen Stellen sichtbar niedergetrampelt, aber der Boden war hier leicht erhöht und zu hart und trocken, als dass man die Fußabdrücke derjenigen, die hier gewesen waren, hätte erkennen können. Dann schaute er die Füße der toten Frau an, die unter dem Kleidersaum gerade so zu sehen waren. Sie trug Stiefeletten aus feinem Rehleder, die bis auf etwas Staub an den Zehen relativ sauber waren.
Mit dem Arm stützte er sich auf dem Oberschenkel ab, als er einen vertrauten, schwelenden Zorn in sich aufsteigen spürte. Es war tragisch, wenn eine schöne junge Witwe sich von der Trauer so überwältigen ließ, dass sie sich das Leben nahm. Aber dass jemand ihr das Leben nahm, während sie bewusstlos war, war eine Abscheulichkeit.
Er sagte: »Könnte sie auf einem anderen Weg hergekommen sein als auf dem, den wir genommen haben?«
»Nun … ich nehme an, sie wird am Flussufer entlanggegangen sein. Aber dort ist es derzeit schrecklich matschig.«
»Dann hatten Sie recht«, sagte Sebastian. »Sie wurde umgebracht.«
»Was?«, bellte der Konstabler und verzog in zorniger Ungläubigkeit das Gesicht. »Von was sprecht Ihr denn da? Hier liegt doch das Laudanum, das sie genommen hat.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Es ist furchtbar einfach, eine Frau zu töten und eine leere Laudanum-Flasche neben ihr zu deponieren.«
Rawlins schlug nach einer Fliege, die ihm vor den Augen herumschwirrte. »Aber woher wisst Ihr, dass sie ermordet wurde?«
»Sehen Sie sich ihre Füße an.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sehen Sie sich Ihre eigenen Füße an.«
Der Squire starrte auf seine zweckmäßigen braunen Stiefel, deren Sohlen vom Weg durchs Gehölz dick mit Matsch versaut waren. »An ihren Schuhen ist kein Matsch! Das heißt, sie kann nicht selbst hergekommen sein. Wollt Ihr das damit sagen?«
Sebastian nickte. Der Steifheit der Leiche nach urteilte er, dass sie bereits gute zwölf Stunden oder mehr tot war, aber er war kein Experte. In London hätte er nun darum gebeten, ihre Leiche an Paul Gibson überstellen zu lassen, einen ehemaligen Regimentsarzt, der ein Genie darin war, die Geheimnisse der Toten aufzuspüren.
Aber sie waren nicht in London.
»Gibt es hier einen Arzt, der in der Lage ist, eine Autopsie durchzuführen?«, fragte er.
Der Squire schlug erneut nach der Fliege. »Dr Higginbottoms hat sie bisher immer durchgeführt. Ich bitte einen der Männer aus dem Dorf, Nash zur Hand zu gehen und sie zu ihm zu bringen.«
»Ist er gut?«
»Ich schätze schon, weiß es allerdings nicht sicher.« Dann öffnete er den Mund, und seine Augen wurden groß, als ihm offenkundig ein neuer Gedanke kam. »O Gott, ich kann das gar nicht glauben. Warum sollte jemand von hier eine Fremde umbringen?«
»Woher stammte sie?«
Rawlins schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das hat sie nie gesagt.«
»Ich vermute, sie war im Blue Boar abgestiegen?«
Rawlins nickte. »Das ist das einzige Lokal in der Gegend, das sich für eine Edelfrau ziemt.«
Sebastian erhob sich. »Vielleicht kann uns der Inhaber mehr über sie sagen.«
*
Der Besitzer des Blue Boar war ein knorriger kleiner Mann namens Martin McBroom. Er hatte buschige Koteletten und einen Schopf hellroten Haares, das sich üppig lockte und langsam weiß wurde. Er linste sie über den oberen Rand einer dicken Brille, die tief auf seiner Knubbelnase saß, hinweg an und musterte abwechselnd Sebastian und den jungen Squire.
»Ihr sagt, die haben Mrs Chance unten am Fluss gefunden?« Seine Stimme schlug in ein hohes Quieken um. »Der Herr steh uns bei. Die arme Dame, die arme, arme Dame.«
»Woher stammte sie, Mr McBroom?«, fragte Rawlins und stützte sich mit beiden Ellbogen auf dem glänzend geschrubbten Tresen zwischen ihnen ab. »Wissen Sie das?«
Der Gastwirt kratzte sich an den Koteletten. »Sagte, sie wär aus London, aber ich glaub nich, dass sie direkt dorther kam. Sie werden das Mädchen fragen müssen, das sie begleitet – Peg ist ihr Name. Ein gerissenes, unnützes Ding, wenn ihr mich fragt.«
»Ist Peg jetzt hier?«, fragte Sebastian.
»Hab sie nich gesehen, aber ich nehme an, sie is wohl im Zimmer der Dame.«
»Wir müssen es uns anschauen, Mr McBroom«, sagte Rawlins. »Das Zimmer meine ich.«
»O, das kann ich nich erlauben, glaub ich.« Der Wirt drückte das Kinn zum Hals und schüttelte den Kopf. »Wär nich angemessen, nee.«
Rawlins lehnte sich auf die Unterarme. »Mr McBroom, sie ist tot. Nicht nur das, sondern wir wissen auch nichts über sie. Wenn wir in ihrem Zimmer nichts finden, wissen wir nicht einmal, wen wir über das informieren sollen, was geschehen ist.«
»Ähm …« Der Gastwirt schürzte die Lippen und machte ein schnalzendes Geräusch. »Ich denke mal, Sie sind ja jetzt der Friedensrichter.«
Die Röte auf Archies Wangen vertiefte sich beachtlich. »Allerdings.«
»Kommt mir trotzdem nich richtig vor, fremde Männer in ihr Zimmer zu lassen, wo ihre Sachen anfassen.«
Der Squire richtete sich ruckartig zu voller Größe auf. »Mr McBroom!«
»Wenn Sie sich dann besser fühlen«, sagte Sebastian und bezog, ohne weiter darüber nachzudenken, seine Frau mit in die Sache ein, »könnten wir Lady Devlin um Unterstützung bitten.«
Der junge Friedensrichter sah entsetzt aus bei der Vorstellung, eine leibhaftige Viscountess in eine Mordermittlung zu ziehen. Aber der Gastwirt zog die Brille von der Nase, rieb sich die Augen und sagte: »Das wär schon besser, immerhin war sie selbst ’ne feine Dame. Kommt mir aber trotzdem nich richtig vor, dass wir in ihren Sachen herumstochern.«
»Das ist auch nicht richtig«, sagte Sebastian. »Aber die Schuld liegt bei demjenigen, der sie getötet hat.«
Kapitel 4
Hero Devlin saß auf einer rustikalen steinernen Bank am Rand des großen Dorfangers. Auf einem Knie balancierte sie ein offenes Notizbuch, und ihr sechs Monate alter Sohn Simon lag zu ihren Füßen auf einem Läufer im Gras.
Die stärker werdende Sonne hatte den Morgennebel weggebrannt, und sie war dankbar für den durchbrochenen Schatten, den eine ausladende Kastanie neben ihnen warf. Die Luft war süß und frisch und von fröhlichem Vogelgesang erfüllt, und Hero lächelte. Simon war gerade zufrieden mit seinen Zehen beschäftigt und plapperte fröhlich über diese faszinierenden Fortsätze, wodurch seine Mutter die Freiheit hatte, einen neuen Artikel zu entwerfen, den sie schreiben wollte.
Sie war die geborene Miss Hero Jarvis, Tochter von Charles Lord Jarvis, dem skrupellosen und brillanten Vetter des Königs, der als anerkannte Macht hinter der wackligen Dynastie des Hauses Hannover stand. Mit ihrer Körpergröße von etwa einem Meter achtzig und der Bildung, die üblicherweise nur Söhnen zustatten kam, war Hero auf ihre Weise gleichermaßen skrupellos wie ihr Vater. Ihre rebellischen Ansichten waren allerdings von der Art, die ihren Vater zur Weißglut brachten.
Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch fest entschlossen gewesen, niemandes Frau zu werden, sondern ihr Leben dem Kampf gegen die ausgeprägte soziale Ungerechtigkeit zu widmen, die die Gesellschaft beherrschte. Eine zufällige Begegnung mit einem gewissen attraktiven, gefährlichen Viscount hatte ihre Haltung in Richtung Ehe verändert. Ihre leidenschaftliche Hingabe an die Sache hatte jedoch nie gewankt.
Im vergangenen Jahr hatte sie sich dem Studium der Armen Londons verschrieben. Nachdem sie den Sommer mit Reisen zwischen Devlins Anwesen in Hampshire und mehreren von Jarvis’ Liegenschaften verbracht hatte, war in ihr ein Interesse daran entstanden, wie sich die Einhegungen des Landes für die Agrarwirtschaft auf die Armen in England auswirkten. Sie konzentrierte sich auf das Notieren mehrerer Fragen, denen sie nachgehen wollte, da sah sie, dass Devlin sich ihr näherte. Die Morgensonne warf ein sattes goldenes Licht auf seine feingezeichneten Gesichtszüge.
»Na, das hat ja nicht lange gedauert«, sagte sie, als er herankam.
Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, es hat gerade erst begonnen.«
Sie spürte, wie die Freude an diesem sorglosen Tag sich auflöste. »Also hatte der junge Squire recht, und es handelt sich um Mord?«
»Ja.«
»Großer Gott.«
Er bückte sich und hob ihren Sohn hoch, dessen Züge sich zu einem entspannten Lächeln verzogen, während er vergnügt quiekte. Kurz drückte er das Kind an sich, dann sah er Hero an. »Du arbeitest?«
Eines der Dinge, die sie an ihm liebte, war die Tatsache, dass er ihre Arbeit respektierte. Dass er sie mit ihrem Geist, ihren Talenten und Ansichten respektierte. »Ich halte nur ein paar Ideen fest.« Sie schloss das Notizbuch. »Warum?«
»Ich brauche deine Hilfe.
*
Emma Chance hatte in einem Eckzimmer gewohnt, von dem aus man auf den Dorfanger und die Hauptstraße blicken konnte. Der niedrige Raum war mit fröhlichem Blumenmuster tapeziert und mit einem schweren, altmodischen Eichenbett ausgestattet, an dem blaue Leinenvorhänge angebracht waren. Im Raum standen ein einzelner Sessel, ein Waschtisch sowie hinter einer spanischen Wand ein Nachtstuhl. Ein schmaler Schrank für Kleidung, der so alt war, dass er noch aus der Entstehungszeit des Gasthauses stammen konnte, stand bereit. Die Truhe am Fußende des Bettes sah neu aus, davor lagen bestickte Hausschuhe, ein leichter Mantel mit Kapuze und ein Morgenmantel mit Spitze hingen an einem Haken neben der Tür.
Obgleich Sebastian wusste, dass sein Vorhaben notwendig war, zögerte er an der Zimmertür. Das Gefühl, in einen Privatbereich vorzudringen, war ausgeprägt, und er musste daran denken, dass Emma Chance erst gestern dieses Zimmer in der Erwartung verlassen hatte, nach einigen Minuten oder höchstens einigen Stunden wieder zurückzukehren. Niemals hätte sie sich vorgestellt, dass Fremde hier hereinkämen, um nach ihrem Tod ihren privaten Besitz zu durchwühlen und alles auf der Suche nach Hinweisen zu durchforsten, um herauszufinden, wer genau sie gewesen war und wer sie getötet haben könnte. Und er war dankbar, dass Hero zugestimmt hatte, Simon bei seinem Kindermädchen Claire zu lassen und mit herzukommen. McBroom hatte recht: Ihre Anwesenheit führte dazu, dass sich das, was sie hier taten, weniger wie ein Eindringen anfühlte … auch wenn er sich eingestand, dass der damit ebenso gut sein Gewissen beruhigen mochte.
»Wie lange wollte sie hierbleiben?«, fragte Hero den Gastwirt, ging zum Kleiderschrank und öffnete die Türen.
Mr McBroom betrat das Zimmer nicht, sondern blieb im Flur stehen und verschränkte die Arme. »Sagte, sie wollte für ne Woche bleiben, vielleicht ’n bisschen länger.«
»Sie ist nicht mit viel Gepäck gereist«, sagte Hero und betrachtete die beiden Kleider im schmalen Schrank, ein robustes graues Kutschkleid mit schwarzen Paspeln und ein schlichtes schwarzes Morgenkleid. Die Schubladen darunter enthielten zwei Nachthemden, ein Paar Schuhe aus weichem Leder, saubere Unterwäsche und mehrere Paar schwarze Strümpfe.
»Und?«, fragte Sebastian. Das war noch ein Grund, weshalb er sich über Heros Anwesenheit freute, denn als Frau konnte sie die Besitztümer von Emma Chance ganz anders einschätzen als er selbst.
»Das Kutschkleid ist schön verarbeitet und sieht recht neu aus, als wäre es erst ein- oder zweimal getragen. Die anderen Sachen sind auch hübsch, mit Ausnahme der schwarzen Strümpfe aber nicht neu. Das Morgenkleid ist ein älteres Musselinkleid, das sie vermutlich schwarz eingefärbt hat, als ihr Mann gestorben ist. Wie lange ist sie schon verwitwet?«
»Sechs Monate«, sagte Rawlins. Er stand unmittelbar hinter der Tür, hatte die Hände in die Manteltaschen geschoben und die Schultern vorgezogen. Offensichtlich fühlte er sich genauso unbehaglich und fehl am Platze wie Sebastian.
»Wie traurig«, sagte Hero. Sie ging herum und betrachtete das Sammelsurium von Gegenständen, die auf dem Nachtkästchen und dem Waschtisch lagen: ein kleines, besticktes Nähnecessaire, in dem sich zierliche Scheren, ein Fingerhut, Garn und Knöpfe befanden, ein einfacher Fächer aus Holz und Seide, der nachlässig mit rosafarbenen Rosen bemalt war, eine silberne Bürste mit Kamm, eine Zahnbürste und Zahnpuder, eine halbleere Flasche Rosenwasser, ein Stück nach Rose duftender Seife …
»Offensichtlich hat sie Rosen gemocht«, sagte Hero und betrachtete die von Rosen umrankten eingravierten Initialen auf der Bürste: EC. »Die ist auch neu.«
»Die Truhe ebenfalls«, sagte Sebastian. Er beobachtete seine Frau, die in die Mitte des Zimmers ging und sich dann mit gerunzelter Stirn langsam im Kreis drehte. »Was ist los?«
»Sie sagten, Sie haben eine Weste, einen Hut und Handschuhe neben ihr im Gras gefunden. Was ist denn mit ihrem Retikül?«
Sebastian blickte zu Archie Rawlins.
Beide Männer schüttelten den Kopf.
»Wo ist also ihre Handtasche?«, fragte Hero.
»Vielleicht in der Truhe?«, schlug der Squire vor und ging zu ihr, um den Deckel anzuheben. Doch die Truhe war leer bis auf ein Sortiment Bleistifte und Zeichenkohle, einen kleinen Farbkasten und einen Skizzenblock.
»Ach«, sagte Rawlins. »Ich habe mich schon gefragt, wo diese Utensilien sind.«
Er legte den Skizzenblock auf die Tagesdecke und schlug ihn auf. Er enthüllte eine Bleistiftzeichnung von Mr Martin McBroom hinter seinem Tresen, dessen Brille auf der Nasenspitze saß, und der das Kinn in einem mächtig griesgrämigen Ausdruck zurückgezogen hatte.
»Das bin ja ich!«, sagte der Gastwirt und schob sich näher heran. »Das ist gut. Findet Ihr das nicht gut?«, fragte er und blickte von einem zum anderen.
»Ja, sehr sogar.« Sebastian blätterte um. Das nächste Porträt zeigte Archie Rawlins, der mit großen Augen eifrig und zugleich etwas unsicher dreinsah. Emma Chance war mehr als begabt darin, ihre Modelle abzubilden; sie hatte auch die seltene Gabe besessen, die feinen Nuancen einer Persönlichkeit und eines Charakters aufzuspüren und darzustellen.
»Und das bin ich«, sagte Rawlins und lachte leise und etwas atemlos. »Wann hat sie das denn gemacht?« Er blätterte weiter. »Schaut, da ist der Vikar. Und das ist Reuben Dickie, und hier …« Er unterbrach sich und hielt die Hand beim Anblick einer Zeichnung in der Luft, die einen Mann in voller Größe zeigte.
Die meisten anderen Porträts waren nur Skizzen gewesen, meistens von einem Kopf oder auch noch den Schulten, höchstens vom oberen Teil des Oberkörpers. Diese sorgfältige Kohlezeichnung zeigte einen Mann in voller Größe, der sich zurückgewandt hatte, als ob er die Künstlerin anblickte. Sein welliges dunkles Haar fiel ihm in die Stirn, die lange Nase war leicht gebogen, seine geschwungenen Lippen und das Kinn mit dem Grübchen sahen schmerzlich vertraut aus.
»Grundgütiger«, sagte Hero. »Das ist Napoleon.«
Kapitel 5
Archie Rawlins schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das ist sein jüngerer Bruder Lucien. Lucien Bonaparte. Er ist hier, müsst Ihr wissen; er hält sich mit seiner Familie auf Northcott Abbey auf.«
Hero sah ihn an. »Napoleons Bruder ist hier?«
Rawlins nickte. »Schon seit über zwei Jahren. Nicht die ganze Zeit über in Ayleswick-on-Teme, aber in der Gegend.«
Sebastian betrachtete die gebräunten, attraktiven Züge des Korsen, die denen seines berühmten Bruders in seiner Blütezeit sehr ähnlich sahen. Lucien Bonaparte war 1810 mit seiner Familie an der italienischen Küste aufgegriffen worden. Er hatte behauptet, vor dem Zorn seines Bruders geflohen zu sein; allerdings waren viele in London der Meinung, dass Luciens beabsichtigte Reise nach Amerika weniger mit brüderlicher Rivalität als mit dem Wunsch des Kaisers zu tun hatte, das Feuer zwischen Britannien und den jungen Vereinigten Staaten zu schüren. Sie konnten nie ganz verschmerzen, dass Lucien als Präsident des Rates der Fünfhundert eine entscheidende Rolle dabei gespielt hatte, seinen Bruder in die Machtposition des Ersten Konsuls zu erheben.
»Zuerst waren sie in Ludlow«, sagte Rawlins. »Dann hat Bonaparte ein Anwesen östlich von hier, in der Nähe von Worcester, gekauft. Ich hörte, diesen Sommer lassen sie am Haus Arbeiten vornehmen, weshalb sie bei Lady Seaton logieren.« Der Squire zögerte. »Es war der Sohn von Bonaparte, Charles, der heute Morgen den Leichnam von Emma Chance gefunden hat.«
»Wie alt ist er?«
»Zehn, glaube ich.« Rawlins blätterte zu einer weiteren Zeichnung um, die einen halbwüchsigen Jungen mit aufgeschlossenem Gesichtsausdruck zeigte, der mit faszinierter Miene eine Golddrossel beobachtete, die von einem Baumzweig aufflog. »Das ist er. Ganz närrisch nach Vögeln. Heute Morgen hat er unten am Fluss Vögel beobachtet.«
»Der arme Junge. Das muss ein Schock gewesen sein«, sagte Hero.
Martin McBroom kräuselte die Nase und stieß explosionsartig die Luft aus. »Pff! Er ist ein Bonaparte – Neffe der Bestie höchstselbst. Gibt keinen Grund, mit dem Mitleid zu haben, Mylady. Spart Euch Euer Mitgefühl für die Millionen arme Seelen auf, die wegen dieser Brut gestorben sind.«
Sebastian blätterte rasch die restlichen Seiten durch. Das Buch enthielt nur Porträts und sonst leere Blätter.
Er sah auf. »Sie sagten, Emma Chance hat Shropshire bereist, um Zeichnungen zu machen?«
Rawlins nickte. »Richtig. Sie hat alle historischen Gebäude in der Gegend gemalt — die Kirche, die Klosterruinen, alte Häuser – alles.«
»Warum sind dann nur Porträts in diesem Block?«
»Ich kann es mir nicht erklären. Ich weiß sicher, dass sie den Grange gemalt hat, sie hat mir das Bild gezeigt. Sie muss noch einen anderen Block gehabt haben.«
Sebastians und Heros Blicke trafen sich. »Wo ist der?«
*
Sie durchsuchten das Zimmer erneut, dieses Mal so gründlich, dass Martin McBroom schließlich vor sich hingrummelnd davon ging. Nach einer Weile hörte Hero Simon weinen und ging nachsehen, was los war. Sebastian und der junge Friedensrichter suchten weiter.
Aber weder fanden sie den zweiten Zeichenblock noch das Retikül der toten Frau.
»Sie muss sie bei sich gehabt haben, als sie getötet wurde«, sagte der junge Friedensrichter, ließ sich auf den schäbigen Stuhl mit Lederlehne fallen und rieb sich mit den Händen über das Gesicht.
»Wahrscheinlich«, stimmte ihm Sebastian zu. »Die Frage lautet also, warum der Mörder sie nicht bei der Leiche hat liegen lassen.«
Ein Schritt im Flur ließ ihn den Kopf drehen. Eine mausgraue, schmerzlich dünne Frau erschien auf der Schwelle und knetete mit den Händen ihre Schürze. Sie schien Ende zwanzig, Anfang dreißig zu sein, hatte ein scharfkantiges Gesicht, und ihr Blick aus blassgrauen Augen huschte unsicher zwischen Sebastian und Archie Rawlins hin und her.
»Mr McBroom sagte, ein Friedensrichter will mit mir über Mrs Chance sprechen?«
Rawlins rappelte sich auf. »Ich bin der Friedensrichter. Sind Sie Peg? Emma Chances Mädchen?«
»Jawohl, Sir.« Sie knickste. »Peg Fletcher, Sir. Aber ich weiß nicht so richtig, wie viel ich Ihnen über die Lady sagen kann. Ich bin noch nicht mal eine Woche bei ihr. Sie hat mich in Ludlow angeheuert, bevor sie hierhergekommen ist.«
Der junge Squire sah Sebastian an. Dieser sagte: »Wer hat Sie empfohlen?«
»Ich schätze, man kann sagen, das hab ich selbst gemacht. Ich mein, ich hab im Feathers gearbeitet, wo sie gewohnt hat. Hat mir fünf Pfund angeboten, um mit ihr als ihre Zofe hierher zu kommen, wirklich wahr. Sie meinte, es wäre nur für eine oder zwei Wochen, aber ich sollte keinem verklickern, dass sie mich erst frisch eingestellt hat.« Die Zofe zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Jetzt, wo sie tot is, is es wohl in Ordnung, es zu sagen, oder?«
»Sie müssen uns alles sagen, was Sie über sie wissen«, sagte Rawlins.
Peg starrte ihn an, ihre Augen wirkten riesig in dem nichtssagenden, farblosen Gesicht. »Aber ich weiß doch gar nix über sie. Wirklich, nix.«
Archie Rawlins warf Sebastian einen hilflosen Blick zu.
»Hat sie Ihnen je etwas über ihr Leben erzählt? Woher sie gekommen ist? Über ihre Familie? Solche Dinge?«
Peg verzog nachdenklich das Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Sir. Kann mich nich erinnern, dass sie je über sowas geredet hätt. Sie war keine von denen, die viel schnattern, so wie die anderen Ladys.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Gestern Nachmittag, Sir. Sie sagte, sie geht aus, um zu zeichnen, und würde wohl erst kurz vor Sonnenuntergang zurück sein.«
Rawlins sah entsetzt drein. »Und Sie haben sich keine Sorgen gemacht, als sie nicht kam?«
Die Zofe trat verunsichert einen Schritt zurück. »Na doch, ein bisschen schon. Ich meine, ich fand es komisch. Aber woher hätt ich denn wissen sollen, was für sie normal war und was nich? Als es anfing, dunkel zu werden, und sie immer noch nich zurück war, bin ich schlafen gegangen. Ich dachte mir, dass sie mich aufweckt, wenn sie mich braucht.«
»Und heute Morgen?«, fragte Sebastian.
Peg zuckte die Schultern. »Ich dachte, sie schläft vielleicht aus. Ich mein, wär doch logisch, oder, wenn sie so spät noch aus war?« Erneut blickte sie von Sebastian zu Archie, wie um Zustimmung oder zumindest Verständnis für ihr Verhalten heischend.
Sebastian studierte das blasse, ängstliche Gesicht der Frau. »Sie sagten, sie ist gestern Nachmittag ausgegangen, um zu zeichnen. Wissen Sie, was sie gestern Vormittag getan hat?«
»Sie sagte, sie wollte die Kirche malen. Aber ob sie es gemacht hat, kann ich nich sagen. Sie hat ja ständig gezeichnet.« Peg atmete tief ein und reckte das Kinn vor. »Ich will gern wissen: Jetz, wo sie tot ist, wie komm ich’n da wieder nach Ludlow zurück?«
»Ich fürchte, Sie werden für mehrere Tage nirgendwohin gehen«, sagte Rawlins. »Zumindest nicht bis nach der öffentlichen Anhörung.«
Sie starrte ihn an. »Aber … wie bekomme ich denn zu essen? Wer bezahlt für mich hier im Inn?« Ihre Stimme wurde schrill vor Angst. »Wie krieg ich die fünf Pfund, die mir zustehn?«
An Archies Gesichtsausdruck war klar zu erkennen, dass er nie an die Schwierigkeiten gedacht hatte, die einer Dienerin entstehen konnten, die durch den unerwarteten Tod ihrer Dienstherrin mittellos und fern der Heimat zurückblieb. »Nun … Ich denke, nach der Anhörung können wir Ihre Ansprüche auf einen Anteil des Vermögens von Mrs Chance prüfen. Inzwischen werde ich mit Mr McBroom sprechen.«
Peg sah zweifelnd drein.
Sebastian fragte: »Können Sie uns irgendetwas über Emma Chance erzählen? Etwas, das uns hilft, einen Sinn in dem zu erkennen, was ihr zugestoßen ist?«
Peg zog misstrauisch die Brauen zusammen. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
»Wie war sie zum Beispiel als Dienstherrin? Harsch? Anspruchsvoll?«
»O nein, sie war ganz freundlich. Sagte immer bitte und danke, wenn ich was für sie tat. Sie hat sich nie pompös aufgeführt, wie das ja andere machen.«
»Aber Sie haben keine Ahnung, woher sie kommt?«, fragte Archie.
Die Zofe schüttelte den Kopf. »Sie war nich nur ’n bisschen geheimniskrämerisch, wenn Sie wissen, was ich mein.«
»Geheimniskrämerisch in Bezug worauf?«
»Auf alles. Wenn Ihr mich fragt, war irgendwas an ihr nich ganz koscher, bei all ihrer Freundlichkeit. Ich hab mich mehr als einmal gefragt, ob es ein Fehler war, mit ihr zu gehen.«
»Warum das?«, fragte Sebastian.
»Na, erstmal wär ich nich überrascht, wenn ihr wirklicher Name ’n ganz anderer wär als der, den sie behauptet hat.«
»Großer Gott«, sagte Archie. »Warum glauben Sie das?«
»Sie hat nich normal auf den Namen reagiert – ich mein, nich so, wie man mit dem ganzen Körper auf den eigenen Namen reagiert. Und dann hab ich se mal was zu Captain Chance gefragt, und da hat sie sich benommen, als wüsst sie gar nich, von wem ich rede. Erst, wie ich sagte ›Na, Ihr verstorbener Mann, Ma’am‹, da hat sie kapiert, was ich mein. Sie hat sich schon komisch benommen, wirklich. Stellen Sie sich nur vor, ich hab keinen Schimmer, wie ihr echter Name war. Aber’n Pfund für’n Penny, dass sie nich Emma Chance geheißen hat.«
*
»Glaubt Ihr, die Zofe könnte recht haben?«, fragte Rawlins Sebastian etwa eine halbe Stunde später bei einem Pint im Schankraum des Blue Boar. »Dass Emma Chance in Wirklichkeit nicht der Name dieser unglücklichen Frau war?«
Sebastian beugte sich vor und umfasste mit einer Hand den Krug vor sich auf dem Tisch. »Das erscheint recht weit hergeholt. Aber gleichzeitig … wäre es schon seltsam, wenn die Zofe sich das überlegt hätte und nichts dran wäre. Und Peg Fletcher hat auf mich nicht den Eindruck einer sehr kreativen und fantasiebegabten Person gemacht.«
»Nein, aber … warum sollte jemand das tun? Ich meine, warum sich als jemand anderes ausgeben? Der Name ›Chance‹ hat für uns hier keine Bedeutung.«
»Ich denke, wenn Peg recht hat – oder vielmehr, falls –, dann war es eher das Anliegen der Frau, ihren wirklichen Namen zu verschleiern, als sich als jemand auszugeben, der sie nicht war.«
Die Wangen des jungen Squire röteten sich. »Aber ja, natürlich. Daran hätte ich denken müssen.« Er nahm einen langen, tiefen Zug von seinem Ale und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Seine Augen weiteten sich. »Wenn es stimmt – dass ihr Name in Wahrheit nicht Emma Chance ist –, dann hat der Mörder vielleicht gewusst, wer sie wirklich war. Vielleicht hat er sie deswegen umgebracht. Ich meine, aus demselben Grund, weshalb sie einen falschen Namen benutzt hat, welcher das auch gewesen sein mag.«
Sebastian betrachtete ihn amüsiert. »Wie zum Beispiel?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie tranken eine Weile in nachdenklichem Schweigen. Dann sagte Archie: »Wie gehen wir denn jetzt vor, um herauszufinden, ob Chance ihr wirklicher Name ist – war?«
Sebastian leerte seinen Krug. »Ich habe nicht den leisesten Schimmer.«
Archie Rawlins sah kurz besorgt aus, dann lachte er leise. »Was tun wir also?«
»Sie könnten anfangen, sich im Dorf umzuhören. Versuchen Sie herauszufinden, wer Emma Chance gestern Nachmittag gesehen hat, und um welche Uhrzeit. Inzwischen werde ich wohl mal ein Gespräch mit dem Pfarrer führen.«
»Reverend Underwood? Aber wieso mit ihm?«
»Weil laut Peg Fletcher ihre Herrin den gestrigen Vormittag damit verbracht hat, die Kirche zu malen. Das ist also ein guter Ausgangspunkt.«
Der junge Friedensrichter kaute auf seiner Lippe herum. »Und was, wenn sie keiner gesehen hat?«
»In einem so kleinen Dorf? Jemand wird sie gesehen haben und sich daran erinnern.«
Kapitel 6
Die alte, goldfarbene Sandsteinkirche St Thomas schmiegte sich an die Seite des Hügels, der sich über dem Dorfanger und der Hauptstraße erhob. Man gelangte über eine schmale Gasse zur Kirche, die am Blue Boar und einem weitläufigen Pfarrhaus vorbeiführte. Auf ihrer Westseite ragte ein wuchtiger Turm mit zwei Rundbogenfenstern auf, die kaum größer als Schießscharten waren, und eine Seitenpforte mit einem Giebeldach und einer dicken, mit Nägeln beschlagenen Tür erweckte den Eindruck, dass die Kirche genauso sehr zur Verteidigung wie zum Gottesdienst errichtet worden war.
Der Pfarrer von St Thomas war ein großer, schlaksiger Mann Ende vierzig, dessen glattes schwarzes Haar mit den voranschreitenden Jahren dünner wurde, und dessen himmelblaue Augen von Lachfältchen eingerahmt wurden. Wenn er über schmerzliche Themen redete, hatte er die Gewohnheit, zusammenzuzucken, und das tat er, als er über Emma Chance sprach. In einem langen Seufzer pustete er die Luft aus.
»Sie stand auf dem Kirchhof und betrachtete eines der alten Familiengräber in der Nähe der Apsis, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Wisst Ihr, was sie antwortete, als ich zu ihr ging und sie fragte, ob ich ihr helfen könne? ›Oh, danke sehr, aber ich suche nicht nach jemandem. Ich lese nur gern alte Grabinschriften. Ich stelle mir das Leben der Menschen vor, deren Namen eingraviert sind, und male mir aus, welche Liebe sie füreinander empfunden haben müssen – Ehemänner für ihre Frauen, Mütter und Väter für ihre Kinder.‹« Reverend Benedict Underwood seufzte abermals und schüttelte den Kopf. »Diese arme Frau. Die arme, arme Frau.«
Sebastian hatte den Pfarrer beim Pflanzen von Rosmarinschösslingen in der Nähe des überdachten Friedhofstors angetroffen. Er hatte sich für seine schmutzigen Hände entschuldigt und sich rasch erhoben, als Sebastian sich ihm vorstellte. Aber Sebastian stellte fest, dass er den Grund für seinen Besuch gar nicht darzulegen brauchte; die Nachricht von Emma Chances Tod sowie der Bitte des jungen Squire um Sebastians Unterstützung hatte sich bereits im ganzen Dorf verbreitet.
»An welchem Tag war das?«, fragte Sebastian.
»Am Freitag, glaube ich. Sie war gerade erst im Dorf angekommen.«
»Könnten Sie mir zeigen, welches Grab sie sich angeschaut hat?«
»Gewiss. Hier entlang.«
Sie betraten den schmalen Pfad, der am Kirchenschiff entlangführte. Wenn man die Größe des Dörfchens bedachte, war der Kirchhof überraschend groß und vollbelegt. Aber dann rief sich Sebastian in Erinnerung, dass Ayleswick früher ein viel größerer Ort gewesen war.
»Ist sie gestern wieder hergekommen, um die Kirche zu zeichnen?«
Der Reverend spreizte beim Gehen seitlich die Hände ab. »In der Tat. Am Morgen.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Ja. Als ich auf dem Weg zum alten Jeff Cook war. Es geht ihm nicht gut, fürchte ich.«
»Um wie viel Uhr war sie fertig? Wissen Sie das?«
»Es tut mir leid, nein. Als ich zurückgekommen bin, war sie schon weg.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Ungefähr halb zwölf, würde ich schätzen.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Gestern Morgen, meint Ihr? Nur kurz. Ich glaube, ich rief: ›Was für ein schöner Tag, jetzt, wo es endlich aufgeklart hat!‹ Sie hat aufgeschaut und gelächelt.« Der Reverend schüttelte den Kopf und stieß erneut einen seiner tiefen Seufzer aus. »Sie war eine so charmante und höfliche junge Frau. Gar nicht vorwitzig und vorlaut, wie man in Anbetracht des etwas ungewöhnlichen Grundes für ihren Besuch im Dorf hätte erwarten können.«
»Um es zu zeichnen, meinen Sie?«
Underwood verzog das Gesicht. »Ja. Das ist nicht die Art Beschäftigung, die ich bei meinen Töchtern gern sehen würde – wenn ich Töchter hätte, was leider nicht der Fall ist.«
»Hat sie Ihnen gegenüber ihre Familie erwähnt?«
Der Reverend sah nachdenklich aus. »Nicht dass ich mich erinnere, nein. Aber sie könnte vielleicht etwas zu Mrs Underwood gesagt haben.«
»Ihre Frau hat mit ihr gesprochen?«
»O ja, sie kam zum Tee ins Pfarrhaus.«
»Hat sie zufällig erwähnt, wo sie in London wohnte?«
»War sie aus London? Ich glaube, das hat sie tatsächlich nie gesagt. Wir haben vor allem über das Dorf gesprochen. Sie hat sich sehr für die Geschichte des Ortes interessiert. Das ergibt ja auch Sinn, nicht wahr, wenn man ihr Interesse an unseren historischen Bauten bedenkt.«
Sebastian sah den wuchtigen Normannischen Turm aus Stein an. »Hat dieser Teil zu dem antiken Kloster gehört?«
»O nein, St Thomas war immer eine einfache Pfarrkirche. Was von der alten Benediktinerabtei noch übrig ist, liegt westlich des Dorfes, neben dem Bach, der den Mühlteich versorgt. Zur Hoch-Zeit war es eine großartige Anlage, und auch die Ruinen lohnen durchaus einen Besuch, wenn Ihr Gelegenheit dazu findet.« Der Reverend zögerte. »Seid Ihr sicher … ich meine, seid Ihr ganz sicher, dass es sich um Mord handelt?«
»Ich fürchte ja.«
Der Pfarrer sog schmerzlich die Luft ein. »Nun, um der Seele von Emma Chance willen muss ich dankbar sein, dass sie sich nicht selbst das Leben genommen hat. Der Gedanke jedoch, dass einer, der unter uns lebt, einer von uns, sie getötet hat … Nun, ich kann nicht leugnen, dass es mich aufwühlt. Sehr sogar. Auch wenn ich annehme, es kann durchaus auch jemand auf der Durchreise gewesen sein?«
Das bezweifelte Sebastian angesichts der Mühe, die man sich gemacht hatte, um Emma Stones Leiche so zu drapieren, dass es nach Freitod aussah. Aber er sagte: »Möglich.«
»Da wären wir«, sagte der Pfarrer und hielt vor einem verwitterten Mausoleum mit der Inschrift Baldwyn an. »Die Baldwyns haben Maplethorpe Hall östlich des Dorfes erbaut. Sie sind Ende des letzten Jahrhunderts ausgestorben.«
Sebastian betrachtete das von Flechten überzogene, vernachlässigte Grab. Laut Inschrift war die letzte Bestattung die eines Mannes mittleren Alters, John Baldwyn gewesen, der 1788 nur drei Wochen nach dem Tod seiner Frau Alice verstorben war. Ihre Tochter Marie war drei Monate zuvor im Alter von achtzehn Jahren gestorben. Hatte einfache Neugier Emma Chance zu diesem Grab geführt?, fragte sich Sebastian. Oder etwas von tieferer Bedeutung?
Er sah zu dem Pfarrer hinüber, der sich inzwischen verstohlen die erdigen Hände mit einem Taschentuch sauber wischte. »Kennen Sie eine ältere Frau namens Heddie Kincaid?«
Die Augen des Pfarrers weiteten sich leicht. »Gewiss; sie ist eines meiner Schäfchen, wenn auch nicht«, fuhr er bedauernd fort, »so fromm wie man es sich wünschen würde.«
»Wo wohnt sie?«
»Sie wohnt in einem Cottage, wenn man vom Blue Boar der Straße hinauf folgt – unmittelbar, bevor man zum Mühlbach und dem Fußpfad gelangt, der zu den Klosterruinen führt. Sie ist blind, müsst Ihr wissen, seit Jahren schon. Allerdings hätte ich bis zu diesem Frühling gesagt, dass sie von recht guter Gesundheit war.«
»Was ist im Frühling geschehen?«
»Ihr Enkel ist in London verstorben. Er war ihr sehr lieb, und sein Tod hat sie schwer getroffen.« Der Pfarrer steckte sein Schnäuztuch weg. »Ihr nehmt doch sicherlich nicht an, dass Heddie etwas mit diesem Mord zu tun haben könnte?«
»Aber nein, gar nicht. Ich habe ein rein persönliches Interesse an ihr. Ich kannte ihren Enkel, und ich habe ihr etwas mitgebracht, das sie nach seinem Wunsch bekommen sollte.«
»Ach so. Na, da wird sie sich freuen, wenn sie es bekommt, sicher. Sie hat ein hartes Leben gehabt, fürchte ich. Sie hat drei Ehemänner und ein gutes halbes Dutzend Kinder begraben – ganz abgesehen von einer bestürzenden Anzahl Enkelkinder.« Der Pfarrer hielt inne und schob die Unterlippe vor, während er Sebastian nachdenklich betrachtete. »Ihr sagt, dass Ihr Jamie Knox kanntet?«
»Ja. Warum?«
Der Pfarrer lachte nervös. »Ich habe ihn nicht persönlich gekannt, wohlgemerkt – er wurde, kurz nachdem mir hier in Ayleswick die Pfründe übertragen wurde, als junger Bursche Soldat Seiner Majestät. Aber …« Er unterbrach sich und errötete leicht.
»Ja?«, hakte Sebastian nach.
»Ach, nichts, nichts«, sagte der Pfarrer, räusperte sich nervös und blickte betont zur Seite.
Sebastian vermutete, dass er genau wusste, was den Pfarrer so plötzlich beunruhigte. Aber nur wenige hatten den Schneid, dem Sohn eines Earls zu sagen, dass er eine ungewöhnliche Ähnlichkeit zu einem Kneipenbesitzer aus Bishopsgate aufwies, der seinerseits als unehelicher Bastard einer Schankmaid aus Shropshire das Licht der Welt erblickt hatte.