Leseprobe Die Tote auf dem Dorffest

Prolog

Leise schlüpfe ich in den Garten, dankbar für das schummrige Halbdunkel, das meine Anwesenheit verbirgt. Unter meinen Füßen funkelt eine dicke Schicht Bodenfrost wie Diamanten. Die Handschuhe, die ich trage, sind ideal für die bevorstehende Aufgabe, aber zu dünn, um zu verhindern, dass mir die morgendliche Kälte in die Finger beißt. Ich erschauere. Ist es die Kälte, die meine Hände zittern lässt, oder Angst?

Ich umrunde eine Tannengruppe und betrete den Parkplatz. Der blaue Audi steht allein am hinteren Ende, sein Abstand zu den anderen Fahrzeugen ist ein klarer Vorteil. Ich kann meine Aufgabe zu Ende bringen, ohne Angst haben zu müssen, beobachtet oder gestört zu werden.

Verstohlen nähere ich mich, schleiche durch die Schatten wie eine Katze. Das Messer glitzert in meiner Hand, seine lange, dünne Klinge ist superscharf und perfekt für diese Aufgabe.

Als ich mich dem Auto nähere, glitzert etwas; etwas, das weder Frost noch Messer ist.

Eine Mütze.

Eine lächerliche paillettenbesetzte Mütze, die in einem kecken Winkel auf einem vertrauten blonden Kopf sitzt.

Allein der Anblick lässt Wut durch meine Adern schießen. Mein Atem beschleunigt sich, und ein roter Nebel in der Farbe von Blut senkt sich über mich.

Ich greife das Messer fester und stürze durch die Dunkelheit nach vorn.

Kapitel 1

Vier Wochen zuvor

Violet Brewster verbrachte ihre Mittagspause in der Leseecke von Books, Bakes and Cakes. Sie hatte einen anstrengenden und etwas hektischen Vormittag hinter sich und beschlossen, sich beim Durchblättern eines wunderschön illustrierten Handbuchs zum Thema Cottage-Gärten zu entspannen. Auf dem Couchtisch vor ihr stand eine Tasse heiße Schokolade mit Ingwergeschmack, die sie aus der Bäckerei nebenan mitgebracht hatte.

Die Leseecke war ein entspannendes Plätzchen auf der Galerie im ersten Stock des Buchladens. Sie bestand aus vier weichen Sesseln, bunten Kissen, einem niedrigen Couchtisch und einer Zimmerpalme. In der Ecke stand außerdem eine Stehlampe, und an der Wand hing ein schwarzes Brett, auf dem die regelmäßigen Aktivitäten im Merrywell Shopping Village angekündigt wurden. Das Beste daran war, dass die Nische versteckt hinter hohen Bücherregalen lag und dennoch in Hörweite zu den Gesprächen war, die am Tresen im Erdgeschoss geführt wurden. Heute war diese vom Inhaber des Ladens, Eric Nash, besetzt. Er wurde gerade von der Leiterin des Gemeinderats und Dorfnörglerin Judith Talbot belagert, die ihn wegen seiner Auswahl des Gastes für die Eröffnungsveranstaltung des bevorstehenden allerersten Buchfestivals in Merrywell rügte.

»Ich kann nicht glauben, dass du diese Frau eingeladen hast, um unser Festival zu eröffnen.« Judiths bissige Stimme drang bis nach oben und unterbrach die himmlische Ruhe der Leseecke. »Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht, Eric?«

Die Frau, auf die sich Judith bezog, war Leonie Stanwick, Bestsellerautorin einer Reihe schlüpfriger Liebesromane. Im Laufe ihrer langen Karriere als Autorin hatten sich Leonies Bücher millionenfach verkauft, und in den letzten Jahren hatten es einige davon sogar auf die Leinwand geschafft.

Violet hörte, wie Eric sich räusperte. Er war ein schüchterner Mann und immer höflich, aber sie wusste, dass er sich keinen Unsinn von Judith gefallen lassen würde. Violet klappte das Gartenbuch zu, lehnte sich zurück und lauschte dem Gespräch.

»Lass mich ein paar Dinge klarstellen«, hörte sie Eric sagen. »Zunächst einmal ist es nicht Leonie Stanwick, die das Festival eröffnet, obwohl sie unser erster Gast und die bekannteste Autorin des Festivals ist. Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht, wer diese Person sein sollte, und ich stehe zu meiner Wahl. Leonie hat Verbindungen zum Ort, und ihre Arbeit erfreut sich enormer Beliebtheit. Ich verkaufe in einer Woche mehr Bücher von ihr als von fast jedem anderen Autor.«

»Aber das soll ein Literaturfestival sein«, warf Judith ein. »Leonie Stanwicks Romane können kaum als Literatur eingestuft werden.«

»Es ist ein Buchfestival.« Erics Stimme war klar und unerschütterlich. »Dazu gehören Sachbuchautoren und -autorinnen genauso wie die von Graphic Novels sowie Genre- und Literaturromanen.«

»Nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass du bei manchen deiner Entscheidungen wählerischer hättest sein können. Wir möchten, dass bei unserem Festival Autoren und Autorinnen eines gewissen Kalibers auftreten, nicht wahr?«

»Wenn du damit Schreibende obskurer oder hochgestochener Wälzer meinst, dann nein – das ist überhaupt nicht mein Ziel. Und warum nennst du es unser Festival? Denn das stimmt nicht ganz, oder? Als ich die Gemeinderäte um Hilfe bei der Finanzierung der Veranstaltung bat, wurde mir mitgeteilt, dass kein Geld zur Verfügung stehe. Trotzdem habe ich dem Rat einen Platz im Organisationskomitee des Festivals angeboten, aber auch diese Möglichkeit wurde abgelehnt.«

Judith begann zu toben. »Es gab niemanden, der teilnehmen konnte«, stieß sie hervor. »Wir waren mit anderen Dingen beschäftigt.«

»Ich auch«, sagte Eric, seine Stimme fest, aber höflich. »Das gilt auch für meine Frau und meine Tochter – und trotzdem haben wir die Zeit gefunden, uns an die Arbeit zu machen und alles zu organisieren. Ich würde sagen, wir haben uns das Recht verdient, auszuwählen, welche Gastautoren oder -autorinnen wir einladen.«

»Dem widerspreche ich nicht, aber der Zweck … dieses Festivals besteht doch sicher darin, das Ansehen des Dorfes zu steigern, oder? Glauben Sie wirklich, dass das mit Leonie Stanwick als Gast gelingt?«

Eric schnaubte laut. »Ich hoffe sehr, dass das Buchfestival – wie du es ausdrückst – das Ansehen des Dorfes steigert, aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir das Ganze auf die Beine gestellt haben. Das Hauptziel besteht darin, den Lesenden die Möglichkeit zu geben, ihre Lieblingsautoren und -autorinnen kennenzulernen, ihnen zuzuhören und neue zu entdecken. Außerdem wird das Festival Menschen in das Merrywell Shopping Village locken, und zwar zu einer Zeit, in der es im Einzelhandel traditionell sehr ruhig ist. Es herrscht immer eine Flaute zwischen der Wiedereröffnung der Schulen nach den Sommerferien und dem Weihnachtsansturm. Ich hoffe, dass die Veranstaltungen zu mehr Besucherzahlen führen, von denen alle profitieren.«

Eine kurze Pause im Gespräch veranlasste Violet, sich aufzusetzen, den Kopf schief zu legen und sich zu fragen, ob sie etwas verpasst hatte. Als Eric wieder sprach, klang er etwas versöhnlicher.

»Ein zusätzlicher Vorteil des Festivals besteht natürlich darin, dass Menschen auf der ganzen Welt von Merrywell erfahren«, sagte er. »Wir werden vier der Veranstaltungen livestreamen – darunter auch die Session mit Leonie Stanwick. Wir haben bereits über zweihundert Online-Tickets verkauft, und diese Einnahmen werden einen großen Teil dazu beitragen, die finanzielle Investition, die ich getätigt habe, wieder hereinzuholen.«

Erics ausführliche Erklärung des Konzepts des Festivals konnte Judiths schlechte Laune nicht besänftigen.

»Wenn das als erneuter Seitenhieb gegen die mangelnde finanzielle Beteiligung des Rates gedacht ist, dann spar dir bitte den Atem.« Dabei klang sie mürrischer denn je. »Wenn du uns etwas früher Bescheid gegeben hättest, hätten wir vielleicht helfen können. Die Finanzen des Rates sind weit im Voraus geplant, Eric. Als du zu uns kamst, war unser Budget für dieses Jahr bereits zugeteilt.«

»Das verstehe ich«, antwortete Eric. »Und das war kein Seitenhieb, ich habe lediglich die Fakten dargestellt. Die Realität ist, dass dies mein Festival ist, was bedeutet, dass ich entscheide, wen und was ich mit einbeziehe. Mir ist klar, dass die Romane von Leonie Stanwick nicht jedermanns Geschmack sind, aber niemand ist verpflichtet, ihre Veranstaltung zu besuchen, wenn er nicht möchte. Es werden zahlreiche weitere Sessions angeboten. Wir haben ein abwechslungsreiches Programm zusammengestellt, bei dem für jeden etwas dabei ist.«

»Nun, hoffen wir, dass du die richtigen Entscheidungen getroffen hast und das Festival ein voller Erfolg wird.« Judiths mürrische Stimme stand im Widerspruch zu ihren Worten. »Der Gemeinderat erwägt nämlich, einen Teil der Mittel aus unserem nächsten Haushalt zweckgebunden bereitzustellen … vorausgesetzt natürlich, dass das Buchfestival nächstes Jahr wieder stattfindet. Sollte sich dieses Jahr als völliger Fehlschlag erweisen, glaube ich nicht, dass das Festival eine große Zukunft hat. Wir müssen abwarten, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Eric. »Ich nehme an, das müssen wir.«

»Und was die Wahl von Leonie Stanwick als Stargast angeht … glaub mir, du wirst diese Entscheidung noch bereuen. Merk dir meine Worte: Solche Leute machen nichts als Ärger.«

Das war anscheinend Judiths letzte spitze Bemerkung gewesen, denn Violet konnte hören, wie sie mit quietschenden Sohlen über den Holzboden in Richtung Ausgang davonging. Als die Klingel über der Ladentür aufgehört hatte zu läuten, stand Violet auf und spähte über das Geländer nach unten. Eric lehnte am Tresen und fuhr sich mit der Hand durch seinen braunen, schwer zu bändigenden Haarschopf.

Sie nahm das Gartenbuch und trug es zusammen mit ihrer leeren Tasse die Treppe hinunter.

»Geht es dir gut, Eric?«, fragte sie, als sie die Kasse erreichte.

»Jetzt schon.« Er atmete scharf aus. »Ich habe gerade eine Standpauke von Judith Talbot bekommen, aber zum Glück scheine ich das heil überstanden zu haben.«

Da Violet in der Vergangenheit selbst Judiths Zorn auf sich gezogen hatte, wusste sie, wie er sich fühlen musste, und hatte Mitgefühl mit ihm.

»Soweit ich gehört habe, hast du genauso viel ausgeteilt wie eingesteckt … wenn nicht sogar mehr. Es war an der Zeit, dass jemand Judith in ihre Schranken weist.«

»Du hast unser Gespräch belauscht?«

»Ja. Tut mir leid, ich konnte nicht anders, als es mit anzuhören. Ich war oben in der Leseecke und habe hierin geblättert.« Sie hielt das Gartenbuch hoch und legte es auf den Tresen. »Ich habe beschlossen, es zu kaufen.«

Abgelenkt scannte Eric den Barcode auf der Rückseite des Buches, und Violet legte ihre Debitkarte an das kontaktlose Lesegerät.

»Du siehst besorgt aus«, sagte sie. »Du darfst dich von Judith nicht verunsichern lassen. Das Festival wird großartig. Ich kann mir niemanden vorstellen, der für die Organisation besser geeignet wäre als du.«

»Danke, Violet«, sagte er. »Unter uns: Ich habe eine Menge Geld in das Ganze investiert. Ich kann es mir nicht leisten, dass es scheitert.«

»Das wird es nicht. Du weißt besser als jeder andere, wofür sich Leserinnen und Leser interessieren, und ich bin mir sicher, dass die von dir ausgewählten Gäste bei den Festivalbesuchern gut ankommen werden. Wie du sagst, ist Leonie Stanwick äußerst beliebt. Die Leute werden rund um den Block Schlange stehen, um sie zu sehen.«

»Hast du einen ihrer Romane gelesen?«, fragte Eric, als er ihr das Buch zusammen mit der Quittung überreichte.

Violet schüttelte den Kopf. »Nein. Wie du weißt, bin ich eher ein Krimi-Fan. Ich stehe nicht wirklich auf Romantik … weder im fiktiven Sinne noch im echten Leben.«

Eric lachte. »Da hab ich etwas anderes gehört. Meine bessere Hälfte hat mir erzählt, dass du Matthew Collis in letzter Zeit oft gesehen hast.«

Erics ›bessere Hälfte‹ Fiona war Violets Freundin und auch die Besitzerin der Bäckerei und des Cafés des Shopping Village – beides befand sich unter demselben Dach wie die Buchhandlung. Zusammen bildeten die drei Unternehmen Books, Bakes and Cakes, lokal bekannt als BBC. Matthew Collis stellte Möbel her und verkaufte sie in einem Geschäft, das ebenfalls im Shopping Village ansässig war.

»Matthew und ich haben uns ein paarmal im Pub getroffen«, sagte Violet. »Wir sind Freunde, das ist alles.«

»Ich glaube dir.« Eric grinste. »Auch wenn ich der Einzige bin.«

Violet warf ihm einen warnenden, leicht finsteren Blick zu, während sie das Gartenbuch in ihre Einkaufstasche aus Leinen steckte. Sie war sich durchaus im Klaren darüber, dass die Einheimischen gern über sie und Matthew tratschten – solche Gerüchte waren eine der Gefahren, wenn man in einem kleinen Dorf lebte. Normalerweise ignorierte sie die Spekulationen, auch wenn sie sie ärgerlich und – manchmal – aufdringlich fand.

»Tatsächlich …« Eric stützte sich auf den Tresen und lächelte liebenswürdig. »… wollte ich dich um einen Gefallen bitten. Ich habe darüber nachgedacht, wer Leonie Stanwick interviewen sollte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht die richtige Person für den Job bin. Du hingegen wärst perfekt. Was sagst du?«

»Ich?«

»Du verdienst deinen Lebensunterhalt damit, Leute zu interviewen, oder nicht? Du bist die offensichtliche Kandidatin. Du hast hervorragende Arbeit geleistet, als du im Frühjahr die Bewohner für den Gemeindefilm interviewt hast. Die Einheimischen kennen dich und vertrauen dir.«

»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Violet. »Ich lebe jetzt seit sechs Monaten in Merrywell und fühle mich immer noch wie der Neuling im Dorf.«

Eric lächelte. »Sogar Fiona und ich haben manchmal dieses Gefühl, und wir leben schon seit über einem Jahrzehnt hier. Leute wie wir, die nicht im Dorf geboren und aufgewachsen sind, werden immer Zugezogene sein, aber das heißt nicht, dass wir nicht willkommen sind. Die Einheimischen haben dich wirklich ins Herz geschlossen, Violet. Sie mögen dich.«

»Danke.« Sie verspürte ein warmes Gefühl der Zufriedenheit. »Das ist schön zu hören.«

»Also, was sagst du? Wirst du das Interview machen? Ich kann dir ein kleines Honorar zahlen, und ich werde auch ein kostenloses Festivalticket sowie ein Exemplar von Leonie Stanwicks neuestem Buch drauflegen.«

»Ist das überhaupt schon draußen?«, fragte Violet. »Ich dachte, ihr Auftritt hier in Merrywell sollte die offizielle Vorstellung ihres neuen Romans sein.«

»Ihr Verleger hat mir ein Vorabexemplar geschickt.«

Er griff unter den Tresen und holte ein dickes Taschenbuch hervor.

»Voilà!«, sagte er und hielt es ihr mit einer schwungvollen Geste hin. »Ich präsentiere Hot Toddy – ja, genau wie der heiße Whiskey-Drink mit Gewürzen und Zitrusfrüchten – mit der Protagonistin Eliza Tiffen und ihrem Love Interest Dominic Todd.«

Zögernd nahm Violet das Buch entgegen und betrachtete das anrüchige Cover, das vom Bild eines muskulösen männlichen Torsos dominiert wurde – der vermutlich den Helden des Romans darstellen sollte.

»Hast du es gelesen?«, fragte sie.

»Teile davon«, antwortete Eric und grinste verlegen. »Ich bin irgendwie direkt zu den interessanten Abschnitten gesprungen.«

»Eric!« Violet warf ihm einen Blick gespielten Entsetzens zu. »Ich dachte, deine Lieblingslektüre wären Bücher über den Zweiten Weltkrieg … oder Oldtimer-Busse. Ich wusste nicht, dass du eine Vorliebe für pikante Liebesromane hast.«

»Das ist es ja«, erwiderte er. »Das habe ich nicht. Ich gebe zu, dass Leonie Stanwick eine meiner Lieblingsautorinnen ist, aber nur, weil ich so viele ihrer Bücher hier im Laden verkaufe. Versteh mich nicht falsch, ich habe grundsätzlich nichts gegen ihre Romane. Sie sind einfach nicht mein Fall, und deshalb bin ich nicht die beste Person, um sie auf dem Festival zu interviewen.«

Violet hatte das Buch umgedreht und las den Klappentext auf der Rückseite.

Als die Galeriebesitzerin Eliza Tiffen den temperamentvollen Künstler Dominic Todd kennenlernt, findet sie ihn äußerst attraktiv, aber auch einschüchternd intensiv. Während sie über eine Ausstellung seiner Arbeiten sprechen, versucht Eliza zu verstehen, was Dominic antreibt und was er verbirgt.

Während sie sich auf eine unerwartete und leidenschaftliche Liebesbeziehung einlassen, verliebt sich Eliza in Dominic. Doch bevor sie ihren Gefühlen nachgeben kann, muss sie Dominics tiefstes, dunkelstes Geheimnis aufdecken …

Obwohl Hot Toddy nicht zu Violets üblicher Lektüre gehörte, fand sie die Aussicht, die Autorin des Buches zu interviewen, überraschend reizvoll.

Sie wägte Erics Vorschlag ab und kam zu dem Schluss, dass sie keine weitere Bedenkzeit brauchte. Ihr noch junges Unternehmen The Memory Box lief von Tag zu Tag besser, aber das Interview mit Leonie Stanwick würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen – außerdem war Eric ein Freund, und sie wollte das Festival auf jede erdenkliche Weise unterstützen.

»In Ordnung«, sagte sie. »Wir sind im Geschäft. Ich werde mit Hot Toddy anfangen, sobald ich mein aktuelles Buch zu Ende gelesen habe. In der Zwischenzeit werde ich ein wenig über Leonie Stanwick recherchieren und einige Fragen für das Interview zusammenstellen.«

»Das Festival ist erst in vier Wochen, du hast also jede Menge Zeit, dich vorzubereiten«, sagte Eric.

»Habe ich dich zu Judith sagen hören, dass Leonie Verbindungen zum Ort hat?«

»Ja«, bestätigte er. »Sie wurde hier in Merrywell geboren, ist aber im Laufe der Jahre nicht oft hierhergekommen. Das Buchfestival wird ihr erster Besuch seit der Beerdigung ihrer Mutter vor sechs Monaten sein.«

»Hat sie noch andere Verwandte im Dorf?«, fragte Violet.

»Es gibt eine Schwester, aber ich glaube nicht, dass sie und Leonie sich nahestehen. Du solltest mit Fiona sprechen. Sie wird dir alles erzählen. Sie hat alles gelesen, was Leonie je geschrieben hat.«

»Wirklich? Das wusste ich nicht.«

»O ja«, sagte Eric. »Meine Frau ist ein großer Fan von Leonie Stanwick.«

Kapitel 2

»Stanwick ist Leonies Pseudonym«, sagte Fiona später am Abend. »Ihr richtiger Name ist Leonie Hammond.«

Sie und Violet saßen vor dem Holzofen in Violets Wohnzimmer im Greengage Cottage. Sie hatten sich zu einem Drink und einem Plausch getroffen, und es hatte nicht lange gedauert, bis sich das Gespräch dem bevorstehenden Festival und seinem Stargast zugewandt hatte.

»Ich habe einen kurzen Blick auf Leonies Autorenseite geworfen«, sagte Violet. »Viele persönliche Informationen gibt es nicht. Dort steht, dass sie 1970 in Derbyshire geboren wurde und bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr im Bezirk gelebt hat, aber das ist alles sehr vage, und Merrywell wird gar nicht genannt.«

»Nun, sie hat ihre Kindheit auf jeden Fall hier im Dorf verbracht«, sagte Fiona und nippte an einem Glas Zinfandel. »Viele Leute aus der Gegend erinnern sich an sie von damals. Ihr erstes Buch erschien 2002 und war sofort ein Bestseller – damals eine ziemliche Sensation. Seitdem hat Leonie jedes Jahr ein Buch geschrieben. Sie hat eine riesige Fangemeinde.«

Violet nickte beeindruckt. »Was glaubst du, was ihre Bücher so beliebt macht?«

»Sie sind sehr leicht zu lesen.« Fiona hielt inne, um weiter über die Frage nachzudenken. »Schlüpfrig und ein Riesenspaß, purer Eskapismus. Aber ich schätze, das trifft auf viele Romane zu. Was Leonies Bücher von anderen abhebt, sind ihre Protagonistinnen. Sie sind stark und sexy und führen ein aufregendes, unabhängiges Leben. Leonie hat es wirklich drauf, Charaktere zu erschaffen, die den Leserinnen am Herzen liegen und mit denen sie sich identifizieren können.«

»Oder die sie gern sein würden?«

Fiona lachte. »Ja, vielleicht ist das ein Teil davon. Was auch immer der Grund ist, die Leute können nicht genug von ihren Büchern bekommen.«

»Eric hat mir erzählt, dass du sie alle gelesen hast. Vielleicht bist du die beste Person, um sie zu interviewen.«

»Auf keinen Fall!« Fiona verzog das Gesicht. »Würdest du mich ins Rampenlicht stellen, würde ich keinen Ton herausbringen oder mich verhaspeln. Für so etwas bin ich nicht geeignet. Du bist viel besser darin, als ich es je sein könnte. Außerdem werde ich mit der Organisation des Caterings für die Veranstaltung beschäftigt sein. Ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, oder?«

»Okay, wenn du dir sicher bist …«

»Das bin ich, vorausgesetzt, du versprichst mir, mich Leonie vorzustellen. Ich möchte mir die Chance, meine Lieblingsautorin zu treffen, nicht entgehen lassen. Eric hat mir erzählt, dass er dir bereits das Vorabexemplar von Hot Toddy gegeben hat. Danach bin ich mit Lesen dran.«

»Kein Problem. Ich gebe es dir, sobald ich damit fertig bin.«

»Danke, Violet. Nicht, dass ich in den nächsten Wochen Zeit zum Lesen haben würde. Die Vorbereitungen für das Festival werden extrem hektisch.« Fiona schien ungewöhnlich besorgt darüber zu sein, was auf sie zukam. »Am Festivalwochenende selbst haben wir das Café bis spät in die Nacht geöffnet und bieten an allen drei Abenden ein Bistro-Menü an.«

»Klingt, als würdest du dir die Füße wund laufen.«

»Es wird harte Arbeit, so viel ist sicher – aber es lohnt sich, hoffe ich. Ehrlich gesagt ist im Moment jedes zusätzliche Einkommen willkommen. In letzter Zeit war es im Café etwas ruhiger.«

»Warum das?«, fragte Violet. »Ist es einfach eine ruhige Zeit im Jahr?«

Fiona zuckte mit den Schultern. »Das ist sicherlich ein Faktor, außerdem müssen viele Leute im Moment den Gürtel enger schnallen. Teurer Kaffee und Restaurantbesuche sind die ersten Dinge, auf die man verzichtet, wenn man sparen muss. Erschwerend kommt hinzu, dass Eric einen großen Teil seines eigenen Geldes in die Organisation des Buchfestivals gesteckt hat. Es ist ein kalkuliertes Risiko, von dem wir hoffen, dass es sich auszahlt, aber ganz ehrlich: Wir können es uns nicht leisten, dass es scheitert. Es muss ein Erfolg werden.«

»Das wird es bestimmt.« Violet drückte den Arm ihrer Freundin. »Wenn das jemand schaffen kann, dann du und Eric.«

»Danke, Violet. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen. Hoffen wir einfach, dass alles nach Plan läuft.«

»Warum sollte es nicht? Ihr seid zwei der am besten organisierten Menschen, die ich kenne. Was soll denn schon schiefgehen?«

Bei einem zweiten Glas Wein dachten sie über mögliche Interviewfragen nach und diskutierten über Leonies denkwürdigste Charaktere und einige der eindrucksvollsten oder exotischsten Schauplätze ihrer Romane.

»Also hat sie Merrywell in keinem ihrer Bücher erwähnt?«, fragte Violet. »Oder ein sehr ähnliches Dorf?«

»Nein«, erwiderte Fiona. »Es ist immer London oder Amerika oder ein heißer exotischer Ort. Das ist verständlich, nehme ich an. Leonie ist jetzt Anfang fünfzig. Ihre Zeit in Merrywell dürfte eine ferne Erinnerung sein. Außerdem erwarten ihre Leser inzwischen glamouröse und schicke Orte – was Merrywell ausschließt.«

»Oooh, das würde ich nicht sagen«, widersprach Violet, überwältigt von einem starken Gefühl der Loyalität gegenüber dem Ort, den sie jetzt ihr Zuhause nannte. »Merrywell ist vielleicht nicht glamourös, aber es hat viel zu bieten und seinen ganz eigenen Charme.«

Fiona lachte. »Vielleicht kannst du ihr in deinem Interview vorschlagen, das Dorf als Schauplatz für ihr nächstes Buch zu verwenden. Mal sehen, welche Reaktion du bekommst.«

»Ich kann es mir genau vorstellen.« Violet hob die Hände. »Eine leidenschaftliche Liebesszene im Merrywell Manor Hotel.«

Fiona lachte schallend. »Oder – noch besser – im Rathaus«, sagte sie. »Ich frage mich, was Judith Talbot dazu sagen würde.«

Die Vorstellung, dass das Rathaus als Schauplatz für eine Reihe schlüpfriger Machenschaften dienen könnte, löste einen Lachanfall aus, und es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihre Fassung wiedererlangten.

»Erzähl mir von Leonies Schwester.« Violet wischte sich Lachtränen aus den Augen. »Ich nehme an, sie lebt immer noch im Dorf?«

»Ja, aber ich weiß nicht viel über sie, außer dass sie Angeline heißt und Gemeindeschwester ist … oder möglicherweise Krankenschwester im Sozialdienst. Ich bin mir nie sicher, was der Unterschied ist.«

»Eric hat mir erzählt, dass sie und Leonie sich nicht nahestehen«, sagte Violet. »Was die Frage aufwirft … Glaubst du, dass Angeline Leonie auf dem Festival besuchen wird?«

»Nun, das ist etwas, das ich weiß«, sagte Fiona. »Ich habe die Online-Verkäufe überprüft, bevor ich heute Abend hierherkam, und kann bestätigen, dass Angeline Hammond eine Eintrittskarte für Leonies Veranstaltung gekauft hat. Und interessanterweise ist am späten Nachmittag noch ein weiterer Name auf der Liste aufgetaucht … ein ziemlich merkwürdiger.«

»Welcher?«

»Judith Talbot. Sie hat ein Ticket für den Livestream gekauft.«

Violet zog die Augenbrauen hoch. »Was? Nach allem, was sie zu Eric gesagt hat?«

»Jep. Judith mag Leonie Stanwick vielleicht nicht gutheißen, aber sie hat offensichtlich vor, sich das Interview von zu Hause aus anzusehen.«

»Sie hat Nerven, das muss man ihr lassen.« Violet schüttelte den Kopf.

»Wer weiß?« Fiona grinste. »Vielleicht ist sie ein heimlicher Fan.«