Leseprobe Dragons Curse

1

Meine Lippen zitterten, während ich vor dem Bett meines verstorbenen Vaters kniete. Sein blasses, vom Alter gekennzeichnetes Gesicht lag bewegungslos auf einem edel bestickten Kissen, welches das Wappen unseres Volkes trug.

Einen Drachen.

Die schweren, roten Vorhänge des Himmelbettes versperrten den im Raum stehenden Dienern die Sicht. Zum Glück, dachte ich und schluckte den beklemmenden Kloß in meinem Hals hinunter.

Der sanfte Druck einer Hand auf meiner Schulter sorgte dafür, dass ich mich umdrehte.

»Prinzessin, es ist so weit«, sagte Magister Sortex. In seinem Blick lagen Ungeduld und etwas Anderes, das ich nicht zuordnen konnte.

Ich nickte zögerlich. Ich war noch nicht bereit, mich von meinem Vater zu trennen, doch er musste für die Aufbahrung vorbereitet werden. Schließlich wollte sich das Volk von seinem langjährigen Herrscher gebührend verabschieden.

Als ich mich erhob, trat mir sofort Tala, eine der Kammerzofen, zur Seite und half mir auf die Beine. In diesem Schloss wurden alle meine Bewegungen entweder penibel kommentiert, unterstützt oder in gewünschte Richtungen umgelenkt. An den meisten Tagen störte mich diese Einschränkung meiner Freiheit. Aber heute? Heute war ich froh, dass ich Zofen wie Tala und Minerva hatte.

Ich trat hinter den Stoffbahnen hervor und seufzte. Die wenigen Fackeln ließen den Raum im Halbdunkel, doch ich war froh darüber. Alles, was die Unsicherheit auf meinem Gesicht verbarg, war willkommen.

Ich strich mein dunkles Gewand glatt und atmete einmal tief ein. Eine dunkelbraune Haarsträhne hatte sich aus meinem sorgfältig geflochtenen Zopf gelöst und fiel mir ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung streifte ich sie mir hinter das Ohr. Dabei bemerkte ich, wie meine Finger zitterten. Hoffentlich sieht das niemand, dachte ich angespannt.

Alle Augen waren auf mich gerichtet. Die der Bediensteten, die bis vor wenigen Augenblicken damit beschäftigt gewesen waren, die Stirn meines Vaters mit nassen Lappen zu kühlen. Der des herbeigerufenen Hofarztes, der seine Tasche zusammenpackte. Und auch die erwartungsvollen Augen des Magisters, des höchsten Beraters meines Vaters.

»Prinzessin Ella.« Sortex verbeugte sich leicht und machte eine ausladende Handbewegung. Ich wusste, dass ich den Raum verlassen sollte, gleichwohl meine Beine mir nicht gehorchen wollten.

»Bringt die Prinzessin hier raus, ihr seht doch, dass sie völlig verstört ist!«, blaffte der Magister meine zwei Kammerzofen an.

Minerva machte einen Knicks und griff mir sofort unter den Arm. Sie blickte Tala unentschlossen an, doch diese nickte ihr aufmunternd zu. Die robuste Rothaarige war schon immer die Mutige von uns dreien gewesen.

Meine Hände wollten nicht aufhören zu zittern, doch gemeinsam schafften wir es, meinen vor Anspannung bebenden Körper aus dem Raum heraus zu manövrieren.

Als endlich die schwere hölzerne Tür ins Schloss fiel, stöhnte ich und stolperte beinahe über meine eigenen Füße.

»Eure Hoheit!«, rief Minerva erschrocken und fing mich mit einer geschickten Bewegung rechtzeitig auf.

Es fiel mir merklich schwerer, die gelernte Maske der starken Königstochter aufrecht zu erhalten. Schlimm genug, dass Sortex bemerkt hatte, dass ich schwächelte. Ich mahlte mit den Zähnen. Reiß dich zusammen, Ella!, mahnte ich mich. Denk an die Lektionen, die dir der Magister all die Jahre beigebracht hat.

Einen Moment lang schloss ich die Augen und atmete dreimal kurz ein und lange aus, genau wie ich es mit Sortex unzählige Male geübt hatte.

Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen versuchte ich sie zu beruhigen. »A-alles in Ordnung«, log ich und blickte den langen, steinernen Flur entlang.

Dicke, teilweise heruntergebrannte Kerzen standen in fein gearbeiteten, eisernen Haltern und hingen rechts und links an den Wänden. Hier im Schloss war es meist düster, egal ob draußen Tag oder Nacht herrschte.

»Bringt mich in mein Schlafgemach«, verlangte ich, während ich krampfhaft versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Tränen gehörten in Gegenwart Anderer nicht auf das Gesicht einer Prinzessin. Und schon gar nicht auf das einer zukünftigen Königin.

Oft genug hatte ich dies von meinem Vater eingetrichtert bekommen. Eine Prinzessin darf keine Schwäche zeigen, erinnerte ich mich an seine Worte. Bisher hatte ich mich stets daran gehalten. Doch heute fiel es mir bedeutend schwerer, die Maske der selbstbewussten Thronerbin aufrecht zu erhalten.

Ich schüttelte leicht den Kopf. Ich hatte mich viel zu schwächlich gezeigt.

Zeit, sich zusammenzureißen.

Doch so leicht, wie ich mir das vorgestellt hatte, war es nicht.

Mein Körper war der felsenfesten Überzeugung, dass er mir heute nicht gehorchen musste und so war das Einzige, dass ich tun konnte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Es lag sicher an der furchtbaren Luft dort drinnen.« Ein Versucht, mein zerbrechliches Nervenkostüm vor den Kammerzofen zu verstecken. »Kein Wunder, dass mein Vater dort nicht gesund wurde. Dabei hatte ich doch angeordnet, dass für ausreichend frische Luft zu sorgen ist.« Ich seufzte gespielt. »Garantiert versagt mir deshalb mein Kreislauf den Dienst.«

»Aber natürlich, Eure Hoheit«, bestätigten Tala und Minerva sogleich.

Ich konnte nicht sagen, ob sie mir glaubten oder mir nur zustimmten, weil es ihre Pflicht war. Aber das tat im Augenblick nichts zur Sache.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als wir endlich mein Schlafgemach erreicht hatten und die Zeit abzusehen war, in der ich den Tränen freien Lauf lassen konnte.

Der bekannte Duft von Lavendel wehte mir entgegen, als Minerva die Zimmertür hinter uns schloss. Da ich die vergangenen Tage kaum in den Schlaf gefunden hatte, hingen überall im Raum getrocknete Lavendelbündel. Leider hatten sie nicht den gewünschten Effekt auf mich.

Vermutlich könnte ich in einem Meer aus Lavendel baden und wäre noch immer aufgekratzt.

Durch die gläsernen, bunten Fenster drangen die letzten Sonnenstrahlen des späten Herbsttages.

Ich ging ein paar Schritte auf mein großes Himmelbett zu.

Wie gerne würde ich mich jetzt hineinfallen lassen.

Dann aber entschied ich mich dazu, auf dem aufwendig verzierten Stuhl an meinem Tisch Platz zu nehmen.

Nur ein wenig durchhalten, sprach ich mir selbst Mut zu.

Tala eilte sogleich zum leeren Krug, um ihn mit klarem Wasser zu füllen, da begann Minerva damit, mein Kleid zurechtzuzupfen.

»Ich danke euch, ihr beiden«, sagte ich mit einem krampfhaften lächeln. »Bitte lasst mich alleine.«

Blitzschnell beendeten meine Zofen ihre Handlung, verbeugten sich tief und eilten mit gesenktem Blick aus meinem Zimmer.

Mit dem lauten Klicken der Zimmertür, die ins Schloss fiel, sank ich in mich zusammen.

Erst als die Tropfen auf mein Kleid fielen, bemerkte ich, dass ich weinte. Ich presste die Augen so fest zusammen, dass es schmerzte und legte dann meine Hände schützend auf das Gesicht. So durfte mich niemals jemand sehen.

So verletzlich. Schwach.

Mit wackeligen Beinen streifte ich mir die ledernen Schuhe von den Füßen und ließ mich bäuchlings aufs Bett fallen. Der Duft von sauberer Bettwäsche umfing meine Nase und ich weinte leise in den frischen Bezug hinein. Wie sollte ich das alles schaffen?

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und atmete einmal tief ein.

Nachdenklich berührte ich die goldene, lange Halskette, welche ich von meiner Mutter vererbt bekommen hatte. Seit ihrem Ableben hatte ich sie nicht einmal abgenommen.

Der rote, glänzende Rubin lag angenehm schwer in meiner Hand. In Momenten wie diesen vermisste ich Mutter am meisten.

Vater hatte nie gerne darüber gesprochen, was nach seinem Ableben sein würde und ich hatte es nie gewagt, direkt nachzufragen. Das Einzige, dass er mal zu mir gesagt hatte, war, dass ich mich stets auf meine Berater verlassen sollte. Sie wüssten schon, was zu tun ist.

Meine trüben Gedanken wanderten zu Magister Sortex. Er diente Vater seit Jahrzehnten und soweit ich sagen konnte, war der König mit seinen Diensten stets zufrieden gewesen.

Morgen würde ich zu ihm gehen und einen Rat über das weitere Vorgehen erbitten.

Traurig rollte ich mich auf die Seite und fischte mit meiner Hand unter dem Bett nach einer Box.

Als ich das hölzerne Schächtelchen ertastete, entspannten sich meine Gesichtszüge.

Mit einer geschickten Bewegung holte ich es hervor und brachte mich in eine aufrechte Position.

Ein zartes Lächeln stahl sich auf mein verweintes Gesicht und ich streifte mir eine lose Strähne des rotbraunen Haares hinter die Ohren.

Vorsichtig fuhr ich mit meinen Fingern über das Wappen, das in den Deckel der Schatulle eingraviert war. Das Ebenholz, aus dem das Kästchen bestand, war glatt und feine Schnörkel schlängelten sich um jede der vier Außenseiten.

»Ach Mutter, du fehlst mir so«, flüsterte ich und drückte das Schächtelchen fest an mich.

Obwohl es schon einige Jahre her war, dass sie uns verlassen hatte, fühlte es sich heute wieder so an, als wäre sie erst gestern verstorben. Vielleicht war es der Tod meines Vaters, der diese trüben Erinnerungen auslöste. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich endgültig ohne Familie dastand.

Ich hoffe, dass der silberne Drache gut über eure Seelen wacht.

Vorsichtig drehte ich an dem kleinen Rädchen, das an der Hinterseite der Schatulle befestigt war und öffnete den Deckel.

Mit noch immer tränenden Augen lauschte ich der vertrauten, rhythmischen Melodie, die aus dem Inneren der Spieluhr drang. Es war ein altes layowinisches Kinderlied. Eines, dass mir meine Mutter damals immer vorgesungen hatte, wenn ich mal wieder nicht schlafen konnte.

Seufzend ließ ich mich auf den Rücken fallen und starrte an die hölzerne Decke meines Bettes.

Mit dem nächsten Aufziehen der Spieluhr begann ich leise zu singen.

Komm, kleines Kindchen, gib fein Acht,

die Mutter hat ein Geschenk dir gebracht.

Leg dich ins Bettchen und komm zur Ruh’,

dann fallen dir bald auch die Äuglein zu.

 

Hör’, kleines Kindchen, hör’ gut zu,

bald kommt der Schlaf, er holt dich im nu.

Hab’ keine Angst, es ist schon vollbracht,

wo Sterne erwachen, herrscht ewige Nacht.

Und als das letzte Wort der zweiten Strophe meine Lippen verlassen hatte, fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

***

 

»Das Essen ist vorbereitet, Eure Hoheit!« Die freundlichen Worte meiner Zofe weckten mich.

Blinzelnd rieb ich mir die Augen und blickte an das Bettende, an dem Tala mit einem großen Tablett voller Köstlichkeiten stand.

Mein Magen gab ein verräterisches Knurren von sich, als ich die tropfenförmigen, frischen Brötchen entdeckte.

In kürzester Zeit füllte ihr würzig-herber Duft mein Zimmer. Auch zwei kleine, layowinische Küchlein lagen daneben. Tala wusste, dass ich normalerweise nichts lieber aß. Für mich wurde der weiche Hefeteig, aus dem sie bestanden, mit Seebeeren gefüllt. Sie wuchsen, wie der Name es schon vermuten ließ, am Rand des Sees und waren so selten, dass es jedes Mal an ein Wunder grenzte, wenn die Diener welche fanden.

Doch trotz meines Hungers hatte ich heute keinen Appetit. Wie lange hatte ich geschlafen?

Ich setzte mich auf und hätte mich mit der Hand beinahe auf die Spieluhr gelehnt. Vorsichtig legte ich das Kästchen zur Seite und zwang mich zu einem Lächeln.

»Vielen Dank. Stell es auf das Bett, ja?«

Die rothaarige Zofe nickte und machte einen flüchtigen Knicks, doch ihr Blick blieb misstrauisch. Tala war nicht nur die Mutigste von uns dreien, sie bemerkte auch stets, wenn etwas mit mir nicht stimmte.

»Ihr wisst, Ihr könnt euch mir jederzeit anvertrauen, Eure Hoheit?«

Jetzt nicht schwach werden. Wieder flackerten Erinnerungen an damals auf. An Phasen, in denen wir zu dritt auf meinem Bett herumgetobt hatten und uns mit königlichen Kissen beworfen hatten. Eine Zeit, in der ich ihr tatsächlich alles hatte anvertrauen können.

»Es ist in Ordnung«, versicherte ich stattdessen.

Sie biss sich auf die Unterlippe und überlegte einen Moment. Dann nickte sie.

»Verzeiht, eure Hoheit, aber Magister Sortex erwartet euch nach dem Frühstück im Bärenzimmer.« Tala wusste, dass mich diese Nachricht nicht fröhlich stimmen würde. Sie hielt den Blick gesenkt und wartete darauf, dass ich sie entließ.

Es fiel mir schwer, die nötige Distanz zwischen mir und meinen Zofen einzuhalten. Früher, als ich kleiner gewesen war, gelang mir das überhaupt nicht, doch mein Vater hatte mir in den letzten Jahren immer wieder unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass unsere Diener keine Freunde waren. Und so hatten auch Tala und Minerva unter meiner distanzierten Art zu leiden.

Ich atmete tief ein.

»Alles klar«, erwiderte ich noch immer lächelnd. »Sag ihm, dass ich mich spute.«

»Jawohl, Eure Hoheit.«

»Du darfst gehen.«

»Bitte entschuldigt, Prinzessin Ella, aber Eure Kleidung?« Sie deutete auf das neue Gewand, dass sie zuvor sorgfältig auf den Stuhl gelegt hatte.

»Sorge dich nicht, ich schaffe das alleine«, erwiderte ich.

Ein weiterer Knicks, dann drehte sich Tala um und eilte aus meinem Schlafgemach. Ich wollte nicht so kalt sein. Ich wollte nicht, dass diese dicke Kluft zwischen meinen damaligen Freundinnen und mir herrschte.

Doch für meine eigenen Wünsche und Hoffnungen war im Augenblick wenig Platz. Ich musste mich auf das, was mein Vater mir gesagt hatte, verlassen.

Mein Vater. Kaum war sein Körper erkaltet, da kreisten die Edelleute wie die Geier um seinen Nachlass.

Ich schnaubte.

Es würde schwer werden, sich als einzige Frau gegen die Überzahl der Männer durchzusetzen. Mir war klar, dass eine falsche Entscheidung mich schnell meine Position kosten konnte. Selbst als rechtmäßige Thronerbin. Denn auch wenn Sortex bisher immer auf der Seite meiner Familie und stets loyal uns gegenüber gewesen war, so gab es doch genug Adlige, die mich liebend gern vom Thron stoßen würden.

Mit einer flinken Bewegung hievte ich mich aus dem Bett und verstaute die Spieluhr wieder behutsam darunter. Ich hatte noch immer keinen Appetit, also ließ ich das Frühstück links liegen und schlüpfte aus dem zerknitterten Schlafgewand.

Tala hatte mir ein schwarzes Kleid mit passendem Schleier herausgelegt. Es war schlicht und für meine Verhältnisse schmucklos. Einzig ein kleiner, mit goldenem Faden aufgestickter Drache thronte auf dem Saum des bodenlangen Gewandes.

Schnell die Haare kämmen und zu einem einfachen Dutt drehen, dann konnte ich mein erschöpftes Gesicht endlich hinter dem Schutz des halbdurchsichtigen Schleiers verstecken.

Zufrieden begutachtete ich mich vor dem Spiegel, der auf der Kommode neben dem großen, bunten Fenster stand. »Du schaffst das«, sprach ich mir selbst Mut zu und strich noch einmal über den samtigen Stoff. Dann lief ich aus der Tür und machte mich auf den Weg zum Bärenzimmer.

Der Flur war mit einem typisch roten Teppich ausgelegt, sodass ich mit meinen dünnen Lederschuhen niemals auf dem kalten, steinernen Boden laufen musste. Ich lief an einigen Bediensteten vorbei, welche stets innehielten und sich verbeugten, sobald sie mich entdeckten. Obwohl sie mich nur flüchtig begrüßten, sah ich die Leere in ihren Augen. Die Unsicherheit. Es herrschte eine kalte, trostlose Stimmung und das lag nicht nur daran, dass mein Vater gestern verstorben war. Ich hatte noch nicht herausgefunden wieso, aber bereits seit mehreren Mondphasen wirkten die sonst so lebensfrohen Bediensteten bedrückt. Als ich Vater darauf angesprochen hatte, hatte er es bloß abgewiegelt.

Doch ich würde dem noch nachgehen, gleich, nachdem ich die Thronfolge gesichert hatte.

Das Bärenzimmer war einer der großen Räume, in denen mein Vater immer seine Besprechungen abgehalten hatte. Zwei Wachen standen vor der schweren, hölzernen Tür und verfielen in eine Starre, als sie mich sahen.

Ich war heilfroh, dass der Schleier das Zittern meines Kiefers verbarg. Der kalte, eiserne Türknauf hatte die Form eines brüllenden Bären und schien mich verachtend anzustarren. Als wollte er mir sagen, dass ich als Frau hier nichts zu suchen hatte. Solche Sätze wurden nur allzu oft hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Mehr als einmal hatte ich diese und ähnliche Aussagen der Lords von Layowin durch Zufall aus Gesprächen der Diener erfahren.

Ein letzter, tiefer Atemzug, dann öffnete ich die quietschende Tür und betrat den Raum. Er war bereits mit allen möglichen, wichtigen Männern gefüllt. Bis eben hatten sie sich angeregt unterhalten, doch sobald sie mich erblickten, verstummte das Gemurmel.

Sie verbeugten sich knapp.

Alle, bis auf Magister Sortex. Der senkte nur leicht seinen Kopf.

Unschlüssig und etwas verloren stand ich in der Tür und bedankte mich lächelnd bei der Wache, die diese von innen wieder schloss.

»Eure Hoheit, da seid Ihr ja. Wir haben Euch erwartet«, sagte der Magister und deutete mit der Hand zu dem großen, goldenen Stuhl, der an einem noch größeren Tisch stand. Es war der Platz meines Vaters.

Zögerlich legte ich meine Hände aufeinander und lief auf den mit rotem, seidenem Stoff bestickten Stuhl zu. Erst als ich mich dort niedergelassen hatte, setzten sich die restlichen Männer des Raumes.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich von den Blicken der Adelsleute förmlich durchbohrt wurde.

Vor lauter Anspannung hielt ich den Atem an. Und nun? Hilfesuchend blickte ich zu Sortex. Es waren Momente wie diese, in denen ich meinen Vater dafür verfluchte, dass er mir nicht mehr über die Tätigkeiten einer zukünftigen Königin beigebracht hatte.

Schon wollten mir wieder die Tränen in die Augen treten, da nahm der Magister das Wort an sich.

Erleichtert atmete ich aus.

»Wir sind alle hier, um über die Zukunft unseres Landes und die unseres Volkes zu entscheiden«, begann Sortex und legte seine Hände dabei flach auf den Tisch. »Wie wir alle wissen, ist unser geliebter König gestern von uns gegangen. Der silberne Drache sei seiner Seele gnädig.«

»Der silberne Drache sei ihm gnädig«, wiederholten die Edelleute im Chor.

Sortex nickte andächtig. »Doch auch wenn – oder gerade weil – wir ohne rechtmäßigen Nachfolger dastehen, müssen wir uns so schnell wie möglich darauf einigen, wie wir weiter vorgehen.«

Wie bitte? Wenn wir keinen rechtmäßigen Nachfolger haben? Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Was war denn mit mir?

Ich räusperte mich laut und blickte in die Runde. Die Adligen tuschelten miteinander.

Sortex hob beschwichtigend die Hände. »Eure Hoheit, wir alle wissen, dass Ihr die Tochter des Königs seid. Bitte verzeiht, doch wir müssen bedenken, dass es bisher keine Königin gab, die nicht hinter einem König gestanden hat.«

Mit zusammengebissenen Zähnen schluckte ich die aufkommende Wut hinunter. Hör auf deine Berater, sie wissen, was zu tun ist, hallten mir die Worte meines Vaters durch den Kopf. Und so nickte ich nur.

Die Gesichtszüge des Magisters entspannten sich merklich. »Niemand zweifelt Eure Thronfolge an, Eure Hoheit.«

»Gut«, entgegnete ich knapp und ohne zu viel von meinem inneren Durcheinander preiszugeben.

Mein Mundschenk füllte mir meinen Becher mit Wein auf und ich blickte wie hypnotisiert in die rote Flüssigkeit, die einige Momente lang kleine Wellen schlug.

»Seit der silberne Drache das Königreich Layowin aus dem Berg geschlagen hat, stehen wir unter seinem Schutz. Könige und Königinnen aus meiner Blutlinie wurden auserkoren, das Volk in guten wie in schlechten Zeiten zu leiten. Ich glaube nicht, dass die Drachen ein Problem damit hätten, wenn nun eine Königin den Thron alleine besteigt«, erklärte ich mit fester Stimme.

Erneut tuschelten die Lords miteinander, was mich zunehmend verärgerte.

»Die Drachen wurden schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Sie haben uns bisher beschützt, vielleicht auch verschont. Doch was, wenn diese Neuerung sie erzürnt?«, fragte ein älterer Adliger vorsichtig.

Ich holte tief Luft. »Als der silberne Drache in die Geisterwelt geglitten ist, um unsere Seelen zu beschützen, hat er meine Blutlinie auserwählt. Ich bin ein Teil davon und niemand anderes hat ein Anrecht darauf.« Langsam wurde ich wütend. Wie konnten sie es wagen, mein Recht als Königin anzuzweifeln? So viel zum Thema Niemand zweifelt Eure Thronfolge an.

»Prinzessin Ella könnte heiraten«, sagte einer der Edelleute und einige stimmten murmelnd zu.

»Und an wen denkt ihr da, Sir Verros?«, hakte Sortex mit hochgezogenen Augenbrauen nach.

Der gebrechlich aussehende Mann zuckte ratlos mit den Schultern. »Jemand, der der Thronfolge am nächsten steht.«

»Es gibt außer Prinzessin Ella keine lebenden Nachfahren des Königs von Layowin«, stellte der Magister trocken fest.

»Was ist mit euch, Magister Sortex?«, fragte ein anderer der Edelleute. »Ihr dient der Familie des Bergvolkes am längsten, es wäre nur fair, wenn ihr den Platz an der Seite der Prinzessin einnehmen würdet.«

Ich schluckte, doch der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, wollte nicht verschwinden.

»Ich werde niemanden heiraten«, sagte ich mit Nachdruck und erhob mich von meinem Platz.

Im selben Moment erhoben sich auch alle Edelleute im Raum.

»Natürlich müsst Ihr das nicht, Eure Hoheit«, entgegnete Sortex beschwichtigend. »Die Prinzessin kann selbst entscheiden, wen sie heiratet«, richtete er deutlich harscher in die Richtung der Adligen.

»Ich sagte, ich werde niemanden heiraten«, begann ich erneut und hielt mich mit den Händen am Tisch fest, damit niemand sah, dass meine Finger fürchterlich zitterten. »Ich kann das Königreich sehr gut alleine regieren.«

Ich spürte, wie meine Sicht glasig wurde und versuchte nicht zu blinzeln. Was bildeten sich diese hochnäsigen Gestalten bloß ein? Einfach so über mein Schicksal zu entscheiden, als wäre ich nur eine unbedeutende Schachfigur? Ich presste meine Lippen zusammen.

»Gewiss, gewiss«, sagte Sortex und senkte seinen Kopf zu einer knappen Verbeugung. »Aber bitte bedenkt, dass selbst der weiseste Herrscher auf seine Berater angewiesen ist. Mit Verlaub, Eure Hoheit, sollten wir dann nicht gemeinsam entscheiden?«

Ich schob den Stuhl zurück und strich mein Gewand glatt. »Ist es nicht bereits entschieden?«, fragte ich angespannt. Mein Puls rauschte in meinen Ohren und ich würde meinen Tränen nicht mehr lange zurückhalten können.

»Nun ja.« Der Magister schob einige Blätter Pergament zusammen, die er vor sich liegen hatte. »Es gibt da schon noch etwas zu klären. Wie ihr wisst, ist da die Sache mit, na ja –«

»Meinem Geschlecht?«, beendete ich seinen Satz harsch.

Sortex nickte schnell.

»Dann werde ich eben ab sofort die erste Königin sein, die ohne König herrscht. Ihr wollt mitregieren? Dann findet eine Lösung. Dafür seid ihr doch meine Berater, oder nicht?«

»Natürlich, Eure Hoheit«, entgegnete der Magister und wirkte dabei weniger glücklich.

»Gut«, sagte ich knapp und musste mich zusammenreißen, während dem Rauslaufen nicht die Beherrschung zu verlieren und laut zu schluchzen. Erst als sich die Türe wieder hinter mir schloss, stieß ich ein lautes Seufzen aus.

Wie sollte ich das nur von jetzt an jeden verdammten Tag aushalten? Am liebsten wäre ich an der gegenüberliegenden Wand zusammengesackt.

Doch hier waren viel zu viele Bedienstete, viel zu viele Menschen, die von mir erwarteten, dass ich stark war. Und so beschloss ich, ein letztes Mal meinen aufgebahrten Vater zu besuchen.

2

Das kleine, prunkvolle Glaubenshaus, welches in der Mitte unseres Schlosshofes stand, strahlte regelrecht in der spätherbstlichen Sonne dieses Tages. Es fühlte sich an, als würden mich die freundlichen Strahlen verhöhnen. Also wäre nicht gestern erst mein Vater von uns gegangen und nun die Last des gesamten Königreiches auf meinen Schultern liegen.

Bereits heute Abend würde mein Vater in die Krypta unserer Familie überführt werden und dort endlich wieder mit meiner Mutter vereint sein. Doch obwohl dieser Gedanke tröstend war, so hatte ich noch immer nicht wirklich registriert, dass ich von nun an auf mich alleine gestellt war.

Den Wachen, die seitdem ich den Palast verlassen hatte, immer an meiner Seite klebten, bedeutete ich zurückzubleiben. Im Glaubenshaus sollte ich nichts zu befürchten haben. Zumindest keine körperlichen Angriffe.

Denn als ich durch die offenen Flügeltüren des herrschaftlichen Gebäudes schritt, steckten einige der Bewohner ihre Köpfe tuschelnd zusammen.

Natürlich wusste ich, dass ich beim Volk nicht beliebt war. Das Volk von Layowin hatte mich in den letzten Jahren nur selten zu Gesicht bekommen, deshalb konnte ich es ihnen nicht verdenken. Sie kannten mich kaum. Mein Vater hatte stets darauf geachtet, dass so wenig Informationen wie möglich nach draußen drangen. Das erweckte bei den Bewohnern den Anschein, dass ich mich nicht für sie interessierte.

Doch das stimmte nicht.

Und jetzt hatte ich endlich die Möglichkeit, über mich selbst zu bestimmen.

Meine Gedanken wanderten zu Sir Verros Vorschlag heute Morgen. Na ja, zumindest über die meisten Dinge konnte ich selbst bestimmen.

Mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen lief ich durch den langgezogenen Gang, der abermals mit einem roten Teppich ausgekleidet war. Links und rechts davon standen einige Bänke, auf denen bis gerade eben überraschend viele Menschen gesessen hatten.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass mein Vater so beliebt war. Oder war das eher gute Miene zum bösen Spiel? Ich hasste es, dass das Leben in Layowin größtenteils auf Lügen und vorgetäuschter Freundlichkeit stattfand. Es widerstrebte völlig meiner Natur, und doch wurde es einfach von einer Prinzessin wie mir erwartet. Wenn es nach mir ginge, dürfte jeder offen sagen, was ihn störte.

In der Mitte des hohen Raumes, dessen Decke mit kunstvollen Blumenranken verziert war, hingen goldene Kronleuchter, die mit eisernen Ketten im Stein befestigt waren.

Kurz vor dem großen steinernen Altar, auf dem der König lag, kam ich zum Stehen. Die Wachen, die davor standen, gingen mit gesenktem Haupt einen Schritt zur Seite.

Ich legte meine Hände auf den kalten Mamor und blickte auf die geschossenen Augen und entspannten Gesichtszüge meines Vaters. Ich atmete einmal tief durch.

Die Kissen, auf denen der König aufgebahrt war, waren mit ebenfalls goldenen, aufwendigen Nähten verziert und in regelmäßigen Abständen war das Wappen unseres Hauses aufgestickt.

Von überall her starrte mich der Drache an. Von den steinernen Wänden, in die die Figur der großen Kreatur hineingemeißelt war, genauso wie vom Altar und den Stoffen, die vor mir lagen. Mein Vater war ganz in Weiß und Gold gekleidet und trug noch immer die Krone unseres Hauses.

So friedlich. Ich strich ihm einmal vorsichtig über die Wange. Das war die wahrscheinlich innigste Begegnung, die jemals zwischen ihm und mir stattgefunden hatte.

Wir hatten nie das beste Verhältnis gehabt, doch obwohl er sich immer einen Sohn gewünscht hatte, hatte er mich zu einer Prinzessin herangezogen, die bereit dazu war, Königin zu werden. Und dafür würde ich ihm immer dankbar sein. Ich liebte meinen Vater, denn er war alles, was mir nach dem Tod meiner Mutter geblieben war.

Traurig senkte ich den Blick.

Ein kalter Windhauch glitt durch das Gebäude und ließ mich kurzzeitig erschaudern.

Gerade wollte ich das Glaubenshaus verlassen, da kam mir Magister Sortex aufgeregt entgegengeeilt.

Ich wollte mich bereits beschweren, da bemerkte ich, dass auch die Bewohner meines Reiches den aufgebrachten Magister begutachteten.

»Eure Hoheit, etwas Furchtbares ist passiert«, rief er mir entgegen.

Furchtbarer als der Tod meines Vaters? Ich konnte mir nichts Entsetzlicheres vorstellen.

Doch die blauen, aufgerissenen Augen des Magisters verrieten mir, dass etwas bedeutend Schlimmeres passiert war.

»Prinzessin, wir müssen Euch in Sicherheit bringen!« Er wirkte völlig fahrig und schob mich ungeduldig vor sich her.

»Immer mit der Ruhe«, versuchte ich Sortex zu beruhigen. »Ich komme ja. Aber scheucht das Volk nicht so auf.«

Wir liefen, mit meinen Wachen im Schlepptau, zurück zum Schloss und der Magister drängte darauf, mich in mein Schlafgemach zu bringen.

»Was ist denn los?«, sagte ich deutlich ungeduldiger.

Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass im Vergleich zu heute Morgen entschieden mehr Menschen im Palast umherliefen. Viele davon hatte ich nie zuvor gesehen.

Das flaue Gefühl in meiner Magengegend wurde immer stärker. Was ging hier vor?

»Magister!«, rief ich etwas zu verzweifelt und verlor damit einen Augenblick lang meine selbstbewusste Maske.

Ich blieb stehen und sah ihn fordernd an. In seinem aufgebrachten Gesicht konnte ich keine klare Emotion ausmachen.

Verdammt, wieso sagte er nicht, was los war?

»Eure Hoheit, ich erkläre es Euch später, jetzt müsst Ihr mitkommen«, bestand Sortex weiter auf sein Vorhaben. »Und bitte, seid nicht so laut«, fügt er flehend hinzu.

»Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor ihr mir nicht gesagt habt, was hier los ist«, zischte ich etwas leiser.

»Prinzessin, jetzt seid Ihr töricht. Vertraut mir!«

Ich biss mir unschlüssig auf die Lippe, beschloss dann aber mit dem Magister weiterzugehen.

Wurden wir angegriffen? Wenn ja, von wem? Erhob jemand anders Anspruch auf meinen Thron? Die Gedanken fluteten meinen Kopf, während wir, so schnell mein Gewand es eben zuließ, durch den Flur in Richtung meines Zimmers eilten.

Kurz vor der Tür schickte der Magister die Wachen fort, was mich stutzig werden ließ.

»Wartet hier«, trug mir Sortex auf und wollte bereits verschwinden.

»Magister! Was ist hier los? Ihr seid mir eine Erklärung schuldig!«, herrschte ich ihn an.

Sortex blickte sich nach hinten um und kam dann ein Stück näher auf mich zu. Sein weißer Bart kitzelte leicht meine Wange, als er in mein Ohr flüsterte.

»Sie wollen den rechtmäßigen König erwählen lassen.«

Meine Augen weiteten sich. »Etwa vom Volk?«, fragte ich erschrocken.

Sortex schüttelte den Kopf. »Es ist eine alte Chronik aufgetaucht, fragt mich nicht woher, in der steht, dass der rechtmäßige König nur durch ein Opfer für einen Drachen erwählt werden kann.«

Mir wurde schwindlig und ich stolperte einen Schritt zurück, bis ich den Knauf meiner Zimmertür im Rücken spürte.

»Das ist Wahnsinn! Es gibt keine Drachen. Schon seit Jahrhunderten nicht mehr.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Mir wurde heiß und kalt und das flaue Gefühl in meinem Magen wandelte sich zu einem festen Knoten um. Erst langsam begriff ich, was das bedeutete. Auf keinen Fall würden sie eine Frau als Herrscherin akzeptieren. Sie wollten mich tatsächlich vom Thron stoßen!

Meine Hände zitterten und blanke Furcht kroch mir den Rücken hinab.

Wie konnte eine Chronik, von der niemand zuvor wusste, mehr Herrschaftsgewalt haben als der Wunsch meines Vaters? Der silberne Drache hatte uns erwählt, das wurde mir immer wieder eingebläut. Und welcher Drache sollte nun darüber entscheiden?

Verzweifelt blickte ich zu Sortex.

Der Magister nickte gehetzt. »Wir müssen Euch verstecken, bevor es zu spät ist. Ich weiß nur noch nicht genau –«

»Da ist sie ja!«, rief Sir Verros, der uns mit einer Horde an Wachen entgegengelaufen kam.

Bevor es zu spät ist? Die Worte pulsierten in meinem Kopf. Wollten sie mich etwa töten?

Doch ich musste nicht lange nachdenken. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Sie wollten mich opfern!

Nein, kein Papier der Welt hätte eine solche Gewalt. Oder doch? Meine Gedanken rasten. Das Volk war unzufrieden, die Zeiten unsicher, eine alleinige Königin schwach …

Ich schüttelte langsam den Kopf. Blankes Entsetzen breitete sich in meinem Gesicht aus. Das würden sie nicht wagen.

Sortex stellte sich schützend vor mich. »Halt!«, rief er warnend. »Die Prinzessin steht unter meinem Schutz.«

Dankbar verbarg ich mich hinter dem Magister. Wenigstens er war auf meiner Seite.

Sir Verros deutete mit dem Finger in meine Richtung. »Nehmt sie mit und bereitet sie vor«, befahl er den Wachen.

Na klar, als ob sie von einem dahergelaufenem Lord Befehle entgegen nahmen.

Doch sie gehorchten.

Warum gehorchten sie?

Ich hielt den Atem an, als sich die Wachen an dem alten Magister vorbeidrückten.

»Ich befehle euch, mich sofort loszulassen!«, schrie ich sie an, doch keiner regte auch nur einen Finger.

Mein Herz schlug wild und ich strampelte so stark ich konnte. Verdammt, ich war die Thronfolgerin, wieso hörten sie nicht auf mich? Ich schnappte angestrengt nach Luft und blickte hilfesuchend zu Sortex.

Doch angesichts der bewaffneten Wachen wagte er nicht einzugreifen. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Feigling.

Und so führten sie mich unter lauten Protesten meinerseits ab.

Das Zittern hatte sich mittlerweile in meinem gesamten Körper ausgebreitet. Ich konnte nicht verhindern, dass die Maske der starken Thronerbin bröckelte.

Der Knoten in meinem Inneren zog sich fester zusammen, als sie mich in einen abgelegeneren Flügel des Schlosses brachten.

In diesem Teil des Gebäudes war ich nur selten gewesen.

Ich blinzelte mehrmals und kramte hektisch in meinen Erinnerungen.

Inzwischen kamen wir vor einer kunstvoll verzierten Türe zum Stehen. In das Ebenholz waren feine Linien und Muster eingearbeitet.

Ein kalter Stich zog sich durch meinen Bauch. Es war das alte Zimmer meiner Mutter.

»Dort hinein, Eure Hoheit«, sagte eine der Wachen und öffnete die Türe.

Das Eure Hoheit konnten sie sich getrost sparen. Zu fliehen war zwecklos. Ich war umringt von mindestens zehn Wachmännern und der einzige freie Weg führte in das alte Schlafgemach meiner Mutter.

Lächerlich, dass sie so viele Männer brauchten, um mich in einem Zimmer festzuhalten. Wieso überhaupt hier?

Ich musste zweimal hinsehen, als ich sah, dass meine Zofen bereits mit gesenktem Blick bereitstanden.

Zurückhaltende Erleichterung machte sich in mir breit. Ich war froh die beiden zu sehen, auch wenn mir nicht klar war, warum die Zofen hier waren.

Waren sie Teil des Plans, in dem Magister Sortex mich aus dieser Katastrophe herausholen wollte?

Ich hoffte es inständig.

Als ich mich noch einmal zu den Wachen umdrehen wollte, fiel hinter mir schon die Tür zu. Das Klicken des Schlosses war der letzte Laut vor der Stille.

Ich war eingesperrt.

Wenige Momente später gesellte sich die Stille zu meinen rasenden Gedanken und dem pochenden Herzen.

»Tala, Minerva, was geht hier vor sich?«, fragte ich meine Zofen, ohne zu vorwurfsvoll zu klingen.

Minerva zupfte nervös an ihrer braunen Schürze und Tala konnte mir nicht in die Augen sehen.

Mein Blick glitt an den Bediensteten vorbei durch den Raum. Er wirkte überhaupt nicht verstaubt oder unbewohnt. Überall hingen bunte Blumen, das Himmelbett war frisch bezogen und auf der hölzernen Kommode, die einst den Spiegel meiner Mutter getragen hatte, lag ein weißes, dickes Kleid aus Leinen.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Sogar eine große Schale mit duftendem Rosenwasser stand auf dem Tisch neben Tala und seltsamerweise konnte ich einige auserlesen Schmuckstücke ausmachen.

Es wirkte fast wie …. eine Hochzeit.

Hatte ich mich getäuscht? Wollten sie mich doch gegen meinen Willen verheiraten? Aber wozu dann das Opfer? Ich konnte nicht mehr klar denken.

Mein Blick blieb am Gemälde meiner Mutter hängen, das mittig über dem großen Bett hing. Ein Stich glitt durch meine Magengrube. Weshalb dieses Zimmer?

»Eure Hoheit«, begann Tala und legte ihre Hände an die Rosenwasserschüssel. »Verzeiht, aber wir müssen Euch fertig machen.«

Fertig machen? Zum Opfern? Mein Puls beschleunigte sich erneut.

»Magister Sortex hat euch geschickt, richtig? Bitte sagt, dass ihr mich hier rausholt!« Meine Stimme brach und ich konnte es nicht verhindern.

Die Zofen blickten mich entschuldigend an, doch keine sagte etwas.

»Richtig?«, wiederholte ich diesmal eindringlicher.

Minerva biss sich auf die Lippe und schüttelte leicht den Kopf.

»Das ist ein schlechter Traum«, sagte ich mehr zu mir selbst und sah noch einmal zum Fenster herüber. Ich überlegte fieberhaft, ob ich dort hinaus fliehen konnte. Doch wir waren im zweiten Stock, hoch oben über den Mauern des Schlosses.

Der Knoten in meinem Magen breitete sich immer weiter aus. Mit jedem Schritt, den ich auf meine Zofen zumachte, fiel es mir schwerer zu atmen. Dabei trug ich nicht einmal ein Korsett.

»Tala. Was. Passiert. Hier«, wiederholte ich und betonte dabei jedes Wort. Sie hatte sichtbar mit ihrer Loyalität zu kämpfen. Ihre grünen Augen suchten ziellos nach einem Ausweg, doch ich ließ nicht locker. »Tala!«

»Eure Hoheit, es tut mir leid«, begann sie erneut und zupfte an ihrem Kleid herum. Diese Unsicherheit … Das war überhaupt nicht Talas Art.

Schnell schritt ich auf sie zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Wir sind zusammen aufgewachsen, das ist nicht gerecht! Wovor hast du denn so große Angst?« Schon lange war ich nicht mehr so persönlich geworden. Doch ich wusste keinen anderen Ausweg.

»Ich … s-sie … sie wollen Euch opfern«, stotterte Tala und begann fürchterlich zu schluchzen. Sie legte das Gesicht in ihre Hände und hörte gar nicht mehr auf zu weinen.

Ich ließ sie los und blickte zu Minerva, die in eine Schockstarre verfallen war.

Meine Beine gaben nach und ich spürte, dass ich mich nicht mehr lange aufrecht halten konnte.

Niemand würde mich retten kommen. Erst jetzt wurde mir diese Tatsache so richtig bewusst. Wo steckte Sortex?

Tala blickte aus ihren verheulten Augen auf, schnappte sich einen Stuhl und eilte mir gerade noch rechtzeitig entgegen, sodass ich statt auf den Boden auf das weiche Sitzkissen meiner Mutter fiel. Ohne auf irgendwelche Gepflogenheiten zu achten, riss ich mir den Schleier vom Kopf und warf ihn achtlos auf den Boden.

»Das können sie nicht machen.« Meine Stimme brach. Was für eine Art von Verschwörung ging hier vor sich? Opfern für den rechtmäßigen König? Und wo wollten sie so plötzlich einen Drachen dafür herbekommen? Das alles ergab überhaupt keinen Sinn.

Meine Gedanken wurden von dem unnachgiebigen Läuten einer Glocke unterbrochen. Ein Stechen glitt durch meine Brust.

Ruckartig sah ich zum gekippten Fenster und wartete. Ich ahnte bereits das Schlimmste, denn ich wusste, was dieses Geräusch bedeutete.

Es war das Läuten der Todesglocke.

Minerva erwachte aus ihrer Starre, rannte zum Fenster und öffnete es. Sie warf mir einen ängstlichen Blick zu und stützte sich leicht an der Wand ab.

»Hört, hört, liebes Volk!«, rief einer unserer Verkünder von draußen. »Zum zwölften Glockenschlag hat sich ein jeder am Rand des Sees der Seelen zu versammeln, sodass uns das Opfer des Drachen den rechtmäßigen König erwählen wird!«

Mich fröstelte. Gänsehaut breitete sich an meinem gesamten Körper aus, als ich die schicksalsbringenden, nächsten Worte vernahm.

»Hört, hört!«, begann der Verkünder erneut. »Es ist so Brauch im Königreich Layowin, dass bei einem weiblichen Nachkommen der Monarchenfamilie die Königstochter als würdiges Opfer dient!«

Ich hielt den Atem an. Das durfte einfach nicht wahr sein. Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass das alles ein Missverständnis war. Doch spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass es bitterer Ernst war.

Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper.

Tala begann erneut zu schluchzen. »Es tut mir so leid, Eure Hoheit«, flüsterte sie und nestelte an ihrem Gewand. »Ich schwöre euch, wir wussten bis eben nichts davon.«

»Das weiß ich doch«, entgegnete ich sanft und musste an mich halten, nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Ich blickte hektisch zwischen meinen Zofen hin und her.

»Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit mir bleibt bis ich …« Ich schluckte, weil ich die Worte kaum aussprechen konnte. Ich brach ab und schüttelte den Kopf. »Wir können das doch nicht einfach so hinnehmen!«, sagte ich flehend.

»Wisst Ihr etwas von diesem Brauch? Gibt es vielleicht irgendeinen anderen Ausweg?«, fragte Tala.

Ich kaute nervös auf meiner Wangeninnenseite. »Obwohl ich unsere Geschichte und Bräuche sehr gut kenne, habe ich tatsächlich noch nie von dieser Tradition gehört.«

Ich ging mit wackeligen Beinen zum Bett herüber und setzte mich darauf. Mein Blick glitt ins Leere.

Sterben. Ich sollte heute wirklich sterben.

Ich spürte wie sich meine Lunge allein bei dem Gedanken krampfhaft zusammenzog.

»Ich verstehe auch nicht, wieso mein Vater mich nicht über einen derart wichtigen Brauch aufgeklärt hat.«

Tala und Minerva blickten mich ängstlich an.

»Vielleicht … können wir Euch aus den Schloss schmuggeln?«

Minervas Vorschlag war nett gemeint, aber trotz der immensen Angst, die mich in diesem Moment zu überwältigen drohte, ich konnte nicht einfach fliehen. Ich würde mein Königreich im Stich lassen und das war das Letzte, das ich wollte. Ohne mich würde unsere Blutlinie einfach verblassen. Das konnte und wollte ich meinen Eltern nicht antun.

Es musste einen anderen Weg geben.

Ich überlegte einen Moment und stand dann zögerlich auf.

»Mir bleibt nichts anderes übrig, als direkt zu meinem Volk zu sprechen.« Ich suchte den Blick meiner Zofen, die mich fragend ansahen. »Wenn ich die Bewohner auf meiner Seite habe, wird es selbst für die Edelleute schwierig, einfach die Prinzessin zu opfern.«

Es war ein naiver Gedanke, denn das Volk hatte in den letzten Jahren kaum Verbindung zu mir gehabt. Und sie waren streng gläubig. Die Meinung des silbernen Drachen war mehr wert als mein Leben, das war mir klar. Doch ich hoffte darauf, dass sie bei einer plötzlich aufgetauchten Tradition misstrauisch wurden.

Es war mein einziger Ausweg.

»Tala, Minerva, lasst uns noch einmal zum silbernen Drachen beten«, sagte ich zu meinen Zofen und ging vor meinem Bett auf die Knie.

Vielleicht war es das letzte Gebet, dass ich jemals zu unseren Ahnen schicken würde. Doch ich hoffte inständig, dass sie Erbarmen mit mir hatten.

***

 

Ein heftiges Poltern riss mich aus meinem langen Gebet. Als ich meinen Kopf hob, bemerkte ich erst, dass mir meine Knie schmerzten. Ich hatte völlig die Zeit vergessen.

»Seid Ihr so weit?«, brüllte eine Stimme von draußen.

Meine Zofen und ich blickten uns gegenseitig an. Auch sie hatten sich bisher nicht von ihrem Platz gerührt.

»Muss ich erst reinkommen?«, drohte der Fremde erneut.

»W-wir brauchen noch einen Moment«, rief ich mit zitternder Stimme.

»Ihr müsst mich vorbereiten«, sagte ich schließlich zu meinen Zofen. »Es hilft nichts.«

Tala sah mich aus verquollenen Augen an.

»Wir müssen darauf vertrauen, dass mein Volk hinter mir steht«, versuchte ich sie und mich selbst zu beruhigen. »Wenn wir uns aber jetzt nicht beeilen, dann müsst ihr vielleicht für etwas büßen, dass überhaupt nicht eure Schuld ist.« Und ich würde es mir niemals verzeihen, wenn Tala und Minerva wegen mir auf den Galgen müssten. Denn das war das Schicksal, was Bedienstete erwartete, wenn sie nicht gehorchten.

Also wusch mir Minerva meine Hände und Füße, während Tala mich ankleidete und mir die Haare hochsteckte.

Ich fragte mich abermals, warum sie mich zum Vorbereiten in das Zimmer meiner Mutter geschickt hatten.

Wozu das Bett frisch beziehen und den Aufwand mit den Blumen betreiben? War das Teil dieses Brauches, den ich nicht kannte? Und wenn ja, wie viele angebliche Traditionen gab es, von denen ich nichts wusste?

Es war grausam. Die Unsicherheit und die gleichzeitige Gewissheit, dass ich nicht mehr lange leben würde, raubten mir jeglichen Atem. Ich klopfte zaghaft gegen die Holztüre, um den Wachen zu zeigen, dass wir fertig waren.

Dass ich bereit war für meinen letzten Weg.

Als ich den Schlüssel hörte und wieder vor den Wachen stand, blickte ich noch einmal zu meinen Zofen zurück. Sie hatten beide den Kopf gesenkt und die Hände sorgfältig über ihren Schürzen gefaltet.

Und obwohl ich die letzten Jahre stets so distanziert zu ihnen gewesen war, so fühlte ich mich ihnen nach dem heutigen Tag näher als je zuvor.