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Ende Juni stand die Sonne hoch im Südtiroler Land und die charakteristischen Berge und Täler der beliebten Reiseregion Trentino zeigten sich von ihrer schönsten Seite. Lediglich ein paar dünne Schleierwolken durchbrachen das strahlende Blau des Äthers.
Abgeschieden vom restlichen Ortskern des Städtchens Terlan, unweit von Bozen, schmiegte sich die im typisch alpenländischen Stil erbaute Villa Randoni in die reizvolle Lage, zu der zwischen Weinhängen und Apfelbaumplantagen ein schmaler Privatweg führte.
Unbeeindruckt von der traumhaften Natur seiner Heimat bereitete Alois Maximilian Hofer wie jeden Mittag das Menü für seinen Chef und dessen Familie zu. Dass er das an diesem Tag ein letztes Mal tun würde, konnte er in dem Moment, als er den Vorspeisensalat ins Esszimmer trug, noch nicht ahnen. Dabei arbeitete er gerade erst drei Monate in dem Privathaushalt des reichen Geschäftsmannes aus Udine, der sein Domizil in dem idyllischen Weinanbaugebiet an der Etsch unterhielt. Alois, der sich inzwischen zu einem hervorragenden Koch hochgearbeitet hatte, verkaufte sein berufliches Können damit weit unter seinem Niveau. Üblicherweise stellte er seine Kochkünste in Fünf-Sterne-Lokalen oder auf Kreuzfahrtschiffen der Luxusklasse unter Beweis, doch die Krankheit seiner Mutter zwang ihn dazu, einen Zwischenstopp in seiner Heimat einzulegen. Er wollte – so lange, bis sie wieder gesund war – vor Ort sein, gleichzeitig aber weiter Geld verdienen, denn noch hatte er sein Ziel, Chef im eigenen Restaurant zu sein, nicht erreicht. Dafür sparte er jeden Cent.
Durch eine Kleinanzeige in der hiesigen Tageszeitung war Alois auf die Stelle im Privathaushalt Randoni gestoßen. Er könne sofort anfangen, hatte es geheißen und dass er nur für kurze Zeit bleiben wolle, stelle dabei kein Hindernis dar. Dankbar für diese Lösung hatte er die Stellung angenommen.
Die Möglichkeit, bei seinem älteren Bruder Sepp und dessen Frau Rosel in deren Almgaststätte auszuhelfen, hatte er erst gar nicht in Erwägung gezogen. Rosel kochte noch genauso wie vor fünfzig Jahren. Nicht nur, dass sie für Neuerungen keinen Sinn hatte, auch mochte sie es nicht, wenn man ihr Anregungen gab. Mit so viel Ignoranz kam Alois nicht klar.
Er betrat das Esszimmer seines Arbeitgebers. Hier, wie im ganzen Haus, bestand die Einrichtung aus hochwertigen Antiquitäten, edlen Lampen und kostbaren Teppichen. Jeder Quadratzentimeter strahlte Reichtum aus.
Antonio Randoni, seine Frau Lucia sowie die zwanzigjährige Tochter Pamela saßen gemeinsam um den eingedeckten Tisch. Alois servierte dem Hausherrn routinemäßig zuletzt den Vorspeisensalat. Außerdem befand sich Pepe, die rechte Hand Randonis, noch im Raum. Der stets wie aus dem Ei gepellte Süditaliener stand neben einer Anrichte, auf der Gläser und Getränke bereitstanden, und rührte sich nicht vom Fleck. Alois wunderte sich nicht, dass Pamela ihn mit herausfordernden Blicken durchbohrte. Er wusste, dass sie ihn reizen wollte – nicht das erste Mal – doch an diesem Tag trug sie eine besonders großzügig ausgeschnittene Bluse. Für einen Moment irritierte ihn das, weshalb er beim Abstellen des Tellers – ausgerechnet vor seinem Chef – unglücklicherweise das gut gefüllte Rotweinglas streifte. Antonio griff geistesgegenwärtig zu und verhinderte damit, dass sich der Wein über das weiße Damasttischtuch ergoss. Doch dafür schwamm nun der Salat darin.
„Entschuldigen Sie bitte!“
„Madonna mio! Passen Sie doch auf!“
„Ich bereite Ihnen sofort einen neuen zu“, beeilte sich Alois zu sagen.
Randoni hasste es, wenn nicht alle gleichzeitig ihr Essen bekamen.
Ohne ein Wort zu sagen, verschwand Alois durch die Schwingtür in die Küche – dicht gefolgt von Pepe. Derartige Hektik brachte ihn nicht aus dem Konzept. In einer Großküche gehörte das zur Tagesordnung, weshalb er Randonis Gezeter gelassen nahm. Für ihn nicht der Rede wert, obwohl seine Schwester Maria darüber ganz anders dachte. Sie wurde nicht müde, ihn vor Familie Randoni zu warnen. Konkrete Gründe konnte sie allerdings nicht nennen. Nur, dass die Leute im Ort mit vorgehaltener Hand tuschelten. Alois hatte das mit einem Achselzucken abgetan. Er hatte nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. Lediglich die Zeit zu überbrücken, bis es seiner Mutter wieder besserging.
Wenn er das Bedienstetenzimmer in der Villa nicht nutzte, wohnte er bei Maria. Sie war das Älteste von fünf Kindern und bewohnte mit ihrem Mann und den beiden Töchtern das ehemalige Elternhaus, in dem auch ihre Mutter noch ihren Wohnsitz in Anspruch nahm.
Verwundert über die eigene Tollpatschigkeit schüttelte Alois den Kopf, denn er konnte sich nicht erinnern, wann ihm je so ein Ungeschick passiert wäre. Selbst während der Ausbildung nicht. Man kannte ihn für seine besonnene Arbeitsweise und die stoische Ruhe, die er ausstrahlte, wenn er sich auf seine Aufgaben besann. Und er war konzentriert gewesen. Pamela interessierte ihn nicht, weshalb sie ihn auch nicht aus dem Konzept bringen konnte. Genervt darüber, dass Randonis Assistent wie ein Schatten an seinen Fersen hing, schob Alois den Teller mit der missglückten Vorspeise achtlos auf den vorderen Rand der mit Küchengeräten überfüllten Arbeitsplatte. Zu spät bemerkte er, dass er anstatt des festen Untergrunds, den Stiel eines Kochlöffels getroffen hatte, weshalb der Teller kippte, sich der Wein über den Rand ergoss und am Schrank herunterlief.
Alois fuhr selten aus der Haut, aber jetzt stand er kurz davor. Wütend über sich selbst holte er einen neuen Teller aus dem Schrank und versuchte, Pepe, der ihm viel zu dicht auf die Pelle gerückt war, zu ignorieren.
„Wenn du was brauchst, musst du dich gedulden“, fühlte er sich genötigt zu sagen und bereitete eilig einen zweiten Salat für den Chef zu. So bemerkte er auch erst kurz darauf, wie Pepe den im Wein schwimmenden Salat begutachtete, als müsste er ein Referat über die Zutaten halten.
Vielleicht sollte man ihm die Lupe reichen? Verärgert presste Alois die Lippen zusammen. Sein Bauchgefühl riet ihm jedoch, besser nicht zu sagen, was er dachte.
„Gib her!“ Pepe riss ihm den fertigen Salat regelrecht aus der Hand. „Es ist besser, ich bringe Signor Randoni den Salat, bevor noch mal etwas schiefgeht.“
Na, jetzt drehte der aber völlig durch!
Doch Alois ließ sich abermals nicht anmerken, was er dachte, sondern zuckte lediglich gleichmütig mit den Schultern. Er wusste nicht viel über den aalglatten, undurchsichtigen Pepe, auch nicht, ob das sein richtiger Name war, doch er hatte schnell durchschaut, dass es die rechte Hand des Chefs liebte, sich dramatisch in Szene zu setzen. Wichtigtuer! Außerdem trat er nach unten und buckelte nach oben. Genau deshalb verachtete Alois ihn.
Schluss jetzt! Er wollte sich nicht länger mit Pepe beschäftigen. Schnell den Wein vom Boden wischen und dann …
Alois erstarrte in der Bewegung, als er registrierte, was da im Wein auf dem Boden schwamm.
Körner! Wo kamen die denn her?
Der Fußboden – bis eben hätte man noch davon essen können – zeigte auch jetzt noch keine Veränderung. Er hob nacheinander seine Füße und nahm seine Schuhsohlen in Augenschein. Nichts! Ihm ging ein Licht auf. Deswegen hatte der Wichtigtuer also das Gesicht so verzogen.
Mit zwei Schritten war Alois mit dem Teller bei der Spüle. So gut es ging, schüttete er den restlichen Rotwein in den Ausguss und inspizierte den Salat genauer. Neben Rucola, Gurkenscheiben und Tomatenspalten lagen noch Oliven und rote Zwiebelstückchen auf dem Teller. So weit – so bekannt. Doch wo kamen die winzigen Klümpchen her? Bei genauerer Betrachtung entpuppten sie sich als seltsam aussehende Samenkörner, die aussahen wie kleine Käfer. Einfach nur eklig. Alois runzelte die Stirn. Wie kam das in seine, mit Liebe zubereitete Salatvorspeise? Ein leises, blubberndes Geräusch holte ihn aus seiner Grübelei und ließ ihn aufschrecken.
Die Suppe.
Himmel Herrgott! Was für ein Tag.
Schnell entsorgte er den verdorbenen Salat und ging zum Herd, um die Zucchinicremesuppe mit einem Schuss Sahne und frischen Kräutern abzuschmecken.
Während er seine Hände an der Kochschürze abwischte, warf er noch einen Blick in den Backofen und atmete hörbar aus. Wenigstens war der Auflauf zur Hauptspeise nicht in Gefahr. Er richtete ein Tablett mit drei vorgewärmten Suppentassen an und sah auf die Uhr. Er hatte noch einen Moment, bis er den nächsten Gang servieren musste. Auch dafür gab es ein klares Ritual. Erst wenn der Herr des Hauses mit einem kleinen Glöckchen läutete, durfte der Tisch abgeräumt werden.
Die Küchentür klappte leise. Als Alois sich umdrehte und in Pepes wachsame Augen blickte, runzelte er die Stirn. Was wollte der denn jetzt schon wieder? Es kam äußerst selten vor, dass sich Signor Etepetete in die Küche verirrte, einen Bereich, wo man Gefahr lief, schmutzige Kleidung zu bekommen. Und dann gleich zweimal hintereinander.
„Hast du was vergessen?“
„Nein.“ Pepe schüttelte den Kopf und ging ohne ein weiteres Wort wieder hinaus.
Der Garten der Villa lag an einem nach Süden ausgerichteten Hang, von wo aus man einen weiten Blick über das Etschtal hatte. Am Nachmittag sammelte Alois im mit Obstbäumen und Sträuchern dichtbewachsenen Nutzgarten der Villa Rosmarin, Kerbel, Zitronenmelisse und Borretsch. Kräuter, die er brauchte, um sein beliebtes Salatöl neu anzusetzen. Er war bereits auf dem Rückweg zur Küche, als er unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs zwischen Pepe und seinem Cousin Franco wurde. Zuerst hörte er nur ein Murmeln. Die beiden Männer kamen von dem hauseigenen Gärtner Franz Leitner, einem versierten Botaniker der Region, der in einem einzeln stehenden Haus am Rande des Grundstücks wohnte. Auch er gehörte zum erweiterten Mitarbeiterstab Randonis. Es war also nichts Besondereres, dass Pepe und Franco Leitner einen Besuch abstatteten. Eigentlich hatte Franco, ein bärbeißiger verschlossener Mann, nur wenig mit seinem Cousin Pepe gemein. Man wurde aus ihm nicht schlau. Einerseits wirkte er einfältig und andererseits verschlagen.
Als die beiden Männer näherkamen und der Name Loui fiel – so wurde er von vielen gerufen – horchte Alois auf und duckte sich hinter die üppigen Ziersträucher. „Und? Was hab ich dir gesagt? Verstehst du jetzt, warum ich dich dabeihaben wollte?“, hörte Alois Pepe sagen.
„Tja, schon klar“, nickte Franco. „Hm, so viel Raffinesse hätte ich unserem kleinen Loui gar nicht zugetraut. Rizin? Vorher noch nie was von gehört. Und das Zeug ist wirklich so giftig?“
Alois lugte zwischen den Blättern hindurch. Wovon redeten die eigentlich? Er beobachtete, wie Pepe heftig mit dem Kopf nickte und erklärte:
„Innerhalb weniger Stunden bist du hin und keiner kann dir mehr helfen. Täusch dich nicht in unserem Kleinen. Überleg mal, wo der schon alles in der Welt rumgekommen ist. Da hast du noch nicht hingespuckt.“
Franco strich sich fahrig mit der Hand über die hohe Stirn.
„Wir müssen was unternehmen“, raunte Pepe und redete weiter auf seinen Cousin ein, „bevor er Lunte riecht und abhaut.“
„Aber warum hat er dem Alten dann den Wein drübergekippt?“ Franco war noch nicht überzeugt.
„Weil er noch frisch im Geschäft ist. Du hättest sehen müssen, wie nervös der war. Das war sein erstes großes Ding.“
„Aber für wen arbeitet er? Soweit ich weiß, hat der Boss sich die gesamte Konkurrenz vom Hals geschafft.“
Den Atem anhaltend bewegte Alois seine verkrampften Gliedmaßen, die in der unnatürlich gebückten Haltung zu schmerzen begannen, und blinzelte durch das Laub. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Männer hielten sich jetzt genau vor dem Busch auf, unter dem er sich inzwischen hingehockt hatte. Das, was er hörte, machte überhaupt keinen Sinn. Wieso sollte er abhauen? Und von welcher Konkurrenz redeten die beiden? Als er die Stelle vor drei Monaten angenommen hatte, hatte es außer ihm keine weiteren Bewerber gegeben. So zumindest die Aussage von Lucia Randoni, die ihn eingestellt hatte. Nein, das konnte es also nicht sein, worüber die beiden sprachen. Unmöglich.
Franco sah Pepe jetzt mit einem fiesen Ausdruck in den Augen an. „Da gibt’s nur eine Lösung. Ich …“, er machte eine bedeutungsvolle Pause und tippte sich energisch auf die Brust, um das Gesagte zu unterstreichen, „… ich bin verantwortlich, dass unserem Boss nichts passiert. Noch mal mache ich nicht denselben Fehler. Damals bei der Sache mit den Rumänen habe ich zu lange gewartet. Und …“, er verzog seine vernarbte Visage zu einer erbarmungswürdigen Miene und holte tief Luft, „… wenn Randoni nicht so großzügig gewesen wäre … dann würde ich heute nicht mehr hier stehen.“
Pepes Gesichtsausdruck, mit dem er in den Himmel sah, stand Francos in nichts nach. „Gut, aber da konnte doch auch gar nichts passieren, nachdem Gregori sich eingeschaltet hatte. Deswegen wundert’s mich auch nicht, dass du mit einem blauen Auge davongekommen bist. Trotzdem, wir müssen auf jeden Fall zuerst mit dem Boss reden. Ich mache auch nichts ohne sein Okay! Er will wissen, wer für ihn arbeitet.“
„Aber dann …“, knurrte Franco und fuhr sich mit der flachgestreckten Hand schnell am Hals entlang, um zu demonstrieren, was dann geschehen würde.
Alois erstarrte. Meinten die ihn? Wieso sollten sie ihn umbringen wollen? Und wenn an Marias Unkenrufen nun doch etwas dran war? Randoni sei ein Mafioso, hatte sie gemeint. Und die Mafia war bekannt für diskrete Lösungen. Außer seiner Familie würde ihn niemand vermissen, dafür war er in den letzten Jahren zu oft fernab seiner Heimat gewesen.
Die Stimmen der beiden wurden leiser, denn sie entfernten sich in Richtung Villa. Zwar begriff Alois nicht im Geringsten, worum es in dem Gespräch tatsächlich gegangen war, doch das, was er deutlich verstand, war, dass sie ihm, nach dem Leben trachteten. Aber wieso?
Alois hielt die Luft an. Der Salat!
Er ließ den Atem langsam wieder ausströmen. Es musste etwas mit den seltsamen Körnern darin zu tun haben. Was hatte Pepe eben gesagt? Alois hatte nur das Wort Rizin aufgeschnappt und dass dieses Zeug, das wie kleine Käfer aussah, hochgiftig sei.
Seine Gedanken rasten und überschlugen sich.
Der Anschlag hatte Randoni gegolten! Ganz klar. Er war in der Reihenfolge bei Tisch dran gewesen. So wie der Ablauf Tag für Tag, immer und immer wieder war. Kein Geheimnis. Das wussten viele.
Aber wie konnte das Rizin in den Salat gekommen sein, wenn er es nicht hineingetan hatte? Und wo hatte man es untergemischt? In der Küche? Unmöglich. Er war doch die ganze Zeit dagewesen.
Viel wichtiger schien doch die Frage: Wer hatte ein Interesse daran, dass Randoni starb und warum?
Alois lugte zwischen den Sträuchern hindurch. Die beiden Männer waren fort. In seinem Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit, während er noch immer wie erstarrt unter dem Strauch hockte. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Er wusste, wenn ihm sein Leben lieb war, konnte er keine Sekunde länger in der Villa bleiben. Zwar rebellierte sein Verstand gegen diese vorschnelle Reaktion, doch seine Intuition drängte ihn zum Handeln.
Er ließ die gesammelten Kräuter fallen, sah sich um und lief unauffällig zum Personaltrakt, wo sein Bedienstetenzimmer im Souterrain des Gebäudes lag. In Windeseile zog er sich um und warf seine wenigen Sachen in die Reisetasche. Obendrauf verstaute er den wertvollen Messerkoffer, den er nirgends zurückließ.
Um nicht aufzufallen, verließ er im Schlendergang das imposante Anwesen, ohne sich noch mal umzusehen. Tausend Dinge gingen ihm dabei durch den Kopf, wobei ihm zuerst sein Mobiltelefon einfiel. Jetzt musste es auch ohne gehen. Schnellentschlossen zertrat er das Gerät, für das er nur eine Prepaidkarte benutzte, und entsorgte es im Müll. Bevor er das Grundstück verließ, sah er sich noch einmal um, doch weder in der Zufahrt noch im Vorgarten war eine Menschenseele zu sehen.
Glück gehabt.
2
„So, jetzt will ich aber wirklich los, sonst muss ich mir am Ende noch ein Zimmer für die Nacht bei Ihnen mieten.“ Lena lächelte und erhob sich.
Uiuiui, trotz des guten Essens waren ihr die zwei Obstbrände zu Kopf gestiegen. Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte ihren Kreislauf zu stabilisieren, dem das lange Sitzen samt leckerem Essen und Alkohol offensichtlich nicht so gut bekam. Aber wahrscheinlicher schien, dass ihr Körper streikte, weil sie sich in letzter Zeit wenig Ruhe gönnte. Sie griff nach ihrer Tasche. Franz Pichler richtete sich ebenfalls auf, schob den Stuhl zurück und reichte ihr die Hand.
„Für mich kein Problem, Frau Maschke, nur wenn Sie morgen früh abfahren wollen, ist es besser, Sie kommen zeitig zur Ruhe.“
„Ja“, Lena ließ seine Hand los und lächelte den freundlichen Biobauern an, „ich war ja nicht das letzte Mal da. Hierher zu kommen – wenn auch nur wegen der Einkäufe – ist wie Kurzurlaub für mich. Fühlen sich die Einheimischen nicht immer wie in den Ferien?“
Franz Pichler zeigte sich erfreut über das Lob für seine Heimat.
„Ja, ein bisschen wahrscheinlich schon, aber wie das halt überall so ist: Auch das Schöne wird irgendwann selbstverständlich. Und Sorgen und Nöte haben die Menschen auf der ganzen Welt.“
Lena nickte und wandte sich zur Tür. Sie ließ ihren Blick durch den gemütlichen Hofladen wandern, der aufgrund der geschickten Einrichtung und Gestaltung längst nicht so groß wirkte, wie er tatsächlich war. Ein Grund dafür waren die vielen Produkte, die in Körben, Holzkisten und auf Tischen im Raum standen und so die Fläche in einzelne Bereiche teilten, in denen Biofleisch, Käse, Obst, Kartoffeln und Nudeln verkauft wurden. Wenn sie nicht schon Kunde gewesen wäre, wäre sie’s gern geworden, so ansprechend präsentierte Familie Pichler ihre Waren. Ein Sinnbild fürs Schlaraffenland hätte nicht besser aussehen können. Selbstgebrannte Schnäpse, Weine und Liköre aus der Region rundeten das Sortiment ab.
Lena ging über den gepflasterten Hof nach draußen zu ihrem roten Kleinbus. In geschwungener gelber Schrift prangte quer über den fensterlosen Seitenflächen „Im Brunnenhof“. Dagegen konnte man durch die Heckscheibe auf die mit Kartons und Päckchen vollbepackte Ladefläche sehen, in denen die Delikatessen vom Pichlerhof standen.
„Gute Fahrt morgen“, rief ihr der Biobauer nach, als sie mit offenem Fenster und einem Winken davonfuhr.
Langsam rollte sie die wenig befahrene Bergstraße hinunter. Eine höhere Geschwindigkeit wäre bei dem Panorama eine Sünde, fand Lena, denn die warmen Strahlen der Abendsonne tauchten die beeindruckende Aussicht der Südtiroler Berglandschaft in ein romantisches Licht. Sie konnte sich einfach nicht daran sattsehen. Gern wäre sie länger geblieben, doch das war angesichts des straffen Zeitplans für die nächsten zwei Wochen unmöglich. Der Gedanke an all die Dinge, die bis zur Neueröffnung ihres kleinen Restaurants und des dazugehörigen Feinkostladens noch erledigt werden mussten, ließen keine Muße zu. Doch wirklich Sorgen machte ihr das nicht. Bisher war es ihr noch immer gelungen, gesetzte Ziele zu erreichen. Zumindest, was die beruflichen Belange in ihrem Leben betraf, konnte sie das behaupten. Mit Ellen Jäger und Uschi Stölzer hatte sie außerdem Personal im Rücken, auf das sie sich absolut verlassen konnte. Lena musste grinsen. Die drei Weiber vom Brunnenhof. So schnell brachte die nichts aus dem Konzept.
Lenas Küchenchefin Ellen, Ende vierzig und ein Gourmet vor dem Herrn, konnte sich getrost eine begnadete Köchin nennen. Am Herd und in der Speisekammer des Brunnenhofes hielt sie jetzt das Zepter in der Hand. Lena kümmerte sich dagegen um das Sortiment des Ladens und um den Servicebereich des Restaurants. Ellen war eigentlich gelernte Buchhalterin, doch diesen Beruf übte sie schon viele Jahre nicht mehr aus. Lena hatte das Hotelfach von der Pike auf gelernt. Zuerst im heimischen Betrieb bei der Mutter und dann durch eine solide Ausbildung in einem angesehenen Hotel in München.
Lena schluckte und ihre Augen wurden feucht. Wie immer, wenn sie an ihre Mutter dachte, übermannte sie die Trauer. Obwohl der plötzliche Unfalltod ihrer Mutter nun schon dreizehn Monate zurücklag, überfielen sie Wehmut und Jammer wie aus dem Nichts. Es verging kein einziger Tag, an dem sie ihre Mutter nicht vermisste. Der Anblick der atemberaubend schönen Berge im Abendlicht verdeutlichte den Verlust nur noch mehr. Heike hatte Südtirol geliebt. So sehr, dass sie jedes Jahr ein paar Tage Urlaub hier verbracht hatte. Von diesen Kontakten profitierte Lena nun.
Nach dem Tod der Großeltern vor vier Jahren hatten Mutter und Tochter begonnen, Pläne für die Umgestaltung des geerbten Gastbetriebes zu schmieden. Aus dem alteingesessenen Gasthof mit landwirtschaftlichen Gebäuden sollte ein Gourmetrestaurant mit Feinkostladen werden. Mitten in der Umsetzungsphase war dann der Unfall passiert und von einem auf den anderen Tag stand Lenas Leben – sie war zu dem Zeitpunkt fünfundzwanzig Jahre alt – auf dem Kopf. Ihr Vater, der damals bereits die meiste Zeit des Jahres auf Mallorca lebte, konnte ihr nur wenig behilflich sein. Seine gastronomischen Kenntnisse hielten sich eher in Grenzen, obwohl er in seinem Metier – einem Online-Werkzeughandel – ein erfolgreicher Geschäftsmann war.
So in Gedanken versunken bemerkte Lena den im Graben liegenden Mann erst, als sie fast an ihm vorbeigefahren war. Auf der abschüssigen Straßenseite, die nach Süden gerichtet war, standen Bäume und Büsche in unterschiedlichen Höhen und verbargen eine dahinter liegende Obstplantage. Auf der anderen Seite ragte ein Abhang, nur durch eine breite Furche mit Grünstreifen von der Fahrbahn getrennt, als sie den Mann anhand seines weißen T-Shirts im Gebüsch bemerkte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kauerte er zusammengesunken neben einer Reisetasche und hielt sich den Arm.
Im Bruchteil einer Sekunde entschied Lena zu helfen. Ruckartig trat sie aufs Bremspedal, lenkte den Wagen auf den Grünstreifen und brachte ihn zum Stehen. Vor lauter Aufregung vergaß sie, die Kupplung zu treten, um den Gang herauszunehmen, sodass der Kleinbus mit einem ächzenden Geräusch ausging.
Das Erste, was ihr an dem Mann auffiel, waren seine braunen, vor Überraschung weit aufgerissenen Augen. Er war jung, schätzungsweise genauso alt wie sie, und wirkte irgendwie verstört. Das schulterlange, fast schwarze Haar trug er zu einem dicken Zopf gebunden, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten. Ein gepflegter dichter Vollbart verdeckte die untere Hälfte seines schmalen Gesichts und ließ ihn wie einen Rocker aussehen. Automatisch ging ihr Blick zu seinen kräftigen Armen, die unbedeckt unter dem Halbarmshirt hervorlugten. Doch eine Tätowierung fand sie nicht. Lena hatte im Lauf ihrer Berufsjahre einen Blick für Menschen entwickelt. Eine Art Scanner-System, mit dem sie ihr Gegenüber zuordnete. In der Gastronomie und besonders als Frau in dieser Branche, war das kein Zeitvertreib, sondern eher ein notwendiges Muss. Auch jetzt registrierte sie in kürzester Zeit, wen sie vor sich hatte. Sein von Natur aus dunkler Teint wirkte blass und ließ darauf schließen, dass er die meiste Zeit in Räumen verbrachte. Das passte auch zu seinen Händen, die nicht so aussahen, als seien sie grobe Arbeit gewohnt. Ihr Blick blieb an einer Kratzwunde an der Stirn hängen, aus der Blut tropfte. Er presste ein Taschentuch auf seinen linken Ellenbogen und versuchte, damit eine große Schürfwunde notdürftig abzutupfen. Die Jeans zeigte einen langen Riss und war genau wie das T-Shirt mit Erd- und Grasflecken übersät. Überall, in den Haaren und auf der Kleidung, hingen die Reste von Moos, Blättern und kleinen Ästen. Seine Füße steckten in Turnschuhen, weshalb er kaum von einer Wanderung kommen konnte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, rief Lena besorgt. „Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren?“
Noch im selben Moment wusste sie, dass das nicht möglich war. Sie konnte sich glücklich schätzen, wenn sie unbehelligt zurück in ihre Ferienwohnung kam. Bei der Verkostung waren es nicht nur die zwei Obstbrände gewesen. Dazu hatte sie noch mindestens vier verschiedene Weine probiert. Zwar nur immer einen Schluck, aber immerhin. Lena hatte es einfach nicht fertiggebracht, die guten Tropfen wieder auszuspucken. Wie hätte sie auch ahnen können, in welche Situation sie an diesem Tag noch kommen würde?
„Nein“, hörte sie ihn zu ihrer Erleichterung mit angenehm tiefer Stimme sagen, „das ist nicht nötig. Es ist nichts Schlimmes. Ich bin nur am Hang abgerutscht. Wenn Sie mich nur mit in den Ort nehmen würden.“ Er bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen, doch der Einschlag des hiesigen Dialekts ließ sich nicht leugnen.
„Natürlich. Aber vorher verarzte ich Ihre Wunden.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie rasch zum Wagen. „Ich habe alles, was wir brauchen, im Verbandskasten.“
Der Fremde betrachtete skeptisch seine offene Schramme.
„Danke, das ist nett. Aber es sieht schlimmer aus, als es ist.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln. „Es muss nur aufhören zu bluten“.
Wow, dachte Lena und ihr Herz machte einen Hüpfer. Was ein Lächeln doch ausmachen konnte. Weiße, gerade Zähne, die zwischen vollen Lippen aufblitzten, ließen seine Attraktivität pfeilartig in die Höhe schießen.
„Trotzdem. Das muss sein.“
Sie strich ihm vorsichtig die losen Strähnen aus der Stirn, was er reglos über sich ergehen ließ, und kam ihm dabei zwangsläufig so nahe, dass sie den Duft von herber Seife riechen konnte. Er roch angenehm. Verführerisch angenehm sogar. In Lenas Kopf blinkte eine Warnleuchte auf. Nein, stopp! Falscher Zeitpunkt und falscher Gedanke. Sofort konzentrierte sie sich wieder auf seine Wunden.
„Fertig.“
„Danke“, murmelte er und wirkte etwas verlegen.
Beide wichen dem Blick des anderen aus. Lena räusperte sich und trug das Verbandszeug zum Auto, während er nach seiner Reisetasche griff, die neben ihm im Graben lag, und sich geschmeidig zu voller Größe aufrichtete. Lena schluckte. Meine Herren, was für ein beeindruckendes Mannsbild. Drahtig, mit schmalen Hüften und breiten Schultern, wirkte er wie aus einer Werbung für … ihr fiel nichts Konkretes ein. Auf jeden Fall irgendetwas, was Männern Spaß machte: Bäume fällen, Bagger fahren, irgend so was eben. Sie musste den Kopf leicht anheben, um ihm in die braunen Augen sehen zu können. Dabei war sie mit ihren 1,70 auch nicht gerade klein. Ein knackendes Geräusch um Unterholz, ließ ihn zusammenschrecken. Dabei war es nur ein Vogel, der mit dem Schnabel im Unterholz scharrte.
„Steigen Sie ein.“ Sie deutete auf die Beifahrertür und ging um den Kleinbus herum, um sich hinters Steuer zu setzen. Seine Hände zitterten, als er sich neben ihr auf den Beifahrersitz setzte. Bestimmt stand er noch unter Schock, weil er den Hang runtergepurzelt war, vermutete Lena.
Vor der Ferienwohnung am Stadtrand von Bozen angekommen parkte sie den Wagen und sah ihn besorgt an. Während der Fahrt hatte er keinen Ton gesagt.
„Sind Sie sicher, dass ich nicht doch noch etwas für Sie tun kann?“
Wie versteinert schüttelte er nur den Kopf. „Nein. Danke. Ich komme schon klar.“
Er stieg aus und umschlang unschlüssig das Gepäck, bevor er Lena noch einmal ansah.
„Soll ich helfen, die Sachen ins Haus zu tragen?“
Jetzt schüttelte Lena den Kopf.
„Nein. Ich fahre morgen früh sowieso zurück nach Deutschland. Es wäre also sinnlos. “
Das einzeln stehende kleine Haus im bäuerlichen Stil, in dem Lena sich eingemietet hatte, besaß einen Garten und eine Terrasse, welche man mitbenutzen konnte. Es lag inmitten einer Ansiedlung von Häusern, die alle gleich aussahen. Die meisten davon wurden als Ferienhäuser genutzt. Natürlich war es für sie allein viel zu groß. Doch so lange sie denken konnte, war dieses Häuschen ihr Domizil in Südtirol gewesen und so sollte es auch bleiben.
Während sie zur Eingangstür ging, sah sie sich noch einmal besorgt nach dem Fremden um. Doch er hatte ihr bereits den Rücken zugekehrt.
Mehr als ihm Hilfe anbieten, konnte sie nicht. Und wenn er das nicht wollte … dann eben nicht. Sie dachte an die Aufgaben, die vor ihr lagen, und beschloss, sich nicht weiter um ihn zu kümmern.
Unterdessen lief Alois orientierungslos durch die schmalen Straßen der Ferienhaussiedlung. Sein Kopf schmerzte, die Haut am Oberarm brannte und sein Hintern fühlte sich an, als wäre er ohne Schlitten den Berg hinuntergerodelt. Aber am schlimmsten fand er das Chaos, das in seinem Kopf herrschte. Immer wieder liefen die letzten Stunden vor seinem inneren Auge ab. Und mit jeder Minute, die er länger darüber nachdachte, wurde ihm die Situation unverständlicher. Was war an diesem Mittag anders gewesen als sonst? Der Weinhändler hatte während der Mittagszeit eine Nachlieferung gebracht. Das machte er sonst nie, weil er genau wusste, dass Randoni Störungen zu den Mahlzeiten nicht wünschte.
Ansonsten war alles so wie immer gewesen. Alois hatte das Essen in derselben Ordnung wie immer serviert. Außer ihm hatte sich nur noch Pepe im Raum befunden. Auch nichts Ungewöhnliches. Pepe leistete der Familie oft Gesellschaft und aß dann auch meistens mit. Doch heute hatte er mit der Begründung abgelehnt, unter einer Magenverstimmung zu leiden, als Lucia ihn zu Tisch gebeten hatte. Der Salat war so für einen Moment unbeaufsichtigt geblieben, weil Alois die Weinlieferung entgegengenommen und den Lieferschein hatte quittieren müssen. Nicht einmal fünf Minuten konnte das gedauert haben. Randoni hasste es, zu warten.
Woher verdammt, war also das verfluchte Rizin gekommen? Harmlos konnte das Zeug nicht sein. Sonst wären Pepe und Franco nicht beim Gärtner gewesen. Giftig sei es, hatte Pepe Franco im Garten erklärt oder Franco Pepe. Aber das war ja jetzt auch egal. Auf jeden Fall lebensbedrohlich giftig. Wieder musste er an das denken, was ihm seine Schwester Maria erzählt hatte. Ob Randoni tatsächlich zur Mafia gehörte? Alois liebte Krimis und hatte schon einige gelesen, in denen es um die Mafia-Szene ging. Auch ohne dieses Halbwissen wusste er, dass er sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen musste. Aber wohin? Und wie sollte er irgendetwas zur Klärung herausfinden, wenn er sich nirgends mehr blicken lassen durfte? Zu seiner Schwester konnte er nicht zurück. Bei ihr würde man ihn zuerst suchen.
Er blieb stehen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Die Tatsache, dass er keine Unterkunft hatte, drang ihm ins Bewusstsein. Aber wo sollte er bleiben? Wenigstens ein bisschen Schutz, war alles, was er bis zum Morgengrauen brauchte. Vorher ließ sich sowieso keine Entscheidung treffen.
Ohne genau zu wissen warum, drehte er sich um und lief zurück zu dem Haus, in dem sich die junge Frau eingemietet hatte. Er ging am Zaun entlang, sah den Kleintransporter in der Einfahrt stehen und versuchte im schummrigen Licht der Laterne herauszufinden, ob es dort eine Möglichkeit gab, sich zu verstecken.
Er entdeckte einen Weg zwischen Einfahrt und Haus, der zum Garten dahinter führte. Zur Straßenseite hin waren alle Fenster dunkel. Er sah sich um. Zwei Häuser weiter brannte Licht im Wohnzimmer, doch die beiden rechts und links direkt danebenliegenden Gebäude schienen unbewohnt zu sein. Weder brannte Licht, noch stand ein Fahrzeug davor. Er schlich sich an dem roten Kleinbus vorbei, tastete sich an der Hausmauer entlang und blieb vor einem hölzernen Gartentor stehen. Der eiserne Riegel, den er durch den schwachen Schein der Straßenlaterne erkennen konnte, ließ sich mühelos aufziehen. Doch beim Aufschieben quietsche das Tor und Alois sah sich vorsichtig um. Schwein gehabt. Niemand hatte ihn bemerkt. Vorsichtig schloss er es wieder und tastete sich dann wie ein Blinder weiter vor. Der grelle Lichtschein, der die Terrasse und den kleinen Garten dahinter erleuchtete, kam so überraschend für ihn, dass er sich die Hand vor die Augen halten musste. Das Licht drang durch die geschlossenen Scheiben der Verandatüren, die zum Freisitz führten. Er lief weiter und hoffte, irgendeine brauchbare Unterlage zu finden. An der Grenze zum Nachbargarten machte er schließlich einen hölzernen Unterstand aus, wo er neben Gartenmöbeln und Blumenkübeln eine gepolsterte Sonnenliege fand, die lediglich mit einer Folie bedeckt war. Alois konnte sein Glück kaum fassen. Wenn das kein gutes Omen an diesem schrecklichen Tag war.
Immer auf der Hut behielt er das Zimmer, aus dem der Lichtschein kam, im Auge. Drinnen, hinter der gardinenlosen Fensterscheibe, lief seine Retterin rastlos hin und her. Alois blinzelte, als er registrierte, wie sie sich präsentierte. Zweifellos entschädigte ihn dieser Anblick ein wenig für das, was ihm an diesem Tag widerfahren war. Lediglich mit BH und Höschen bekleidet, räumte sie Päckchen in einen Korb, verstaute Kleidung in einer Reisetasche und schrieb Notizen auf einen Zettel. Nebenher nippte sie immer mal wieder an einem Glas Rotwein. Alois ertappte sich dabei, dass er sie wie ein Voyeur anstarrte, was glücklicherweise im Schutz der Dunkelheit keiner sehen konnte. Das deutsche Fräulein konnte man getrost als eine echte Augenweide bezeichnen. Gute Proportionen, dachte er anerkennend. Er mochte es, wenn Frauen nicht zu dünn waren. Doch erst ihr herzförmiges Gesicht mit der kecken kleinen Nase, auf der sich winzige Sommersprossen tummelten und ihre wachen, seegrünen Augen, mit denen sie ihn so intensiv angesehen hatte, machten sie zu einer wirklich schönen Frau. Die vollen rostroten Haare, die sie noch immer zu einem Knoten gesteckt trug, waren nur noch das i-Tüpfelchen.
Alois schüttelte über sich selbst den Kopf.
Als ob er keine anderen Sorgen hätte!
Resigniert wandte er sich vom faszinierenden Anblick seiner rothaarigen Retterin ab und versuchte zu schlafen.