Leseprobe Herzklopfen im Gutshof

Kapitel 1

„Sophie, warte doch bitte!“

Sophie Kaiser blieb stehen und drehte sich zu der weiblichen Stimme um, die nach ihr rief. Dabei setzte sie vorsorglich ein freundliches Lächeln auf, da sie nicht ansatzweise wusste, wer sie gerade ansprach. Zu viele Gäste, die sie kaum bis gar nicht kannte. Und das nur deswegen, weil ihre Eltern und Schwiegereltern als angesehene Geschäftsleute darauf bestanden hatten, das Who-is-Who der Gästeliste vorzugeben. Wer die Musik bezahlt, kann bestimmen, was gespielt wird, waren die Worte ihres Vaters gewesen, als Sophie sich darüber mokiert hatte. Und von ihrer Mutter bekam sie für solche Bemerkungen sowieso nur konsternierte Blicke.

„Ja?“ Sophie sah einer erschöpft wirkenden, hochschwangeren Frau ins Gesicht, deren Ehemann ihr fürsorglich die Hand hielt.

„Leider müssen wir schon gehen“, japste die angehende Mutter, die sich zärtlich besorgt über die pralle Babykugel strich und der offensichtlich jeder Schritt zu mühsam wurde. „Wo ist dein Mann? Wir wollten uns natürlich auch von ihm verabschieden. Es ist ein so schönes Fest … wirklich.“ Die Frau blickte suchend an ihr vorbei und schien Ausschau nach Gregor zu halten.

Sophie versuchte fieberhaft, sich an die Vornamen der beiden zu erinnern und musste sich zwingen, dabei nicht die Stirn zu runzeln. Natürlich war ihr das Ehepaar zu Beginn des Abends vorgestellt worden, so wie alle anderen achtzig Gäste auch. Doch wie um alles in der Welt sollte man sich so viele Namen merken?

„Gerne, wenn ihr nur einen Moment warten würdet … Ich hole ihn, muss ihn allerdings selbst erst suchen.“ Sie wollte loszulaufen.

„Nein!“, rief der werdende Vater gehetzt, „so wichtig ist es nun auch nicht. Es reicht, wenn du ihm einen schönen Gruß von uns ausrichtest. Meine Frau ist müde und fühlt sich nicht wohl …“

„Selbstverständlich. Geht nur. Ich richte es ihm aus“, nickte Sophie. Gregor würde schon wissen, von welchem Paar sie sprach, wenn sie die Schwangerschaft erwähnte.

Nachdenklich blickte sie den Eheleuten hinterher, die sich einen Weg durch den festlich geschmückten Saal nach draußen bahnten und die Garderobe ansteuerten. Absurderweise realisierte Sophie in diesem Moment das erste Mal richtig, dass sie jetzt selbst eine Ehefrau war. Es fühlte sich irgendwie unwirklich und seltsam an. So, als würden ihr die handgefertigten Schuhe trotz mehrfacher Anprobe nicht passen wollen. Doch ein Blick in den Saal, in dem sich all die gut gekleideten Leute amüsierten, genügte, um zu wissen, dass das, was sie sah, keine Einbildung war. In ihren Teenagerträumen hatte sie sich diesen Tag – den Hochzeitstag – ganz anders vorgestellt. Romantischer und vor allem viel emotionaler. In Wahrheit war sie total gestresst und in erster Linie erschöpft. Das lag besonders an den zahlreichen anstrengenden Diskussionen mit der Elternfraktion. Seit Monaten führten sie endlose Debatten über Gäste, Lokalitäten und Tischordnungen, bei denen das Brautpaar letztendlich kaum Mitspracherecht gehabt hatte. Sophie war heilfroh, wenn das ganze Tamtam endlich vorüber war. Gut und schön, die Feier war fulminant, beinahe so, wie man es von Adelskreisen erwarten würde. Ihr persönlich hätte ein weniger pompöses Fest allemal gereicht. Doch auch mit diesem Veto war sie gnadenlos gescheitert. Wenigstens entsprachen Kleid und Frisur ihren mädchenhaften Vorstellungen. Sie trug einen Traum aus cremefarbenem Taft, der bei jedem Schritt verführerisch knisterte und ihr das Gefühl gab, zu schweben. Ihr langes dunkles Haar war zu einer schicken Banane hochgesteckt, die nur von einem zierlichen Geflecht aus perlmuttschimmernden Perlen gekrönt wurde. Gregor, dem das Theater um die Hochzeit nach anfänglicher Euphorie zu viel geworden war, hatte sie am Ende mit den Vorbereitungen und den Diskussionen alleingelassen. Das sei ohnehin Frauensache, hatte er argumentiert und war mit der Begründung, dringende geschäftliche Angelegenheiten klären zu müssen, abgetaucht. Wahrscheinlich hatte er sich ebenso überrollt gefühlt wie sie, mutmaßte Sophie.

Sie waren seit gut einem Jahr ein Paar und hatten bisher absolut keine Eile gehabt, vor den Traualtar zu treten. Auch hier hatte sich die Mütterfraktion durchgesetzt. Und sich gegen die zu positionieren, sei ungefähr genauso leicht, wie einen Flug ins All zu buchen – Gregors Worte – weshalb er es vorgezogen hatte, zu kapitulieren. Schließlich würden sie ja sowieso irgendwann heiraten und da wäre es letztendlich egal, wann. Ob seine Einstellung etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass er in absehbarer Zeit die Firma seines Vaters übernehmen würde, konnte Sophie nicht mit Bestimmtheit sagen, doch es schien ihr sehr wahrscheinlich. Seufzend sah sie sich um und entdeckte ihre Mutter, die mit dem Rücken zu ihr in ein Gespräch mit ihrer Freundin Kerstin – ebenfalls Gattin eines angesehenen Unternehmers – vertieft war. Die beiden standen vor dem Tisch, auf dem die Geschenke aufgebaut waren, und studierten die vielen Glückwunschkarten. Vielleicht wusste ja ihre Mutter, wo sich Gregor aufhielt, hoffte Sophie und steuerte auf sie zu.

„… na, da könnt ihr aber wirklich froh sein, dass euer Sorgenkind so gut untergekommen ist“, hörte Sophie Kerstin in gönnerhaftem Ton sagen.

„Das kannst du aber glauben“, raunte Eva und nickte heftig.

Kerstins Miene änderte sich drastisch, als sie Sophie hinter Eva auftauchen sah. Letztere fuhr abrupt herum und rief ertappt: „Sophie! Gott, hast du mich erschreckt …“

Sophie musste sich beherrschen, um nicht mit den Augen zu rollen. Als wenn es etwas Neues wäre, dass sie ihrer Mutter ungelegen kam.

„Tut mir leid, ich störe nur ungern“, erklärte sie tonlos. „Weißt du, wo Gregor ist, Mama?“

„Was du immer hast“, schnappte Eva. Allein die Tonart verriet ihr schlechtes Gewissen. Diesen Gesichtsausdruck kannte Sophie nur zur Genüge. Wie dumm von ihr, zu glauben, dass sich irgendetwas geändert hatte, nur weil sie jetzt mit Gregor, dem absoluten Traumschwiegersohn verheiratet war. Sie hatte sich über die Jahre hinweg damit abgefunden, dass sie niemals die gleiche Anerkennung von ihren Eltern bekommen würde, mit der ihre beiden Schwestern überschüttet wurden. Sie war mit Abstand die Jüngste und weit davon entfernt, das von allen geliebte Nesthäkchen zu sein. Eher ein Unfall, der an Schrecken nicht verlor, sondern diesen mit zunehmendem Alter noch verschärfte. Konstanze, ihre zehn Jahre ältere Schwester, war Steuerberaterin und hatte das wirklich anspruchsvolle Studium in Rekordzeit absolviert. Konstanze wäre nicht Konstanze, wenn es bei einer normalen Berufslaufbahn geblieben wäre, denn nun visierte sie mit ihrem Mann – ebenfalls Steuerberater – das Ziel an, die gemeinsame Kanzlei zu einer der renommiertesten der Stadt zu machen.

Pilar, acht Jahre älter als Sophie, stand Konstanze in Klugheit und Ehrgeiz in nichts nach. Sie jettete als Wirtschaftsprüferin durchs Land, verdiente sich eine goldene Nase und badete in Anerkennung. Punkteabzug gab es höchstens dafür, dass sie nach dem Ende ihrer zweijährigen Beziehung ein, um es vorsichtig zu formulieren, sehr unabhängiges Leben führte.

Doch was war das schon gegen eine dreiundzwanzigjährige Legasthenikerin ohne Berufsabschluss und ohne Aussicht darauf? Sophie war das krasse Gegenteil ihrer beiden Schwestern, zu deren inniger Verbundenheit sie nie Zugang bekommen hatte und auch nie bekommen würde. In der Grundschule war bei ihr eine Lese-Rechtschreibschwäche diagnostiziert worden. Ein Schock für die erfolgsverwöhnten Eltern, die sofort Gegenmaßnahmen ergriffen hatten. Ein Internat sollte es richten, doch es wurde nur noch schlimmer. Alles, was Sophie empfunden hatte, war grenzenloses Heimweh und die Angst, vom Familienverbund ausgestoßen zu werden. Am Ende reichte es trotz bester Betreuung und Förderung nur für einen mäßigen Realschulabschluss. Mangelnde Intelligenz war dafür laut einschlägiger Tests nicht verantwortlich zu machen, jedoch eine zu hohe psychische Belastung. Aber davon hatten ihre Eltern nichts hören wollen. Absurd, bei den guten Genen.

Wenigstens ist sie hübsch, Mama. Einer der Lieblingssätze ihrer Schwestern, wenn Sophie mal wieder ein schlechtes Zeugnis mit nach Hause gebracht hatte. Hämische Bemerkungen, die von ihren Eltern, Eva und Bernhard Kaiser, nie unterbunden worden waren. Wozu? Letztendlich entsprach das ebenso ihrer Meinung und ein bisschen zusätzlicher Druck konnte schließlich nicht schaden, wo „das Kind“ ohnehin viel zu oft in Watte gepackt wurde.

Unattraktiv waren Konstanze und Pilar auch nicht, jedoch besaßen sie nicht Anmut und Liebreiz ihrer jüngeren Schwester. Besonders glücklich war Sophie über ihr äußeres Erscheinungsbild nicht. Galten solche Eigenschaften in dieser erfolgsorientierten Familie doch eher als nette Beigaben, waren aber keinesfalls Grund dafür, sich etwas darauf einzubilden. Das Einzige, was zählte, waren erarbeiteter Erfolg, gesellschaftliche Stellung und eine tadellose Außenwirkung. Selbst ihre Mutter hatte ein Studium absolviert, auch wenn es nie dazu gekommen war, es anzuwenden. So kam es, dass Sophie vor jeder Prüfung in Panik geriet. Von Jahr zu Jahr mehr – trotz der vielen Therapien. Es waren immer die gleichen Mechanismen. Sie scheiterte und ihre Eltern investierten in Gegenmaßnahmen. Es konnte doch nicht sein, dass sie so eine Versagerin in die Welt gesetzt hatten! Doch die Kosten und Mühen verfehlten ihre Wirkung. Und nun stand Sophie mit dreiundzwanzig Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung da und war verheiratet. Wie gut, dass wenigstens Gregor sie so nahm, wie sie war.

„Du störst doch nicht“, säuselte Kerstin, um die peinliche Situation zu retten, „wie kommst du nur auf sowas?“

Dir glaube ich sowieso kein Wort, dachte Sophie, lächelte jedoch, denn das hatte sie gelernt. Zu lächeln, auch wenn ihr nicht danach zumute war. Als wenn ihr der mitleidige Ton hätte entgehen können. Na, da könnt ihr aber froh sein …

„Du willst wissen, wo Gregor ist?“ Eva sah ihre Tochter forschend an.

„Ja.“

„Er ist mit deinem Vater nach draußen gegangen. Dein Schwiegervater ist auch dabei. Sie wollten sich unterhalten … ich vermute, dass sie im Gartenpavillon sind. Der ist hinten am Teich.“

 

Das Hotel Zum edlen Ross, in dem die Hochzeit stattfand, entsprach in jeder Hinsicht höchsten Ansprüchen. Das bezog sich nicht nur auf das prächtige Ambiente des Restaurants und des Saals – das ganze Haus mit seinem Belle Époque-Charme bot einen Komfort, der jedermann ins Schwärmen bringen konnte. Nachdem der Entschluss für die Hochzeit feststand, hatte es für die Mütterfraktion nur diese Adresse gegeben.

In dem Hotelbetrieb, der zum Anwesen von Gut Freyenhof gehörte, hielt Familie Kaiser all ihre Festivitäten ab, weshalb sie dort natürlich eine besondere Behandlung erfuhr.

Es war schon erstaunlich, was man aus einem ehemaligen Gesindehaus alles machen konnte. Das einstige, eher große und unscheinbare Gebäude befand sich vor den Pforten des Gehöfts und war erst vor wenigen Jahren von Grund auf saniert worden. Auch die Kaiser Baugesellschaft hatte dabei mitgewirkt. Bernhard Kaiser unterhielt mit Baron von Freyenhof seit Jahren gute Geschäftsbeziehungen. Von der illustren Adelsfamilie war Sophie vor allem der sympathische Baron bekannt. Schließlich war er es gewesen, der ihr nach einigen Jahren Reitunterricht sogar vorgeschlagen hatte, an Jugendturnieren teilzunehmen – wäre nicht das Internat dazwischengekommen. Mit der restlichen Familie von Freyenhof hatte es für Sophie kaum Berührungspunkte gegeben. Doch ihre Eltern schmückten sich gern mit deren Bekanntschaft. Zudem hatten die Kaiser-Frauen ihre Pferde auf dem Gut untergestellt. Ein weiterer Grund, warum ihre Mutter dafür plädiert hatte, das Fest im Edlen Ross auszurichten.

 

Den Rock vorne gerafft und den Blick immer auf den Weg gerichtet – ihre Füße steckten schließlich in hochhackigen weißen Pumps – erreichte Sophie den Biergarten, hinter dem sich ein wunderschön angelegter Wandelgarten mit Ruhebereich erstreckte. Unterstützt von nostalgisch aussehenden Laternen, die vereinzelt aufgestellt waren, spendeten die in den Boden eingelassenen Leuchten neben den gepflasterten Wegen zusätzlich warmes Licht, welches die Anlage märchenhaft erscheinen ließ.

Nicht nur die laue Juninacht lockte einige der Gäste nach draußen, auch die schweißtreibenden Tanzrunden sorgten dafür, dass sie ins Freie strebten. Mit einem Lächeln auf den Lippen lief Sophie an ihnen vorbei. Je weiter sie auf dem von Büschen umsäumten Pfad lief, umso weniger wurden die Gäste, bis sie schließlich den Pavillon – vor dem Gregor, Bernhard und Dieter standen – entdeckte. Die pagodenähnliche Laube, die am Ende der eingezäunten Parkfläche ein wenig abseits stand, rundete den Gesamteindruck des Anwesens ab. Aus einem Impuls heraus, den sie sich selbst nicht erklären konnte, blieb Sophie hinter einem breiten Busch stehen, sodass sie die Stimmen der Männer, die zu ihr herüberwehten, zwar gut hören konnte, aber unentdeckt blieb. Es war ihr ein Rätsel, was so wichtig sein konnte – und vor allem geheim – dass man sich so weit von den anderen entfernen musste.

Ein seltsames Gefühl, das sie nur zu gut aus ihrer Kindheit kannte, beschlich sie: unschöne Erinnerungen, die sie am liebsten verdrängt hätte, die sich aber nicht abschütteln ließen. Wie oft hatte sie mitanhören müssen, wie sich ihre Eltern mit ihren Schwestern in ihrer Abwesenheit über sie – das schwarze Schaf der Familie – ausgelassen hatten, wenn sie glaubten, ungestört zu sein.

Sophie schluckte. Verdammt, daran wollte sie heute nun wirklich nicht denken. Bestimmt hatte sich die Männerrunde rein zufällig gebildet und sie war einfach nur zu misstrauisch. Sich nach allen Seiten umsehend registrierte sie zufrieden, dass ihr niemand gefolgt war, raffte den Rocksaum noch höher, um ihn zu schützen, und duckte sich ein wenig.

„Ich habe die Pläne für das städtische Hallenbad gesehen“, hörte sie ihren Vater sagen. „Wurde ja auch Zeit, dass da endlich mal was passiert. Bin gespannt, wer die Ausschreibung bekommt.“

„Hast du dich auch beworben?“, erkundigte sich Dieter Markoff forsch.

Sophie stöhnte innerlich auf. Gab es denn nicht mal an einem Tag wie heute ein anderes Thema als die Firma? Dieter und Bernhard standen im ständigen Konkurrenzkampf, obwohl der markoff’sche Heizungs- und Installationsbetrieb mit seinen insgesamt zehn Angestellten viel zu klein war, um ein ebenbürtiger Gegner für die Kaiser-Baugesellschaft zu sein. Zudem profitierten die beiden Firmen seit Jahren voneinander.

„Nein“, antwortete Bernhard. „Wir sind voll ausgelastet. Ich bin froh, dass ich für die laufenden Projekte ausreichend Personal habe. Der Markt ist wie leergefegt“, seufzte er, „und dann noch der ganze Schreibkram im Vorfeld …“

„Oh ja, das stimmt. Leute habe ich genug, aber die Schreibarbeit ist wirklich grausam“, seufzte Gregor. „Unsere Bewerbung ist raus. Wenigstens die Eckdaten. Mehr wollten sie nicht haben. Erst wenns konkret wird.“

„Lass dir doch von Sophie ein bisschen helfen“, meinte Dieter. „Deine Mutter hat nach unserer Hochzeit auch im Büro mitgeholfen, wenn Not am Mann war. Sie hatte das zwar nicht gelernt, sich aber prima eingearbeitet.“

Wie elektrisiert spitzte Sophie die Ohren und wartete gespannt auf Gregors Antwort. Mein Gott, wie oft hatte sie sich gewünscht, sich einbringen zu können und etwas Praktisches zu lernen. Sie wollte nützlich sein und gebraucht werden. War in Gedanken schon x-mal durch die Bäderausstellung gewandert und hatte sich ausgemalt, Kunden in ihrer Auswahl zu beraten, zu organisieren und zu planen. Sie liebte das – Ordnung, Struktur und Planung. Sie bräuchte nur ein bisschen Starthilfe.

„Ich würde da nicht zu viel Hoffnung reinsetzen“, räusperte sich Bernhard Kaiser. „Sophie ist eher praktisch veranlagt … Büroarbeit liegt ihr nicht sonderlich. Ehrlich gesagt würden sich meine Frau und ich auch mehr über Enkel freuen.“ Er stieß ein unechtes Lachen aus. „Ich bezweifle, dass Konstanze mich noch zum Opa macht, so engagiert, wie sie in ihrer Kanzlei ist. Und bei Pilar glaube ich noch weniger daran.“

Sophie schnappte nach Luft und glaubte, nicht recht zu hören.

Eher praktisch veranlagt …

Was er wirklich damit sagen wollte, war: Mit der Theorie hats unsere Sophie nicht so.

Immer auf die positive Außenwirkung der Familie bedacht, würde ihr Vater so eine Aussage natürlich niemals in der Öffentlichkeit machen. Um Himmels willen! Schließlich war er froh, dass er seine ungeratene Tochter unter der Haube hatte. Sophie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, mühsam hinunter.

So so, zum Kinderkriegen war sie also gut genug.

Hatte sie tatsächlich erwartet, dass ihr Vater ein Wort des Lobes für sie über die Lippen bringen würde? Eher würden Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen.

„Nein nein, Sophie muss nicht arbeiten“, hörte sie jetzt Gregor mit Bestimmtheit antworten. „Ich brauche sie zu Hause. Wir wollen Kinder … und nicht nur eins …“

Wie bitte?

Sophie schnappte erneut nach Luft. Was redete er denn da? Nicht ein einziges Mal hatten sie bisher darüber gesprochen. Natürlich wollte sie irgendwann Kinder. Sehr gerne sogar, aber doch nicht sofort. Sie war gerade mal dreiundzwanzig und hatte angenommen, dass wenigstens ihr Mann daran glaubte, dass sie zu mehr in der Lage war, als nett auszusehen. Zumindest hatte er ihr das versichert, wenn sie sich bei ihm über das mangelnde Vertrauen ihrer Eltern ausgeheult hatte.

„So will ich dich hören. Keine Zeit vergeuden. Ihr seid noch jung und wir brauchen schließlich Nachfolger für zwei Firmen.“ Sophie, die förmlich sehen konnte, wie Bernhard seinem Schwiegersohn auf die Schulter klopfte, wurde übel.

„Ich baue auf dich“, hörte sie ihn weiterreden. „Ein paar Jahre bin ich noch in der Lage, die Geschäfte zu führen. Lange genug, bis meine Enkel das richtige Alter haben, um sich in der Firma nützlich zu machen …“

„Ganz meine Meinung“, schloss sich Dieter den Worten seines Freundes an. „So schnell gebe ich das Zepter auch nicht aus der Hand. Gregor muss erstmal lernen, was es heißt, eine Firma zu führen …“

Na prima! Über diese Ankündigung würde Gregor sicher in einen Freudentaumel ausbrechen, das wusste Sophie und bekam Mitleid mit ihrem Mann. Seit dem Ende seines mit Bestnoten abgeschlossenen Studiums vor drei Jahren kämpfte er nun schon um die Anerkennung seines Vaters, genauso, wie um mehr Mitbestimmung in der Firma. Wahrscheinlich gab er deswegen vor, sie würden gleich morgen mit der Familienplanung loslegen, mutmaßte Sophie. Und sicher wollte er an einem Tag wie heute nur keine unnützen Diskussionen heraufbeschwören. Wie dem auch sei. Für sie gab es keinen Anlass, die Pille abzusetzen. Jetzt erst recht nicht.

Kapitel 2

Felix Schröder zog das breite Stalltor hinter sich zu und blinzelte in die gleißende Morgensonne, die ihn aus einem strahlend blauen Februarhimmel anschien. Klirrend kaltes Bilderbuchwetter. In Gedanken mit dem anstehenden Meeting beschäftigt, ging er die Punkte durch, die zur Sprache kommen sollten. Allerdings erwartete er jeden Augenblick noch einen wichtigen Anruf der Tierärztin, die ihm diesmal hoffentlich eine gute Nachricht überbringen würde. Felix fieberte dem Ergebnis entgegen. Bei einer der besten Zuchtstuten wollte es einfach nicht mit der Besamung klappen, weshalb er mit Hans-Hermann entschieden hatte, dass dies der dritte und letzte Versuch für diese Saison sein sollte, sie zu decken. Als das Handy schließlich kurz darauf in seiner Hand vibrierte, war es nur logisch, dass er das Gespräch, ohne aufs Display zu schauen, annahm.

„Hey, das ging ja fix. Und? Hats diesmal geschnackelt? Komm, rette meinen Tag und sag mir, dass unser Mädchen endlich trächtig ist.“

Er stutzte, weil er statt Franziska Beers Stimme nur ein Röcheln und Schniefen hörte. „Franzi?“

„Felix … bitte, leg nicht gleich wieder auf. Ich muss dir noch was sagen … bitte, lass uns noch mal reden!“

Er schnaubte. Niemand außer seiner Ex schaffte es, ihn im Bruchteil einer Sekunde auf hundertachtzig zu bringen.

„Wie oft denn noch?“ Er atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. „Verdammt, Alina! Ich warte auf einen wichtigen Anruf und habe absolut keine Zeit. Wir haben alles beredet. X-mal! Zum letzten Mal: Das bringt nichts mehr! Wann kapierst du das endlich?“

„Du gibst mir ja nicht mal eine Chance … und das alles nur wegen so einer Lappalie. Das ist unfair. Du kannst mich doch nicht einfach so aus deinem Leben streichen …“

„Wie viele Chancen denn noch?“

„Aber du hast mich doch so geliebt …“

„Ganz richtig erkannt, Alina. Vergangenheitsform! Deswegen ist es auch zwecklos, auf noch mehr Chancen zu hoffen.“

„Aber wie geht denn das? Wir waren doch so glücklich.“

Felix schüttelte fassungslos den Kopf. Wie war es möglich, dass ein Mensch so ignorant und selbstsüchtig sein konnte?

„Du ja offensichtlich nicht … wie wir beide wissen“, antwortete er in schonungslosem Ton. „Für mich sind das keine Lappalien. Das hab ich dir tausendmal gesagt … und du hast trotzdem weitergemacht.“ Felix stieß genervt den Atem in die eisige Luft. „Such dir doch einfach jemanden, der genauso tickt wie du, dann ist doch alles bestens.“

Sein Handy gab Signal für ein weiteres Gespräch. Es war Jakob, der Auszubildende, der der Tierärztin bei der künstlichen Besamung beistand, und auf dessen Rückruf Felix wartete.

„So, ich denke, wir belassen es dabei, Alina. Wir sind erwachsene Leute und so würde ich die Angelegenheit auch gerne ein für alle Mal geregelt haben. Mein Entschluss steht. Akzeptier das bitte endlich.“

Jakobs Mitteilung, dass die Befruchtung der Stute erfolgreich gewesen war, stimmte Felix etwas versöhnlicher, doch den bitteren Beigeschmack, den das unangenehme Gespräch mit seiner Ex hinterlassen hatte, ließ sich so schnell nicht verdrängen. Das Handy gab erneut Signal und erinnerte ihn an seinen Termin. Automatisch beschleunigte Felix seine Schritte und machte sich auf den Weg zum Haupthaus, wo er eilig die pyramidenförmige Treppe hinaufstürmte. Dabei hallten ihm unaufhörlich Alinas Worte durch den Kopf. Du gibst mir ja nicht mal eine Chance … und das alles nur wegen so einer Lappalie. Lappalie. Tss. Von wegen. Für sie vielleicht, aber nicht für ihn. Auch wenn der entscheidende Vorfall – eigentlich waren es mehrere gewesen – der nach einem Jahr Beziehung zum endgültigen Bruch geführt hatte, schon einige Wochen zurücklag – an seinen Gefühlen würde das nichts mehr ändern können. Sie waren tot. Rücksichtslos niedergetrampelt. Wiederbelebung unmöglich. Scheiße! Er brauchte gleich seine ganze Konzentration für Wichtigeres und hatte verdammt noch mal keinen Kopf, sich jetzt mit solchen Themen zu beschäftigen. Heute stand die quartalsmäßige Teambesprechung an, die erste in diesem Jahr und die war immer etwas Besonderes. Für Felix war es ein bisschen so, als würde sich der Aufsichtsrat des Gutshofs treffen. Das war natürlich scherzhaft gemeint, denn das Gestüt mit Reiterhof, Sägewerk und Hotelanlage war schließlich keine Gesellschaft, sondern ein Familienunternehmen. Doch wenn alle sechs Verantwortlichen – einschließlich ihm – am Tisch saßen, kam es einem fast so vor, als würde sich die Vorstandsriege treffen.

Er ließ die schwere Holztür ins Schloss fallen und betrat die schachbrettartig geflieste Diele, die ihn wie immer eindrucksvoll in eine andere, längst vergangene Zeit katapultierte. Die in Öl verewigte Ahnengalerie, die ihn erhaben von weiß verputzten Wänden anstarrte, trug dazu genauso bei, wie das ebenholzfarbene kunstvoll verschnörkelte Treppengeländer, das buchstäblich in den Himmel zu führen schien. Das prächtige, im westfälischen Stil erbaute Herrenhaus besaß drei Stockwerke. Für Felix strahlte dieses Ambiente eine Ruhe aus, der er sich nur schwer entziehen konnte. Es war vor allem der Geruch – eine Mixtur aus Leder, Holz und Pferdestall, bereichert mit der vornehmen Note des Adels – der ihn das spüren ließ. Genauso wie viele andere seiner Art, war das Landgut inzwischen ein reiner Wirtschaftsbetrieb – und dennoch außergewöhnlich.

Es lag gut zehn Jahre zurück, dass Felix als knapp Achtzehnjähriger erstmals einen Fuß über diese Schwelle gesetzt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, denn er hatte sofort gewusst, dass er gern ein Teil dieses Betriebes werden wollte. Der Kontakt war durch seine Schwester Sarah entstanden, die sich in Hendrik, einen Sohn des Hauses, verliebt hatte und inzwischen zur Baronin von Freyenhof aufgestiegen war.

Nach einem Praktikum hatte der damalige Chef und heutige Seniorchef, Hans-Hermann von Freyenhof, schnell erkannt, dass in dem Stadtjungen Potenzial steckte. Besonders ihm war es zu verdanken, dass Felix danach einen beruflichen Weg hatte einschlagen können, den er sich zuvor nicht mal hätte träumen lassen.

„Tut mir leid, dass ihr warten musstet. Ich wurde aufgehalten.“

Er schloss die Bürotür hinter sich, grüßte in die Runde und setzte sich neben Hans-Hermann. Der Seniorchef hatte die Geschäfte für die Forstwirtschaft samt Sägebetrieb genauso wie die für das Hotel zwar offiziell an seine beiden Söhne abgegeben, doch um das Gestüt kümmerte er sich immer noch, worüber Felix, der stetig mehr seiner Aufgaben übernahm, sehr froh war.

Felix legte seine Mappe auf einem großen Mahagonitisch ab, der im Stil, genau wie die anderen Möbel des großzügigen Büros, einem Herrenzimmer im englischen Landhausstil entsprach.

„Keine Sorge, du bist nicht der Einzige, der etwas zu spät ist“, ging Eike auf die Entschuldigung ein. Eike war Hendriks Bruder, der neben seiner Frau Dorit saß. „Wir sind auch gerade erst gekommen.“

Eike und Dorit bewirtschafteten das Hotel mit Restaurant.

„Okay, dann lasst uns loslegen.“ Hendrik nickte Sarah, die neben ihm saß und Protokoll führte, zu. „Wir müssen uns beeilen. Dorit hat in einer Stunde einen wichtigen Kundentermin.“

„Schön zu hören“, lobte Hans-Hermann, „dann läufts ja bei euch. Wieder eine große Feier?“

„Könnte man so sagen.“ Eike wirkte sichtlich zufrieden. „Seit wir diese Kaiser-Hochzeit letztes Jahr im Juli hatten, rennen sie uns die Bude ein. Wir haben Anfragen aus Kassel, Marburg und sogar aus Frankfurt.“

„Redest du von den Kaisers, die auch ihre Pferde bei uns stehen haben?“ Felix zog eine Augenbraue hoch, als Eike nickte. „Würde mich interessieren, ob sie sich im Restaurant genauso unmöglich aufführen, wie bei uns im Stall. Meine Leute suchen schon das Weite, sobald sie nur den Porsche von Frau Kaiser Senior hören.“

„Absolut nachvollziehbar“, stimmte Dorit zu, „sehr sympathisch war sie mir auch nicht. Ihr Mann war mir definitiv lieber. Besonders merkwürdig fand ich, dass die Tochter als Braut bei keiner einzigen Besprechung miteinbezogen wurde. Frau Kaiser hat als Brautmutter das ganze Fest organisiert, von A bis Z. Sowas hab ich wirklich noch nie erlebt“, schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Soviel ich weiß, gibt es drei Töchter. Na, wenn die das bei allen so halten will …“

„Drei Töchter?“ Felix starrte Dorit überrascht an. „Ich kenne nur zwei und die sind genau wie die Mutter.“

„Die Jüngste kennst du auch“, entgegnete Hans-Hermann. „Du würdest nur nicht denken, dass sie zu den Kaisers gehört. Sophie ist ganz anders. Ruhiger und zurückhaltender.“

Felix überlegte und tippte sich schließlich an die Stirn. „Ach, jetzt weiß ich, wen du meinst. Du redest von der mit den langen dunklen Haaren, der die Friesenstute gehört. Und die soll netter sein? Okay … war mir nicht klar, dass sie eine Kaiser ist … großen Wert auf Gemeinschaft scheint sie aber auch nicht zu legen. Na gut, wenigstens grüßt sie. Ansonsten hat man den Eindruck, dass sie unter einer seltenen Muskelerkrankung im Gesicht leidet, so versteinert wie die meistens aus der Wäsche guckt – äh, jedenfalls dem Stallpersonal gegenüber.“ Er verzog genervt die Lippen. „Egal … ich wollte nicht vom Thema ablenken.“

„Ja, sie ist eher in sich gekehrt …“, gab ihm Hans-Hermann recht, „… aber trotzdem immer sehr höflich. Sophie kann man nicht mit ihren Schwestern vergleichen – glücklicherweise – denn sie schlägt als Einzige nach ihrem Vater.“ Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was da hinter der schönen Familienfassade der Kaisers steckt. Werden wir wohl auch nicht erfahren“, winkte er ab. „Wie dem auch sei, uns verbindet eine lange und gute Geschäftsbeziehung, weshalb wir es uns mit ihnen nicht verderben sollten.“

„Sehe ich genauso“, stimmte Eike zu und schlug seinen Ordner auf, „rein wirtschaftlich gesehen, würde ich mir noch mehr von solchen Leuten wünschen.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Alles andere lasse ich nicht an mich ran. In diesen Kreisen gehört Hochnäsigkeit zum guten Ton. Andernfalls gehört man nicht dazu. Da sind die Kaisers keine Ausnahme, sondern die Regel.“

Hendrik tippte mahnend auf seine Armbanduhr und räusperte sich. „Ich will ja nicht drängeln, aber eine Stunde ist schnell um.“

Ohne weitere Unterbrechungen ging es nun zur Sache. Hendrik startete mit einem durchweg positiven Bericht aus dem Sägewerk. „Wir können gar nicht so viel Holz schlagen, wie wir verkaufen könnten“, seufzte er abschließend.

Danach verkündete Sarah voller Stolz, dass die Reiterferien für die Kinder bis in den Herbst komplett ausgebucht seien und Dorit beendete ihre Zusammenfassung mit den Worten: „Wenn wir das Programm schaffen wollen, brauche ich dringend mehr Personal.“

„Ich nicht“, zwinkerte Felix ihr zu und schlug nun ebenfalls seine Mappe auf. „Aber genug zu tun haben wir trotzdem.“

Neben der geglückten Besamung der Ausnahmestute berichtete er zudem von den vielen anderen Fohlen, die im Frühjahr zu erwarten waren. Außerdem von dem vielversprechenden zweijährigen Trakehnerhengst Apollo, den er gerade für die Körung vorbereitete und zu guter Letzt darüber, wie viele Pferde für die Auktion infrage kamen und dass es bereits Kaufanfragen gab, wobei er einen besonders betuchten Käufer aus dem Ausland erwähnte.

„… jetzt stehen nur noch die Anzahl der Praktikanten auf meiner Liste. Ich habe zig Bewerbungen bekommen und weiß gar nicht mehr, nach welchen Kriterien ich entscheiden soll. Letztes Jahr hatten wir fünf – zeitversetzt – und ich würde es gerne dabei belassen wollen.“

„Absolut richtig. Alles andere wäre unverantwortlich“, stimmte ihm Hans-Hermann zu und goss sich Wasser ins Glas. „Wenn du magst, kann ich dir bei der Einstellung gerne helfen. Und wie siehts mit dem Turnier aus? Brauchst du da noch Hilfe?“

„Immer“, grinste er und fasste sich an die Stirn. „Ach … das hätte ich fast vergessen: Die Pfarrerin lässt fragen, ob wir für ein paar Wochen einen Sechzehnjährigen für Stallarbeiten gebrauchen könnten. Sozusagen als erzieherische Maßnahme. Der Kerl muss Sozialstunden leisten, weil er ein Straßenschild demoliert hat. Mutwillig.“

„Bevor ich dazu was sage, will ich den Jungen erst sehen, um mir einen Eindruck zu verschaffen“, antwortete Freyenhof Senior mit skeptischer Miene.

„Dachte ich mir. Die Entscheidung überlasse ich gerne dir“, nickte Felix und grinste dann. „Ansonsten wäre ich dir sehr dankbar, wenn du wieder, wie letztes Jahr, die Sponsoren betreuen könntest.“

„Um die Weinkellerei Angersbach müsst ihr euch aber nicht kümmern, das übernehmen Dorit und ich.“ Eike umfasste die Schulter seiner Frau und zwinkerte ihr zu. „Oder?“

„Auf jeden Fall. Ich liebe die Einladung zu dem Weingut. Das ist wie Kurzurlaub. Allerdings bräuchten wir einen Babysitter.“

„Das soll nicht das Problem sein“, winkte Hendrik ab. „Die zwei Racker übernachten bei uns. Ich wette, die merken nicht mal, dass ihr weg seid.“

Es gab tatsächlich immer noch Momente, in denen Felix sich über den unverwüstlichen Zusammenhalt in dieser Familie wunderte. Erst gestern hatten sich die Brüder eine hitzige Diskussion über die Größe eines Grundstücks geliefert. Eigentlich total irrelevant, doch heute war davon überhaupt nichts mehr zu spüren. Wer Hilfe brauchte, bekam sie – uneingeschränkt – egal, wie sehr man zuvor debattiert und sich gekabbelt hatte. Sarah und ihre Schwägerin Dorit lagen fast immer auf einer Wellenlänge und belustigten sich höchstens darüber, wenn die Brüder im stressigen Alltagsgeschäft ab und an mal aneinandergerieten.

Felix lehnte sich im Stuhl zurück und hörte dem Geplauder über die Kinder der beiden Eheleute – zwei Mädchen und drei Jungs – nur noch mit einem Ohr zu. Dabei schweiften seine Gedanken zu seiner Ex ab. Anfangs hatte er Alina einige Male zu Familienfeierlichkeiten mitgenommen. Keine gute Idee, wie sich hinterher herausstellen sollte. Es war ihr ständiges Konkurrenzdenken, das jedes normale Treffen in einen Wettbewerb ausarten ließ. Jedenfalls von ihrer Seite aus. Sie war einfach nicht in der Lage, Menschen so zu nehmen, wie sie waren, unvoreingenommen und wertfrei. Okay, ganz frei davon war sicherlich niemand. Er natürlich auch nicht. Doch Alina unterteilte ihre Umwelt nur in: besser oder schlechter als sie, in richtig und falsch, meins oder deins, Freund oder Feind. Mit Anderssein kam sie nicht zurecht. Mehr als einmal hatte Felix versucht, ihr klarzumachen, dass die von Freyenhofs so nicht tickten – vergebene Liebesmüh. Selbst jetzt, wenn er nur an diese endlosen und zermürbenden Diskussionen mit ihr dachte, spürte er, wie sehr ihn diese sinnlosen Debatten angestrengt hatten. Unbewusst atmete er befreit auf. Halleluja! Es fühlte sich so gut an, dass das Thema endgültig vom Tisch war.

Felix ließ seinen Blick durch das Büro schweifen und blieb an einem Ölgemälde hängen, auf dem einer der erfolgreichsten Deckhengste des Gestüts zu sehen war. Das brachte ihn auf ein Gespräch, das er mitangehört hatte.

„Hab ich euch schon erzählt, dass der alte Henner wieder Pferdeboxen vermietet und sogar Reitunterricht anbieten will?“

Die anderen verstummten.

„Mein lieber Scholli, da hat er sich ja was vorgenommen. Schließlich ist er auch nicht mehr der Jüngste. Soweit ich weiß, ist seine Ehe kinderlos geblieben und seine Frau vor Jahren gestorben. Aber wenns ihm Freude bereitet … woher hast du die Informationen?“

Es war so typisch für Hans-Herrmann, dass er die Dinge stets von der positiven Seite sah.

Felix blies die Wangen auf. „Puh, kann sein, dass ich das im Stall aufgeschnappt habe. Ist für uns ja sowieso nicht relevant. Sämtliche Mietboxen sind belegt. Neue kommen nicht dazu, weil wir die Zucht weiter ausbauen wollen.“ Er grinste schief. „Ich wollte nur mal wieder am Gespräch teilnehmen und da ich zum Thema Kinder nichts beitragen kann …“

„Kommt schon noch“, zwinkerte Dorit und rutschte mit dem Stuhl nach hinten. Sie nahm ihre Unterlagen und stand auf. „So, ich muss los, damit ich pünktlich im Hotel bin.“

„Noch jemand einen Kaffee?“ Hans-Hermann griff zur Thermoskanne. „Und sonst? Gibt es vielleicht noch mehr zu berichten, was nicht ins Protokoll gehört?“

Auch Sarah und Hendrik gossen sich nach, weshalb Felix mit einem tiefen Atemzug das Wort ergriff. „Ach, nur die alte Leier … Willi hat mir erzählt, dass es Beschwerden über unsere überhöhten Preise gäbe“, seufzte er theatralisch. „Dreimal dürft ihr raten, von wem …“

„Martin Heinemann!“, riefen die Eheleute im Chor, während Hans-Hermann missbilligend die Lippen verzog.

„Bingo!“ Felix hob den Daumen.

„Na, der hats grad nötig“, schüttelte nun auch Eike den Kopf. „Der soll erst mal den Deckel bezahlen, den er bei mir noch offen hat. Angeblich hatte er seinen Geldbeutel daheim vergessen.“

„Lass ihn reden“, klopfte Hans-Hermann Felix beruhigend auf die Schulter. „Er meckert seit Jahren und ist immer noch da. Wenn er sich doch nur endlich einen anderen Stall suchen würde …“

„Dann kann er aber nicht mehr überall rumerzählen, dass er mit den Freyenhofs per Du ist“, brummte Hendrik und Sarah musste lachen.

„Vielleicht sollten wir ihm den Vorschlag machen, zu Henner zu gehen. Der ist froh um jeden neuen Kunden“, grinste Eike. „Bliebe nur das Problem, dass er sich dann nicht mehr so wichtig fühlen kann.“

„Ach, lasst ihn. Ihm wird man nie was recht machen können“, zuckte Hans-Hermann lapidar mit den Schultern, „soll er doch reden, was er will. Hauptsache, er bezahlt seine Rechnungen. Und wenn nicht, möchte ich darüber informiert werden. Die Unterredung übernehme ich!“ Er erhob sich und klopfte auf den Tisch.

„Danke, Papa, den überlasse ich dir gerne. Der Typ ist einfach nur ätzend.“ Eike schob seinen Stuhl zurück. „Ich komme mit. Hab jetzt ein Rendezvous mit meinem Schreibtisch“, stöhnte er theatralisch und folgte seinem Vater. „Wie ich diesen Papierkram hasse.“

Sarah, die mit Hendrik und Felix zurückblieb, hielt den Kopf gesenkt, um noch ein paar Notizen zu machen, bevor sie zu ihrem Bruder aufsah. „Ich tippe das Protokoll nachher ab und schicke es dir dann zu.“ Den Blick haltend verharrte sie einen Moment schweigend. „Äh … ich weiß, das ist jetzt ein krasser Themenwechsel, aber darf man fragen, was zwischen dir und Alina vorgefallen ist? Hab sie hier schon länger nicht mehr gesehen. Letzte Woche ist sie mir im Supermarkt über den Weg gelaufen. Am liebsten wäre sie mir aus dem Weg gegangen und als ich sie angesprochen habe, ist sie sofort in Tränen ausgebrochen. Kannst du mir das mal erklären?“

„Erklärt sich das nicht von selbst?“

„Nicht wirklich … soweit ich mich erinnern kann, war ich nie unfreundlich zu ihr.“

„Meine Güte! Bezieh doch nicht immer alles auf dich. Und wieso willst du das so genau wissen? Wir haben uns getrennt. Reicht dir das als Erklärung?“

„Hallo, du bist mein Bruder. Wäre es dir lieber, es wäre mir egal?“

„Nein. Natürlich nicht. Hat dir noch niemand gesagt, dass Männer keinen Bock haben, über sowas zu reden?“

Sarah seufzte. „Und wenn schon … warum so plötzlich? Silvester wart ihr doch noch ein Herz und eine Seele.“

„Falsch! Das ist deine Interpretation.“ Felix spürte den wachsamen Blick seiner Schwester und verdrehte genervt die Augen. „Ja, was denn? Ich dachte eigentlich auch, dass es ganz gut mit uns passt – anfangs wenigstens. Glaubst du etwa, ich hätte sie euch sonst vorgestellt?“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte ihm Sarah zu.

„Siehst du. Nicht ich war derjenige, der unzufrieden war und ständig irgendwelche seltsamen Verbesserungsvorschläge hatte. Frag sie selbst, wenn du Näheres dazu wissen willst. Mir reichts jedenfalls.“

„Vielleicht solltet ihr noch mal reden … bestimmt handelt es sich nur um ein Missverständnis …“

„Ganz sicher nicht. Für mich ist die Messe gelesen. Aus. Ende. Finito. Ich versteh überhaupt nicht, warum sie jetzt so rumheult. Erst kann ich’s ihr nicht recht machen und dann, wenn ich mich konsequent verabschiede, damit sie sich einen Besseren suchen kann, bombardiert sie mich mit Anrufen.“

Sarah runzelte die Stirn. „Was kannst du ihr denn nicht recht machen?“

„Ist doch jetzt egal. Es ist vorbei. Ich will nicht mehr. Meinst du, ich lasse mich so zum Affen machen? Nicht mal im nächsten Leben.“

„Na ja, du arbeitest schon sehr viel … aber eigentlich hat sie das vorher gewusst. Ah, verstehe, sie fühlt sich vernachlässigt.“

„Wenn du damit meinst, dass ich ihr nicht regelmäßig den Hintern versohlt habe, dann ja.“

Sarah riss die Augen auf.

„Ja ja, du hast schon richtig verstanden. Gehört ihr etwa auch zu den langweiligen Spießern, die ohne knebeln, fesseln und auspeitschen auskommen? Da fühle ich mich doch gleich viel besser. Da könnt ihr drauf wetten.“

Sarah wechselte einen vielsagenden Blick mit ihrem Mann, der darauf sofort die Hände hob und mit Unschuldsmiene beteuerte: „Also, ich bin zufrieden. Sehr sogar. Genau so, wie es ist. Ehrenwort.“

„Danke, Schatz.“ Sie hauchte Hendrik einen Kuss zu. „Kann ich so zurückgeben. Ich vermisse auch nichts.“

„Wie?“ Felix fixierte seine Schwester, die ein breites Grinsen im Gesicht hatte und kurz vor einem Lachanfall stand, mit hochgezogener Braue. „Hast du etwa nicht alle Bände von Fifty Shades of Grey verschlungen? Mehrfach? Und dir außerdem auch noch alle Filme zig Mal angesehen?“

„Schuldig“, gluckste sie. „Mein Terminplan war dagegen. Wie war das mit dem nächsten Leben? Vielleicht dann.“

„Das ist für eine Frau deines Alters schon ein bisschen von vorgestern, muss ich dir sagen. Da solltest du dran arbeiten“, zwinkerte Felix ihr zu und wurde ernst. „Alina wollte aus mir Mr. Grey machen … noch Fragen?“

Hendrik, der gerade das Glas zum Trinken ansetzte, prustete ins Wasser.

„Ja ja, lacht ihr nur. Ich fand das überhaupt nicht witzig. Auf solche Spielchen kann ich locker verzichten. Da kannst du mir auch gleich einen Eimer Eiswasser drüberkippen!“

„Du hast mein vollstes Verständnis.“ Hendrik trat neben ihn, klopfte ihm auf die Schulter und hob den Zeigefinger, wobei er seiner Frau zuzwinkerte. „Nicht dass du mir da noch auf dumme Gedanken kommst …“

Kapitel 3

In bester Laune sprang Sophie in ihren nachtblauen Audi TT, schnallte sich an und wartete, dass der Bordcomputer hochfuhr. Sie kam direkt aus dem Pferdestall – was man ihr ansah und vor allem roch. Na und? Das hatte sie noch nie gestört, zumal man Geruch und Staub abwaschen konnte. Das Hochgefühl jedoch, das sie empfand, wenn sie die Zeit mit ihrer Friesenstute Gipsy verbrachte, ließ sich glücklicherweise mit keinem Wasser der Welt abspülen und war Sophies einziger Lichtblick in diesen Tagen. Immerhin schien zumindest die Stute sie zu brauchen, was man von Gregor nicht behaupten konnte, obwohl er stets das Gegenteil beteuerte. Selbstverständlich wusste sie, dass er viel arbeiten musste, doch es nagte an ihr, dass er sich nicht mal sonntags Zeit nahm, um wenigstens einmal die Woche mit ihr in Ruhe zu frühstücken. Ganz zu schweigen von den Wochentagen, an denen er in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus ging und abends nicht vor halb neun zurückkam. Sie ahnte, weshalb er seit ein paar Tagen so extrem angespannt wirkte. Die Firma hatte die Ausschreibung für das örtliche Hallenbad gewonnen und nun glaubte Gregor mehr denn je, seinem Vater beweisen zu müssen, dass er dieser Aufgabe gewachsen war. Familie konnte kompliziert sein, das wusste sie aus eigener Erfahrung nur zu gut, weshalb sie es ihm meistens nachsah, dass er sie so vernachlässigte.

Außerdem wollte sie nicht, dass es schon wieder zum Streit zwischen ihnen kam. Vor allem heute nicht. Auf den Tag genau waren sie zwei Jahre zusammen und es war Sophies Plan, das am Abend ein wenig zu feiern.

Sie wählte seine Handynummer, wartete auf Anschluss und fischte unterdessen ihre Geldbörse aus der Handtasche. Das Freizeichen ertönte … sieben, acht, neun … die Mailbox sprang an. Mist!

„Wäre ja auch zu schön gewesen“, grummelte sie missmutig vor sich hin und beendete mit einem lauten Seufzer die Verbindung.

Na gut, dann eben doch per WhatsApp.

Hallo Schatz, ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass du heute mal früher nach Hause kommen wolltest. Ich koche uns was Schönes. Asia Nudeln mit Huhn und frischem Gemüse, das liebst du doch so. Ich freue mich. (Kusssmiley)

 

Mit Blick in den Rückspiegel pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, und legte den Rückwärtsgang ein. Dabei streiften ihre Augen unwillkürlich Felix Schröder, der soeben mit einem Mann auf den Parkplatz gegangen kam und neben dessen Fahrzeug Halt machte. Sie nahm sich einen Moment, um ihn in Ruhe zu betrachten, was sonst kaum möglich war, weil er stets nur schnellen Schrittes an ihr vorbeistürmte. Unwillkürlich registrierte die Frau in ihr den großgewachsenen Mann mit drahtiger Figur, den man nur schwerlich übersehen konnte. Er hatte etwas sehr Anziehendes, das jetzt, wo er so entspannt dastand und sich angeregt unterhielt, besonders zur Geltung kam. Es amüsierte sie zu sehen, wie er sich immer wieder eine blonde Haarsträhne aus der Stirn strich, die ihm der laue Wind ins Gesicht blies. Vom Motorengeräusch des Sportwagens aufgeschreckt, riss Felix ruckartig den Kopf hoch und sah zu ihrem Wagen herüber. Als er erkannte, wem der Audi gehörte, verschwand das attraktive Lächeln aus seinem markanten Gesicht, das er zuvor noch seinem Gesprächspartner gewidmet hatte.

Sophie verzog missmutig den Mund. Was in aller Welt hatte sie ihm nur getan, dass er ihr gegenüber so ablehnend war? Kein Wunder, dass er immer so eilig an ihr vorbeirannte. Ganz offensichtlich mochte er sie nicht. Weshalb bloß? Die wenigen Male, die sie sich über den Weg gelaufen waren, hatte er sie meist nur wortlos und mit einem Kopfnicken gegrüßt und war an ihr vorbeigegangen. So, wie man jemanden grüßte, den man grüßen musste – höflich distanziert. Dabei verhielt er sich den anderen Pferdebesitzern gegenüber geradezu kumpelhaft. Resigniert wendete sie den Sportwagen und fuhr seufzend los. Dann eben nicht.

Sie war zu ihm nie unhöflich gewesen. Wie auch, wenn er nicht mal mit ihr sprach? Es wurmte sie, dass sie ausgerechnet dort, wo sie sich so wohlfühlte, solche Begleitumstände vorfand. Sie brauchte definitiv nicht noch mehr Leute, die ihr das Leben schwer machten. Es reichte, dass sie für ihre Familie der Sündenbock war. Und nun fing sogar Gregor an, Druck auszuüben. Dabei sollte insbesondere er wissen, wie sie darauf reagierte. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht erkundigte, ob sie schwanger sei und es verging ebenfalls keiner – ausgenommen wenn sie ihre Periode hatte – an dem er sie nicht dazu drängte, mit ihm zu schlafen. Gerade so, als müsste er ein Pensum abarbeiten oder zumindest auf diesem Gebiet klarstellen, dass sie verheiratet waren, egal, ob ihr danach war oder nicht. Doch auf die Frage, wann sie sich endlich in seiner Firma nützlich machen konnte, reagierte er nicht oder erfand nur fadenscheinige Ausreden.

Nach einem kurzen Zwischenstopp beim Lebensmittelhändler kam Sophie in der Wohnung an. Gregors Eigentumswohnung, die er zur Hochzeit von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte und in der sie seit gut zwei Monaten mehr hausten als wohnten. Würde es nach ihr gehen, sähe das ganz anders aus. Sie hatte so viele Ideen. Doch solange er in seinem Kalender keinen Termin fand, um mit ihr ein Möbelhaus zu besuchen, war sie zur Untätigkeit verdammt. Lediglich die Küche war beim Einzug fertig gewesen – ausgesucht von ihrer Schwiegermutter. Vier weitere Räume waren behelfsmäßig mit alten Möbeln bestückt – wenigstens etwas.

Sophie stellte die Einkaufstasche auf der Arbeitsplatte ab. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie genügend Zeit hatte, um alles für einen schönen Abend vorzubereiten. Voller Elan und guter Dinge krempelte sie die Ärmel hoch, wählte eine Playlist mit fetzigen Songs aus und legte los. Sie war die einzige der Kaiser-Frauen, der es nichts ausmachte, Hausarbeiten zu erledigen. Sich eine Putzfrau ins Haus zu holen, so wie ihre Eltern und Schwestern, würde für Sophie so schnell nicht infrage kommen. Sie liebte es, alles in Ordnung zu haben, neue Rezepte auszuprobieren und die Räume schön zu gestalten. Die Vorliebe fürs Kochen und Backen hatte sie im Internat für sich entdeckt, wo sie mit Begeisterung an den angebotenen Kursen teilgenommen hatte.

Nach zwei Stunden war das Essen zubereitet. Sie schaltete den Herd ab und verschwand im Bad. Inzwischen war es halb sieben. Gregor würde sicherlich gleich da sein. Fertig geduscht und angezogen deckte sie den Tisch, holte Gläser und Kerzen. Wieder warf sie einen Blick aufs Handy. Allmählich wurde sie unruhig. Ihr Nacken spannte unangenehm und hinter ihrer Schläfe begann ein dumpfer Schmerz zu pochen. Selbst Pharrell Williams, der gerade sein Happy trällerte, zerrte an ihren Nerven. Kurzerhand schaltete sie den MP3-Player ab und genoss den Moment der Stille. Ob sie vielleicht doch mal in der Firma anrufen sollte? Nein. Gregor wusste schließlich Bescheid.

Um nicht grübeln zu müssen, wienerte sie die gläserne Duschkabine, bis die Scheiben nur so glänzten, hängte frische Handtücher auf und checkte abermals das Mobiltelefon. Viertel nach acht. Auch die WhatsApp, die sie ihm vor Stunden geschickt hatte, zeigte sich unverändert. Ungelesen. Der pochende Schmerz nahm an Intensität zu.

Und wenn ihm was passiert war? Normalerweise las er ihre Nachrichten, obwohl er nur selten antwortete. Er mochte es nicht, wenn sie hinter ihm her telefonierte. Das hatte er mehrfach betont. Egal. Spontan wählte sie die Nummer seines Büros, bis die Bandansage ansprang. Auch auf seinem Privathandy musste sie mit der Mailbox vorliebnehmen.

Eine weitere Stunde verging, in der sie, außer sich vor Sorge, durch die Wohnung tigerte und sich dabei die übelsten Umstände ausmalte.

Als Sophie um halb zehn den Herd abstellte, weil sie das Essen nicht länger warmhalten wollte, drehte sich endlich der Schlüssel in der Wohnungstür.

„Hallo Schatz, ich bin da“, rief Gregor unbekümmert. „Tut mir leid, aber ich konnte mich nicht früher loseisen. Mannomann. Das war vielleicht ein Tag“, seufzte er, während er die Jacke an die Flurgarderobe hing und zu ihr in die Küche kam. „Erst musste ich meine Mutter im Büro vertreten und dann auch noch unsere Angestellte, Frau Bähr. Mama hatte mal wieder furchtbare Migräne und Frau Bähr einen dringenden Termin. Ist es nicht verrückt, dass immer dann, wenn mal keiner für die Beratung in der Bäderausstellung da ist, jemand kommt und eine haben will? Ja, und danach gab es noch eine Besprechung mit meinem Vater. Das war nicht zu umgehen. Es ging um die Baustelle im Hallenbad.“

Für Sophie war jedes Wort eine schallende Ohrfeige. Das wummernde Pochen hinter ihrer Schläfe wurde zum stechenden Schmerz. Gregor kam in die Küche, wo sie wie erstarrt vor dem Herd stand, und wollte sie umarmen.

Mit versteinerter Miene wich sie zurück. Lieber Gott, schenk mir ein bisschen Ruhe, damit ich wieder klar denken kann, betete sie im Stillen und wusste doch, dass ihr in diesem Fall keine Ruhe der Welt etwas nützen würde. Seit Wochen gärte in ihr eine Mischung aus Ohnmacht und unterdrückter Wut, die nun kurz vorm Überkochen war. Sie presste sich die Finger gegen die Stirn und schloss sekundenlang die Augen.

Gregor zuckte beleidigt zurück. „Oh Mann! Geht das jetzt wieder los! Musst du mir jedes Mal Vorwürfe machen, wenn ich mal ein bisschen später als gewohnt von der Arbeit nach Hause komme? Verdammt, ich mache das schließlich auch für uns. Und außerdem kann ich nichts dafür …“

Außerstande, darauf zu antworten, wandte Sophie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ab, um Aspirin aus dem Schrank zu holen.

„Wie ich das Getue hasse!“, fauchte er, weil sie ihm den Rücken zukehrte. „Jetzt rede endlich mit mir und hör mit diesem Theater auf!“

Sich an die Spüle lehnend schluckte Sophie eine Tablette und trank etwas Leitungswasser. „Seit wann interessiert dich, was ich zu sagen habe?“, krächzte sie tonlos.

„Herrgott nochmal, mach doch nicht immer gleich so ein Drama aus allem …“

„Du findest, dass ich dramatisiere?“ Ihr Kopf drohte zu explodieren. Heftig stieß sie sich von der Spüle ab, tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust und funkelte ihn zornig an. „Wie oft soll ich dir denn noch meine Hilfe anbieten? He? Bist du taub? Nein, bist du nicht, also kann es nur so sein, dass du mich nicht ernst nimmst – egal, was ich sage!“

Gregor machte einen Schritt rückwärts, doch Sophie setzte ihm nach. Sie war so in Rage, dass sie für einen Moment ihre Schmerzen vergaß.

„Du musst mich schon für sehr einfältig halten, wenn du glaubst, dass ich nicht merke, was du wirklich von mir denkst! Für wie dämlich hältst du mich, wenn du annimmst, dass ich noch nicht mal in der Lage bin, eine Kloschüssel zu verkaufen?“

„Das siehst du völlig falsch …“

„Findest du? Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass du dann nicht mehr jeden Abend bis in die Nacht arbeiten müsstest? Ihr gebt mir ja nicht mal die Chance, zu beweisen, dass ich in eurer Firma mithelfen könnte.“

„Blödsinn. Mit dir hat das überhaupt nichts zu tun. Mein Vater will von mir Leistungen sehen und nicht von dir! Was regst du dich so auf? Frag mal meine Mutter, wie es der ergangen ist, als sie mit meinem Vater frisch verheiratet war …“

„Gut, dass du das erwähnst … außerdem versuchst du abzulenken. Natürlich hat das was mit mir zu tun, wenn du mir nichts zutraust. Mit wem denn sonst? Laut Aussage deines Vaters hat deine Mutter von Anfang an mitgearbeitet.“

„Richtig. Und genau deswegen kannst du nicht auch noch mithelfen. Zwei Frauen in einem Büro, das taugt nichts.“ Er warf die Hände in die Luft. „Lieber Himmel! Ich weiß gar nicht, was du hast. Sei doch froh, dass du nicht arbeiten musst.“

Sophies Kräfte schwanden. Fassungslos darüber, wie ignorant er auf ihre Einwände reagierte, presste sie sich die Finger an die Schläfe, denn der Schmerz hämmerte wieder mit voller Wucht.

„Hast du schon mal was davon gehört, dass man jemanden einarbeiten muss? Deine Eltern werden auch nicht jünger. So was nennt man vorausschauendes Denken. Aber was bilde ich mir ein, dir solche Vorschläge zu machen?“ Ironisch verzog sie die Mundwinkel. „Als wenn ich von irgendwas eine Ahnung hätte …“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und ihre Stimme wurde kraftlos. „Ich würde dich gern mal sehen, wenn man dich mit diesen Argumenten jeden Abend alleine lassen würde.“

„Liebe Zeit“, rief er, ohne zu realisieren, was in ihr vorging. „Es ist mitten in der Woche, da arbeite ich nun mal lange. Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Heute ist ein ganz normaler Arbeitstag.“

„Ja ja … normaler Arbeitstag. Na klar, so’n Quatsch erzählst du auch nur mir. Außerdem verweigerst du mir die Antwort auf meine konkrete Frage.“ Kraftlos bewegte sie den Arm zu einer wegwerfenden Geste, lehnte sich an die Arbeitsplatte und sah ihn abwartend an, worauf er die Lippen zusammenpresste und stumm blieb.

„Okay. Keine Antwort ist auch eine Antwort, Gregor.“ Wieder rieb sie sich über die schmerzende Schläfe. „Abgesehen davon … hast du vielleicht mal einen Blick auf den Kalender geworfen? Ich habe dir vor Stunden eine Nachricht geschrieben und versucht, dich anzurufen. Was ein Glück, dass ich nicht ernsthaft in Not war. Keine Sorge, wird nicht wieder vorkommen. Wozu gibt es einen Notdienst? Die gehen wenigstens ran, wenn man anruft.“

Gregor öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Sophie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Selbst wenn du nicht gleich rangehen kannst … du gibst mir ja nicht mal eine Rückmeldung, ob ich dich erreicht habe.“ Sie lachte sarkastisch auf. „Und jetzt willst du auf einmal, dass ich rede? Weißt du was, verarschen kann ich mich alleine!“

Sophie schleppte sich zum Backofen, in dem das Essen kalt geworden war, und holte es heraus. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wie Gregor stirnrunzelnd ihre WhatsApp las. Wieso war ihr nicht früher aufgegangen, dass ihr Ehemann genauso wenig an sie glaubte wie alle anderen?

„Es tut mir leid, Schatz.“ Mit zerknirschter Miene kam er auf sie zu. „Wirklich. Bitte, sei wieder gut mit mir. Sag mir, was du möchtest, und ich erfülle dir jeden Wunsch.“

Bam! Noch eine Ohrfeige.

Sie wandte ihm den Rücken zu, nahm eine Frischhaltedose aus dem Schrank und füllte das Essen um.

„Sehe ich aus wie ein Kind, das man mit Süßigkeiten abspeisen kann? Gib dir keine Mühe … das, was ich gerne hätte, kann man nicht kaufen.“

„Ah, okay!“ Blitzschnell umschlang er sie von hinten und drängte seine Hüften gegen ihren Po.

„Sag mal, gehts noch?“, zischte sie und befreite sich energischer, als ihr zumute war. „Glaubst du ernsthaft, du könntest das Problem mit Sex lösen? Tja, Gregor, das ist bitter, aber mir ist grad nicht danach.“

Die Tränen wegatmend streckte sie sich und überlegte fieberhaft, wie sie sich jetzt verhalten sollte. In ihrer Verzweiflung schnappte sie sich das Spültuch, um über den bereits sauberen Tisch zu wischen.

Als wäre ein Schleier gefallen, sah sie plötzlich glasklar, welche Rolle sie in Gregors Leben wirklich spielte. Sie war für ihn nichts weiter als ein Mittel zum Zweck und zudem schmückendes Beiwerk. Er brauchte sie nicht. Für all die Fragen, die sie sich seit Wochen stellte – eigentlich schon, nachdem sie von der Hochzeitsreise zurückgekommen waren – bekam sie heute Abend glockenklare Antworten. Ihr wurde kalt. Von innen nach außen. Gefühle schockgefrostet.

Wütend entriss Gregor ihr auf einmal das Tuch und warf es in die Spüle, bevor er ihre Oberarme mit beiden Händen umklammerte.

„Verdammt! Ist das alles, was du kannst – putzen? Dein verfluchter Putzfimmel geht mir sowas von auf den Sack! Was ist so falsch daran, Kinder zu haben … du hättest eine Aufgabe und …“

Sie riss sich von ihm los. „Ah, verstehe … deshalb jeden Abend die Karnickelnummer! Besten Dank auch. Sex und Kinderkriegen. Das ist also alles, wofür ich tauge, ja?“, höhnte sie mit Tränen in den Augen. „Was für eine Ehre! Da freut sich Frau im einundzwanzigsten Jahrhundert doch ganz besonders drüber!“

In Sophie hatte sich so viel Frust angestaut, dass sie sich nicht mehr bremsen konnte. „Bist du dir sicher, dass ausgerechnet ein Dummchen wie ich die richtige Wahl ist, um mit dir Kinder in die Welt zu setzen?“ Sie rannte auf die andere Seite der Küche. „Besser, du überdenkst das noch mal. Wäre doch schade um deinen kostbaren Samen.“ Der Blick, mit dem sie ihn maß, wurde kalt. „Schatz, wir haben einen Ehevertrag, die Scheidung sollte also nicht das Problem sein … und was ich hier zu packen habe, passt in zwei Ikea Taschen, das wirst du sehen.“

Er wurde blass. „Du tickst ja wohl nicht mehr ganz richtig! Lieber Himmel, kapierst du denn überhaupt nichts?“

„Na endlich. Danke, Gregor!“, klatschte sie in die Hände. „Jetzt hast du das ausgesprochen, was du wirklich denkst. Willst du mir nicht vielleicht noch was sagen? Wo wir doch gerade so schön dabei sind“, sprudelten die Worte, die sie in ihrer schockierenden Klarheit selbst überraschten, nur so aus ihr heraus. „Zum Beispiel, dass du mich nur aus Mitleid geheiratet hast … okay, ganz so groß war das Opfer ja dann doch nicht, wenn man bedenkt, dass mein Vater dringend einen Schwiegersohn braucht, der sich für seine Firma interessiert!“

Gregor erstarrte. „Das nimmst du zurück …“

„Wozu? Ist doch die Wahrheit.“ Ohne zu wissen, woher sie die Courage nahm, stellte sie sich vor ihn und sah ihm provokant in die Augen. „Weißt du, es hat schon was Gutes, wenn man von allen für dumm gehalten wird. Man wird komplett unterschätzt … ha, aber täuscht euch da mal bloß nicht.“

„Hab ich nie gesagt …“

„Du hast es nicht ausgesprochen“, winkte sie ab und starrte ihn herausfordernd an. „Als wenn das was zu bedeuten hätte. Ich vertraue da mehr auf den Spruch meiner Oma, den sie mir mit auf den Weg gegeben hat. Nur Taten zählen. Reden kann man viel, wenn der Tag lang ist.“ Sie tippte nachdrücklich gegen seine Brust. „Kapierst du das? Und nach acht Monaten Ehe sprechen deine Taten Bände.“

Sophie befand sich in einem solchen Ausnahmezustand, dass sie aus dem Stegreif heraus entschied, ihr Leben ab sofort zu ändern. Und dabei war es ihr piepegal, dass sie nicht den Hauch eines Plans hatte, wie es weitergehen sollte. Alles war besser, als länger in Gregors Nähe zu bleiben. Ausgerechnet er, dem sie ihr Innerstes anvertraut hatte und der wusste, wie sehr es sie verletzte, dass man ihr nichts zutraute, behandelte sie genauso mies wie alle anderen in ihrer Familie. Und noch schlimmer – er nutzte dieses Wissen sogar, um sie noch mehr zu erniedrigen.

Wie von Furien getrieben, rannte sie in den Flur, riss die Tür der Abstellkammer auf, in der Koffer und Taschen aufbewahrt wurden, und zerrte zwei Ikea Taschen hervor, die ordentlich zusammengefaltet in einem Regal lagen.

„Was hast du vor?“, herrschte Gregor sie an.

„Wieso interessiert dich das?“ Die Taschen fest umklammert, rannte sie weiter ins Schlafzimmer, um den Kleiderschrank zu öffnen. „Es kümmert dich doch sonst auch nicht, wie ich meine Tage verbringe.“

„Ist ja auch nicht so schwer zu erraten … alles, was du kannst, ist wie eine Blöde die Wohnung schrubben oder bei deinem Gaul abhängen. Sei froh, dass ich dir dein kostspieliges Hobby so großzügig finanziere … ist übrigens auch ein Grund, warum ich so viel und so lange arbeiten muss!“

Die Art, wie er ihr das vorhielt, war gleichermaßen gehässig, selbstgerecht und verachtend. War das die Wertschätzung, von der er in der Brautrede gesprochen hatte?

Sophie wurde kreidebleich. Nun gab es erst recht kein Zurück mehr. Dank der Tablette ließen ihre Kopfschmerzen zwar allmählich nach, dafür machte sich jedoch ihr Magen schmerzhaft bemerkbar. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen? Es musste Stunden her sein.

„Soweit ich weiß, hat mein Vater mit dem Baron einen Deal für unsere Pferde ausgehandelt …“

„… wovon ich deinen Anteil zahle“, fiel Gregor ihr barsch ins Wort und lachte spöttisch. „Was hast du denn gedacht? Dass er weiterhin deine Rechnungen bezahlt?“ Er schüttelte mitleidig den Kopf. „Du bist wirklich noch naiver, als ich dachte … deine Eltern sind doch nur …“

„… froh, dass sie mich los sind! Danke, Gregor, nett, dass du mich daran erinnerst“, presste Sophie hervor und begann, die zwei Regalbretter zu leeren, auf denen hauptsächlich T-Shirts und Pullis sowie Unterwäsche von ihr lagen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie außer ihren Reitsachen und Alltagskleidung nicht viel von zu Hause mitgenommen hatte. Wie hätte sie die Sachen auch vermissen sollen, wo sie nur in den Supermarkt und in den Stall ging?

„Mach dich doch nicht lächerlich …“, verfolgte Gregor stirnrunzelnd das Geschehen, „… wo willst du schon hin? Du hast keinen Cent und zu deinen Eltern kannst du nicht.“

„Das lass mal meine Sorge sein. Du hast mir heute Abend sehr deutlich gemacht, dass du mich weder brauchst noch liebst. Was soll ich also noch hier?“

Entgegen ihrer sonstigen Ordnungsliebe warf Sophie Kleidung und Schuhe, so wie sie ihr in die Hände kamen, in die riesigen Taschen. Im Bad sammelte sie ihre Kosmetikartikel ein, riss den Ringordner mit ihren persönlichen Dokumenten aus dem Schrank, die glücklicherweise alle in einem abgeheftet waren, und verstaute schlussendlich die wenige Schmutzwäsche in einem Plastikbeutel, bevor sie die zwei Jacken, die noch an der Garderobe hingen, obenauf packte.

Gregor, der sie mit verschränkten Armen beobachtete, verzog keine Miene. Er schien sich ziemlich sicher zu sein, dass sie nur bluffte. Dass er keinerlei Anstalten machte, sie in ihrem Tun aufzuhalten, bestätigte sie nur noch mehr in ihrem Entschluss, zu gehen. Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem beschissenen Leben tue, schwor sich Sophie.

Als sie jedoch nach ihrer Handtasche griff, die auf einem alten Garderobenschränkchen offen dastand, schlug er sie ihr plötzlich aus der Hand, sodass sich der gesamte Inhalt auf dem Boden verteilte: Schlüssel, Geldbörse, Schminkutensilien und … das Päckchen mit der Antibabypille.

Er sog scharf die Luft ein. „Ach so ist das!“ Seine Worte hatten einen gefährlichen Unterton bekommen. „Dann konnte das mit der Schwangerschaft ja nichts werden.“

Er kam ihr bedrohlich nahe und fixierte sie wie eine Schlange das Kaninchen, bevor er sie blitzschnell an den Oberarmen packte und mit voller Wucht rücklings gegen die Wand knallte. „Du bist so ein verdammt mieses Weibsstück!“

„Lass mich los!“, keuchte Sophie, deren Kopfschmerzen unter der Anstrengung wieder grell aufflackerten. „Du tust mir weh.“

„Und du tust mir weh!“ Er rückte von ihr ab. „Sag mir sofort, warum du mich so fies belogen hast.“

„Falsch!“, fauchte sie ihn an. „Du hast es nicht für nötig befunden, mich zu fragen, ob ich schwanger werden will! Du bist davon ausgegangen, dass du allein bestimmen kannst, wie und wann etwas zu sein hat.“

„Das stimmt nicht.“

„Doch! Und wie das stimmt. Tut mir leid, Gregor, dich so enttäuschen zu müssen, aber das lasse ich nicht mit mir machen. Du behandelst mich, als wäre ich dein Eigentum.“

„Schwachsinn. Wir haben tausendmal darüber geredet …“

„Wie bitte? Das wüsste ich. Und wann soll das gewesen sein, he, wo du doch nie da bist? Ich denke, du verwechselst da was. Du hast mit unseren Vätern darüber geredet“, krächzte sie und presste sich die Hand an die Stirn. „Genau so, wie du mit ihnen über meine Mitarbeit in eurer Firma gesprochen hast.“ Sie drängte sich an ihm vorbei. „Am besten du besprichst das hier auch mit ihnen. Wir beide haben nämlich nichts mehr zu bereden. Hat sich erledigt, Gregor. Endgültig!“

Sie ging in die Hocke, um den Inhalt ihrer Tasche aufzulesen, und richtete sich wieder auf. Ihr Kopf drohte bei jeder Bewegung zu platzen. „Besser, du siehst dich nach einer intelligenteren Frau um. Einer, die dir drei oder vier Kinder schenkt, keinen Wert auf gemeinsame Gespräche legt, sich von dir alles vordiktieren lässt und der es total egal ist, wann du Feierabend machst.“

Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, schulterte sie die Handtasche, schnappte sich die prallvollen Ikea Tüten und sah sich auf dem Boden um, ob sie nichts liegen gelassen hatte.

Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

„Mal sehen, wie lange du brauchst, bis du wieder angekrochen kommst“, brüllte er markerschütternd hinter ihr her, während sie die Stufen hinunterlief. „Und eins kannst du glauben: Für den Gaul kriegst du keinen Euro mehr von mir! Keinen mickrigen Cent. Hast du das gehört?“

Sophie erschauerte. Als hätte sich der Teufel an ihre Fersen geheftet, verließ sie das Haus. Was war nur aus dem Gregor geworden, in den sie sich verliebt und mit dem sie sich so verbunden gefühlt hatte? Seit der Hochzeit war er zu einer völlig fremden Person mutiert, die ihr jetzt richtiggehend Angst machte. Kaltschnäuzig, selbstgefällig und egoistisch. Ihr schlotterten die Knie, als sie ihre Habseligkeiten in den Audi warf und losfuhr. Sie fror. Und das an einem milden Apriltag. Es schien, als wäre alles in ihr zu Eis erstarrt. Ein Zustand, den sie in Gregors Nähe in den letzten Wochen häufiger empfunden hatte. Ein weiteres Zeichen dafür, dass es kein Zurück gab.

Doch wohin sollte sie jetzt gehen? Zu ihren Eltern? Großer Gott, sie würden ihr die Hölle auf Erden bereiten. Genauso wie ihre Schwestern. Eine Familie, die diesen Namen auch verdiente, besaß sie nicht. Alles nur Attrappe. An Materiellem hatte es ihr nie gemangelt, jedoch an aufrichtiger Zuneigung, Verständnis und Mitgefühl. Lediglich ihre Großeltern, die Eltern ihres Vaters Bernhard, hatten ihr das Gefühl gegeben, geliebt zu werden. Leider war auch Oma Edelgard – nachdem ihr Großvater ihr schon länger vorausgegangen war – im letzten Jahr unerwartet an Herzversagen gestorben. Ob ihre Oma geahnt hatte, dass die Beziehung zwischen Sophie und Gregor in die Brüche gehen würde? Anscheinend ja. Dafür sprach das großzügige Erbe, das sie ihr hinterlassen hatte. Natürlich hatten auch ihre Schwestern von ihr geerbt, doch Sophies Anteil war höher als der ihrer Schwestern. Mit Vollendung ihres dreißigsten Lebensjahres würde ihr das Vermögen zur Verfügung stehen. In dem Brief, den der Nachlassverwalter und Rechtsanwalt Sophie von ihrer Großmutter übergeben hatte, hatte Edelgard ihre Gründe dafür aufgeführt. Sie wollte, so stand da handschriftlich geschrieben, dass Sophie genügend Zeit zur persönlichen Reife bekäme, bevor sie dann selbst entscheiden könnte, wie sie ihr Leben gestalten wollte. Mit dem Wissen von jetzt schien es beinahe so, als hätte ihre Großmutter hellseherische Fähigkeiten besessen. Sie seufzte. Trotzdem. Es waren noch über sechs Jahre, die sie überbrücken musste. Ihr derzeitiger Kontostand wies allerhöchstens tausend Euro auf. Taschengeld von Gregor, das er ihr sporadisch hatte zukommen lassen und das sie bislang nicht gebraucht hatte.

 

Am nächsten Morgen erwachte Sophie durch ein sanftes Stupsen und Schnauben. Blinzelnd erkannte sie die samtige Nase ihrer Stute Gipsy und glaubte zu träumen, bis sie den steinharten Boden unter sich ausmachte, der ihr schmerzhaft verdeutlichte, dass es kein Traum war – eher ein Albtraum. Ihr ganzer Körper schmerzte von der unbequemen Haltung, in der sie sich auf einer Decke, die sie stets im Wagen aufbewahrte, wiederfand. Dennoch musste sie irgendwann eingeschlafen sein. Ächzend richtete sie sich auf und fasste sich an die Stirn. Wenigstens waren die pochenden Kopfschmerzen weg.

Wie in einem Filmabspann lief der vergangene Abend vor ihrem inneren Auge ab. Nachdem sie sich an einer Autobahnraststätte etwas zu essen besorgt und den Wagen vollgetankt hatte, war sie wie fremdgesteuert zu Gut Freyenhof gefahren, wo der Spätdienst gerade dabei gewesen war, die Tore zu schießen. Mit einer Wolldecke unter dem Arm war sie schließlich unbemerkt zu Gipsy in die Box geschlichen und musste dann eingeschlafen sein.

Das Quietschen des Stalltors unterbrach ihre Gedanken. Sie hörte Stimmen – junge Stimmen – von einer Frau und einem Mann, die sich auf dem breiten Stallflur vor den Boxen zu schaffen machten. Das Schaben einer Schubkarre war zu hören, Holzstiele, die aneinander knallten, und Eimer, die mit gemahlenem Getreide gefüllt wurden.

Sophie checkte die Uhrzeit auf dem Handy. Knapp halb sieben. Logisch, dass das Stallpersonal seine Arbeit verrichtete – Ställe ausmistete, neues Stroh verteilte sowie Futter- und Wasserbehälter auffüllte.

Das riesige Stalltor quietschte erneut. Von draußen kam noch jemand dazu. Scheiße! Was sollte sie um Himmels willen antworten, wenn man sie nach dem Grund ihres Hierseins befragte? Zeit zum Überlegen bekam sie allerdings nicht mehr, denn im gleichen Moment wurde die Tür zur Box von außen geöffnet.