Leseprobe Kinderseelen

Es hatte ein romantischer Ausflug werden sollen. Doch dann fing sie an zu nörgeln. Das tat sie immer. Er liebte sie, aber diesen quengelnden Tonfall, der sich dicht am Heulen entlanghangelte, konnte er nicht ertragen. Was dachte sie sich dabei? Er hatte sich so viel Mühe gegeben. Frei genommen, alles bis ins Detail geplant. Die malerische Burgruine, die sie ganz für sich allein haben würden. Weiche Decken, Sandwiches und ihre Lieblingslimonade, alles hatte er dabei. Ihr zuliebe war er mit seinem Wagen bis tief in den Wald hineingefahren, damit sie nicht so weit laufen mussten. Er wusste schließlich, dass sie keine gute Läuferin war. Sogar die Sonne spielte mit. Es war ein wundervoller, ungewöhnlich warmer Herbstnachmittag. Alles war perfekt.

Sie hätten sich nahe sein können, ohne gestört zu werden. Alles wäre möglich gewesen. Er hätte sanft und behutsam sein können. Oder sie hätten sich von ihrer Leidenschaft hinwegtragen lassen. Er wusste, wie leidenschaftlich sie sein konnte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie sich ihm hingab. Sie war eine wundervolle Geliebte. So zart und sanft, dass sie ihn manchmal an einen kleinen Vogel erinnerte, den er beschützen musste. Dann wieder konnte sie aufbrausend sein und störrisch. Sie schlug sogar nach ihm, wenn ihr Temperament mit ihr durchging. Sie war kein unkomplizierter Charakter, aber auch dafür liebte er sie. Und zweifellos liebte sie ihn.

Nur wenn sie jammerte und rumheulte, verabscheute er sie. Sie wusste genau, dass sie ihn damit zur Weißglut trieb. Warum nur tat sie es dann ständig? Vielleicht wollte sie ja, dass er sie schlug. Es gab solche Frauen. Sie trieben die Männer, die sie liebten, dazu, ihnen wehzutun. Immer und immer wieder. Diese Frauen machten ihre Männer mit voller Absicht wütend. Sie hatte ihn mit voller Absicht wütend gemacht. Hatte einfach nicht aufgehört. Obwohl er sie gebeten hatte, still zu sein. Er hatte gefleht und gebettelt. In seiner Verzweiflung hatte er ebenfalls geweint. Und er schämte sich seiner Tränen nicht. Am Ende dieses gemeinsamen Ausbruchs hatten sie sich geliebt. Auf diese wütende Art, die keinen Raum für Zärtlichkeit ließ. Die dazu diente, etwas freizusetzen. Etwas, das normalerweise tief in seinem Innern eingesperrt war, aber im Taumel der Leidenschaft Ketten sprengte und Zellentüren aufbrach. Etwas, das mit Macht nach Frieden suchte und ihn nur in den duldsamen Armen der Geliebten finden konnte.

Nun war er ganz ruhig. Nichts konnte ihn mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Er war mit sich und der Welt im Reinen. Er wusste, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde. Aber hier und jetzt genoss er es. Er schaute auf sie herunter. Ganz ruhig lag sie neben ihm. Erschöpft von seinem hemmungslosen Begehren und der eigenen wilden Antwort darauf. Er würde sie noch ein wenig schlafen lassen. Er beugte sich zu ihr herab und strich ihr sanft über die weichen blonden Locken. Schließlich wickelte er sie fest in die große rote Decke. Sie sollte sich nicht erkälten. Seufzend begann er, die Sachen in den Picknickkorb zu räumen, die während ihrer wilden Jagd herumgefallen waren und nun überall verstreut lagen. Sie war tatsächlich vor ihm weggelaufen, seine wilde kleine Meerjungfrau. Er lächelte versonnen. Als alles zum Aufbruch bereit war, nahm er sie behutsam in die Arme und trug sie auf den kleinen Balkon, der an einer Seite der Ruine in den Wald hineinragte. Vorsichtig legte er sie auf einem Mauervorsprung ab, der groß genug war, dass sie sich im Schlaf umdrehen konnte. Hier konnte sie ruhen. Es versetzte ihm einen Stich, sie zurückzulassen. Doch er wusste, dass es nicht anders ging. Sie konnten nicht so weitermachen. Es war vorbei. Sie würden sich hier und jetzt trennen, auch wenn es schmerzhaft war. Sanft beugte er sich zu ihr hinunter, atmete ihren scharfen Geruch ein und streichelte die zarte Haut ihrer Wangen. Dabei bemühte er sich, die blauen Male an ihrem Hals nicht zur Kenntnis zu nehmen. Da war sie selbst schuld, und das wusste sie auch. Noch einmal schaute er ihr in die schönen hellblauen Augen mit dem dunklen Kranz, die ihn ohne jede Regung anzustarren schienen. Wie sehr er diese Augen liebte. Dann wickelte er das lose Ende der Decke fest um ihren Kopf, drehte sich um und verließ die Ruine durch den Eingang, der dem Balkonausgang genau gegenüberlag. Er drehte sich nicht um, das hatte keinen Sinn. Aber als er an seinem Wagen ankam, war der Kragen seines Hemdes von Tränen durchnässt.

1

Als die Türglocke ging, zuckte Sina Lehmann zusammen. Unwillkürlich glitt ihr Blick zur Uhr am unteren Rand des Fernsehbildschirms. Fünf nach acht. Um diese Zeit bekam sie normalerweise keinen Besuch mehr. Misstrauisch blickte sie zum dunklen Flur hinüber, machte aber keine Anstalten aufzustehen. Der Nachrichtensprecher verkündete gerade, dass es im Fall der kleinen Valerie keine neuen Erkenntnisse gebe. Das Kind blieb verschwunden. Ein Foto der Vierjährigen war links über der Schulter des Sprechers eingeblendet. Sinas Blick glitt über das hübsche Kleinmädchengesicht und die langen blonden Locken, die es einrahmten. Beinahe konnte sie spüren, wie weich das Haar sich unter den zärtlichen Händen einer glücklichen Mutter anfühlen musste. Nur dass Valeries Mutter derzeit alles andere als glücklich war. Ihr kleines Mädchen war seit mehr als zwei Wochen verschwunden. Zu lange, wie Sina wusste. Schließlich hatte sie einige Jahre für die Koblenzer Kripo gearbeitet und kannte die Regeln: Je länger ein Kind vermisst wurde, umso unwahrscheinlicher war es, dass man es lebend fand. Nach achtundvierzig Stunden waren die Chancen statistisch betrachtet bereits gegen null gesunken. Andererseits wusste niemand so gut wie sie selbst, dass es auch ganz anders laufen konnte.

Es klingelte erneut. Ungeduldig diesmal. Wer immer dort draußen stand, wusste, dass sie zu Hause war, und wollte unbedingt herein. Sina zögerte. Asha, die bislang seelenruhig auf ihrem Kissen geschlafen hatte, spitzte die Ohren, öffnete ein Auge und schaute ihre Herrin fragend an. Ein leises Grollen kam aus ihrer Kehle. Die Hündin würde gleich aufspringen und ein Heidenspektakel veranstalten. Das ließ sich nur vermeiden, indem sie selbst die Initiative ergriff und damit ihrer Rolle als Rudelführerin gerecht wurde.

„Ist alles in Ordnung, Sina? Soll ich zur Tür gehen?“

Alex hatte sie schon eine ganze Weile beobachtet. Jetzt erhob er sich und schlüpfte in seine Schuhe, die er ausgezogen hatte, als er es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte.

Sina schüttelte den Kopf und lächelte ihn freudlos an, während sie sich aus ihrem ledernen Ohrensessel schälte.

„Nein, ist schon gut. Ich habe nur einfach keine Lust auf Besuch. Aber wer immer vor der Tür steht, wird wohl nicht einfach wieder gehen.“

Zur Bestätigung klingelte es erneut. Asha sprang auf und postierte sich bedrohlich knurrend im dunklen Flur, wo sie die Eingangstür fest ins Visier nahm. Sina schlüpfte in ihre Birkenstocks, zog sich das T-Shirt glatt und zwängte sich an Asha vorbei.

„Ist schon gut, Liebes. Geh wieder auf deine Decke. Ich kümmere mich darum.“

Sofort zog die kniehohe weiße Hündin sich zurück und überließ Sina das Feld. Allerdings würde sie wachsam bleiben. Genau wie Alex. Im Notfall wären sie beide innerhalb von Sekunden an ihrer Seite. Dieses Wissen gab Sina ein gutes Gefühl.

Das Licht ließ sie ausgeschaltet.

Sie wollte ihrem ungebetenen Besucher keinen unnötigen Vorteil verschaffen. Trotzdem brauchte sie eine Weile, um den gepflegten älteren Herrn einzuordnen, der so unnachgiebig Einlass gefordert hatte und nun ungeduldig vor ihrer Tür wartete. Es war dieser Unmut, der sie schließlich auf die richtige Fährte brachte.

Gerald Baumgarten, erfolgreichster Unternehmer im Großraum Koblenz, war es nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ. Sein Begrüßungslächeln fiel entsprechend gezwungen aus.

„Sabrina, meine Liebe. Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, ich schaue mal nach, wie es dir geht.“

Ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hätte, betrat der Unternehmer den Flur und küsste sie erst rechts und dann links auf die Wange. Auch dazu hatte sie ihn nicht ermuntert.

Kaum hatte er sie wieder freigegeben, steuerte Baumgarten ihr Wohnzimmer an, wo die noch immer vor sich hin knurrende Asha seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Wie ich sehe, wirst du gut beschützt.“

Seine Abneigung gegen die Hündin konnte er kaum verbergen.

Sina, die hinter ihm ins Zimmer getreten war, blickte kurz zu Asha hinüber, was diese sofort verstummen ließ. Allerdings behielt sie den unwillkommenen Gast im Auge.

Erst jetzt schien Baumgarten Alex zu bemerken, der noch immer neben dem Sofa stand und ihm die Hand entgegenhielt.

„Alexander Bierbrauer. Ich bin ein Freund von Sina.“

Mit deutlicher Missbilligung ergriff Baumgarten Alex’ Rechte. „Gerald Baumgarten. Ich bin ein Freund von Jan.“

Als sei damit alles gesagt, wandte er sich Sina zu.

„Entschuldige, dass ich einfach hier hereinplatze, aber ich dachte, wir könnten uns kurz unterhalten.“

Alex verstand den Wink und griff nach seinen Wagenschlüsseln, die auf dem kleinen Wohnzimmertisch gelegen hatten.

„Ich muss ohnehin zum Dienst.“ Er hauchte Sina einen Kuss auf die Wange und war innerhalb von Sekunden verschwunden.

Eine Welle des Zorns stieg in Sina auf. Baumgartens selbstgefällige Art gefiel ihr nicht. Sie wusste, dass er Jan ein väterlicher Freund gewesen war und ihm beim Aufbau seiner Firma geholfen hatte. Aber Jan war tot, und sie selbst dachte nicht im Traum daran, dem dominanten Unternehmer einen Platz in ihrem Leben einzuräumen. Auch deshalb bugsierte sie ihn in die formellere Essecke statt auf die gemütliche Couch. Am liebsten hätte sie ihm nicht einmal einen Kaffee angeboten, aber schließlich war er ein enger Freund ihres Mannes gewesen. Also ging sie in die Küche, startete die hochmoderne Maschine und ließ den gewünschten Cappuccino in eine extragroße Tasse laufen.

„Was kann ich für dich tun?“

Sie schoss die Frage ab, kaum dass das Getränk vor Baumgarten stand.

Der ließ sich von Sinas Ruppigkeit nicht beeindrucken.

„Einer meiner leitenden Mitarbeiter zieht hier in die Nachbarschaft, deshalb war ich in der Nähe. Er kommt aus unserem Werk in Tschechien. Guter Mann. Ich habe das Haus für ihn gemietet. Man muss heute einiges investieren, wenn man Spitzenleute halten will.“

Er lächelte sie an. Ganz der Mann von Welt.

Sina sagte nichts. Ihr stand nicht der Sinn danach, Interesse zu heucheln. Sie wollte Baumgarten nur schnellstmöglich loswerden. Doch der hatte offenkundig nicht vor, so bald zu verschwinden.

„Weißt du, ich dachte, du könntest dich ein wenig um diese Leute kümmern. Sie wohnen schräg gegenüber, in dem Haus des alten Markwort.“

Der alte Herr war vor einigen Monaten gestorben, und seine Erben hatten lange versucht, das Anwesen zu verkaufen. Allerdings waren ihre Preisvorstellungen selbst für den noblen Wingertsberg völlig überzogen gewesen. Schließlich stand ihr Haus in Neuwied, nicht in Köln. Nun lebte also Baumgartens Mitarbeiter dort. Sina konnte nicht behaupten, dass ihr der Gedanke gefiel. Und ganz sicher hatte sie nicht vor, engen Kontakt zu Menschen zu suchen, die dem Unternehmer zu Dank verpflichtet waren und ihm alles, was sie tat und sagte, zutragen würden.

„Betterfeld ist ein netter Kerl. Seine Frau ist ein wenig gehemmt. Russin eben. Fremdes Land, keine Freunde. Du weißt schon. Die jüngere Tochter ist ein Schatz. Die ältere – na ja, sie ist sechzehn. Schwieriges Alter. Du kannst doch gut mit Jugendlichen …“

Offenkundig hatte Jan ihm erzählt, dass sie früher als Sozialpädagogin bei der Koblenzer Kripo viel mit Kindern gearbeitet hatte, die in Kriminalfälle verwickelt waren. Und womöglich wusste er sogar, dass sie nach Jans Tod ihren beruflichen Schwerpunkt wieder auf die Therapie von Kindern und Jugendlichen gelegt hatte. Er hatte sich über sie erkundigt. Sina war wütend, aber sie wusste, dass jeder offene Streit mit Baumgarten ihm noch mehr über sie und ihren seelischen Zustand verraten hätte. Also schwieg sie.

Der Unternehmer ignorierte es. „Doch kommen wir zum Wichtigsten: Wie geht es dir, meine Liebe? Du weißt ja, dass Maja und ich jederzeit für dich da sind. Jan war wie ein Sohn für uns. Deshalb solltest du dich nicht scheuen, uns als deine Familie zu betrachten.“

Sina musste sich eine zynische Bemerkung verkneifen. Gerald Baumgarten wusste genau, dass Jan ein ausgesprochen distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt hatte und dass es ihr, seiner Witwe, nicht anders ging. Ihre eigenen Eltern waren gestorben, als sie gerade fünf Jahre alt war. Der Gedanke, stattdessen mit den gesellschaftlich hochgestellten Baumgartens zu verkehren, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Schon damals, als Jan noch lebte, hatte sie den Kontakt auf das unumgängliche Maß reduziert. Baumgartens waren allein seine Sache gewesen, und das nicht nur, weil Sina das affektierte Gehabe der „besseren Kreise“ unerträglich fand. Vor allem Maja Baumgarten, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte und damit nur mäßig zurechtkam, war ihr regelrecht zuwider. Aber auch Gerald selbst löste bestenfalls widersprüchliche Gefühle in ihr aus. Zwar wirkte er auf den ersten Blick sympathisch und sogar großzügig. Aber er hatte eben auch diese selbstgefällige und bestimmende Art, die Sinas Freiheitstrieb radikal entgegenlief.

„Das ist nett von euch. Aber ich komme gut allein zurecht. Trotzdem danke.“

Nur die steile Falte über Gerald Baumgartens Nasenwurzel verriet seine Verärgerung. „Das ist doch Unsinn, Sina. Man hat niemals genug Freunde. Außerdem weißt du genau, dass ich viel für dich tun kann. Schließlich musst du dir überlegen, wie es für dich weitergehen soll. Jan ist seit über einem Jahr tot …“

„Ich komme klar.“

Sina sah ihn direkt an. Mehr als Worte es vermocht hätten, signalisierte der kühle Blick ihrer dunklen Augen ihm, dass er im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten.

Doch Grenzen hatten Gerald Baumgarten noch nie aufgehalten. „Du bist doch nicht etwa wieder mit diesem Polizisten zusammen?“ Er fixierte sie mit seinem Chef-Blick, doch Sina hielt ihm stand. „Das geht mich zwar nichts an, aber wir beide wissen, was Jan davon halten würde. Er hat diesen Kerl verabscheut …“

Sina platzte der Kragen, was sich bei ihr darin äußerte, dass ihr Blick zu Eis erstarrte.

„Du hast recht, Gerald. Das geht dich nichts an. Und bevor du dich noch tiefer in meine Angelegenheiten einmischst, gehst du besser.“

Dieser glatte Rauswurf ließ selbst Baumgarten zögern. Doch er gab sich noch nicht geschlagen.

„Aber Sina, ich will dir doch gar nicht in dein Leben reinreden. Wie ich dir schon sagte, stand Jan unserer Familie sehr nahe. Vielleicht ist dir gar nicht klar, wie eng unsere Beziehung war. Bevor er dich kennenlernte, lebte er praktisch bei uns. Er ist mehr oder weniger bei uns aufgewachsen.“

Sina ärgerte sich über den kaum verhüllten Vorwurf, der aus diesen Worten sprach, aber sie wusste auch, dass Gerald Baumgarten nicht übertrieb. Er hatte Jan tatsächlich das Zuhause geboten, das er bei seinen egozentrischen Eltern schmerzlich vermisst hatte. Dennoch sträubte sich ihr Innerstes dagegen, auf Baumgarten einzugehen.

„Ich frage mich nur, wie du ausgerechnet zu diesem Polizisten zurückkehren kannst, wenn du Jan wirklich geliebt hast. Damit besudelst du sein Andenken, Mädchen.“

Das war zu viel.

„Nun, vielleicht liegt es ja daran, dass dieser Polizist mich aus den Fängen eines psychopathischen Serienkillers befreit hat, nachdem Jan mich diesem Irren auf dem Silbertablett serviert hat. Soll ich ihm dafür dankbar sein? Ich könnte ebenfalls tot sein, und das wäre ganz allein seine Schuld.“

Gerald Baumgarten hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen. Allerdings hielt dieser Zustand nur wenige Sekunden an.

„Nun, meine Liebe. Diese Einschätzung scheint mir doch arg übertrieben und sehr subjektiv, meinst du nicht auch? Aber ich sehe sehr deutlich, wie angegriffen du noch bist. Falls du dich dazu entschließen kannst, meine Hilfe anzunehmen, lass es mich wissen. Ich werde dir dein heutiges Verhalten nicht nachtragen. Melde dich einfach, wenn du so weit bist. Und mach dir keine Mühe: Ich finde allein raus.“

Er stand auf und ging Richtung Flur, blieb dann aber noch einmal stehen.

„Ach ja, die Sache mit der Firma kann womöglich nicht so lange warten, bis du dich von deinem Trauma erholt hast. Wenn du verkaufen willst, lass es mich wissen. Ich habe Jan geholfen, den Laden aufzubauen. Ich werde dir helfen, einen guten Käufer zu finden.“

Sina schaute ihn einen Augenblick schweigend an. Sie war wieder völlig ruhig.

„Ich will nicht verkaufen.“

Baumgarten blickte sie entgeistert an.

„Also bitte, Sina. Du hast nicht die geringste Ahnung vom Geschäft. Was meinst du, wie schnell du den Betrieb runtergewirtschaftet hast? Das Unternehmen ist zwar klein, aber es war Jans Lebenswerk. Willst du ihn bestrafen, indem du alles zerstörst, was er für euch beide aufgebaut hat?“

Baumgarten schüttelte missbilligend den Kopf.

Sina drehte sich wortlos um und ging zum Sofa. Nach wenigen Sekunden hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Sie fühlte sich, als habe sie eine Schlacht geschlagen, die ihre letzten Reserven verbraucht hatte. Das Schlimmste war, dass sie nicht einmal sagen konnte, wer dieses Scharmützel gewonnen hatte.

2

Es war keiner von den guten Tagen im Leben von Kriminalrat Jochen Berg. Schon vor dem Frühstück hatte es einen heftigen Streit mit seiner Frau gegeben. Weil er vergessen hatte, am Abend zuvor die Mülleimer rauszustellen, und Sandra kurz nach sechs im Joggingdress auf die Straße hechten musste, als sie das Getöse des Müllautos in der kleinen, verkehrsberuhigten Straße gehört und sein Versäumnis bemerkt hatte. Zum Glück wohnten sie ganz hinten in der Sackgasse. Die Jungs von der Müllabfuhr hatten auf Sandra gewartet, und zum Dank hatte sie ein wenig mit ihnen geflirtet. Er hatte die Männer bis in den ersten Stock strahlen sehen. Klar, Sandra war ja auch eine Augenweide. Die kurzen dunklen Haare lässig zerzaust, Jogginghose und T-Shirt klebten wie eine zweite Haut an ihren makellosen Rundungen, und die großen blauen Augen sprühten vor Lebensfreude. Wenigstens so lange, bis sie wieder im Haus war. Denn kaum hatte sie ihren frisch geduschten und völlig entspannten Ehemann entdeckt, verwandelte sich die quirlige Sommerbrise in einen üblen Gewittersturm und die eben noch strahlenden Augen sprühten Blitze.

Wie immer bei solchen Gelegenheiten hatte sie ihn daran erinnert, dass sie nicht sein Dienstmädchen sei und dass sie ohnehin viel mehr im Haushalt erledige als er. Wie immer hatte Jochen dazu gar nichts gesagt. Das hatte sie wie immer noch wilder gemacht, was ihn in seiner Taktik bestärkte. Ignorieren unerwünschten Verhaltens war die in seinen Augen bei Weitem sinnvollste Lektion, die er in unzähligen Fortbildungen und Deeskalationstrainings kennengelernt hatte. Auch wenn sie in diesem Fall eher als Provokation gemeint war und ebenso aufgenommen wurde. Er wusste, dass Sandra es hasste, wenn er sie in ihrem gerechten Zorn auflaufen ließ. Aber schließlich wusste Sandra auch, wie wichtig es für ihn war, seinen Tag in Ruhe beginnen zu können. Sie waren ja lange genug verheiratet.

Allerdings hatte Sandra noch nie viel Rücksicht auf seine Befindlichkeiten genommen. Früher fand er das reizvoll. Hatte die Leidenschaft, mit der sie ihre Interessen verfolgte, als sinnvolle Ergänzung für seine eher nüchterne Weltsicht betrachtet. Doch das war lange her. In letzter Zeit fragte er sich häufig, ob ihre Ehe überhaupt noch einen Sinn ergab, und er hatte das deutliche Gefühl, dass Sandra sich diese Frage bereits länger stellte als er – und zu einem eindeutigen Schluss gekommen war. Manchmal fürchtete er sogar, dass sie ihn betrog. Würde sie wirklich so weit gehen? Nicht, dass es ihm sonderlich schwerfallen würde, ohne Sandra weiterzumachen. Aber falls sie ihm Hörner aufsetzte, wäre das eine Demütigung, die er nicht so leicht wegstecken könnte. Dann würde die Trennung wirklich unangenehm. Vor allem für Sandra.

„Du solltest das hier anziehen, sonst gibt es gleich ein Donnerwetter.“

Hauptkommissarin Bettina Engelmann hielt ihrem Chef den obligatorischen Schutzanzug samt Gummihandschuhen und Schuhüberziehern entgegen und riss ihn damit aus seinen trüben Gedanken. Schließlich waren sie an einem Tatort. Da latschte man nicht in Straßenklamotten bis zur Leiche durch. Es sei denn, man wollte es sich für alle Zeiten mit dem Rechtsmediziner und den Kollegen von der Spurensicherung verderben.

„Ist alles okay mit dir? Du wirkst schon den ganzen Tag angespannt.“

Seine Begleiterin schaute ihn skeptisch an. Jochen Berg lächelte zu der zierlichen brünetten Kollegin hinunter.

„Ja, alles in Ordnung. War nur ein langer Tag. Aber danke der Nachfrage, Engelchen.“

Sein Grinsen war breiter geworden, als er Bettina Engelmann mit ihrem Spitznamen ansprach. Denn eigentlich war er einer der wenigen, die diese naheliegende Verballhornung ihres Namens nicht benutzten. Gute Freunde und ganz mutige Kollegen taten es offen, die anderen hinter ihrem Rücken. Bettina „Betty“ Engelmann konnte ihren Spitznamen in Wahrheit gut leiden, das wusste er. Aber das würde sie nie und nimmer zugeben. Doch jetzt erwiderte sie Jochen Bergs Lächeln und boxte ihm scherzhaft auf den Oberarm.

„Pass auf, dass der Engel dir nicht eine ordentliche Abreibung verpasst.“

Mittlerweile hatten sie sich den Vorschriften entsprechend vermummt und betraten den Flur des geräumigen Einfamilienhauses im Neuwieder Stadtteil Engers. Ein uniformierter Beamter deutete auf eine dunkle Holztreppe, die vom Wohnzimmer aus schnurgerade auf eine offene Galerie führte. In den frühen Achtzigern war dieser Baustil der Inbegriff von Luxus gewesen. Viel offener Raum, großzügige, aber völlig nutzlose Flächen, braune Fliesen und jede Menge dunkles Holz. Der düstere Eindruck wurde lediglich durch die bodentiefen Fenster aufgelockert, die den Blick auf die ebenfalls mit dunklem Holz belegte Veranda freigaben. Jochen Berg konnte nicht umhin, sich Gedanken über die Stromkosten zu machen, die bei einem solchen Kasten anfielen. Energieeffizienzklasse Z. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf und dachte an sein gemütliches Haus in Ransbach, das sie vor zehn Jahren nach den neuesten Erkenntnissen energetischer Baukunst geplant hatten. Falls Sandra sich scheiden lassen wollte, würde sie ausziehen müssen. Er würde das Haus auf keinen Fall aufgeben. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Betty ihn erneut kopfschüttelnd musterte.

„Schon gut. Ich habe nur überschlagen, was diese Hütte an Energie frisst, und da ist mir ein bisschen schummrig geworden.“

Das Kopfschütteln verstärkte sich.

„Mann, Jochen. Du bist selbst in anderer Leute Angelegenheiten kleinlich. Aber falls es dir ein Trost ist: Die nächste Stromrechnung dürfte die geringste Sorge von Herrn Vetter sein.“

Sie waren vor der offenen Schlafzimmertür angekommen und blickten in den Raum, in dem kaum weniger Betriebsamkeit herrschte als an einem Samstagmorgen in der Kölner Schildergasse. Nur der Hausherr ließ sich davon nicht anstecken. Er lag ausgestreckt auf seinem Bett mit einer klaffenden Wunde in seinem Hals und einem riesigen Loch in der Brust.

Bettina Engelmann drängelte sich an zwei Spusi-Leuten vorbei und schob sich neben Dr. Martin Anhäuser, den Chef der Bonner Rechtsmedizin. Mit einem kaum merklichen Zögern folgte Jochen Berg ihr. Verdammt, die Zeiten, in denen er an Tatorten herumlief und sich durch den Anblick verstümmelter Leichen die Lust aufs Abendessen verderben ließ, sollten längst vorbei sein. Dafür hatte er als Chef des Kommissariats 11, das landläufig als Mordkommission bezeichnet wurde, schließlich seine Leute. Erschwerend kam hinzu, dass er alle Fortbildungen absolviert hatte, die er benötigte, um zum Kripoleiter aufzusteigen – sobald die entsprechende Stelle frei wurde. In Jochen Bergs Augen waren das gute Gründe, andere die Krauterarbeit machen zu lassen. Aber der Polizeipräsident hatte ihn angerufen und aufgefordert, sich persönlich um diese Angelegenheit zu kümmern. Ulrich Vetter war schließlich nicht irgendjemand, sondern Mitglied des Neuwieder Stadtrates – und ein enger Freund von Klaus-Dieter Schmengler, von allen K.-D. genannt und eben besagter Leiter des Koblenzer Polizeipräsidiums.

Weder der eigene Promi-Status noch die Freundschaft zum mächtigsten Polizisten der Region hatten dem Lokalpolitiker viel genutzt.

„Ist es das, wonach es aussieht?“

Jochen Berg schaute Dr. Anhäuser nicht an, denn er konnte den Blick nicht von dem Krater in Ulrich Vetters Brust abwenden.

Anhäuser, der gerade voller Hingabe die ausgefranste Halswunde in Augenschein genommen hatte, sah zu Jochen auf und folgte seinem Blick.

„Ja, ich fürchte, dem guten Mann ist sein Herz abhandengekommen. Ich werde natürlich noch mal genau nachschauen, wenn ich ihn auf meinem Tisch liegen habe. Aber ich denke, es ist weg.“

„Vorher oder nachher?“

Wie in Zeitlupe wandte Jochen Berg sich dem Mediziner zu.

Der blickte ihn einen Augenblick irritiert an. Dann hellte sich seine Miene auf.

„Ach, Sie meinen, ob er noch lebte, als sein Brustkorb geöffnet wurde? Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, er ist an dem hier gestorben.“

Er deutete auf die durchschnittene Kehle des Toten. Die Wunde zog sich vom einen bis zum anderen Ohr. Für Jochen Berg sah es bei näherer Betrachtung aus, als habe jemand den Hals bis zu den Nackenwirbeln geöffnet.

„Viel angenehmer dürfte das auch nicht gewesen sein“, bestätigte Dr. Anhäuser seine Befürchtungen. „So ausgefranst, wie die Wundränder sind, gehe ich von einem Schneidewerkzeug mit unregelmäßigem Wellenschliff aus. Ich tippe auf einen Fuchsschwanz.“

Jochen Berg, der zu Sandras anhaltender Enttäuschung nicht eben ein begnadeter Handwerker war, brauchte einen Moment, bis ihm das passende Werkzeug zu diesem poetischen Namen vors geistige Auge schwebte.

„Oh, Gott.“

Er glaubte nicht, dass er die Säge mit den markanten Zacken jemals wieder anrühren würde. Egal, was Sandra dazu sagte.

3

„Du gefällst mir nicht.“

Linda saß am Frühstückstisch und trank eine Tasse Kaffee, als Sina die Küche betrat. Tatsächlich hatte sie kaum geschlafen und fühlte sich wie gerädert.

„War ’ne furchtbare Nacht.“

Linda nickte nur, stand auf, nahm einen knallgelben Keramikbecher aus dem Schrank und stellte ihn unter den Kaffeeautomaten. Dann drückte sie auf den Knopf für die extragroße Tasse. „Es ist Samstag. Du kannst dich wieder hinlegen, wenn du willst.“

„Nein, schon gut.“

Sina nahm den dampfend heißen Kaffee entgegen und setzte sich.

„Sie haben das Kind noch immer nicht gefunden.“

Linda, die sich ebenfalls wieder hingesetzt hatte, blickte auf die Tageszeitung, die ausgebreitet vor ihr lag und fast den gesamten Tisch bedeckte. Sina sog hörbar die Luft ein.

„Ja, ich hab’s gestern Abend in den Nachrichten gehört. Furchtbar. Sie ist so ein hübsches kleines Ding.“

„Du glaubst nicht, dass sie noch lebt?“

Sina bemerkte die Angst, die sich in Lindas Augen breitgemacht hatte.

„Nein, vermutlich nicht. Aber selbst wenn …“

Linda nickte. Sie wussten beide, was es bedeutete, falls Valerie noch lebte. Schließlich hatten sie es erlebt. Nur knapp waren sie einem irren Massenmörder entkommen. Sina hatte ihn erschossen, weil sie glaubte, sich nur so aus dem Albtraum befreien zu können. Doch wirklich aufgewacht war bislang keine von ihnen. Ihre Männer waren tot, und es gab Nächte, in denen sie das Grauen, das mehr als ein Jahr zurücklag, immer und immer wieder durchlebten.

Seit sie zumindest körperlich in ihr altes Leben zurückgekehrt waren, lebte Linda bei Sina. Ursprünglich sollte es eine vorübergehende Lösung sein, doch schon lange redete keine von ihnen mehr davon, dass Linda in ihr eigenes Haus zurückkehren würde. Sina hätte die Freundin schon deshalb niemals dazu aufgefordert, weil sie sich schuldig fühlte. Schließlich war Linda nur ins Visier des Killers geraten, weil sie ihr nahestand. Und sie selbst war ihm in die Hände gefallen, weil ihr Mann Jan in einem dubiosen Internetforum viel zu viel über sie ausgeplaudert hatte. Die Gedanken, die sie während der Nacht gemartert hatten, kehrten in ihren Kopf zurück.

„Baumgarten war gestern Abend hier.“

Linda schaute sie erstaunt an. Sie wusste, dass Sina den Unternehmer nicht leiden konnte.

„Was wollte er?“

„Sich in mein Leben einmischen, was sonst?“

„Was für eine dumme Idee.“

Sie schwiegen eine Weile.

„Alex war da, als er kam. Das hat ihm natürlich nicht gefallen. Er meinte, ich würde Jans Andenken besudeln, wenn ich mich ausgerechnet mit Alex einlasse.“

Linda zuckte die Achseln.

„Erstens läuft nichts zwischen dir und Alex, und zweitens geht ihn das nichts an, oder?“

„Letzteres hab ich ihm auch gesagt.“

Linda grinste.

„Das hat dem König von Koblenz sicher nicht gefallen. Schade, dass ich nicht dabei war.“

„Stimmt, er wirkte nicht sonderlich amüsiert.“

Sina musste ebenfalls lachen, wurde aber gleich wieder ernst. „Ich habe ihm gesagt, dass meine Entführung Jans Schuld war. Baumgarten war natürlich geschockt.“

Linda wartete, dass ihre Freundin weitersprach. Doch sie blieb stumm.

„Genau wie du selbst …?“

Sina spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Nur mit Mühe bekam sie ihre Stimme unter Kontrolle.

„Bis ich es ausgesprochen habe, wusste ich nicht einmal, dass ich Jan die Schuld an der ganzen Sache gebe. Aber heute Nacht ist mir klar geworden, dass ich eine Scheißwut auf ihn habe. Wie konnte er das nur tun? Ich glaube, ich bin sogar froh, dass er tot ist.“

Die Tränen liefen jetzt ungebremst über Sinas Gesicht und tropften die Zeitung voll.

Linda griff nach ihrer Hand und zog sie sanft an ihre Lippen. Ihre Freundin wusste, dass Sina die Nähe einer Umarmung jetzt nicht ertragen könnte.

„Aber so ist es nicht immer, oder?“

Sina schüttelte den Kopf und schluckte hörbar.

„Nein. Manchmal fehlt er mir unendlich, und dann wünsche ich mir, er könnte mich noch einmal in den Arm nehmen. Nur ein einziges Mal. Damit ich ihm sagen kann, dass ich ihn liebe und dass ich ihm alles verzeihe.“

Linda strich Sina eine Strähne ihres schulterlangen blonden Haares aus dem Gesicht.

„Das schaffst du nicht allein. Du brauchst Hilfe.“

Linda selbst war seit über einem Jahr in Therapie. Genauso lange trainierte sie wie eine Verrückte Tai-Chi. Sie wollte nie wieder so hilflos sein wie damals.

Auch Sina hatte wieder mit ihren Kampfsport-Übungen begonnen. Doch bislang hatte sie sich geweigert, sich psychologische Unterstützung zu suchen. Das lag nicht daran, dass sie diesen Schritt für überflüssig hielt. Sie war nur davon überzeugt, dass die meisten Therapeuten Stümper waren, die im günstigsten Fall keinen allzu großen Schaden anrichteten. Außerdem war es kaum möglich, eine erfolgreiche Therapie zu absolvieren, ohne auf jene Seite ihres Charakters zu schauen, die sie lieber ignorieren wollte. Doch sie wusste, dass Linda recht hatte. Nachdem sie eine Weile lautlos in ihre Tasse geweint hatte, nickte sie ihrer Freundin zu. Schweigend tranken die Frauen ihren Kaffee. Mehr musste zwischen ihnen nicht über die Sache gesprochen werden.

„Erinnerst du dich an die kleine Josy?“, fragte Linda schließlich.

Sina wischte die letzten Tränen fort und überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Sie wurde vor über einem Jahr entführt. Ein paar Wochen bevor … das mit uns passiert ist. Ein kleines blondes Mädchen. Sie war vier, als sie verschwunden ist. Soweit ich weiß, wurde sie nie gefunden.“

Linda streichelte nachdenklich über das Gesicht der kleinen Valerie, das ihnen aus der Zeitung entgegenstrahlte.

„Du meinst, sie sah genauso aus wie Valerie?“

Linda nickte und schaute zu ihr auf.

„Die gleichen blauen Augen, das hübsche Gesicht. Sie könnten Schwestern sein.“

Sina drehte die Zeitung zu sich herüber und betrachtete mit leicht zusammengekniffenen Augen das Bild des verschwundenen Kindes.

„Der gleiche Täter?“

„Ist möglich, oder?“

„Wo kam denn Josy her?“

„Ich glaube, aus Niedersachsen. Oder Schleswig-Holstein.“

Valerie hatte in Bayern gelebt.

„Ist trotzdem möglich.“

In Lindas Stimme schwang ein Hauch von Trotz mit.

Sina wusste, dass sie recht hatte. Aber sie wusste auch, was die anderen denken würden. Die armen Entführungsopfer kommen mit dem, was sie erlebt haben, nicht klar und sehen Gespenster. Serienkiller-Gespenster. Trotzdem würde sie nachhaken, ob in diese Richtung ermittelt wurde.

„Ich werde mit Alex sprechen. Er hat Nachtdienst. Aber ich denke, er wird irgendwann heute Nachmittag hier auftauchen.“

„Ja, da bin ich auch ganz sicher.“

Linda hatte es betont gleichmütig gesagt, doch nun strahlten ihre Augen Sina neckend an.

„He, was soll das? Du weißt genau, dass da nichts läuft. Wir sind Freunde. Das ist alles!“

Auch Sina lachte nun.

„Klar seid ihr das. Ich finde sowieso, dass man mit dem Mann, mit dem man sein Leben teilen will, unbedingt befreundet sein sollte.“

Sina griff nach dem Küchenhandtuch, das neben ihr über der Stuhllehne hing, und warf es Linda ins Gesicht. Die kugelte sich mittlerweile beinahe vor Lachen.

„Du bist albern“, tadelte Sina die Freundin, was deren Gelächter nur verstärkte. Sina konnte sich nicht länger bremsen und stimmte in das hemmungslose Kichern und Prusten ein. Was an ihrem Gespräch so furchtbar witzig gewesen war, hätte keine von beiden sagen können. Wenn sie darüber nachgedacht hätten, wären sie womöglich zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich gar keinen Grund für ihren Heiterkeitsausbruch gab. Außer, dass Lachen seit jeher die wirkungsvollste Therapie gegen das Grauen war.