Leseprobe Man mordet, wo man kann

Unerwartete Entdeckungen

„Ilse, meine Liebe, endlich sehe ich dich wieder.“

Sie umarmte den langjährigen Freund herzlich. „Würdest du, so wie deine Frau Gemahlin, dem Tennissport frönen, sähe man sich deutlich öfter.“

Fritz, der in seinem dunkelgrauen Anzug, dem hellblauen Hemd und der silberfarbigen Krawatte heute wieder sehr eindrucksvoll wirkte, lächelte nur. „Noch ein halbes Jahr, meine Liebe, dann winkt die Pensionierung. Ein Umstand, der mir nicht nur angesichts der aktuellen Lage, sondern auch wegen der danach viel ansprechenderen Freizeitgestaltung ausnehmend erstrebenswert scheint.“

„Du hast gerade mit sehr gewählten Worten gesagt, dass dir dein Job stinkt und du dich auf die Rente freust, hab ich das richtig verstanden?“

Fritz fuhr sich durch das volle, graue Haar und schmunzelte. „So kann man es auch ausdrücken. Aber nun setz dich bitte und erzähl mir, worum es bei deinen Recherchen genau geht.“

„Also, das ging los mit einer Baustelle, die ein bisschen seltsam zu sein scheint …“ Ilse beschrieb Fritz die Sachlage in kurzen, prägnanten Worten, schilderte die vorgefundenen Umstände und die Gedanken, die sie sich zum Verbleib der einstigen Mieter machte. „Ich glaub, ich hab alles erzählt, hoffentlich, denn irgendwie hab ich ein blödes Gefühl bei dem Ganzen.“ Ilse lehnte sich in ihrem Ledersessel zurück und ergriff dankbar das Glas mit kühlem Mineralwasser, das Fritz ihr reichte.

Der schwieg eine Weile und schien das Gehörte zu überdenken. „Ist es der Bauherr, dein Landsmann oder alles zusammen?“

„Er selbst ist freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend. Dass er ein Schlitzohr ist, sieht man an der Sache mit den Arbeitern. Aber das ist ja nun nichts Neues in unsrer Branche. Ist man das nicht, dann zieht man verdammt schnell den Kürzeren. Das weiß ich. Es ist das ganze Paket. Um nur einen Punkt zu nennen, warum wurden die Nachbarn nicht benachrichtig? Du kennst das Procedere am besten. Die benachbarten Eigentümer müssen ihre Zustimmung geben, oder haben sich da in den letzten Jahren die Gesetze geändert?“

Fritz schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Vor allem geht mir was anderes durch den Kopf. Die Häuser da unten haben Fassaden, die geschützt sein könnten. Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte wetten, dass am Eisbach eine Sondergenehmigung für eine solch umfassende Sanierung erwirkt werden muss.“

„Ha!“

„Halt, wart noch ein bisschen mit deinem Ha. Es könnte sein, dass es ein Fall von Gefahrensanierung war. Also, wenn da tatsächlich ewige Zeit nichts gemacht wurde, könnten Wände geschimmelt haben, Feuchtigkeit überall und so was, aber das müsste leicht in Erfahrung zu bringen sein. Dazu muss man sich den Fall genauer ansehen. Ach, meine Lady, ich sag es dir. Es macht immer weniger Freude. Der Druck wächst jedes Jahr und wir haben hier eine Generation, der unsere Stadt schnurzegal ist – Hauptsache modern, Hauptsache Architektenpreise, Hauptsache Anerkennung.“ Er erhob sich aus seinem beeindruckenden Chefsessel und ging zur Tür, überprüfte offenbar, ob sie gut verschlossen war. Dann kam er zurück, setzte sich wieder und stützte beide Ellbogen auf dem Schreibtisch ab. „Ilse, ich rieche förmlich, dass du wieder einmal auf etwas gestoßen bist.“ Fritz sprach jetzt leise, aber sie verstand ihn sehr gut. „Mein designierter Nachfolger ist dermaßen karrieregeil, dass einem schlecht wird. Ich hatte auch gerne Erfolg, aber nicht um jeden Preis, weißt du, was ich meine?“

Sie nickte zustimmend. „Nur zu gut. Ich war lang genug in der Branche. Und was tu ich jetzt?“

Fritz überlegte kurz. „Du gehst zum Mieterverein und fragst nach dem Bauvorhaben. Wenn die Mieter da ordentlich ausziehen konnten und alles seine Richtigkeit hat, wirst du nichts erfahren. Wenn sie aber rausgeekelt wurden oder gar gewaltsam ‚entmietet‘, du weißt, wovon ich rede, dann wirst du mehr erfahren. Ich lasse mir in der Zwischenzeit die Unterlagen zu dem Projekt bringen. Sobald ich mir einen Überblick verschafft habe, rufe ich dich an. Einstweilen halten wir alle nur die Füße still, in Ordnung?“

„Vollkommen. Wie sagte Marga heute so schön? Keine schlafenden Hunde wecken.“

Der Mieterverein. Warum war sie da nicht selbst draufgekommen? Ilse verließ das imposante Gebäude der Lokalbaukommission und eilte zielstrebig weiter Richtung Viktualienmarkt. Sie musste so rasch wie möglich herausfinden, ob bei dem Bauvorhaben alles mit rechten Dingen zugegangen war. Derzeit waberten in der Richtung vage Zweifel durch ihren Kopf. Also musste sie sich Sicherheit verschaffen, sie musste … jetzt erst einmal beim Schlemmermeier eine scharfe Rote in der Semmel essen. Dunnerlittchen, es ging halt einfach nicht, es war vollkommen unmöglich, am Kiosk der alten Münchner Traditionsmetzgerei vorbeizugehen und nicht stehenzubleiben und sich dieses unfassbar köstliche kulinarische Kleinod zu gönnen.

Sie trat an das Verkaufsfenster des kleinen, grün gestrichenen Holzhäuschens, das sich direkt an den Verkaufsbereich anschloss. Der köstliche Geruch nach guter Bratwurst stieg ihr in die Nase und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

„Was darf‘s denn sein, die Dame?“ Der freundliche Mann in der weißen Schürze und dem niedlichen Häubchen auf dem Kopf strahlte sie an.

„Eine scharfe Rote in der Semmel, bittschön. Mei, die hab ich schon so lang nicht mehr gegessen.“ Sie strahlte zurück.

„Sehr gern, gnä’ Frau. Aber wenn‘s so weiter geht, dann heißt das demnächst pikante Bratwurst in der länglichen Backware.“ Er grinste sie breit an.

„Das ist schon ein Scherz, bitte sagen Sie, dass es ein Scherz ist!“

Er schüttelte langsam den Kopf, während er die duftende Wurst liebevoll in dem langen, knusprigen Brötchen platzierte. „Nur zum Teil, gnä‘ Frau. Wir hatten vor einiger Zeit jemanden von den Frauenbeauftragten hier, die uns wissen hat lassen, dass das als sexuelle Anspielung verstanden werden könnte.“ Er sah wohl ihren verständnislosen Blick und setzte hinzu: „Das war ernst gemeint.“

Sie legte ihr Geld auf das dafür vorgesehene Tellerchen und griff nach ihrem Imbiss. „Die Welt und ein wenig auch der Humor gehen vor die Hunde, ich sag’s doch.“

Er zuckte die Schultern. „Noch nicht, aber wir wissen ja auch noch nicht, was sonst noch alles kommt. Ketchup und Senf sind in den Behältern gleich um die Ecke.“

„Weiß ich, danke. Ich muss das erst verdauen.“ Ilse lächelte.

Sie drückte sich jede Menge Senf auf die Wurst, schnappte sich eine Serviette, setzte sich an den Liesl-Karlstadt-Brunnen und biss herzhaft in die Bratwurstsemmel. Ihr Blick wanderte hinauf zu der wunderbaren Grand Dame der Kunst und Komik. „Mei, Liesl, sei froh, dass du den ganzen Schmarrn nimmer erleben hast müssen.“

Bestens gestärkt stand sie eine halbe Stunde später in einem der Büros des Mietervereins. So knapp und gleichzeitig ausführlich wie möglich erklärte sie ihr Anliegen und ließ dabei elegant einfließen, dass man ihr in der Lokalbaukommission dazu geraten habe, sich hier zu informieren. Die Dame hörte ihr aufmerksam zu, bat sie an einen der Besprechungstische, holte zwei sehr dicke Hängeregister-Mappen und schob diese in ihre Richtung.

„Hier, liebe Frau von Karburg, finden Sie immerhin einen kleinen Teil der Informationen zu dem von Ihnen angesprochenen Objekt. Sie möchten wissen, ob alles ordentlich vonstattengegangen ist? Lesen Sie selbst, allerdings kann ich Ihnen, abgesehen von Namen, gerne ein paar grundlegende Informationen geben. Wie viel Zeit haben Sie mitgebracht?“

***

„Marga, die Mieter sind durch die Hölle gegangen.“ Ilse stand am Fenster ihres Wohnzimmers und blickte hinaus in den Garten. Es wurde schon früher dunkel und auf der Straße leuchteten bereits die Straßenlaternen. Sie drehte sich zu der Freundin um und hob die Arme. „Sie hatten keine Chance. Zuerst jahrelang keine Mieterhöhung, weil die alte Dame das wahrscheinlich nicht mehr umrissen hat und dann plötzlich zuerst die Ankündigung von Sanierungsarbeiten. Darauf folgte nur kurze Zeit später ein Schreiben, dass das Haus kernsaniert werden müsse und man den Mietern nahelegen möchte, sich eine neue Bleibe zu suchen. Auf die Frage nach den neuen Mieten kam die Antwort, dass eine Umgestaltung geplant sei und die Wohnungen nicht mehr in den Urzustand versetzt würden. Ferner würden die neu entstehenden Wohnungen zum Verkauf angeboten. Als die Mieter sich zur Wehr gesetzt haben, ging es los. Plötzlich kein Wasser mehr, dann Brände im Keller, immer wieder und in unterschiedlichen Abteilen, die Heizung wurde ausgebaut, Rohre schon herausgerissen und so weiter. Sie haben alle aufgegeben, Marga, alle. Anscheinend trieben sich zuletzt zwielichtige Gestalten am und im Haus herum, die alle in Angst und Schrecken versetzten. Das waren zu einem Teil ältere Menschen oder Leute mit Kindern, da kann man schon mal Angst haben. Also, das war nichts mit freiwillig und friedlich ausziehen. Das war blanker Zwang und reine Schikanen. Lediglich die zwei anderen Eigentümer haben freiwillig verkauft. Laut Mieterverein hat die Erbengemeinschaft einen guten Deal gemacht. Ein Anwalt hat herausgefunden, dass der neue Besitzer, der, der wahrscheinlich unseren Adligen beauftragt hat, irgendwo in Norddeutschland sitzt. Aber es ist, so wie es ausschaut, alles genehmigt und abgesegnet. Dubios, verdammt dubios, das sag ich dir.“

„Das muss ich erst mal verarbeiten. Die armen Leut, die tun mir so leid. Wie schrecklich, so aus seinem Zuhause geekelt zu werden.“ Marga trank ein paar Schlucke von dem nach Zimt duftenden Chai, der vor ihr stand. „Also hat irgendwer das Haus aufgekauft, alle rausgeätzt und dann den von Löwenberg eingestellt, um das Anwesen so umzubauen, dass man eine viel größere Summe herausholen kann, als eingesetzt wurde.“

Ilse nickte, noch immer zornig. „So und nicht anders. Ich habe sofort Fritz Bescheid gegeben, damit er doppelt so genau hinschaut, wenn er sich die Unterlagen kommen lässt. Der ist genauso fassungslos wie ich.“

„Wie wir, so viel Zeit muss sein, meine liebe Lady, es ist ein Trauerspiel, was in dieser Stadt passiert. Weltstadt mit Herz, von wegen.“

„Die Stadt kann nichts dafür, Marga, es sind immer die Menschen. Immer! Schneller, höher, weiter, immer mehr Profit, immer noch moderner und noch schicker. Aber solange die Leute für solche Hasenställe fast eine Million bezahlen, die Spekulanten wären ja beinah schon blöd, wenn sie es nicht machen würden.“

***

„Phillip, das ist eine Riesenschweinerei, das …“

„Nein! Um das gleich vorwegzunehmen, liebste Tante, schlicht und einfach Nein.“ Die Stimme ihres Neffen klang ein wenig verschnupft aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons.

„Bist krank, Bub. Hast schlechte Laune?“

Er räusperte sich lautstark. „Nein, Tante Ilse, weder noch. Aber ich steck in einem Fall hier in Wien, einem ziemlich gefährlichen und so ganz nebenbei ist auch noch Manuela in München beruflich unabkömmlich. Ich vereinsame also hier und weg kann ich auch nicht.“

„Aber anhorchen könntest du es dir wenigstens, findest du nicht?“ Hoffnungsvoll lauschte sie auf seine Antwort.

„Nochmal zum Mitschreiben, Lieblingstante: Nein! Seit wann beschäftigt sich eine Wiener Sondereinheit mit Entmietung und Bausünden? Das ist Sache eines oder mehrerer Anwälte. Das ist meilenweit von meinem Einsatzgebiet entfernt. Und, ganz ehrlich. Halt dich doch bitte einfach raus. Langt‘s dir für dieses Jahr noch nicht? Erinner ich mich falsch oder wolltest du einen, Sekunde, wie war das: einen altersgerechten Herbst?“

„Ich kann überhaupt nichts dafür, dass das alles direkt neben Margas Haus passiert. Darum gerissen hab ich mich nicht gerade.“ Irgendwie fühlte sie sich gerade sehr missverstanden.

„Ach, und warum steckst du dann schon wieder deine Nase in die Probleme anderer, hm? Seid froh, dass der Bauunternehmer euch die Arbeiter abtritt, sorgt dafür, dass die Wohnung rechtzeitig fertig ist, bis Toni einfliegt, bereitet ihm einen schönen Empfang und alle sind zufrieden. Mag ja sein, dass das Nachbarhaus nie wieder so aussieht wie zuvor, aber das ist nichts Neues, oder? Dinge verändern sich, ob uns das gefällt oder nicht.“

Sie gab es ungern zu, aber da lag er richtig. Andererseits roch sie, dass hier einiges im Argen liegen musste. Ihr Gerechtigkeitssinn meldete sich dermaßen heftig, dass sie nicht weghören konnte. Zwar konnte sie den armen Mietern nicht mehr helfen, die samt und sonders mit Sack und Pack hatten verschwinden müssen, aber da war noch was. Sie wusste nur noch nicht genau was.

„Tante, so schweigsam auf einmal? Solltest du mir etwa zustimmen?“ Sie hörte den spöttischen Unterton in seiner Stimme durchaus.

„Als ob du nicht wüsstest, dass ich ein ausgesprochen schweigsamer Mensch bin. Außerdem sehr zurückhaltend und diplomatisch.“

Der plötzliche Hustenanfall ihres Neffen erschien ihr arg übertrieben zu sein, angesichts dieser ja schließlich wahren Feststellungen.