Leseprobe Mitten ins Winterherz

Prolog

19. Januar, Ski-Ausscheidungsrennen, Abfahrt der Damen

Cortina d’Ampezzo, Italien

Strahlender Sonnenschein, minus sechs Grad

Hochkonzentriert und völlig in ihrer eigenen Welt versunken, blendete Isabella hoch oben auf dem Berg den Trubel um sich herum aus. Für sie zählte nur noch dieses Abfahrtsrennen. Es sollte die Eintrittskarte für den Weltcup werden, an dem nur die Weltspitze teilnehmen durfte. Ein Ziel, auf das sie seit Jahren hintrainierte. Durch hervorragende Leistungen hatte sie die Nominierung vom Verband dafür bereits bekommen, doch ein Platz unter den ersten Dreien würde ihr auch noch die nötige Punktzahl einbringen, um ganz sicher daran teilnehmen zu können. Nur nominiert zu sein, war noch lange keine Garantie für die tatsächliche Teilnahme.

Unten im Tal drängelten sich Massen von Touristen und Besuchern aus aller Welt, die dem Spektakel beiwohnen wollten, was sich unschwer an den mitgebrachten Papierfähnchen erkennen ließ. Sämtliche Hotels waren bis auf das letzte Bett ausgebucht und selbst die einfachsten Pensionen hatten keine Zimmer mehr frei.

Unbeeindruckt von dem atemberaubenden Panorama der Dolomiten ging Isabella in Gedanken Abschnitt für Abschnitt der Abfahrtsstrecke durch. Dabei wusste sie genau, wo sich die gefährlichen Stellen befanden und stellte sich mental darauf ein. Auch wenn sie die Strecke wie ihre Westentasche kannte, hatte sie doch einen Höllenrespekt vor nicht vorhersehbaren Tücken, die selbst den erfahrensten Skiläufer aus der Bahn werfen konnten.

Nach dem Testlauf am vergangenen Tag lag sie ganz vorn und galt nun als Mitfavoritin auf das Siegertreppchen, was bedeutete, dass sie zukünftig auch an Skirennen in den USA und Kanada teilnehmen würde.

Isabella seufzte. So sehr sie auch versuchte, sich davon nicht unter Druck setzen zu lassen, es wollte ihr nicht gelingen. Jedenfalls nicht ganz. Lieber Himmel, sie war so kurz davor, in die Weltspitze aufzusteigen. Alles das, wovon sie seit Jahren träumte, war nun zum Greifen nahe. Und ein Sieg auf ihrer Heimstrecke sollte das nun besiegeln.

Das Signal zum Start ihrer Vorgängerin ertönte. Isabella begab sich in Position. Sie klappte das Visier des Helms nach unten, sendete ein Stoßgebet in den Himmel und wartete auf den nächsten Signalton.

Und dann ging’s los. Zwei kurze und ein langer Piepton ertönten. Adrenalin schoss durch ihren Körper. Den wohlgemeinten Klaps ihres Trainers bemerkte sie kaum, auch nicht, dass er toi, toi, toi, jetzt gilt’s Isa! rief.

Die Schranke öffnete sich und Isabella rammte die Stöcke in den gefrorenen Boden. Mit aller Kraft stieß sie sich ab. Äußerste Konzentration war geboten, denn der erste Abschnitt war zur linken Seite hin leicht abschüssig. Die Gefahr lag darin, dass mit vereisten Stellen gerechnet werden musste. Nach zweitägigem Tauwetter hatte es in der vergangenen Nacht einen Kälteeinbruch gegeben.

Isabella verdrängte die Furcht und startete souverän. Mit Bravour nahm sie die scharfen Kurven und verlor nicht eine Hundertstelsekunde, als es für wenige Meter wieder leicht bergauf ging. Zielstrebig schoss sie an beeindruckenden Felsen vorbei und durchquerte die berühmte Tofana-Schuss-Etappe. Dabei verlor sie jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Mit einer Geschwindigkeit von teilweise über 130 Stundenkilometern bretterte sie den Berg hinunter. Sie fuhr volles Risiko und schreckte vor keiner Bodenwelle zurück.

Der nächste Abschnitt begann mit einem kleinen Hügel, weshalb sie automatisch zum Sprung ansetzte. Wieder einer über dreißig Meter. Das Ziel zeigte sich in greifbarer Nähe, als es plötzlich passierte.

Der linke Ski kam auf einer vereisten Stelle auf und verkantete. Von da an ging alles rasend schnell. Isabella verlor die Kontrolle, konnte sich nicht mehr fangen und überschlug sich mehrere Male auf dem tiefgefrorenen, betonharten Abhang, bevor sie reglos im Fangnetz am Pistenrand liegen blieb.

 

Das Erste, was Isabella bewusst wahrnahm, war gleißendes Neonlicht über sich. Dazu ein tickendes Geräusch und ein sich ständig wiederholendes leises Piepen, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Warum fühlte sich ihr Körper nur so unendlich schwer und unbeweglich an? Wo war sie? Sie schloss die Augen, weil ihr ein schmerzhafter Stich durch den Kopf ging.

„Isa, mein Schatz“, hörte sie ihre Mutter flüstern, die sich zu ihr hinunterbeugte, „Kind, Gott sei Dank.“

„Mein Kopf“, stöhnte Isabella und bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie blinzelte, zog sie wieder fort und erkannte das besorgte Gesicht ihres Vaters, hinter dem auch ihre Schwester Constanze auftauchte.

„Was ist los?“, krächzte sie, „Warum seid ihr hier?“

„Ach, mein liebes Kind“, schluchzte ihre Mutter, „wir sind so froh, dass du wieder bei uns bist.“

In den ersten Tagen nach dem Aufwachen aus dem dreitägigen Koma schlief Isabella viel. Sie verspürte keine Schmerzen, fühlte sich nur unendlich müde und schwer, regelrecht apathisch. In den kurzen Momenten, in denen sie aufwachte, saß immer ein Familienmitglied an ihrem Bett. Dabei wusste sie nicht, ob es Tag oder Nacht war. Nur allmählich drang ihr ins Bewusstsein, welche Umstände sie auf die Intensivstation befördert hatten. Ihre Erinnerung endete jedoch in dem Moment, als sie die Kontrolle über ihre Skier verloren hatte. Und eigentlich fühlte es sich an, als wäre es eine andere Person gewesen, der das passiert war. Mit jedem weiteren Tag, an dem die Ärzte die sedierenden Mittel reduzierten, tauchten Fragen in Isabellas Hinterkopf auf. Unangenehme Fragen, auf die sie keine konkrete Antwort bekam.

Wenn sie an sich heruntersah, ahnte sie nichts Gutes. Nicht nur, dass ihr Kopf in einem turbanähnlichen Verband steckte, auch das linke Bein war bis zur Hüfte bandagiert. Außerdem trug sie ein festes Korsett um ihre Rippen. Und auch der rechte Unterschenkel war mit Bandagen umwickelt.

Was hatte das zu bedeuten?

Mit dem Wechsel in ein normales Krankenzimmer bekam sie die schockierende Diagnose.

„Es tut mir sehr leid, Frau Hofer“, hörte sie den Chefarzt sagen, „dass ich Ihnen keine bessere Botschaft überbringen kann, aber die Verletzungen, die Sie bei dem Sturz erlitten haben, sind so gewaltig, dass eine Fortsetzung Ihrer Karriere unter professionellen Bedingungen als Abfahrtsläuferin ausgeschlossen ist.“

„Aber …“, Isabella schossen die Tränen in die Augen, „das kann doch alles wieder heilen … wenn nicht gleich, dann doch …“ Das bedauernde Kopfschütteln des Arztes ließ sie verstummen.

„Leider nein. Hören Sie, ich verstehe, dass das jetzt sehr hart für Sie ist, aber es ist nicht nur der Kreuzbandriss im linken Knie, der Ihnen immer wieder Probleme bereiten wird, sondern auch mehrere Meniskusrisse, die die Stabilität ihres Knies auf Dauer beeinträchtigen können. Abgesehen davon haben Sie sich zwei Rippen gebrochen und eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen.“

Isabellas Mutter stellte sich neben den Chefarzt, ergriff ihre Hand und streichelte sie mitfühlend, ohne ein Wort zu sagen.

Anschließend weinte Isabella heiße Tränen der Enttäuschung. Sie haderte mit sich, dem Leben und Gott weiß, mit was noch alles. Sie schwor sich, bessere, kompetentere Ärzte aufzusuchen, damit die ihr eine andere, eine günstigere Diagnose stellen konnten.

Heidi, Isabellas Mutter, ertrug Tag für Tag geduldig die Gefühlsausbrüche ihrer Tochter und beklagte sich nicht. Nur wenn die Sprache auf Georg kam, Isabellas Freund, der sich noch nicht eine Sekunde an ihrem Bett eingefunden hatte, bekam Heidi einen harten Zug um den Mund.

Georg war ebenfalls ein großes Skiabfahrtstalent Südtirols. Seit gut einem Jahr waren sie ein Paar und verbrachten jede Minute ihrer wenigen Freizeit zusammen.

Nach vierzehn Tagen Krankenhausaufenthalt stand Georg dann endlich an Isabellas Bett. Sie war allein im Zimmer, weil ihre Mutter bereits gegangen war.

„Hi“, begrüßte er sie und küsste sie flüchtig auf die Wange.

„Ich hab’ so sehr auf dich gewartet. Du hast doch bestimmt gehört …“, wimmert sie und wollte ihn am Arm zu sich ziehen, doch er entzog sich ihr, wobei er sie nicht ansehen konnte.

„Ja, habe ich“, druckste er herum, „es tut mir sehr leid für dich.“ Wieder vermied er es, sie anzusehen.

Glücklicherweise hatte man ihr den Verband um den Kopf inzwischen abgenommen. Dennoch war sie kein hinreißender Anblick, dessen war sie sich bewusst.

„Schön, dass du da bist.“ Sie schluckte die Enttäuschung und die Frage, warum er sie erst jetzt besuchte, hinunter.

„Die Jacke kannst du dort drüben aufhängen. Setz dich doch.“ Sie deutete auf den Stuhl neben dem Bett.

„Nee, lass mal. Viel Zeit habe ich nicht. Aber ich wollte wenigstens mal bei dir vorbeikommen.“

Ein kalter Schauer überzog Isabella von den Zehen bis zu den Haarspitzen, als sie spürte, wie unnahbar er ihr gegenüber plötzlich war.

„Was ist mit dir?“ Panik lag in ihrer Stimme.

„Nichts. Was soll schon sein? Ich hatte einfach noch keine Zeit, herzukommen.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Das wird sich auch zukünftig nicht ändern, du weißt ja selbst, wie das ist.“

„Aber …“, setzte sie an und verstummte gleich wieder, als sie die Kälte in seinen Augen bemerkte.

„Hör zu. Ich habe über uns nachgedacht und möchte dir da nichts vormachen. Das fände ich nicht fair“, begann er und man sah ihm an, wie unangenehm ihm die Situation war. „Isa, ich mag dich sehr, aber du weißt auch, welche Ziele ich habe. Ich brauche jetzt Leute um mich herum, die mich motivieren und aufbauen. Das wird dir unter den gegebenen Umständen schwerfallen, das verstehe ich … äh, ich weiß, es klingt hart und es tut mir auch leid, aber …“, er zögerte einen Moment und sah zum Fenster heraus, als er den Satz zu Ende sprach, „… ich kann jetzt nur eine Frau an meiner Seite gebrauchen, die voll belastbar ist.“

Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, ihr noch die Hand zum Abschied zu geben, sondern verließ den Raum, indem er ihr über die Schulter zurief: „Ich wünsch dir alles Gute. Lebwohl.“

Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss.

Eins

Zehn Monate später …

„Was wollte denn unser Personalchef von dir?“ Felix sah seinen Kollegen verwundert an und legte den Bericht zur Seite, den er gerade erst zur Hand genommen hatte. „Das hab’ ich ja noch nie erlebt, dass der schon vor dem Frühstück Personalgespräche führt. Was gab's denn so Wichtiges, was nicht bis nach neun hat warten können?“

„Frag besser nicht. Das glaubst du mir sowieso nicht.“ Konstantin verzog mürrisch das Gesicht und warf eine reichlich abgegriffen aussehende schwarze Mappe aus Lederimitat auf den Schreibtisch, als wäre sie stinkender Müll. Mit einem Seufzer ließ er sich in den Bürostuhl fallen und drückte den On-Knopf am Rechner.

„Hast du so was schon mal gesehen?“ Er nahm die Mappe erneut zur Hand, hielt sie kurz hoch und zog dann den Reißverschluss, der die speckige, eiförmig ausgebeulte Kunsthülle ringsherum verschloss, auf. Noch bevor das Ungetüm offen wie ein Buch vor ihm auf dem Tisch lag, fielen handschriftlich beschriebene Papierschnipsel und loses Bonbonpapier heraus.

„Ach du liebes bisschen. Jetzt machst du mich aber neugierig.“ Felix stellte sich abwartend neben ihn und starrte auf den Wust vollgekritzelter Zettel, Werbeflyer und Visitenkarten, die zum Vorschein kamen.

„Wenn du mal einen Blick auf den Kalender und dazu noch einen auf das Ungetüm hier wirfst, hast du schon einen Teil der Antwort“, brummte Konstantin. „Na, was fällt dir auf?“

Felix runzelte die Stirn und starrte abwechselnd an die Wand, wo der Dreimonatskalender hing und dann wieder auf die Mappe.

„Heute ist der 26. November – ja, na und?“ Er sah Konstantin verständnislos an. Doch dann schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Nee … das gibt’s doch jetzt nicht! Was hast du denn mit der Mappe vom alten Schmitz zu schaffen? Verdammt, das schwarze Ding kam mir doch gleich so bekannt vor.“

„Bingo“, knurrte Konstantin. „Ab heute ist der Weihnachtsmarkt geöffnet und der Kollege Schmitz liegt im Krankenhaus. Akute Diabetes. Sieht gar nicht gut aus.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Der Dicke hat den Job als Marktwächter geliebt, weil er sich von morgens bis abends überall durchfres… äh sorry, aber dass der jetzt mit hohen Zuckerwerten im Krankenhaus liegt, wundert mich nicht, nur …“ Felix schüttelte entgeistert den Kopf. „Was will denn der Jandrey dann mit uns, vielmehr mit dir? Wir gehören zum Bauamt und betreuen nicht den Weihnachtsmarkt.“

„Nützt aber nix. Er hat alle Abteilungen durchgeforstet und ich bin als einzige Alternative übrig geblieben. Was glaubst du, was ich mir gerade angehört habe? Keine Leute, zu hoher Krankenstand, Überalterung und und und …außerdem wäre ich als Letzter in die Abteilung gekommen und ich hätte ja wohl noch vor, Karriere zu machen.“ Er verdrehte die Augen. „Noch Fragen? Ach ja und wenn ich den Job von Schmitz übernehme, hat er gesagt, dann würde er mir das nie vergessen. Sowas käme in einer Personalakte immer gut.“ Konstantin fuhr sich mit den Fingern durch das volle, mittelblonde Haar. „Hätte ich da nein sagen sollen?“

„Nee, natürlich nicht“, räumte Felix kleinlaut ein. „Da wärst du ja verrückt.“

„Genau.“

„Und wer macht jetzt deine Arbeit?“

„Dreimal darfst du raten.“ Konstantin sah ihn unmissverständlich an.

„Ich!?“

„Wer denn sonst? Siehst du hier noch jemanden? Die anderen Abteilungen haben genug mit sich selbst zu tun.“

„Oh nein, das darf doch nicht wahr sein! Ausgerechnet jetzt, wo Laura so kurz vor der Entbindung steht und ich mich mehr als sonst um Yannik kümmern muss. Wir haben nun mal keine Großeltern vor Ort, die einspringen können.“

„Tut mir leid“, nickte Konstantin. „Du weißt, wenn ich kann, nehme ich dir alles ab, was geht, aber dass ich jetzt so einen Einsatz kriege, damit hätte ich auch nicht gerechnet. Was denkst du denn?“

Er stand auf und lief unruhig im Büro auf und ab. „Natürlich bin ich zwischendrin auch mal hier“, redete er weiter, „aber das nützt dir nichts. Mehr als das Nötigste werde ich kaum schaffen. Bis Ende Dezember ist es mein Job, mindestens zweimal täglich auf dem Weihnachtsmarkt Streife zu laufen. Und das kann dauern, hat mir Jandrey gesagt. Mit nur drüber laufen wäre es nicht getan. Ich sollte das nicht unterschätzen. Ein Spaziergang würde es nicht, meinte er auch noch.“

Am Nachmittag, nachdem Konstantin offene und unerledigte Arbeiten entweder abgeschlossen oder delegiert hatte, marschierte er los, um seinen neuen Arbeitsplatz, den Weihnachtsmarkt, zu erkunden. Ausgerüstet mit einem Lageplan für Standplätze und Inhaber und einigen wertvollen Hinweisen, die ihm Jandrey mit an die Hand gegeben hatte, war er auf dem Weg zu einem der alteingesessenen Händler, der sich außerdem Vorsitzender des städtischen Gewerbevereins nennen durfte. Von ihm erhoffte sich Konstantin eine Menge Insiderwissen, das man in keiner Arbeitsanweisung finden konnte. Trotzdem, sehr behaglich fühlte er sich als Marktpolizei nicht. Wozu brauchte man den Quatsch überhaupt? Was sollte denn schon passieren, wenn man es mit mündigen, erwachsenen Leuten zu tun hatte, die dazu noch selbstständige Kaufleute waren? Die meisten jedenfalls.

Erwartungsgemäß hielt sich die Besucherzahl am ersten Tag in Grenzen. Es war mild und sonnig und nur wenige Leute schlenderten schaulustig an den Ständen vorbei. Die meisten, um sich etwas zu Essen zu besorgen.

Ihm stieg ein unwiderstehlicher Duft von gebrannten Mandeln in die Nase, während aus den Boxen eines Kinderkarussells Süßer die Glocken nie klingen dudelte, doch erst die typischen Gerüche von Zimt, Lebkuchen und Glühwein, die schwer in der Luft lagen, ließen in ihm einen Hauch von vorweihnachtlicher Atmosphäre aufkommen. Angesichts der eher frühlingshaften Temperaturen empfand er die komplette Kulisse ziemlich befremdlich. Er mochte Weihnachten, keine Frage, aber nicht in diesem Jahr. Das Wort „Familie“ schien für Konstantin, wenn es um seine eigene ging, so auch nicht mehr passend zu sein. Zu seiner zählte nur noch sein Vater, alle anderen waren tot. Und der hatte bereits angekündigt, dass er die Feiertage mit seiner neuen Lebensgefährtin verbringen wollte. Konstantin verstand das und war sogar froh darüber, denn es bedeutete, dass sein Vater nach dem viel zu frühen Tod seiner Mutter endlich wieder zu leben begann. Doch das hieß auch, dass er die Feiertage allein verbringen musste. Eine Alternative gab es nicht. Die Beziehung zu Lisa, seiner Jugendliebe seit der zehnten Klasse, war im vergangenen Sommer auseinandergegangen. Einvernehmlich und nach mehreren missglückten Wiederbelebungsversuchen auch endgültig. Ausgeliebt eben. Noch immer verband ihn mit Lisa echte Freundschaft. Platonisch, so als seien sie Geschwister. Das fühlte sich richtig und gut an, änderte aber nichts an den Tatsachen. An ihrer Seite gab es inzwischen einen neuen Mann. Und das war die schmerzende Stelle in der Idylle. Lisas Eroberung wollte so gar nicht an platonische Freundschaften zwischen Männern und Frauen glauben, weshalb sich Konstantin freiwillig zurückgezogen hatte. Demzufolge war auch dieser, in den vergangenen Jahren so vertraut gewordene Familienersatz zu Weihnachten keine Option mehr für ihn.

In derlei Gedanken versunken, lief Konstantin zwischen den Verkaufsständen hindurch, bis er von unüberhörbarem Geschrei aufgeschreckt wurde.

„Es ist doch immer dasselbe“, wetterte ein korpulenter Mann mittleren Alters aufgebracht, „die Ausländer kommen hierher und dürfen alles, während wir für jeden Nasenpopel eine Genehmigung vorlegen müssen!“

Provokant baute er sich vor einer – wow – bildhübschen, dunkelhaarigen jungen Frau im Dirndl auf, die angesichts der Vorwürfe wie erstarrt dastand. Ihr Verkaufsstand gleich nebenan war anscheinend der Grund für den Unmut des Rüpels. Interessiert las Konstantin das Schild, das über dem geschmackvoll gestalteten Stand im alpenländischen Stil angebracht war: Spezialitäten aus Südtirol. In dem halb offenen Verkaufsstand entdeckte er eine weitere Frau, in etwa genauso alt wie die Dunkelhaarige, jedoch mit blonden Haaren. Logisch, da passten auch die Dirndl dazu, die die beiden trugen. Und jetzt verstand er auch die Sache mit den Ausländern.

Eine Frau, die nebenan hinter einer Auslage von einfallslos aufgereihten Messern, Scheren und anderen Kleinstküchenhelfern, ihren riesigen Busen auf den Tresen drückte und das Geschehen ringsherum mit Argusaugen beobachtete, nickte zu den Worten des Mannes heftig mit dem Kopf und schien die Angetraute des Schreihalses zu sein. Rein optisch passt die auf jeden Fall perfekt dazu, ging es Konstantin durch den Kopf. Komisch, sollten die Aussteller nicht auf ein ansprechendes Äußeres achten? Das galt für die Darbietung der Waren genauso wie für das eigene Auftreten. So jedenfalls stand es in den Statuten für die Marktbetreiber.

„Was denken Sie eigentlich, wo wir hier sind?“, brüllte der Kerl weiter, worauf die junge Frau empört nach Luft schnappte. Doch zu Wort kam sie nicht. „Wollen Sie mit ungeprüften Elektrogeräten den ganzen Markt abfackeln … ich glaube, es geht los! Das können Sie da machen, wo Sie herkommen, aber nicht hier.“ Bei diesen Worten beugte er sich bedrohlich nach vorn, weshalb die attraktive Dunkelhaarige erschrocken einen Schritt zurückwich.

„Wer soll mir denn am Ende den Schaden bezahlen? Hä? Sie vielleicht?“

„Jetzt ist es aber genug!“, rief die dunkelhaarige Schönheit und funkelte ihren Widersacher böse an. „Hören Sie endlich auf, mich so anzuschreien. Was haben Sie denn für ein unmögliches Benehmen?“

„Kommen Sie mir nur nicht so“, wiegelte der Mann den Vorwurf mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Sie wollen doch nur ablenken …“

Konstantin erkannte, dass er nicht umhinkam, einzuschreiten und beschleunigte seine Schritte. Während er versuchte, sich den Lageplan vor seinem inneren Auge aufzurufen, wappnete er sich, um dem Schreihals Paroli bieten zu können. Scheibenkleister. Wo befand er sich hier nur? Dann erinnerte er sich: Er stand in der Gasse, in der hauptsächlich Küchengeräte, Kerzen, Textilien und verpackte Lebensmittel angeboten wurden.

Entschlossen ging er auf das Grüppchen zu, zu dem sich nun noch weitere der umliegenden Standbetreiber gesellt hatten.

Erleichtert entdeckte er am anderen Ende der Gasse zwei Polizisten, was ihn ungeheuer beruhigte. Die Gesetzeshüter beobachteten das Geschehen ebenfalls, ohne jedoch einzuschreiten. Ansonsten waren nur wenige Besucher in dem Marktabschnitt unterwegs, doch die drehten sich angesichts des Geschreis jetzt auch neugierig um.

Oje, Konstantin bekam eine Ahnung, was Jandrey mit, den Markt zu bewachen, wird kein Spaziergang, das werden Sie sehen, gemeint hatte.

„Guten Tag, die Herrschaften“, trat er in die Mitte und stoppte damit die lautstarke Tirade des Mannes. „Mein Name ist Konstantin Niendorf. Wie ich höre, gibt es Unstimmigkeiten. Vielleicht kann ich behilflich sein? Ab heute bin ich Ihr Ansprechpartner, wenn es Probleme gibt …“

„Wer sind Sie?“ Der ungehobelte Klotz musterte ihn argwöhnisch von oben bis unten, als wäre er ein lästiges Insekt. „Wem wollen Sie denn den Blödsinn erzählen? Wenn hier einer für uns zuständig ist, dann ist das der Schmitz, den kennt doch hier jeder und nur mit ihm werde ich verhandeln und mit sonst keinem.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah sich dann kopfschüttelnd um. „Äh, wo ist der überhaupt? Hat den schon jemand gesehen?“

Die umstehenden Händler hoben ratlos die Schultern und schüttelten die Köpfe.

„Der Schmitz und ich haben nämlich mal drei Takte miteinander zu reden … mich hier so abzuschieben … in die hinterletzte Ecke. Das ist ja wohl eine Unverschämtheit“, posaunte er weiter. „Das lass ich mir nicht gefallen! Ich will meinen Stammplatz am Königsplatz wiederhaben!“ Er stach mit dem Zeigefinger in Konstantins Richtung und versah ihn mit einem grimmigen Blick. „Und das, mein Freund … das können Sie sich mal gleich hinter die Löffel schreiben, wenn Sie hier wirklich was zu sagen haben! Nur damit Sie schon mal Bescheid wissen …“

Konstantin wurde es zu bunt. Es reichte ihm, dass ihn alle wie die neueste Zirkusattraktion anstarrten. Er war noch nie ein Mensch gewesen, der unbedingt in die erste Reihe musste. Dazu kam die Unsicherheit, dass er sich mit der neuen Aufgabe überhaupt noch nicht hatte vertraut machen können und auch die Tatsache, dass er sich vor zwei Frauen profilieren musste, die ganz klar in sein Beuteschema passten.

Ein halbes Jahr Singledasein reichte ihm. Mit jedem neuen Tag sehnte er sich mehr nach einer festen Beziehung. Er hatte es satt, allein zu sein, doch so einfach, wie er anfangs dachte, war es nicht, eine passende Partnerin zu finden. Und nun standen gleich zwei wirklich passable Möglichkeiten vor ihm und er musste sich mit so einem Mist herumschlagen. Energisch hob er deshalb die Hand und gebot dem Grobian Einhalt. Forsch zog er den Dienstausweis hervor.

„Hier! Wie Sie sehen, bin ich ein Mitarbeiter der Stadt Kassel. Ich hoffe, das genügt Ihnen fürs Erste.“

Jetzt galt es, sich Respekt zu verschaffen. Ein Blick in die Runde zeigte, dass sich die Zuhörerschaft aufgrund der unüberhörbaren Diskussion weiter vergrößert hatte.

„Und jetzt noch mal für alle!“ Konstantin machte eine bedeutungsvolle Pause. „Herr Schmitz fällt krankheitsbedingt für mehrere Wochen aus. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er bis zum Ende der Saison wieder gesund ist. Ob es Ihnen nun passt oder nicht“, wandte er sich direkt dem Unruhestifter zu, „bis auf Weiteres bin ich Ihr Ansprechpartner.“

Erneut ging ein Murmeln durch die Runde und Konstantin stellte mit Genugtuung fest, wie sich die Stimmung zu seinen Gunsten änderte.

Nachdem die umstehenden Betreiber ihn begrüßt hatten, kümmerten sie sich wieder um ihre eigenen Geschäfte. Nur der Aufrührer blieb beharrlich an seiner Seite. Konstantin ignorierte das und wandte sich unmissverständlich der hübschen Dunkelhaarigen zu, die – wie er erfreut registrierte – von der blonden Dirndlträgerin Verstärkung bekam. Aufmunternd sah er die beiden an.

Mein Gott, was für wunderschöne große, braune Augen, passend zum Haar und dieser volle, sinnliche Mund, der das ebenmäßige, schmale Gesicht besonders zur Geltung brachte.

Reiß dich zusammen! Du bist im Dienst, rief er sich selbst zur Räson, zog eilig Block und Stift hervor und versuchte, geschäftsmäßig zu klingen.

„Vielleicht sagen Sie zur Abwechslung mal etwas zu der Situation.“

Schnell senkte er wieder den Blick, um seine Bewunderung zu verbergen. „Ach ja, bevor Sie mir Ihre Sichtweise schildern, bräuchte ich zuerst Ihre Personalien.“

„Mein Name ist Isabella Hofer“, erklärte sie mit warmer Stimme und unverkennbarem alpenländischem Akzent. Sie nannte ihm eine Adresse, die er unverzüglich notierte.

„Tja“, sie deutete auf Krüger, „wenn Sie mich nach der Aufregung des Herrn hier fragen, so kann ich nur mutmaßen, warum er so wütend ist.“

„Jetzt lassen Sie mich mal reden“, fuhr der Rüpel erneut dazwischen, „ich sage Ihnen dann schon, was los ist. Es ist nämlich so …“

Entnervt drehte sich Isabella um und wollte gehen.

„Nein“, Konstantin berührte sie am Arm, um sie aufzuhalten. „Bitte bleiben Sie. Geben Sie mir einen Moment.“ Sein charmantes Lächeln erstarb augenblicklich, als er sich dem rechthaberischen Mann zuwandte. „Ich habe Sie aber nicht gefragt, Herr …?“

„Mein Name ist Krüger und ich betreibe seit mehr als zwanzig Jahren meinen Stand auf dem Weihnachtsmarkt in Kassel. Hören Sie, seit mehr als zwanzig Jahren … aber noch nie an so einer abgelegenen Stelle wie dieses Jahr! Das ist …“

„Herr Krüger!“ Konstantin musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht aus der Haut zu fahren. „Ich möchte Ihnen, genauso wie jedem anderen der Betreiber hier, behilflich sein. Sofern es in meiner Macht liegt, doch dafür müssen Sie mir auch die Gelegenheit geben. Es muss möglich sein, dass ich mir einen objektiven Eindruck von den Gegebenheiten verschaffe, um mir ein Ur…“, er räusperte sich, „… ich meine, um nach einer Lösung zu suchen. Dafür haben Sie sicher Verständnis. So, und deswegen bitte ich Sie, auch den Damen hier die Gelegenheit zu geben, Stellung zu nehmen.“

Konstantin drehte dem Querkopf wieder den Rücken zu und richtete nun zum zweiten Mal die Aufmerksamkeit auf Isabella, die angesichts der Situation ein wenig blass geworden war. „Sie sind also nicht die Eigentümerin hier?“

„Nein“, die hübsche Blonde ergriff das Wort. „Wenn ich das kurz erklären darf … wir sind beide Angestellte. Die Betreiberin ist Lena Hofer. Ihr gehört der Feinkostladen. Mein Name ist Fabienne Marx. Die nächsten Wochen werden wir beide hier arbeiten.“

„Ich vermute, es geht darum, dass ich mir gerade einen Espresso zubereiten wollte und ich dafür die Herdplatte angeschaltet habe“, begann Isabella. „Mir war nicht klar …“

„So ein Blödsinn … mir war nicht klar“, äffte Krüger sie nach, „wo kommen wir denn da hin, wenn jeder macht, was er will?“

Konstantin hob die Hand und bedachte den Schreihals mit einem kühlen Blick, worauf er Ruhe gab. Interessiert machte er einen Schritt in Richtung des einladend zurechtgemachten Standes und schaute sich um: Handgefertigte Frühstücksbrettchen, Kochlöffel und Nussknacker neben Brotaufstrichen, Weinbränden und anderen Südtiroler Spezialitäten. In einer Nische entdeckte er dann das Corpus Delicti: eine überalterte Einzel-Kochplatte mit einem angeknacksten Porzellanstecker aus längst vergangenen Tagen, auf der eine klassische Espressokanne stand. Konstantin nahm die Platte kritisch in Augenschein, sagte aber nichts.

„Entschuldigen Sie, aber ich wusste nicht, dass es verboten ist, Elektrogeräte mitzubringen“, erklärte Isabella. „Ich wollte auf gar keinen Fall hier für Ärger sorgen …“

„Aber doch nicht auf so einem Ding, das aus dem vorigen Jahrhundert stammt, einen kaputten Stecker hat und nicht nach den gängigen Regularien geprüft ist“, fuhr Krüger abermals dazwischen. „Glauben Sie, ich will meine Existenz wegen so einer Schluderei verlieren?“

„Herr Krüger!“, rief Konstantin schärfer, als er eigentlich wollte. „Können wir uns darauf einigen, dass ich Sie frage, wenn ich etwas von Ihnen wissen will?“

„Hören Sie doch auf! Was glauben Sie, wen Sie vor sich haben? Einen, der Tomaten auf den Augen hat? Ich bin doch nicht blind! Sie wollen doch nur die jungen Damen hier beeindrucken. Ha, aber nicht auf meine Kosten. Soweit kommt’s noch. Es ist ja wohl klar, wer da den Kürzeren zieht“, plusterte er sich erneut auf.

„Jetzt reicht’s aber!“ Konstantins Gesicht lief vor Zorn rot an. „Ich werde mir ja wohl erst mal einen Überblick verschaffen dürfen. Oder glauben Sie etwa, Ihr Wort ist hier Gesetz?“

„Ist schon gut“, meldet sich Isabella zu Wort. „Ich werde die Platte nicht mehr benutzen. Wenn damit der Streit aus der Welt ist …“ Sie stellte sich vor Krüger und wartete auf eine Antwort.

„Ja … na gut. Dann will ich mal nicht so sein. Aber wehe, Sie benutzen das Ding hinter meinem Rücken morgen doch wieder“, grummelte er misstrauisch.

„Nein, ganz sicher nicht. Herr Niendorf kann die Platte sofort in Gewahrsam nehmen. Ist es dann so in Ordnung für Sie? Wir möchten uns nämlich endlich um unsere Kunden kümmern.“

Tatsächlich beäugten zwei Frauen die Spezialitäten des Südtiroler Standes und interessierten sich besonders für die Holzbrettchen.

Konstantin gab Isabella eine Visitenkarte und nahm die Herdplatte an sich.

An Krüger gewandt, der ihn wie ein Habicht fixierte, sagte er: „Ich hoffe, Ihrer Beschwerde wurde zu Ihrer Zufriedenheit nachgekommen. Einen schönen Tag noch.“

Das knappe Kopfnicken Krügers nahm er als Antwort und setzte seine Erkundung über den Weihnachtsmarkt fort.