Leseprobe Mord in Little Barkham

1

Es war lange nach Mitternacht und die Chester Road sträubte sich wie ein widerborstiges Fell durch Little Barkham.

Mrs Irene Prudence konnte das kaum beeindrucken. Auch wenn die Greisin nicht die Augen einer Katze besaß, wusste sie noch Baum von Strauch zu unterscheiden. Wäre jemand auf die Idee gekommen, sie erschrecken zu wollen, so hätte er mit der Dunkelheit verschmelzen müssen. Ganz wie ein Geist oder der Unsichtbare höchstpersönlich. Doch für solcherart Schrecken hatte Mrs Prudence allenfalls ein Kopfschütteln übrig.

Während sie unbeirrt der Straße folgte, schweifte ihr Blick über die Gärten und Häuser. Sämtliche Fenster waren finster, denn in Little Barkham pflegten die Menschen zeitig ins Bett zu gehen. Zumindest unter der Woche. Die Dorfbewohner mussten früh zur Arbeit aufbrechen, schlimmstenfalls bis ins vierzig Meilen entfernte London fahren. Glücklicherweise blieb Mrs Prudence von dieser Mühsal verschont.

Würde ihr Gatte zu Hause noch das Zepter schwingen, sähen ihre Vormittage wohl anders aus. Archibald Prudence hatte nämlich gern ausgiebig gefrühstückt. Eier, Speck und Toast. Statt Breakfast Tea einen Kaffee mit Sahnehäubchen, dazu die angewärmte Zeitung auf der Sessellehne. Mr Prudence war ein Mann mit höchsten Ansprüchen gewesen, ein Haustyrann, der seine Frau beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte. Seit knapp fünf Jahren lag der liebe Archibald in der Familiengruft. Dass er dort die Gebeine seiner Ahnen umherscheuchte, schloss Mrs Prudence jedoch aus.

Eine Windböe fegte über das bucklige Pflaster, worauf Mrs Prudence ihre vielen Umhänge zusammenraffte. So standhaft sie den Glauben an Geister und Spukgestalten auch verlachte, so sehr plagte die Witterung ihren Körper. In der dunklen Jahreszeit trug sie daher zwei Paar Strümpfe, einen knöchellangen Rock und mehrere Tweed-Umhänge. Mit Hilfe eines Wolltuchs hoffte sie, ihren Kopf warmzuhalten. Oft genug hatte ihre Mutter gepredigt, eine unterkühlte Kopfhaut verursache Schüttelfrost oder noch weitaus schlimmer: Dummheit. Und wozu dümmliche Menschen fähig waren, konnte Mrs Prudence jede Nacht aufs Neue sehen.

Missmutig spähte die Greisin an der Fassade der ehemaligen Feuerwache empor. Der Wind brachte das Schild über der Eingangstür zum Klappern. Trotz der Dunkelheit vermochte sie den Schriftzug und die Abbildung auf dem Schild zu erkennen. Buckley’s Feuerwache war dort in verschnörkelten Buchstaben zu lesen, dahinter ein Krug Bier vor einem Kaminfeuer. Für Mrs Prudence veranschaulichte das Schild auf treffende Weise die Dummheit ihrer Nachbarn.

Vor weniger als fünfzehn Jahren hatte der Blitz halb London in Schutt und Asche gelegt. Der Geruch der Feuerstürme war über Felder und Landstraßen bis nach Little Barkham geweht. Leider schienen ihre Nachbarn aus der Katastrophe nichts gelernt zu haben. Ansonsten hätten sie die Feuerwache wohl kaum in einen Pub verwandelt. Durstlöscher statt Feuerlöscher, dachte Mrs Prudence verächtlich. Mit einem Kopfschütteln raffte sie ihre Umhänge zusammen und setzte ihren Weg fort.

Nach einem Leben voller Entbehrungen kam für sie das Grauen nicht als Geist oder Gespenst daher. Nein, das echte Grauen war ihr der Mensch an sich. Ihr einziges Kind hatte sie im letzten Krieg verloren, während ihr Mann aus zwei Weltkriegen heimgekehrt war. Henry hatte der Tod in einer Spitfire über dem Ärmelkanal ereilt, Archibald hingegen in seinem geliebten Sessel – die Zeitung auf dem Schoß und ein Streifen Speck zwischen den Zähnen. Diese Ungerechtigkeit und nicht zuletzt die Torheiten ihrer Nachbarn hatten Mrs Prudence jedes Vertrauen in die Menschheit geraubt. Deshalb verließ sie ihr Anwesen lediglich, wenn die Bewohner von Little Barkham tief und fest schliefen.

Müden Schrittes passierte sie die Bibliothek, lief an Smolinskis Krämerladen vorbei und näherte sich langsam, aber sicher dem Dorfausgang. Nach dem Cottage vom alten Pinkerton zeichnete die Chester Road eine Linkskurve, hinter der sich die Einfahrt zu ihrem Anwesen befand.

Barkham Manor war Ende des letzten Jahrhundert von Archibalds Vater erworben worden. Die Familie ihres Gatten hatte eines der größten Pressehäuser in der Fleetstreet besessen. Mrs Prudence erinnerte sich allzu gern an die illustren Empfänge und ausschweifenden Feste auf Barkham Manor. Zwischen den Kriegen hatte eine Kapitalgesellschaft den Londoner Verlag aufgekauft, womit Prunk und Luxus ein jähes Ende nahmen. Heute bot ihr das Anwesen nicht mehr als eine Zuflucht vor der verdummten Zeit.

Am letzten Cottage legte Mrs Prudence ein Päuschen ein. In ihrer Erinnerung war der Besitzer ständig nur der alte Pinkerton genannt worden. Ohne Vornamen, ohne Mr oder gar Sir als Anrede. Beim Anblick des Hauses fragte sie sich, ob der Mann überhaupt noch unter den Lebenden weilte.

Das Cottage war bis zum Dach hinauf mit Efeu bedeckt, selbst in den Fenstern wucherte das Gestrüpp. Der Zaun, der den Vorgarten begrenzte, drohte, beim nächsten Sturm umzukippen. Unwillkürlich schaute Mrs Prudence zum Nachthimmel empor. Der alte Pinkerton durfte sich glücklich schätzen. Die Wolken verhießen keinen Sturm, dafür aber baldigen Regen. Ich sollte lieber spurten, ermahnte sich die Greisin, sonst werde ich nass bis auf die Knochen.

Da glaubte Mrs Prudence ein Geräusch zu hören, ein Surren, ähnlich dem Gesumme aufgescheuchter Bienen. Voller Neugier spähte sie die Straße hinunter. Zunächst mochte sie ihren Augen nicht trauen. Über die Chester Road rollte ein einsamer Radfahrer.

Der letzte Mensch, den Mrs Prudence auf einem ihrer Ausflüge gesehen hatte, war Mr Buckley gewesen. Er war mit dem Auto zum Schwesternheim nach Guildford gerast, um eine der Hebammen abzuholen. Damals hatte sich Mrs Prudence für den Wirt gefreut und ihm gleichfalls gewünscht, sein Kind habe nicht dessen Dummheit vererbt bekommen.

Während sich das Fahrrad nur langsam näherte, hüpfte das Licht der Lenkerlampe die Straße voraus. Über dem Geflacker erspähte die Greisin einen strohblonden Haarschopf. Daraufhin meinte sie, eine Uniform zu erkennen. Das war nicht die Montur eines Postbeamten oder Polizisten, sondern eindeutig eine Uniform, wie man sie in der British Air Force trug. Das ist nicht möglich, dachte Mrs Prudence. Nein, das kann nicht sein! Verunsichert suchte sie Halt am Zaun vom alten Pinkerton.

Sobald das Fahrrad und sie auf einer Höhe waren, erkannte sie auch das Gesicht des Mannes. Ohne jeden Zweifel, es war sein Gesicht. Obgleich Mrs Prudence normalerweise die Phantome der Nacht verlachte, befiel sie eine große Angst. Henry! wollte sie dem Mann hinterherrufen. Henry, so warte doch! Aber ihrer Kehle entwich nur ein kläglicher Ton.

Das Fahrrad war schon fast außer Sichtweite, als sich ihr Sohn umwandte und ihr zuwinkte. Wie in der guten alten Zeit, dachte Mrs Prudence, ehe ein heftiger Schmerz in ihrer Brust explodierte.

2

Er wusste, dass die Stille, in der die Bibliothek dem Mausoleum von Westminster Abbey glich, endgültig vorbei war. Die Hände im Rücken gefaltet, stand Arthur Tingwell am Fenster und schaute gedankenverloren zur Chester Road hinaus.

Heute früh hatte der Postbote über seiner Uniform ein Regencape getragen. Später war Mrs Bell, eine Freundin historischer Romanzen, mit einer Dose Kürbiskekse in der Bücherei aufgetaucht. Lucy Melrose würde ihr Fahrrad nun täglich vor dem Haus parken und Mr Smolinski genauso oft über das nasse Laub an seinen Schuhen fluchen. Es war Mitte Oktober und die Witterung trieb die Bewohner von Little Barkham wieder in die Bibliothek.

„Mr Tingwell?“

Ehe sich Arthur umwandte, rückte er seine Krawatte zurecht. „Ah, Lucy! Womit kann ich dir helfen?“

„Haben Sie Bücher über Monsterkraken?“

„Ich kann dir ein Buch über Weichtiere anbieten.“

Die Zehnjährige blätterte sichtlich irritiert in dem Klassiker Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Dann tippte sie auf eine Illustration, die ihren Monsterkraken vor dem Bullauge der Nautilus zeigte. Seit Lucy die Verfilmung im Kino gesehen hatte, brannte sie für die Welten Jules Vernes.

Arthur war es ein Leichtes, ihre Begeisterung nachzuvollziehen. Er selbst hatte seine Eltern unter dem Eindruck von Die Reise zum Mittelpunkt der Erde zur Weißglut gebracht. Ausgestattet mit Hacke und Spaten hatte er in einem Londoner Hinterhof tiefe Löcher gegraben, doch anstelle einer Pforte ins Erdinnere bloß ein paar Knochen entdeckt. Dank seiner Fantasie war aus einer Handvoll Hühnerknochen das Skelett eines Archaeopteryx geworden, aus dem Unterkiefer eines Hausschweins das Maul eines Plesiosaurus.

„Nein, danke, Mr Tingwell. Weichtiere interessieren mich nicht.“ Lucy schniefte mehrfach, als wolle sie so ihre Gleichgültigkeit gegenüber Weichtieren verdeutlichen. Mit dem Ärmel ihrer Schuluniform wischte sie sich den Schnodder von der Nase.

Arthur zupfte aus seinem Jackett ein Taschentuch und reichte es ihr. Das Mädchen ließ ein lautstarkes Schnauben hören. Empört über den Lärm hoben einige Besucher die Köpfe. In der Bibliothek war lautstarkes Schnauben ebenso tabu wie lautstarkes Husten, lautstarkes Schwatzen oder lautstarke Selbstgespräche. Die wenigen Geräusche, die nicht mit bösen Blicken honoriert wurden, waren das Rascheln der Buchseiten und das Knacken der Heizung.

„Das Ungetüm aus Jules Vernes Roman ist kein Krake“, flüsterte Arthur, während er Lucy in einen Nebenraum führte. „Das Tier ist in Wirklichkeit ein Riesenkalmar.“

In dem Raum reihten sich Regale voller Sachbücher bis unter die Decke. Das hieß: viel Historie, dazu Naturwissenschaft und Technik und etliche Ratgeber für den Gartenfreund. Die Bewohner von Little Barkham schenkten ihren Vorgärten, insbesondere dem des Nachbarn, sehr viel Aufmerksamkeit. Wer die Pflege seiner Pflanzen vernachlässigte, nahm das Risiko in Kauf, zum Dorfgespräch zu werden. In der Regel besorgte das Mr Humperdinck mit seiner Redseligkeit. Der Liebhaber galanter Mantel- und Degenabenteuer personifizierte den fleischgewordenen Daily Mirror der Gemeinde.

Nachdem Arthur die Leiter vor das Regal gestellt hatte, pustete er sich in die Hände, als stünde er vor dem Aufstieg eines Achttausenders. Sein Blick schweifte über den Reisebericht des Forschers Ernest Shackleton und weiter zu den Biografien von Madame Curie und Miss Nightingale. Ganz oben auf dem Regal thronte, was Arthur gesucht hatte: eine zwölfbändige Enzyklopädie der Tier- und Pflanzenwelt.

Bevor er Lucy das betreffende Buch hinunterreichte, blies er die Staubflusen vom Einband. Er klärte sie darüber auf, dass Kalmare zum Stamm der Mollusken gehören. „Sie haben keine Knochen. Kraken übrigens auch nicht.“

„Und wie sollen sie dann Schiffe angreifen?“

„Das tun Kalmare nur in Gruselgeschichten.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Jules Verne gelogen hat?“

„Nein, auf keinen Fall. Ich möchte dir einfach raten, in das Buch zu schauen. Es lohnt sich.“

„Das sieht irgendwie langweilig aus.“

„Das täuscht, Lucy. Das Buch ist sogar illustriert.“

„Gibt’s denn Fotos, die Angriffe von Monsterkraken zeigen?“

„Sicherlich nicht. Dafür findest du eine Menge interessanter Fakten. Pass auf, ein Beispiel! Kannst du mir einen Unterschied zwischen einem Kraken und einem Kalmar nennen?“

Lucy schüttelte den Kopf.

„Ein Krake hat acht Arme, ein Kalmar dagegen zehn.“

„Mit zehn Armen kann man auch besser Schiffe angreifen.“

„Ja, das klingt logisch“, sagte Arthur und versuchte eine neue Strategie, um ihr das Buch schmackhaft zu machen. „Was du nicht vergessen darfst, ist die Allzweckwaffe der Kalmare. Der Papageienschnabel. Damit lassen sich die Holzplanken leichter knacken als Walnüsse.“

„Was soll das für ein Schnabel sein?“

Arthur verrückte seine Hornbrille, wie er es immer tat, wenn er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte. „Glaub mir, Lucy. Diese Frage kann dir das Buch beantworten.“

„Wissen Sie was, Mr Tingwell?“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Sie sind ein richtiger Besserwisser.“

„Ja, das ist wohl wahr.“

„Schämen Sie sich deswegen nicht?“

„Manchmal schon. Leider ist meine Besserwisserei eine echte Berufskrankheit.“

„Eine Krankheit“, spottete Lucy. „Wer’s glaubt.“

„Willst du im Medizinbuch nachschlagen? Ihr Name lautet Bibliothekaris arrogantus.“

„Mr Tingwell, das wird meiner Mama nicht gefallen.“

„Dass ich an einer Krankheit leide?“

„Nein, dass Sie ein Besserwisser sind.“

Lucy lebte mit ihrer Mutter in einem Cottage am Dorfrand. Ihr Vater war Pilot in der Royal Air Force gewesen und bei einem Einsatz über dem Ärmelkanal vom Radar verschwunden. Offiziell galt der Mann als verschollen. Cedric Humperdinck hatte Arthur berichtet, dass es Mrs Melrose nicht übers Herz brachte, ihren Gatten für tot erklären zu lassen. Angeblich hoffte sie beständig auf seine Rückkehr.

Seit Arthur das Mädchen kannte, versuchte es unermüdlich, ihn auf eine Tasse Tee einzuladen. Er und ihre Mutter sollten sich wohl kennenlernen. Das Angebot anzunehmen, wäre Arthur allerdings seltsam vorgekommen. Bisher waren er und ihre Mutter einander nie begegnet, weder auf der Straße noch im Überlandbus. Eines der wenigen Lebenszeichen, das er von Mrs Melrose besaß, war das schriftliche Einverständnis, dass sich ihre Tochter in der Bibliothek anmelden dürfe. Bisweilen fragte sich Arthur, ob eine Mrs Melrose überhaupt existierte.

„Deine Mutter mag also keine Besserwisser?“

„Niemand mag Besserwisser.“

„Und woher weißt du das?“

„Weil das so ist, Mr Tingwell. Genau deswegen!“

Arthur schob die Leiter an die Wand und das Mädchen verkrümelte sich samt Buch in den hinteren Winkel der Bibliothek. Dort boten zwei Korbstühle den Senioren die Möglichkeit, sich auszuruhen oder gar ein Nickerchen zu halten.

An seinem Schreibtisch empfingen ihn Mr Buckley und sein Junge. Vater und Sohn hatten ihr Haar mit Hilfe von Pomade seitlich gescheitelt. Über ihren groben Jacken saßen zwei mondrunde Gesichter – das des Jüngeren trug noch die Pausbacken eines Zehnjährigen, das des Älteren war aufgedunsen vom Alkohol.

„Beglücken Sie uns nachher im Pub?“, fragte Buckley.

„Eigentlich wollte ich’s mir heute gemütlich machen.“

„Was ist denn gemütlicher, als den Tag bei ’nem Bier ausklingen zu lassen?“

Während Buckleys Sohn ein Abenteuer der Fünf Freunde ausleihen wollte, hatte sich sein Vater für einen James-Bond-Roman entschieden. Zum fünften Mal wohlgemerkt. Auf einigen Seiten verrieten Buckleys Fingerabdrücke, welche Abschnitte ihm am meisten Vergnügen bereiteten. Entweder befand sich der Agent darin in den Fängen eines Schurken oder in den Armen einer Frau. Hätte Arthur ihn darauf angesprochen, wäre der Wirt garantiert bis zum Scheitel errötet. Aber der Mann brauchte sich nicht vor Arthurs Zunge zu fürchten. Neben der Bücherliebe war der Wille zur Diskretion unabdingbar für die Arbeit eines Bibliothekars. Bücher verrieten nicht nur eine Menge über ihre Urheber, sondern auch manches über ihre Leser.

„Und, Mr Tingwell?“, hakte Buckley nach.

„Tut mir leid, ich habe ein Rendezvous mit meinem Sessel.“

„Können Sie Ihren Sessel nicht auf ein andermal vertrösten?“

„Die gute Mrs Bell hat mir eine Dose selbstgebackener Kekse mitgebracht. Dazu werde ich mir ein Tässchen Tee und einen Krimi gönnen.“

Buckley wandte sich seinem Sohn zu. „Tja, einem echten East Ender ist unser Pub einfach zu dröge. Schade.“

Arthur lebte seit drei Jahren in Little Barkham. Er konnte den Großteil seiner Nachbarn nicht nur mit Namen anreden, obendrein waren ihm auch ihre geheimsten Lesegelüste vertraut. Ungeachtet dessen pflegten einige Arthur unermüdlich nach seiner Herkunft zu bezeichnen. Seitenhiebe wie dieser drängten ihn immer wieder in die Defensive. So fühlte er sich nun dazu genötigt, einen Abstecher in Buckleys Pub anzukündigen.

„Sehr gut, Mr Tingwell.“ Buckley zwinkerte ihm komplizenhaft zu. „Und vergessen Sie nicht die Kekse!“

Lachend verschwanden Vater und Sohn durch die Tür.

Arthur schnappte sich den Handwagen und begab sich in die Romanabteilung. Rückgaben mussten eingeordnet und Vorbestellungen aussortiert werden. Da vernahm er zwischen den Regalen das Getuschel von Mrs Keene und Mr Humperdinck. Beide waren Ende Fünfzig und wohnten in der Church Lane unweit der Kirche zum Heiligen Nikolaus. Obwohl sie sich draußen ungehemmt austauschen konnten, zogen sie es vor, hier zu tratschen. In Gedenken an die Reaktion auf Lucys Schnauben hätte Arthur das Paar um Ruhe bitten müssen. Aber Eleanor Keene genoss in diesen Räumen gewisse Privilegien. Als Gattin des Ortsvorstehers hatte sie durch einen Spendenaufruf den Kauf einer Heizlüfters ermöglicht. Außerdem stammten von ihr die Korbstühle, die Dahlien am Fenster und das gerahmte Wandbild Ihrer Majestät.

„Und wie hat er die Frau umgebracht?“, flüsterte Mrs Keene.

„Erschlagen“, sagte Mr Humperdinck. „Kaltblütig erschlagen.“

„Ich will gar nicht wissen, wo das Unglück geschehen ist.“

„Recht so, meine Teuerste. Das sollte dich nicht kümmern.“

„Jetzt kitzelst du aber meine Neugier.“

„Eleanor, nein. Das würde dir den Schlaf rauben.“

„Im Krieg habe ich mich von Brotsuppe ernährt. Von Brotsuppe, mein Lieber! Also, bitte!“

Mr Humperdinck räusperte sich, bevor er im Tonfall eines Verschwörers erwiderte: „Mrs Prudence ist in ihrem Sessel ermordet worden. Genaugenommen in ihrem Lesesessel.“

Arthur hörte Mrs Keene aufgeregt nach Luft schnappen. In einer Bücherei vom Tod im Lesesessel zu erfahren, war genauso bitter, wie in einem Fischladen von einem Ertrunkenen erzählt zu bekommen. Nein, korrigierte sich Arthur. Das Meer war nicht unser Zuhause. Das Meer war ein Ort voller Untiefen, in denen Riesenkraken und Riesenkalmare ihrer Beute nachjagten. Aber der Sessel im trauten Heim? Darin verstarb man höchstens vor Langeweile wegen eines drögen Romans.

Auch wenn sich Arthur und Mrs Prudence nicht persönlich gekannt hatten, war er mit ihrem Lesegeschmack bestens vertraut gewesen. In ihrem Auftrag hatte der junge Hawkings regelmäßig Bücher ausgeliehen und sie mit dem Fahrrad nach Barkham Manor gebracht. Nicht ein einziges Mal hatte sich Mrs Prudence über Arthurs Auswahl beschwert. Vielleicht hatte er deshalb Sympathien für die Dame entwickelt.

„Woher hast du von ihrem Tod erfahren?“, fragte Mrs Keene.

„John Ratcliffe hat’s mir erzählt“, sagte Mr. Humperdinck.

„Etwa John Ratcliffe, der Gärtner?“

„Jawohl, der Gärtner und Aufschneider. Als er heute Morgen seinen Dienst antreten wollte, war die Polizei bereits auf Barkham Manor.“

Arthur sah, wie sich Mrs Keenes Finger um eines der Regale krampften, ganz so, als drohe der Schock, sie niederzustrecken. Rasch langte er ein x-beliebiges Buch und markierte den Beschäftigten.

„Und Peter Hawkings?“, fragte Mrs Keene. „Was war mit dem?“

Als Arthur den Namen des jungen Mannes aufschnappte, begann sein Herz zu rasen. Fast hätte er genauso wie Mrs Keene zuvor am Bücherregal Halt gesucht.

„Hawkings soll im Polizeiauto gesessen haben“, sagte Mr Humperdinck. „Auf der Rückbank und in Handschellen.“

„Also hat man ihn festgenommen?“

„Ja, in dieser Hinsicht war Ratcliffe unzweideutig.“

„Leider habe ich Mrs Prudence nie persönlich kennengelernt. Ich würde aber behaupten, keiner verdient so ein Schicksal. Keiner in Little Barkham.“

„Meine Rede, Eleanor. Meine Rede.“

„Weiß man, weshalb er Mrs Prudence umgebracht hat?“

„Dazu hat Ratcliffe nichts gesagt.“

„Und die Polizei?“

„Die auch nicht.“

„Irgendwer muss doch was wissen.“

„Meine Teuerste, in die Köpfe solcher Unmenschen kann man nicht reingucken“, hörte Arthur Mr Humperdinck sagen. „Da hilft kein Arzt und kein Sanatorium. Da hilft nur der Strick!“