1. Kapitel
Lancashire, 2023
John wusste, was ihn erwartete, als er nach einer halben Ewigkeit wieder im ›Hills Inn‹ stand. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
Fast wie in einem Saloon, dachte er und schlenderte zur Theke, die Hank gerade wischte.
»Mit dir hätte ich nicht gerechnet«, sagte dieser und musterte ihn neugierig.
Nicht minder interessiert waren die Blicke der Gäste. Teilweise verrenkten sie sich ihre Hälse, nur um einen Blick auf ihn zu werfen, als wäre er die Attraktion in einem Zirkus. John war alles andere als begeistert, aber er hatte es kommen sehen und sich darauf eingestellt.
»Ein Ale bitte.« Er legte das Geld direkt auf den Tresen. Hank musterte den großen Schein misstrauisch, nahm ihn aber an.
John sah, dass er ihn heimlich auf seine Echtheit prüfte. Natürlich vertraute er ihm nicht. Es war riskant, mit so viel Geld umherzulaufen und es allen zu zeigen, aber diese Dorftrottel würden sowieso nicht begreifen, was es damit auf sich hatte.
Er bekam sein bestelltes Ale. Hank fragte ihn, ob er auch den Burger der Woche haben wollte, aber John lehnte dankend ab. Er hatte eigentlich nur geplant, sich den Leuten mal wieder zu zeigen und ihnen zu beweisen, dass er keine Angst hatte. Dafür reichte auch ein Bier. Sein knurrender Magen sagte etwas anderes.
»Sicher, dass du auf den Chickenburger verzichten willst? Die Sauce darauf ist ein Spezialrezept.« Hank machte gern Werbung für seinen Fraß.
»Nein, danke. Ich werde mir später was im Supermarkt holen. Ich muss mein Geld zusammenhalten.«
»Also, mir sah das nicht danach aus.« Hank zwinkerte und wischte weiter auf der zerkratzten schwarzen Theke herum.
John behielt seine Geheimnisse für sich, wie er es immer tat. Es reichte, dass wenige eingeweiht waren.
Mit der Flasche am Mund sah er sich um und nahm einen tiefen Schluck. Wie hatte er dieses widerliche Getränk vermisst! Das Ale schmeckte wie eine Mischung aus Zucker und Abwasser, aber es machte süchtig und war gleichzeitig herb und erfrischend. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen, dass man tatsächlich Hexen beauftragt hatte, dieses Bier auf dem Pendle Hill zu brauen.
»Was machst du hier?«
John wandte sich um und wollte sehen, wer ihn da so frech anfuhr. Es war Brian Downing, Jolenes Sohn. Ein Schlägertyp mit Elvis-Frisur und eng stehenden Augen. Seine Akne war nicht besser geworden, und er hatte große Schweißflecken unter den Armen. John ließ sich von seiner Größe nicht einschüchtern. Er wusste, dass selbst Inspector Evans den Hünen mit ein, zwei gezielten Schlägen schon ausgeschaltet hatte.
»Kann ich dir helfen, Brian?«
»Kannst du, indem du verschwindest.«
»Bedaure, aber das ist ein freies Land, nur dass ich nicht so frei entscheiden kann, wohin es geht.« Er hob das Bein mit der elektronischen Fußfessel. »Bewege ich mich auch nur ein paar Meter über die Grenzen des Borough, werde ich wieder verhaftet. Ich muss also in Pendle sein, ob es dir gefällt oder nicht. Lust auf ein Ale? Ich lade dich ein«, sagte er versöhnlich, aber Brians Miene blieb verschlossen.
»Nein, danke, ich muss noch arbeiten«, brummte er und verschwand wieder in der Küche.
Hank zuckte mit den Schultern und begann damit, Gläser zu polieren, während seine Angestellte Candice die Tische bediente. »Du kennst ihn.«
»Tue ich. Nate und Brian haben früher das Städtchen unsicher gemacht und auch mich und meine …« Er schluckte, als er an Katherine dachte. John setzte ein Lächeln auf. »Na, jedenfalls haben sie für ziemlich viel Unruhe gesorgt, wie ich als Bürgermeister noch ganz genau weiß. Und Brian hilft dir nun hier im Pub?«
»Tut er. Ich bin auch fast nicht mehr sauer, dass er seinen Freund gedeckt hat, der Myrna mit dem Auto überfahren wollte und stattdessen mich getroffen hat.«
»Was ist mit diesem Nate?«
»Hat sich verkrümelt, als es eng wurde«, erzählte der Wirt, dessen Holzfällerhemd sich über seinen Muskeln spannte. Er legte den Lappen beiseite. »Ich habe einen Schrecken und ein Humpeln davongetragen, aber damit kann ich leben. Es soll bald besser werden. Ich wollte aber nicht, dass sich Jolenes Sohn auf ewig Vorwürfe macht. Er hat seine Lektion gelernt und trinkt kaum noch. Der schlechte Einfluss ist raus aus der Stadt, also gibt es nichts, was uns Sorgen machen muss.«
»Doch, du machst uns Sorgen, und zwar gewaltige!«, keifte jemand in seinem Rücken.
John drehte sich erstaunt um und musste seinen Kopf senken, um Lucretia Miller in die kleinen braunen Augen zu sehen. Ihr kurzes rotes Haar war verschwunden und einem erwachsenen Grau gewichen. Plötzlich sah sie wieder aus wie ein Mensch und nicht wie ein Gnom.
»Kann ich dir helfen?«
»Kannst du, indem du verschwindest und unser geliebtes Pendle in Ruhe lässt!«
Einige andere nickten dazu.
»Ich kann nur wiederholen, was ich auch Brian gesagt habe. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht von hier weg. Die Justiz zwingt mich dazu, bei euch zu leben. Das bedeutet, dass wir ab jetzt Nachbarn sind.« Er lächelte so warm, wie es ging. Nur die Ruhe, John, sprach er auf sich ein. Niemand weiß, was du in Pendle machst und was deine Pläne sind. Sobald du wieder Bürgermeister bist, werden sie sich um dich reißen und dir deine Taten vergeben. Die Menschheit ist kurzlebig und vergesslich. Nutze das für dich.
Lucretias Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Tiefe Furchen gruben sich in Wangen und Stirn. »Vergiss es! Ich werde dich hier nie akzeptieren!« Sie knallte ihr Schnapsglas mit solcher Wucht auf den Tresen, dass feine Spritzer auf der frisch gewischten Fläche landeten. Sie marschierte zum Ausgang und sah sich nicht mehr um.
»Lu, reiß dich zusammen!«, rief Hank ihr hinterher, doch da flog die Tür schon zu. Kalte Luft und ein kleines Schneegestöber wirbelten in den Schankraum. »Diese verrückte alte Frau«, murmelte er und wischte den Tresen abermals ab.
Beinahe hätte John gegrinst, weil Lucretia sich sogar strecken musste, um ein Glas abzustellen. Sie war wahrscheinlich der kleinste Erwachsene, den er kannte.
»Ich nehme es nicht persönlich. So war sie immer und wird immer so bleiben.« John spielte den Entspannten, obwohl es in seinem Inneren stürmte. Wenn alle gegen ihn waren, würde er seinen Plan nicht durchführen können. Es wurde Zeit, ein paar Gemeindemitglieder auf seine Seite zu ziehen.
Er trank in Ruhe weiter und ließ den Blick kreisen, bis er an Callan Healy hängen blieb, der an einer Cola nippte und mit einem Mann sprach, den John vage kannte. »Darf der schon hier sein?«
Hank sah auf und folgte seinem Blick. »Ausnahmsweise, weil er bald sechzehn ist. Bitte verrate das niemandem, sonst kriege ich Ärger.« Als er Johns Blick bemerkte, fuhr er schnell fort. »Aber ich gebe ihm keinen Alkohol aus, da bin ich strikt.«
»Ich bin wohl der Letzte, der dir Schwierigkeiten macht.« Und schon hatte er etwas in der Hand, um den Wirt zu erpressen. Am besten sammelte er von jedem Nachbarn Geheimnisse und Regelverstöße, um sie zur Not dazu zu zwingen, ihre Stimme für ihn abzugeben. Die Politik war ein hartes Pflaster. Niemand spielte fair. John hielt sich lediglich an die Spielregeln.
In diesem Moment schnappte er Fetzen von Callans Gespräch auf: »… sage dir doch … nicht ausgedacht … Goldschatz gibt es wirklich!«
John konzentrierte sich noch etwas mehr auf die Worte der beiden.
»Du spinnst doch, Callan«, antwortete sein Gegenüber. »Niemand wird dir je helfen, einen Schatz zu bergen, den es nicht gibt. Es ist viel zu gefährlich da unten.«
»Aber die Münze …«
»Die hast du doch aus einem Kaugummiautomaten. Sicher kann man die Hülle abziehen und die Schokolade darin essen.«
John wartete, bis der andere gegangen und Callan allein war. »Ich ziehe mich mal an einen Tisch zurück.«
»Mach das, aber bitte nicht für Ärger sorgen.« Hank musterte ihn. »Du weißt, dass dich hier einige als Mörder und andere als Kinder- oder Leichenschänder sehen.«
»Ich habe ja niemandem wehgetan.« Außer der Familie Fernsby. »Hat nicht jeder eine zweite Chance verdient?« Die Frage ließ er so stehen und schlenderte hinüber zu Callan Healy, der erschrocken aufsah, als er sich setzte.
»John … Birming? Ich dachte, du gehst nicht mehr unter Leute.«
»Frech und direkt, so mag ich meine Gespräche. Du solltest in die Politik gehen, mein Junge.«
»Ich darf noch nicht einmal wählen. Das dauert noch ein paar Jahre. Was willst du?«
»Muss ich denn etwas wollen? Wieso plaudern wir nicht einfach ein bisschen?«
Callans grüne Augen verengten sich zu Schlitzen. Er war skeptisch. »Du hast nie mehr als ein paar Worte mit mir gewechselt. Wobei von Wechseln bei deinen öden Monologen wohl kaum die Rede sein kann.«
John schluckte den Ärger über den vorlauten Bengel herunter und lächelte weiterhin. Früher hätte er einen kleinen verbalen Kampf zu schätzen gewusst, aber er war mittlerweile dünnhäutig geworden. »Umso wichtiger, dass wir jetzt reden. Ich habe da etwas von einem Schatz gehört?«
Callan traute ihm nicht. Das sah er an seiner gerunzelten Stirn. Außerdem kaute er auf seiner Unterlippe wie jemand, der kräftig abwägte. »Du musst dich verhört haben.« Er wich ihm aus.
»Nicht doch.« John lachte leise und trank von seinem Ale. »Ich bin der Letzte, der dir das Gold wegnimmt. Mein Vorstrafenregister ist so lang, dass ich in jedem Fall die Finger davon lassen muss.«
»Du glaubst mir also das mit dem Gold?«
»Nun … es klingt im ersten Moment ziemlich … fantastisch. Einige werden dich sicher als verrückt und besessen abstempeln oder dich als naives Kind bezeichnen.«
»Ich sage die Wahrheit! Hier, sieh selbst!« Callan schob eine alte Goldmünze über den Tisch, auf der ein Mönch abgebildet war. Die Prägung sah echt aus, aber heutzutage gab es auch sehr gute Fälschungen.
»Darf ich?«
Callan zögerte, gab sie ihm aber.
John sah sich das gute Stück aus der Nähe an. »Und obwohl du den Leuten das hier gezeigt hast, haben sie nicht angebissen?« Er hatte die Gemeinde unterschätzt. »Nicht einmal Jolene Downing, die gierige alte Hexe?«
»Der zeige ich das auf keinen Fall.« Callan schüttelte den Kopf.
»Seltsam, denn ich glaube dir auf Anhieb. Das hier sieht echt aus. Und sie ist schwer.« John hatte keine Ahnung von Münzen. Immer schön Honig ums Maul schmieren, dann hast du die Jugend schon bald in der Tasche. Andererseits sieht die Münze wirklich interessant aus. Vielleicht ist ja was dran.
»Unfassbar, oder?«, rief der Teenager und fühlte sich offenbar verstanden. Es war so einfach, Jugendliche um den Finger zu wickeln. Sie waren durchweg emotionsgeladen, gestresst und sprunghaft. »Ich suche noch nach einem Profi, der mir die Echtheit bestätigt.«
»Ich könnte dich mit jemandem zusammenbringen.« John gab ihm das Gold zurück.
Hastig packte Callan die Münze weg. John merkte sich, in welcher Tasche sie war. »Und du bist dir sicher, dass da, wo diese Münze herkommt, noch viel mehr davon lagert?«
»Es muss so sein, denn der Schatz wurde nie geborgen. Die Mönche haben ihn vor vielen Jahren im Zuge von Plünderungen dort versteckt. Da, wo das Chamberling-Haus heute steht, war damals ein Kloster. Sie müssen die Tunnel gegraben haben, um ihren Schatz zu verstecken und die Räuber in die Irre zu führen.« Callan schien zu merken, dass er etwas viel ausplauderte. Er biss sich deutlich auf die Wange und senkte den Blick. »Aber was erzähle ich dir eigentlich davon?«
John lächelte. »Oh, vor mir brauchst du gar keine Angst zu haben. Ich darf mich an keinen illegalen Machenschaften beteiligen, sonst lande ich direkt wieder im Gefängnis, dieses Mal ohne Hoffnung auf Freilassung. Sobald der Empfang meiner Fußfessel nur einmal unterbrochen wird oder ich sie abnehme, stürmt ein ganzes Bataillon von Polizisten das Städtchen und nimmt mich fest.«
Callan sah wieder auf. »Und da es in den Tunneln keinen Empfang gibt, kannst du den Schatz nicht heben, selbst wenn du wolltest.«
»Ganz recht. Darf ich dich auf ein Getränk einladen?« John deutete auf sein leeres Colaglas.
»Gern, aber nur, wenn du es schaffst, mir ein Bier zu bestellen, ohne dass Hank es merkt.« Sein Grinsen war frech und steckte John dieses Mal tatsächlich an. Callan erinnerte ihn sehr an sich selbst in jungen Jahren. Er war ein genauso großes Schlitzohr gewesen.
Verschwörerisch zwinkerte er. »Das sollte möglich sein.«
***
Callan schwankte leicht, dabei hatte er nur zwei köstliche Ale getrunken. Er wunderte sich, dass er nicht so viel vertrug wie andere in seinem Alter. Wahrscheinlich war er einfach nicht daran gewöhnt.
Er suchte in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel. Seine Mutter würde toben, wenn sie ihn angetrunken und so spät hier erwischte, aber sie war heute beim Geburtstag einer Freundin in Blackburn und würde erst im Morgengrauen wiederkommen.
Callan grub tiefer in den Taschen. Er fand seinen Schlüssel, aber die Goldmünze war weg. Panisch stülpte er sie um und durchsuchte im Anschluss seinen Rucksack. Irgendwo musste sie doch sein!
So ein Mist!, schrie er innerlich. Die heißeste Ecke der Hölle für dich, Callan! Wie konntest du nur das Wertvollste, was du hast, verlieren? Der Teufel soll dich quer verschlucken! Es folgten noch ein paar weitere irische Flüche für sich selbst, bis er sich etwas beruhigte.
Sein Schädel brummte höllisch. Es fühlte sich an, als würde jemand aus seinem Gehirn Scheiben schneiden. Plötzlich war die Münze zweitrangig. Er übergab sich in ein Blumenbeet und hoffte, dass Fiona auch das nicht bemerkte. Callan brauchte drei Versuche, die Tür zu öffnen.
Hundemüde fiel er ins Bett.
***
Mit einem schalen Geschmack im Mund und noch immer in den Klamotten vom Vortag wachte Callan auf, weil ihm die Sonne mitten ins Gesicht schien. Müde streckte er sich. Seine Kopfschmerzen waren noch da, aber nicht mehr so schlimm wie am Abend davor.
Schlagartig war er wach und setzte sich kerzengerade auf. Die Münze! Wo ist meine Münze? Wenn ich sie nicht habe, glaubt mir erst recht niemand!
Eilig suchte er das Zimmer ab und stolperte die Treppe hinunter, um dort zu suchen. Danach war der Vorgarten dran. Callan wollte gerade den Weg zurück zum ›Hills Inn‹ verfolgen, als er etwas im Gras glitzern sah. Erleichtert hob er die Goldmünze auf und presste sie an seine Brust. Er hatte sie also wirklich verloren, dem Alkohol sei Dank.
Das wird mir garantiert nie wieder passieren!
Erst danach fand er die Ruhe, sich die Zähne zu putzen und zu duschen. Seinen Schatz ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen.
Callan wunderte sich bloß, dass er die Münze nicht bereits in der Nacht gefunden hatte, weil er sich einbildete, an ebenjener Stelle nachgeschaut zu haben. Tja, Alkohol machte eben blind.
Er schwor sich, nie wieder zu trinken. Zum Glück war dieses Mal alles gut gegangen, auch wenn ein schlechtes Bauchgefühl blieb.
2. Kapitel
Lancashire, 2024
Myrna betrachtete schweigend den Tatort. Sie schenkte Police Sergeant Ward Harrison ein Lächeln, als ihr dieser einen Becher Kaffee hinhielt. Mit Tee hatte sie es nicht so.
»Kein schöner Anblick«, sagte er und atmete hörbar aus.
»Das ist es nie, Harrison, das ist es nie«, murmelte Myrna leise.
»Dass er nicht mehr sehr beliebt war, konnte man sich bei seiner Vorgeschichte denken, aber dass man ihn gleich erschießt, hätte ich trotzdem nicht erwartet.« Er fuhr sich über den grau melierten Bart, während er grübelte.
Myrna kniete sich neben die Leiche, die ausgerechnet zwei Kinder aus dem Ort entdeckt hatten. Gerade war eine Polizeipsychologin auf dem Weg zu ihnen, um mit den beiden zu reden.
Ward sperrte den Tatort ab und kümmerte sich im Anschluss um die ersten Schaulustigen. Das konnte er gut. Seit er nicht mehr trank und sich aufopferungsvoll um seinen kleinen Vierbeiner Harry kümmerte, war er ein ganz neuer Mensch und nahm seine Arbeit ernst.
Myrna begann, den Boden rings um die Leiche abzusuchen, fand aber keine Patronenhülse. Der Mörder musste sie mitgenommen haben. Dafür steckte hoffentlich das Projektil noch in John Birmings Brust. Auf Herzhöhe war er getroffen worden. Lange gelitten hatte er wohl nicht, sondern war sofort tot umgefallen. Seine Augen waren weit aufgerissen. Myrna sah den Unglauben darin. Er hatte nicht damit gerechnet, zu sterben. Hatte er seinen Mörder also gekannt und ihm vertraut?
Die Spurensicherung suchte weiter und ließ Myrna und Ward den Leichnam genauer inspizieren.
»Hätten Sie gedacht, dass er mal so endet?« Sie sah sich die Wunde aus der Nähe an. Danach leuchtete Myrna in Birmings starre Augen, konnte aber nichts Verdächtiges finden.
»Dass ihn jemand tot sehen wollte, mit Sicherheit, aber dass er frühzeitig stirbt, eher nicht. Er war jemand, der sich immer irgendwie durchs Leben gemogelt hat.« Man hörte Abscheu in seiner Stimme. »Nach der Sache mit Katherine und der jungen Hope Fernsby hatten die meisten geglaubt oder vielmehr gehofft, ihn nie wiederzusehen.« Da Harrison ein Freund der Familie Fernsby war, war ihm der Fall umso näher gegangen. Myrna fragte sich, ob ihn das automatisch verdächtig machte. »Nun taucht er wie aus dem Nichts auf und wirft alles wieder durcheinander, nachdem endlich Ruhe eingekehrt ist. Kein Wunder, dass sich jemand gestört gefühlt und ihn ermordet hat.« Ward klang fast gelangweilt, als er das sagte. Als würde ihm der Tod dieses Menschen gar nicht nahegehen. Dabei war Birming einst ein angesehener Bürger des nordenglischen Städtchens gewesen. Jemand mit Einfluss, einem smarten Zahnpastalächeln, immer den passenden Worten für die richtige Situation und einem guten Ruf. Allerdings ließ sich Sergeant Harrison nur von wenigen Menschen beeindrucken, wie Myrna wusste, erst recht nicht von schwatzenden Politikern. Sie war eine von denen, die Ward mittlerweile akzeptierte, und stolz darauf.
Myrna suchte weiter nach Hinweisen auf den Täter, aber der Boden war zu hart für Schuhabdrücke. Der Pendle Hill war sauber und unberührt, wenn man von Birmings Leiche einmal absah. Ob sich am Körper DNA befand, würde das Labor in Preston herausfinden.
»Keine Schmauchspuren an seinem Hemd, zumindest keine sichtbaren.« Er kniff die Augen zusammen und sah noch einmal ganz genau hin. »Werden die Kriminaltechniker klären müssen. Vor lauter Blut erkenne ich kaum was.«
»Das würde bedeuten, dass von weiter weg geschossen wurde. Meinen Sie, der Täter hat ihn überrascht? Zumindest trägt er selbst keine Waffe am Körper, und es sieht mir auch nicht nach einem gewöhnlichen Spaziergang aus. Sehen Sie das hier?« Myrna deutete auf Birmings Ärmel. »Da sind schwarze Flecken, eine Art Kruste. Wir müssen das ins Labor schicken. Vielleicht kann uns das Aufschluss über den Täter geben.«
Harrison kümmerte sich darum.
»Was hat Birming überhaupt so spät am Hill gemacht?«, fragte sie weiter.
»Vielleicht in Erinnerungen geschwelgt.« Ward gluckste kurz. Er hatte bisweilen eine seltsame Art von Humor und klang dabei fast wie Myrnas beste Freundin Thea.
Apropos … Sie sah sich um. Weit und breit war von Thea nichts zu sehen, dabei war sie meistens als Erste vor Ort, wenn etwas Aufregendes, erst recht ein Mord, passierte. Für gewöhnlich wollte sie den Fall dann direkt auf ihrem Blog hochladen und mit ihren Followern über mögliche Verbrecher und den Tathergang diskutieren. Sie musste schon sehr beschäftigt sein, wenn sie nicht auftauchte.
Myrna erhob sich schwungvoll und gab den Kollegen ein Zeichen. Die Fotos waren im Kasten, der Tatort abgesteckt und abgesperrt. Sie konnten die Leiche nun verladen und wegbringen.
»Vielleicht war er hier mit jemandem verabredet«, murmelte sie und redete mehr mit sich selbst als mit Harrison. »Und dieser Jemand hat Birming in eine Falle gelockt, ihn dann erschossen und hat seine Spuren weitestgehend verwischt.«
Ward nickte nachdenklich. Mit einem Ächzen erhob auch er sich. Bei seinem Übergewicht war es kein Wunder, dass er bei jeder Bewegung schnaufte und keuchte wie eine Dampflok. Harrisons Bauch wölbte sich deutlich unter seiner Polizeiuniform. Dennoch hatte Myrna das Gefühl, dass er abgenommen hatte. Harry schien einen guten Einfluss auf ihn zu haben. Es war richtig gewesen, Ward den kleinen Jack Russell Terrier zu überlassen.
Myrnas Gedanken schweiften schon wieder ab. Sie dachte zu viel an ihre eigenen Sorgen und war eigentlich nicht bereit für einen neuen Fall.
»Inspector?« Wards Stimme drang wie durch Watte zu ihr durch, doch sie wurde mit dem nächsten Satz klarer. »Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt und wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen, aber Myrna wich ihm aus.
Sie sah ihn an und zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich, besser denn je. Ich bin bloß wütend, weil wir schon wieder einen Mordfall bearbeiten müssen, und das auf engstem Raum. Was ist nur los mit den Menschen in Lancashire?«
»Das frage ich mich seit meiner Kindheit.« Er lachte grunzend. »Wie ich immer sage: Auf dem Dorf passieren mehr grausame Verbrechen als in der Stadt. Da wirst du vielleicht bestohlen oder zusammengeschlagen, aber in einem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt, lauert das wahre Böse. Ich mag nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer ist.«
Myrna nickte. Sie war angespannt. Wenn sogar Harrison bemerkte, dass sie sich anders benahm, sollte sie sich langsam lieber zusammenreißen. Sie lenkte das Gespräch daher schnell wieder auf die Ermittlung zurück, ehe sie erneut an den Brief dachte, der zu Hause unter ihrem Kopfkissen lag und noch immer darauf wartete, beantwortet zu werden.
Myrna deutete auf Birming. »Er wird viele Feinde gehabt haben. Wir müssen ganz von vorn anfangen.«
»Und wo ist vorn?«
Sie suchte Harrisons Blick und hielt diesen fest. »Bei seiner Frau Katherine im Gefängnis.«
***
Thea kümmerte sich liebevoll um den verängstigten Pfarrer, der noch immer am ganzen Leib zitterte.
»So etwas wie ein Schuss wird Sie doch nicht aus der Fassung bringen, Reverend.« Sie lächelte, um ihn aufzumuntern, und hielt ihm ein Gläschen seines selbst gebrannten Himbeergeistes hin, der widerlich schmeckte, aber heute vielleicht half. Er brauchte jetzt etwas Stärkeres als Tee. »Sie haben schon ganz andere Dinge durchgestanden.« Zum Beispiel das kranke Psychospiel meines Dads.
»Sie sind nicht dort gewesen, Alethea. Ich habe rein gar nichts gesehen und wusste nicht, aus welcher Richtung der Schuss kam und ob er mich knapp verfehlt hat.«
»Standen Sie denn nah am Täter?« Thea verband ihre Sorge um den alten Mann gleich mit einem kleinen Verhör. Je eher sie Myrna half, desto besser.
»Ich weiß es nicht.« Hughing musterte sie aus seinen schreckgeweiteten blauen Augen. Die Angst schien noch immer tief zu sitzen. »Da war eine Gestalt, die im Wald verschwunden ist.«
»Mann oder Frau?«
Er überlegte, doch sein runzliges Gesicht bekam nur noch mehr Falten. »Ich wünschte, ich könnte helfen, aber eigentlich war ich ganz froh, dass der Schütze in den Wald gelaufen ist statt auf mich zu. Sonst wäre ich jetzt womöglich auch … Der Silhouette nach zu urteilen hätte das jeder sein können. Ich habe ihn nur ganz kurz und aus weiter Ferne gesehen.« Er schloss die Augen. Seine langen knochigen Finger hielten das Glas so fest umklammert, als wäre es sein Rettungsanker. Dann stürzte er den Inhalt in einem Zug herunter und verzog das Gesicht angewidert. »Das brauchte ich jetzt wirklich. Danke, Alethea.«
Theas Handy vibrierte. Es war Oakley, der nach einem Treffen fragte, doch sie schloss den Chat vorerst und würde später antworten. Im Moment ging der Reverend vor.
»Ruhen Sie sich aus und lassen Sie die Messe heute mal ausfallen.«
»Gott macht keine Pause.«
»Aber Gott ist auch nicht menschlich, Sie dagegen schon.« Ihr Lächeln wirkte hoffentlich aufmunternd. »Ich kümmere mich um das nächste Begräbnis und hebe das Loch aus.«
»Für John Birming?«
Thea schmunzelte angesichts seiner aufgerissenen Augen. »Nein, das für die alte Mrs Kelly. Sie ist vorige Woche gestorben, falls Sie sich erinnern.«
An seinem Gesicht sah sie, dass er es tat. Mrs Kelly hatte vor ihrem Tod verfügt, auf dem St. Benet’s Churchyard beerdigt zu werden. Ihre Familie wünschte sich zudem eine kleine Trauerfeier mit den engsten Angehörigen. Groß würde der Aufwand also nicht werden, was Thea entgegenkam. Erst recht, wenn sie das Häufchen Elend sah, das zusammengesunken im Sessel vor ihr saß. Der Pfarrer war kaum in der Lage, seine zitternden Hände stillzuhalten, also auch nicht für eine Trauerfeier bereit, bei der er Ruhe ausstrahlen und die richtigen Worte finden musste.
»Ich bezweifle, dass man Birming so schnell beerdigt«, meinte Thea. »Sein Körper ist jetzt erst einmal ein Beweisstück und wird in der Rechtsmedizin von Preston aufgeschnitten.«
Er fuhr sich durch das schüttere weiße Haar. Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen. »Wie schrecklich. Ich bete für seine Seele und hoffe, dass er Frieden findet.« Hughing bekreuzigte sich. »Ein Mörder in Pendle? Schon wieder? Ich muss sagen, dass sich die unnatürlichen Todesfälle seit Ihrer Anreise häufen.« In seinen Augen sah sie, dass er nur scherzte, aber Thea erkannte auch Angst darin. Nicht vor ihr, doch Pendle schien dem alten Mann nun nicht mehr geheuer zu sein.
»Von einem Unfall kann man bei dieser Art Wunde wohl nicht ausgehen, auch nicht von einem Selbstmord. Ich werde Evans nach den Umständen fragen müssen. Sie ist gerade am Tatort.«
Hughings Zittern erstarb. Er beugte sich vor und lächelte traurig. »Und wieso sind Sie dann hier und nicht dort? Ich kenne Sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass man Sie kaum von einem Tatort fernhalten kann.«
Thea erwiderte das Lächeln. »Es gibt für mich nicht nur die Toten, Reverend. Und wenn ein Freund meine Hilfe braucht, lasse ich meinen Blog auch mal ruhen.«
Schweigend lächelten sie sich an, bis die Tür aufging und ausgerechnet ihr Vater hereinkam.
»Ach, Thea, du bist es nur. Ich habe befürchtet, dass diese neugierige Lucretia Miller vorbeigekommen ist, um Peter mit Fragen zu bedrängen. Sie und Jolene scheinen noch nichts von Birmings Ableben gehört zu haben.«
Er plauderte mit ihr, als wäre es das Normalste der Welt. Theas Magen stauchte sich zusammen. Sie wich seinem Blick aus und konzentrierte sich ganz auf den Reverend, der sich erschöpft auf die Couch legte. Myrna würde ihn später sicher noch befragen, also sollte er bei Kräften sein, wenn sie eintraf.
Thea legte ihm eine Decke über den Körper und verabschiedete sich. Mit gesenktem Kopf ging sie an Nathan vorbei und verließ das Haus.
»Warte bitte!« Er hielt sie am Arm zurück, was ihr missfiel. Als er ihren strengen Blick bemerkte, lockerte er seinen Griff, hielt sie aber weiterhin fest. »Möchtest du mich jetzt mein ganzes restliches Leben mit Missachtung bestrafen?«
In seinen großen braunen Augen sah sie so viel von sich selbst, dass es wehtat.
Thea legte all ihre Kraft in den nächsten Satz, der ihr schwer genug fiel. »Die letzten zwanzig Jahre hat es dich doch auch nicht gekümmert, ob ich dich beachte, und als Mum krank wurde, erst recht nicht.«
Sie riss sich los und schenkte ihm einen letzten verächtlichen Blick, ehe sie sich umdrehte und mit erhobenem Haupt davonging. Erst als sie außerhalb der Friedhofsmauer stand, ließ sie sich keuchend dagegen fallen und presste die eine Hand auf ihr wild schlagendes Herz, die andere auf den Mund, hinter dem sich ein Heulen anbahnte.
***
Jolene humpelte die Straße entlang, als sie die kleine Shaw am Friedhof stehen sah. Sie lächelte angesichts ihres Entsetzens über die Wiedergeburt ihres tot geglaubten Vaters. Wie würde sie selbst wohl reagieren, wenn ihr alter Herr plötzlich wieder vor ihr stehen und mit Prügel wie damals drohen würde?
Jolene schüttelte sich kurz und verdrängte die Gedanken an ihn. Sie hatte es sogar geschafft, sein großes Gemälde von der Wand zu nehmen und es ein für alle Mal in den Keller zu räumen, wo es hingehörte. Ihr schlechtes Gewissen seinetwegen gehörte endlich der Vergangenheit an.
»Was machst du da?«
Jolene zuckte zusammen, obwohl sie die Stimme kannte. Sie hielt sich die Hand ans Herz. »Musst du dich immer so anschleichen wie meine Katzen?«, zischte sie ihre Feindfreundin Lucretia an. Jolene deutete auf die raspelkurzen Haare der alten Frau. »Wolltest du die im Frühling nicht wieder rot färben? Ich dachte, du möchtest auffallen?« Lucretia hatte nicht nur einmal betont, wie sehr sie es hasste, wenn man sie aufgrund ihrer geringen Größe übersah.
»Ich lasse von nun an meine natürliche Haarfarbe auf dem Kopf.« Stolz reckte sie ihr Kinn. »Das ist modern. Außerdem bin ich jetzt Mutter und nicht mehr die verrückte Tante von damals.«
»Letztes Jahr hast du noch behauptet, dass … Ach, egal!« Jolene machte eine wegwerfende Geste und stützte sich auf ihren Gehstock, dessen Knauf ein Totenkopf war. Das letzte Erinnerungsstück an ihren verbrecherischen Vater. »Was willst du?«
Lucretias Rosinengesicht wurde noch runzliger, als ihre Mundwinkel nach unten zeigten. »Ganz schön unhöflich dafür, dass wir uns vertragen haben. Denk daran, dass ich dir verzeihen musste und nicht umgekehrt.«
Jolene rollte mit den Augen. »Ist ja gut, du alte Schreckschraube.« Sie schmunzelte kurz und hielt ihrer Nachbarin den Arm hin. »Wollen wir zusammen nach Hause? Ich setze uns Teewasser auf.«
Lucretia hakte sich unter und lächelte breit. So einfach konnte man sie fröhlich stimmen. Jolenes Freundin war immer schon einfach gestrickt gewesen. Mal schlugen sie sich die Köpfe ein, mal unterstützten sie sich gegenseitig in wagemutigen Plänen.
»Wie fühlst du dich, jetzt, da du nichts mehr verheimlichen oder irgendwo einbrechen musst?«, fragte Lucretia.
»Mir ist langweilig.« Jolene grinste. »Hast du schon mit Nathan Shaw geredet?«
»Nein, du etwa?«
Sie schüttelte den Kopf und musste innehalten, als ihr Rücken schmerzhafte Signale ans Gehirn sendete. Jolene presste sich die Hand dagegen und dehnte sich. »Mit dem habe ich nichts zu bereden. Schlimm genug, dass er uns alle belogen und erschreckt hat. Erinnerst du dich an seine Auftritte in den Tunneln?«
Lucretias Wangen wurden bleich. »Wie könnte ich das je vergessen? Oder sein Angriff auf dem Friedhof. Ich bekomme noch heute eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.« Sie schüttelte sich gespielt. »Dank ihm habe ich einen Herzinfarkt bekommen. Nathan hat mich beinahe umgebracht und sich noch nicht einmal bei mir entschuldigt.«
Sie verfluchten ihn stumm für seine Lügen und Scherze.
Langsam gingen sie durch die Camelot Avenue, deren Bäume endlich wieder grün wurden. Am Straßenrand wuchsen Krokusse.
»Hast du es damals eigentlich gewusst?«, fragte Jolene, als sie vor der Tür ihres zweistöckigen Cottages standen, in dem sie Zimmer an verrückte Touristen oder seit Neuestem an entlassene Verbrecher vermietete. Hauptsache, es kam Geld in die Kasse.
»Was meinst du?«
Jolene schloss auf und humpelte in die Diele. »Dass ich die Unterlagen über meinen Vater gesucht habe und keinen sagenumwobenen Schatz.«
Lucretia lächelte warmherzig und brachte Jolenes Herz beinahe zum Stolpern. Sie war kein Mensch, der schnell emotional wurde, aber seit sie beinahe ihren Sohn Brian an das Gefängnis verloren hatte, war sie nah am Wasser gebaut.
»Das habe ich vom ersten Moment an gewusst.« Lucretia gab sich entspannt. Ausnahmsweise ließ Jolene ihr die Oberhand. »Das mit dem Schatz hat sich deine Familie sowieso nur ausgedacht.«
»Du hast wirklich gedacht, dass da unten einer ist, oder?«
Lucretia streckte ihr die Zunge heraus. »Du etwa nicht? Aber ich bin meine Schulden auf andere Weise losgeworden. Ich brauche das Geld also nicht mehr.«
Jolene kaufte ihr das nicht ab, doch solange Lucretia nicht wieder Dummheiten beging, war alles in Ordnung. Sie hatten beide ihre Lektion gelernt und beinahe einen hohen Preis für ihre Neugier bezahlt. Kein Schatz der Welt war es wert, sein Leben wegzuwerfen. Obwohl Jolene schon gern gewusst hätte, ob ihre Vorfahren Spinner gewesen waren oder nicht. Was, wenn es tatsächlich einen Goldschatz im Untergrund gab, den nach fünfhundert Jahren nur noch niemand gefunden hatte?
Allein beim Gedanken an das viele Geld kribbelten Jolenes Finger. Damit würde sie sich ein richtig schönes Haus auf dem Land, weit weg von all den nervigen Nachbarn, kaufen. Nur Brian und sie … und Lucretia vielleicht, obwohl sie wahrscheinlich die Nervigste von allen war. Aber irgendwie wollte und konnte Jolene nicht ohne sie.
»Ist doch egal, was da unten ist«, meinte Lucretia und holte sie zurück ins Hier und Jetzt. »Hast du gehört, was am Pendle Hill los war?«
»Wieso? Was soll da los gewesen sein?« Sie runzelte die Stirn. Dass mal etwas an ihr vorbeiging, war neu. Sie schien nachlässig zu werden, was die Gerüchte im Borough betraf. Es hatte sich viel verändert seit ihren letzten Abenteuern.
»Da sollen Schüsse gefallen sein«, erzählte Lucretia mit weit aufgerissenen Augen.
»Nicht ungewöhnlich. Sicher wieder jemand, der jagen gehen wollte und zu blöd war, das Wild zu treffen.« Sie gluckste über ihren eigenen Witz und befüllte einen alten Teekessel mit Wasser. Von diesen neumodischen Geräten hielt sie nichts.
»Aber dann würde doch nicht die Polizei einschließlich deiner ehemaligen Mieterin dort aufschlagen und die Gegend absperren. Außerdem war Neumond. Viel zu dunkel zum Jagen.«
Nun hatte sie Jolenes volle Aufmerksamkeit. Sie stellte den Kessel etwas zu kräftig auf den Herd, drehte sich mit den knochigen Fäusten in ihren Seiten um und kniff die Augen zusammen, ehe sie murrte: »Inspector Myrna Evans ist auch da?«
Ihr Gegenüber nickte aufgeregt. »Ja, und Ward genauso. Ich kann ihn leider nichts mehr zu den Fällen fragen, weil er sich jedes Mal sehr bedeckt hält. Aber sie sollen Spurensicherung und andere Leute aus Preston dabeihaben.«
»Von wem hast du das?«
»Von Oakley, und der hat es von Alethea.« Lucretia verzog jedes Mal das Gesicht, wenn sie den Namen der Totengräberin aussprach, die das Herz ihres Sohnes für sich gewonnen hatte. So ganz konnte sie sich wohl immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr Goldjunge die kleine Shaw liebte, die Jolene und Lucretia mehr als ein Mal auf die Füße getreten war.
»Was macht eigentlich Birming? Ist er da?«, flüsterte Lucretia neugierig und reckte den Hals, um zur Treppe zu sehen.
»Hat sich heute noch nicht blicken lassen. Ich frage ihn nicht, was er den ganzen Tag treibt. Besser, ich weiß es erst gar nicht, dann kann ich später auch nicht belangt werden, wenn er wieder was ausgefressen hat.« Jolene rollte mit den Augen. »Am liebsten wäre mir, wenn ich ihn loswerde, aber ich bin leider auf sein Geld angewiesen. Das Zimmer wäre sonst leer.« Hätte ich den Schatz aus dem Chamberling-Haus gefunden, müsste ich mich nicht mit Leuten wie John Birming und Emilia Dingsda herumärgern, fügte sie stumm hinzu. Aber wahrscheinlich gibt es sowieso keinen Schatz da unten.
»Woher hat er das überhaupt, so als verurteilter Straftäter, der mit Fußfessel herumrennt?«
»Was weiß denn ich?« Jolene schnaufte genervt und wartete auf das Pfeifen des Kessels. »Bei mir wohnt schließlich auch ein Teenager mit bunten Haaren, der ohne Eltern reist. Es ist alles etwas seltsam, aber solange es mir die Miete einbringt, soll es mir recht sein.« Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Küchentisch.
»Emilia Tremblay wohnt immer noch hier?« Lucretia riss die Augen auf. »Was machen denn ihre Eltern so?«
»Nicht immer noch, sondern schon wieder. Das dritte Mal jetzt. Keine Ahnung, was ihre Eltern machen, interessiert mich auch nicht«, knurrte Jolene. »Wenn sie weggelaufen ist, ist das nicht mein Problem. Und was Birming betrifft: Vielleicht hat er seine Anhänger zu Spenden aufgerufen oder vom Knast etwas dazubekommen, damit er von was leben kann. In sein eigenes Haus konnte er ja nicht mehr, seit Katherines Zwillinge es geerbt haben.«
»Seltsam, dass sie ihn da nicht wollten«, murmelte Lucretia. Plötzlich ballte sie ihre kleine Hand zur Faust und rief: »Eine Schande, dass der hier ist! Wir sollten eine Petition starten und ihn zurück ins Gefängnis bringen. Durch ihn kommt alles durcheinander im schönen Pendle.« Sie rümpfte die kleine spitze Nase und erinnerte Jolene in diesem Moment an eine Maus. Nicht zuletzt, weil ihr Haar endlich wieder grau war. Das stechende Rot hatte Jolene in den Augen geschmerzt.
»Wie geht’s eigentlich Oakley?« Sie rang sich zu Small Talk durch, obwohl sie am liebsten allein sein wollte, aber seit sie wegen der Sache auf dem Friedhof ein schlechtes Gewissen hatte, riss sie sich zusammen. Leider war Jolene nicht gut darin, Freundschaften zu pflegen. Das brauchte Zeit.
»Bestens. Wenn er nicht gerade bei dieser Alethea Shaw herumgeistert, sehe ich meinen Sohn sogar.« Lucretia wollte verbittert klingen, aber beim Wort ›Sohn‹ glänzten ihre Augen ganz automatisch.
Jolene schluckte einen festen Kloß hinunter und dachte an ihr eigenes Kind, das im ›Hills Inn‹ schuftete, um seine Fehler wiedergutzumachen. Wenigstens bekamen alle eine zweite Chance, sogar jemand wie Jolene. Sie würde diese nutzen und ein besseres Leben führen.
»Ich wäre ja zu neugierig, was Birming aus dem Gefängnis zu erzählen hat«, meinte Lucretia. »Ob sie einem dort wirklich nur Wasser und Brot geben? Ich würde ihn gern dahin zurückbringen, wenn ich könnte.« Sie rieb sich die Hände und sah dabei wie eine alte, runzlige Hexe aus. Es fehlte nur noch die Warze auf der Nase.
»Mach dich nicht lächerlich, Lu.« Jolene warf lieblos zwei Teebeutel in die Tassen und goss Wasser ein. »Lass uns nicht mehr über John Birming reden. Der wird seine gerechte Strafe schon noch erhalten.«
Lucretia stimmte ihr zu und setzte sich. Sie hielten ihre sehnigen Hände an die warmen Tassen und plauderten fortan über andere Dinge.