Leseprobe Tödliche Villa Verbena

Reise durch die Nacht

 

Juliane Emser schlief bereits, als der Intercity den Hauptbahnhof von Florenz verließ. Der Schlaf war plötzlich gekommen, bleiern, ein Sturz in völlige Erschlaffung nach der Nervenanspannung der letzten Wochen, wie ein erschöpfter Kletterer ins Seil stürzt. Die 22-jährige Sportstudentin war in sich zusammengesackt wie eine Greisin. Nichts an ihr erinnerte mehr an die kraftvolle Frau, die – mehr apart als schön, eher klein und kompakt, viel mehr Athletin als Model, aber Muskel für Muskel perfekt – Thema einer ganzen Serie großformatiger Fotos gewesen war. An die Wand des Abteils gelehnt, schwankte sie hin und her, während die kraftlosen Hände den Mantel festhielten, der sie von der Brust bis zu den Knien bedeckte.

Fort von hier, nur fort von hier, nur fort von hier, sangen die Räder auf den Schienen. Gelbe Lichtflecken glitten über sie hin, während der Zug die Vororte von Florenz passierte. Weichen quietschten. In den Gängen herrschte noch Unruhe, als Reisende ihre Koffer auf der Suche nach einem bequemeren Sitzplatz hin und her schleppten. Aber die zugezogenen Vorhänge wirkten: Niemand drängte sich in Julianes Abteil.

Sie schlief und träumte und wäre glücklicher gewesen, wenn sie nicht geträumt hätte, denn die Bilder und Geräusche der vergangenen Tage drängten sich ihrem erschöpften Hirn auf, das nicht die Kraft hatte, sich dagegen zu wehren. Die heitere, liebenswürdige Landschaft der Toskana, Siedlungsland der antiken Etrusker und Römer, Schauplatz mittelalterlicher Fehden um Macht und Wohlstand, Wiege der Renaissance und der italienischen Sprache. Das Arbeitszimmer der Dottoressa, erfüllt von einem zugleich stechenden und süß erregenden Apothekengeruch, Spiegelbilder in den glänzend polierten Oberflächen der altväterlichen schwarzen Möbel, die bronzene Eule oben auf dem Giftschrank. Das nächtliche Heulen der Hunde. Das Ölgemälde der Contessa mit ihrem bleichen Lächeln. Die Kommissarin Fabrizia Orlandini, die neben Juliane durch die Weinberge lief, langbeinig, mit schmalen Hüften wie ein Mann und den feuchten, südländischen Augen, in denen Feuer leuchtete. Jens Thiele mit seinem duftenden Haar und dem kleinen, festen, strammen Körper, der so gut zu ihrem eigenen passte.

Juliane bewegte sich unruhig. Noch waren die Bilder ihrer Träume harmlos und sonnig, aber wie eine Schlange unter Blättern kroch das Gefühl durch sie hindurch, welches sie schon am ersten Tag ergriffen hatte, dem Tag der Nachricht: Dass jede unbedachte Bewegung den Mechanismus einer Falle auslösen könnte, die tödlich über ihr zuschnappte.

Die Nachricht hatte in der Mitteilung eines italienischen Rechtsanwalts an die Anwältin der Familie Emser bestanden. Der am 8. Juni verstorbene Diplomkaufmann Guido Wewelmann hatte seiner Nichte Juliane die Villa Verbena in der Toskana hinterlassen, in der er die letzten zwanzig Jahre gelebt hatte, mitsamt dem Landgut Le Querce und einem Weinkeller voll flüssiger Kostbarkeiten. Dazu kamen die Kunstschätze in der Villa, zu denen antike Möbel, ein paar Dutzend Ölgemälde und ein Kelch aus dem Frühmittelalter gehörten, der unter dem Namen Papstkelch bekannt war, weil er angeblich aus dem Besitz eines Pontifex stammte – was Julianes Anwältin allerdings für eine zweckdienliche Sage hielt, um den Wert des Kelchs in die Höhe zu treiben. Auf jedem Fall war das Erbe von sehr beträchtlichem Wert.

Juliane hatte es nicht fassen können. „Das ist absurd!“, hatte sie ihrer Freundin Gretchen anvertraut, mit der sie die Studentenwohnung in der Nähe der Münchener Universität teilte. „Onkel Guido hätte mich nicht einmal erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre, so lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war beim Begräbnis meines Vaters. Da war ich dreizehn. Ich erinnere mich nur mehr, dass er enorm groß und dick war und eine dichte weiße Haarmähne hatte, und dass ich ihn nicht mochte. Er hatte etwas Fettiges an sich – als würde ein schmieriger Film auf der Hand zurückbleiben, wenn man ihn berührte.“

„Bist du seine einzige Verwandte?“

„Keine Rede! Er hat drei Kinder, die etwa in meinem Alter sein müssen. Zwei leibliche Kinder, Adam und Dorothea, und eine Adoptivtochter, Emilia.“

„Kennst du sie?“

„Nein. Wir standen nicht so gut miteinander, dass wir viel Kontakt gehabt hätten – ich meine, Mutter konnte Onkel Guido nicht ausstehen. Sie war froh, als er eine Italienerin heiratete und aus unserem Blickfeld verschwand.“

„War er ihr Bruder?“

„Nein, der meines Vaters. Sein älterer Bruder. Beträchtlich älter.“

Gretchen, die nichts so liebte wie persönliche Tragödien – sofern sie andere Leute betrafen –, erkundigte sich neugierig: „Woran ist er eigentlich gestorben?“

„Davon steht nichts in dem Brief. Wahrscheinlich ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Er war der Typ, der viel zu gern aß – und vor allem trank. Edle Weine waren seine Leidenschaft. Das war mit ein Grund, warum er seinen Wohnsitz in die Toskana verlegte. Er kaufte ein ziemlich heruntergekommenes Weingut aus dem Besitz einer ortsansässigen Familie, heuerte einen hochkarätigen Kellermeister an und machte es zu einem Geheimtipp unter Kennern.“

„Deshalb bist du jetzt Erbin eines berühmten Weinkellers.“

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, hatte sie Gretchen erklärt. „Ich habe das Gefühl, alles wird sich als Irrtum oder als schlechter Scherz herausstellen. Mutter behauptete immer, Guido sei verrückt, also ist es vielleicht nur eine seiner Verrücktheiten. Auf jeden Fall muss ich hin und mir die Lage vor Ort ansehen – und das bei meinem Italienisch. Außer Buongiorno bringe ich kaum etwas zustande.“

„Aber deine Verwandten sprechen doch sicher Deutsch.“

„Ja, natürlich. Und die Toskana ist seit dem 19. Jahrhundert Touristengebiet, steht im Reiseführer – wenn man in der Hauptreisesaison durch die Hauptstraßen der größeren und kleineren Touristenorte geht, wimmelt es dort von Fremden. Von japanischen Gruppen über Familien aus allen Teilen Europas bis zu amerikanischen Kulturreisenden ist so ziemlich alles dabei. Aber Dormiani ist ein Nest, das die Touristen noch nicht entdeckt haben, und mir gefällt der Gedanke nicht, hinter den sieben Bergen in einem fremden Land festzusitzen, in dem ich mit niemandem außer meinen Verwandten reden kann. Dass sie mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen werden, ist doch wohl klar, oder? Nicht, nachdem mein Onkel sie aufs Pflichtteil gesetzt und den Löwenanteil seines Vermögens mir hinterlassen hat.“

Gretchen hatte ihr zugestimmt, dass unter diesen Umständen der Empfang eher kühl ausfallen würde.

 

***

 

Juliane schreckte auf, als die Tür des Abteils mit einem Lärm, der sich im Halbschlaf wie Donnergrollen anhörte, beiseite gerollt und der schmutzig gelbe Vorhang aufgezogen wurde. Grelles, unfreundliches Licht flammte auf. Ein Mann in Uniform verlangte Biglietto. Sie reichte ihm die Fahrkarte, fröstelnd vom Schock des plötzlichen Erwachens. Sie musste entsetzlich aussehen, denn der Schaffner warf einen Blick in ihr Gesicht unter dem kurzen, verschwitzten dunklen Haar, dann auf den Mantel, mit dem sie sich trotz der warmen Nacht zugedeckt hatte, und fragte in holprigem Deutsch: „Ist die Signora krank?“

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Nein, nur müde. Sehr müde.“ Da sie nicht wusste, wie weit seine Deutschkenntnisse reichten, legte sie die gefalteten Hände unters Ohr und deutete mimisch totale Erschöpfung an.

Der Mann – der vielleicht befürchtet hatte, Umstände mit einem kranken Fahrgast zu bekommen – lächelte erleichtert. Fürsorglich und geschäftstüchtig zugleich schlug er vor: „Will die Signora ein Bett im Schlafwagen nehmen? Er ist nicht ausgebucht, wir haben noch mehrere Plätze frei.“

„Nein. Nein, danke.“

Er wünschte ihr Buonanotte. Dann schloss er die Tür hinter sich und drehte das Licht ab.

Juliane seufzte erleichtert. Jetzt standen die Chancen gut, dass sie den Rest der Nacht in Frieden gelassen wurde. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, in das stickige, stockfinstere Abteil eines Schlafwagens verpackt zu werden, in dem die Passagiere in ihren sargähnlichen Kojen übereinandergestapelt lagen wie Tote in einem Kolumbarium! Kein Licht, keine Luft, die qualvolle Beschränkung des Körpers … Bei dem bloßen Gedanken überlief sie ein Schauder und ihre Kopfhaut zog sich prickelnd zusammen. Sie musste bewusst einige Entspannungsübungen vornehmen, um wieder locker zu werden. Sie wünschte sich nichts weiter als Ruhe und Wärme und Dunkelheit … und die beruhigende Gewissheit, dass sie sich mit jedem Tacka-Tack, Tacka-Tack der Eisenräder auf den Schienen weiter von Dormiani entfernte. Morgen war sie wieder in München, bei ihrer Mutter, bei Gretchen, bei ihren Freunden von der Universität, und sie würde eine ganze Weile lang kein Italienisch hören, keinen Wein trinken und keine Hunde sehen können, ohne dass sich ihr Magen verkrampfte.

Die Augen geschlossen, kroch sie in ihrem Winkel in sich zusammen und überließ sich den Erinnerungen, die in der Dunkelheit kamen und gingen. Da war das milde Spätnachmittagslicht, das die Villa Verbena umfloss, die klaren Konturen des alten Gebäudes – als ob es gerade zu regnen aufgehört hätte – und alles durchtränkend, alles erfüllend das Bouquet Garni von Salbei, Gräsern und unzähligen Gewürzen, das auf dem lauen Wind schwebte. Dormiani war eine magische Welt, erbaut aus Düften, aus dem Geruch von Holzfeuerrauch, von Balkonblumen und Robinienblüten, gebratenem Fleisch und starkem Kaffee. Auch das Haus war voll von Gerüchen: Bohnerwachs, kostbare Stoffe und der schwache, stickige medizinische Geruch, der Dorothea umgab. Dorothea, die in so kurzer Zeit so viel verloren – und gewonnen – hatte. Auch wenn sich das anerzogene Gefühl dagegen sträubte, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, so hatte doch weder Dorothea noch sonst jemand um Onkel Guido getrauert. Hinter geschlossenen Fensterläden und versperrten Türen hatte alle Welt sich gefreut, dass er tot war und für immer in seiner pompösen Marmorgruft auf dem Friedhof von Dormiani lag. Wahrscheinlich hatten die Einwohner Kerzen gestiftet, dicke honiggelbe Kerzen der Dankbarkeit für alle Dämonen und Heiligen, die an Guidos Tod mitgewirkt haben mochten.

Der Regen, der seit Florenz in den Wolken lauerte, brach los, prasselte auf das Dach des dahinjagenden Zuges und überzog die Fenster mit einer schmierig glänzenden Schicht. Juliane kehrte in Gedanken zurück zur Hinfahrt. Da hatte es auch geregnet, im Inntal sogar so heftig gehagelt, das die Wiesen links und rechts der Gleise schlohweiß waren. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Gretchen, die, mit beflissener Hilfsbereitschaft Koffer und Regenschirm schleppend, ihre Freundin zum Nachtzug begleitet hatte. Ein Gespräch über einer Tasse Kaffee in einer der gesichtslosen, viel zu hell erleuchteten Plexiglas-Imbissstuben im Hauptbahnhof zwischen Koffern und Lautsprecherdurchsagen.

„Warum nimmst du nicht jemanden mit?“, hatte Gretchen gefragt.

„Und wen? Ich habe keine Verwandten, die ich mitnehmen könnte, außer meiner Mutter, die sich weigert, mit mir nach Dormiani zu fahren. Sie will von der ganzen Erbschaft nichts wissen. Am liebsten wäre es ihr, wenn ich sie rundheraus ausschlagen würde. Sie stellt sich auf den Standpunkt, sie würde es nicht annehmen, wenn Guido ihr ganz Italien samt dem Vatikan vererbt hätte.“

„Klingt, als wären sie spinnefeind.“

„Sind sie auch. Mutter meint, er hätte einen schlechten Einfluss auf meinen Vater gehabt. Als junger Mann war mein Onkel so besessen von seiner Spiel- und Wettleidenschaft, dass er mit dem Teufel Karten gespielt hätte, und das hat anscheinend auf Vater abgefärbt. Sie hatten viel Streit deswegen, und nach Vaters Tod hat Mutter den Kontakt zu ihrem Schwager diskret einschlafen lassen.“

Dann war es an der Zeit gewesen, den Zug zu besteigen. Das übliche Gedränge mit Koffern und Taschen folgte, bis sie in ihrem Abteil eingerichtet war. Blechern hallende Lautsprecherdurchsagen. Ein letztes Winken. Der Intercity rollte aus dem Münchner Hauptbahnhof en route nach Florenz. Als sie den Schutz der Halle verließen, prasselte Regen wie aus Eimern auf die Dächer der Wagons. Juliane wischte ein Loch in die dunstbeschlagene Scheibe und blickte hinaus auf das glitzernde Schienengewirr, über dem die Hitze des vergangenen Tages als Dampf aufstieg. Das Abteil füllte sich mit einem widerwärtigen Geruch nach nassem Gummi, der von draußen hereinwehte. Sie stand hastig auf und schob das Fenster hoch, bis es einrastete.

Bis Florenz wollte sie mit dem Zug fahren. Dort würde Adam sie abholen und mit dem Auto in die Montalbano-Hügel zur Villa Verbena bringen. Die nächste größere Stadt hieß Prato und war, glaubte man ihrer Homepage im Internet, architektonisch nicht uninteressant. Es gab dort eine gut erhaltene mittelalterliche Stadtmauer, einen sehenswerten Dom und eine Trutzburg, das vom Stauferkaiser Friedrich II. errichte Castello dell’Imperatore. Aber sie würden sich nicht lange genug aufhalten, um die baulichen Schönheiten zu bewundern. Schließlich war ihre Reise geschäftlicher Natur, und enterbte Verwandte würden wohl kaum viel Wert darauf legen, ihr den Aufenthalt angenehm zu machen. Die E-Mails, die zwischen ihnen hin und her gegangen waren, hatten sich kurz, knapp und businesslike mit den nötigen Arrangements für ihren Besuch befasst. Auf ihre höflichen Beileidskundgebungen war keine Reaktion gekommen.

Dr. Gabriele Morensky, ihre Anwältin, hatte ihr geraten, einen Kompromiss auszuhandeln – besser gesagt, von den Anwälten aushandeln zu lassen. Was wollte sie überhaupt mit einem Haus in der Toskana? Und mit einem Weingut, sie, deren Weinkenntnisse sich auf rot und weiß beschränkten? Wer brauchte in Dormiani eine Sportlehrerin? Nein, sie würde Adam und ihren Kusinen sofort sagen, dass sie eine finanzielle Regelung suchte. Das würde das böse Blut beschwichtigen.

Adam. Er hatte auf dem Hauptbahnhof von Florenz auf sie gewartet, wie es abgemacht war. Florenz hatte sich im strömenden Regen von seiner hässlichsten Seite gezeigt. Kein vornehmer, ehrwürdiger, geschichtsschwangerer Ort, sondern eine düstere Lokalität, deren Kirchtürme in feuchten Schleiern verschwunden waren. Juliane hatte schlecht geschlafen und kletterte verdrießlich aus dem Zug. Ihr Körper war daran gewöhnt, dass seine Bedürfnisse an erster Stelle standen, dass das Wohlbefinden von Muskeln und Organen allem anderen vorgezogen wurde, und nahm es übel, dass er nicht zur gewohnten Zeit im gewohnten Bett gewesen war. Julianes Magen verknotete sich bei dem Gedanken, dass auf dem Bahnsteig vermutlich ein schlecht gelaunter, von Groll erfüllter Vetter Adam stand, der sie mit Vorwürfen und Verdächtigungen empfangen würde – vielleicht eine jüngere Ausgabe seines fetten, hängebackigen Vaters.

Aber dann war er plötzlich da gewesen, ein hochgewachsener junger Mann vom Typus des Calvin-Klein-Models, in einem Regenmantel, mit lockigem, schwarzem Haar, Dreitagebart, klaren Zügen, einer weichen, angenehm klingenden Stimme. Nur die engstehenden grünen Augen störten das Idealbild männlicher Schönheit ein wenig. An seinem Ärmel steckte eine Trauerschleife aus schwarzem Seidenkrepp. Er begrüßte Juliane nicht gerade mit überschwänglicher Zuneigung, aber immerhin mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit. „Gib mir deinen Koffer. Du brauchst jetzt sicher einen starken Kaffee und ein Croissant, nicht wahr? Mein Wagen steht draußen. In Dormiani ist besseres Wetter als hier, nur ein leichter Sprühregen. Wahrscheinlich kommt bald wieder die Sonne heraus.“

Sie merkte, dass er ihren Körper mit dem Blick des Kenners betrachtete. Nicht lüstern, sondern mit einer ästhetischen Leidenschaft, wie er sie einer Marmorstatue gegenüber empfinden mochte. Es gefiel ihr, so betrachtet zu werden. Unwillkürlich warf sie sich, als sein Blick über sie hinwegglitt, in Positur. Sie hatte viel Zeit und Mühe auf ihren Körper verwandt; er war ihr wichtig, nicht nur als ein Mittel, um Bewunderung zu ernten, sondern noch auf eine andere und viel bedeutsamere Weise. Dieses lebende Kunstwerk aus optimal funktionierenden Muskeln, Sehnen und Organen war ein Schutzschild, das ihr die Gefahren des Lebens vom Leib hielt. Sie war so sehr Körper, dass nur wenige Menschen auf den Gedanken kamen, sich für ihre Seele zu interessieren. Das verringerte die Gefahr, dass dieses verwundete, verängstigte und wütende Gebilde in ihr noch weiter beschädigt wurde.

Als Adam eine Bemerkung machte, dass man ihr das Sportstudium auf eine höchst reizvolle Weise ansähe, gab sie keine Antwort, sondern lächelte nur. Sie vermutete, dass er sie für dumm hielt. Die meisten Menschen waren der Meinung, dass in einem so prächtigen Körper nur ein verkümmerter Verstand wohnen könne – als würden die Vorzüge des Leibes automatisch denen des Geistes abgezogen. Julianes Interessen waren beschränkt, das stimmte, das wusste sie selbst auch. Die meisten waren Planeten, die sich um die Sonne ihrer kunstvollen Körpergestaltung drehten: Ein Schuss Medizin – Anatomie und Ernährungslehre –, ein paar mehr oder minder esoterische Anleitungen zur Pflege der Seele, wie sie im Gefolge ähnlicher Anleitungen zur Pflege des Körpers zwangsläufig auftauchten, ein wenig Kunstinteresse, das vor allem das Interesse an der Darstellung idealer Frauengestalten umfasste. Sie hatte Tiere gern, liebte die Natur und empfand eine unklare Sehnsucht nach einem Jenseits, in dem die Kräfte des Lebens harmonischer und sinnvoller wirkten als auf der Erde. Wie so viele sportliche Menschen hatte sie nur ein sehr geringes Interesse an Sex. Ihr Körper war sich selbst genug. Aber dass ihre Interessen beschränkt waren, hieß nicht, dass dasselbe auf ihre Intelligenz zutraf. Sie konnte sehr scharf denken. Nur war es in ihrer einfachen, leicht überschaubaren Welt bislang nur selten notwendig gewesen, diese Fähigkeit einzusetzen.

Adam trug ihren Koffer und ihre Reisetasche zu einem Café – mit seiner Plexiglasverschalung und den frostig glänzenden Lampen sah es ganz genauso aus wie die Cafés auf dem Münchner Hauptbahnhof –, bestellte ein kleines Frühstück für sie und einen Grappa für sich und setzte sich dann zu ihr auf die rote Kunstlederbank. „Es hat sich nicht viel verändert seit deinem letzten Besuch“, sagte er lächelnd. „Du wirst alles so wiederfinden wie damals.“

Sie starrte ihn an, unsicher, ob sie richtig verstanden hatte. „Meinem letzten Besuch? Ich war noch nie in Dormiani.“

Seine Augen weiteten sich erstaunt. „Aber doch. Es ist zwar schon enorm lange her, aber wir erinnern uns ganz genau. Du warst etwa fünf Jahre alt, als Onkel Benno – dein Vater, meine ich – mit dir zu Besuch gekommen ist. Denk nach, du erinnerst dich sicher.“

„Nein, absolut nicht.“ War das ein komplizierter Scherz? Oder eine Falle? Der absurde Gedanke ging ihr durch den Kopf, dass er vielleicht daran zweifelte, ob sie die richtige Juliane Emser war und sie zu dekuvrieren versuchte, indem er Erinnerungen fälschte und prüfte, ob sie die Fälschung entdecken würde. Sie lachte nervös auf und legte ihren Pass auf den wackligen Kunststofftisch. „Hör zu, du kannst dich gerne überzeugen, dass ich wirklich die bin, für die ich mich ausgebe. Hier bitte. Mein Pass mit Foto, ausgestellt von der Polizeidirektion München.“

Adam warf nur einen flüchtigen Blick auf das Dokument. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass du wirklich unsere Kusine Juliane bist.“ Er trank seinen Grappa aus und orderte einen zweiten.

Der Gedanke streifte sie flüchtig, dass zwei Grappas ein bisschen viel waren, um sich danach noch ans Steuer zu setzen, aber sie schob ihn beiseite, gefesselt von Adams merkwürdigen Behauptungen. „Warum versuchst du mich dann reinzulegen, indem du Dinge behauptest, die gar nicht geschehen sind? Ich war nie in Dormiani zu Besuch, das weiß ich ganz sicher.“

„Doch, das warst du“, beharrte er. „Damals, als du so krank warst. Wie könnten wir das vergessen? Wir waren zwar damals auch nur kleine Kinder, aber an den Schrecken und die Aufregung erinnern wir uns noch ganz genau. Die Dottoressa wurde geholt und im ganzen Haus liefen die Leute durcheinander, die ganze Nacht lang. Ich weiß nicht mehr, woran du erkrankt warst, aber es muss etwas ziemlich Dramatisches gewesen sein.“ Er zögerte, dann fügte er lahm hinzu: „Vielleicht ist es dir deswegen entfallen, weil du krank warst.“

Sie schüttelte den Kopf. Absurd! Sie war ganz sicher nie in Dormiani gewesen. Das wusste sie genau, und zwar nicht nur deshalb, weil sich in ihrer eigenen Erinnerung keine Aufzeichnung dieses Besuches fand, sondern auch von dritter Seite. Noch vor zwei Tagen hatte sie mit ihrer Mutter über die bevorstehende Reise gesprochen, und sie hatte noch deutlich im Ohr, wie diese gesagt hatte: „Ich habe es immer abgelehnt mit dir dorthin zu fahren, obwohl Benno seinen Bruder hin und wieder besuchte. Je weniger wir mit den Wewelmanns zu tun hatten, desto besser. Ich habe es bislang geschafft, dich von dort fernzuhalten, warum willst du jetzt unbedingt hin? Lass Dr. Morensky die Sache erledigen.“

Adam beharrte auf seinem Standpunkt. „Ich kann mich mit hundertprozentiger Sicherheit erinnern, dass du zu Besuch warst.“

Juliane zuckte verdrießlich die Achseln. Seine Hartnäckigkeit nervte sie. „Wahrscheinlich verwechselst du mich mit jemandem. Es ist so lange her. Und es ist ja im Grunde auch egal, nicht wahr?“ Sie wollte so schnell wie möglich von dem leidigen Thema wegkommen, also drängte sie zum Aufbruch.

Als sie dann in seinem Mercedes auf der nebelverhangenen Autobahn 11, der Firenze-Mare, in Richtung Prato fuhren, hatte Adam diskret über Dinge von allgemeinem Interesse gesprochen. Ihren zaghaften Versuch, zum Thema Erbschaft zu kommen, schnitt er höflich, aber entschieden ab. „Später, Juliane, wenn wir alle beisammen sind. Dann brauchen wir nicht alles zu wiederholen.“

Stattdessen erzählte er ihr von der Villa Verbena, in der er mit seinen beiden Schwestern, der leiblichen und der adoptierten, aufgewachsen war. Die Villa, erfuhr Juliane, war ein ehemaliger Sommersitz einer adeligen Familie, wie es viele in der Toskana gab. Im 14. Jahrhundert war es unter den italienischen Adeligen Mode geworden, aufs Land zu ziehen und sich dort Sommerpaläste zu errichten. Im Laufe der Zeit wurden einige dieser Residenzen immer prächtiger und gehörten heute zu den Sehenswürdigkeiten des Landes. Man zeigte den Fremden mit patriotischem Stolz die Villa Bottini in Lucca, sowie die Villa Mansi bei Segromigno in Monte, die Villa Torrigiani bei Camigliano und die Villa Reale in Marlia mit ihrem herrlichen Garten. Ein wenig südlich von Prato stand Poggio a Caiano, der vielleicht schönste der Medici-Landsitze mit seinem Renaissance-Park, und bei Artimino die Villa Artimino, auch Villa der hundert Kamine genannt. Die Villa Verbena war längst nicht so berühmt, aber immer noch ein schönes Exempel eines historischen Herrschaftshauses.

Dann sprach Adam von seinem verstorbenen Vater, zu dem er offenbar ein zwiespältiges Verhältnis gehabt hatte. Er malte ihr das Bild eines ungeheuer imposanten, aber keineswegs liebenswürdigen Menschen. „Vater war so eine Art Übermensch“, erklärte er mit einem schiefen Lächeln, das besagte, dass er die Bezeichnung längst nicht so ironisch meinte, wie er tat. „Die Leute nannten ihn teils bewundernd, teils spöttisch Il Príncipe, den Fürsten. Sogar wir Kinder nannten ihn schließlich so. Er war ein Mensch der Renaissance, nicht des 21. Jahrhunderts. Ich denke manchmal, das war der eigentliche Grund, warum er in der Toskana leben wollte. Das hier ist der richtige Ort für Genies. Hast du gewusst, dass Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio alle aus der Toskana stammten? Leonardo da Vinci wurde in Anchiano bei Florenz geboren, Michelangelo Buonarroti im heutigen Caprese, Michelangelo bei Arezzo, Giacomo Puccini in Lucca, und man könnte die Liste noch ellenlang fortsetzen. Vater hatte das Gefühl, dass er hier in der zu ihm passenden Gesellschaft war.“

Juliane dachte, dass der Onkel sich da etwas überschätzt haben mochte, aber sie sagte nur: „Dann war er ein sehr selbstbewusster Mann.“

„Das war er. Er war der geborene Potentat. Er sagte oft, er hätte besser ein Borgia werden sollen als ein Wewelmann.“

„Ich weiß nicht, ob das der Familie zur Ehre gereicht hätte.“

Adam lachte kurz und ungeduldig auf. „Das ist natürlich nicht so wörtlich zu nehmen. Aber er war kühn, raffiniert, einfallsreich, bestens informiert in allen Dingen, die ihn interessierten, absolut gleichgültig allem gegenüber, was ihn nicht interessierte, schlagkräftig und skrupellos in der Verfolgung seiner Ziele. Was er haben wollte, bekam er. Was er erreichen wollte, setzte er durch.“

„Klingt, als wäre er ein beinharter Egoist gewesen.“

„Ja, gewiss“, bestätigte Adam, ohne die Bemerkung als Beleidigung zu empfinden. „Nach dem Tod unserer Mutter wurde er sehr hart. Ich sagte ja, er war nicht der Mensch, den man gemeinhin als umgänglich oder liebenswürdig bezeichnet. Dafür war er ein paar Nummern zu groß. Wenn eine Bronzestatue von ihrem Sockel steigt und ein Café betritt, wird das auch nicht als anheimelnd empfunden. Er war die Gallionsfigur von Dormiani. Natürlich brachte ihn das in Konflikt mit dem zweiten lokalen Monument, der alten Contessa Luchini.“

„Contessa? Das heißt Gräfin, nicht wahr?“

„Ja, stimmt. Echter alter toskanischer Adel. Es ist merkwürdig, weißt du“, erklärte Adam, während er den Mercedes mit unverminderter Geschwindigkeit auf der Überholspur der Autobahn hielt. „Die Toskana ist politisch traditionell links gerichtet, aber wenn unsere Nachbarin durch Dormiani ging, hieß es untertänig: Guten Morgen, Signora Contessa, was steht zu Diensten, Signora Contessa? Dabei waren die meisten Bauern reicher als die Alte, die sich im Winter kaum die Heizung leisten konnte, weil sie jeden Cent in ihren Weinkeller steckte. Arrogant allerdings war sie immer noch. Du hättest sie sehen sollen, wie sie von ihrem Mäusenest ins Dorf hinabhumpelte, auf ihren Stock mit der Elfenbeinkrücke gestützt, immer gefolgt von zwei krummen alten Burschen, die ihr den Regenschirm und ihre Einkaufstasche nachschleppten. Wenn sie in den Supermarkt ging, sagte sie kein Wort, sondern deutete wortlos auf dies und das, und die Diener sprangen hin und legten es in den Einkaufswagen. Sie war eine Institution. Wir dachten, sie würde nie sterben. Seit meiner Kindheit sah sie gleich aus – eine kleine, korpulente, alte Frau mit kurz geschnittenem, weißem Haar, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem Gesicht wie ein Käuzchen. Als sie mit dreiundachtzig starb, lief ganz Dormiani hinter ihrem Sarg her.“

Juliane lächelte. „Das finde ich rührend. Es erinnert mich irgendwie an das Begräbnis der alten königstreuen Lehrerin in Don Camillo und Peppone. Über den Sarg wurde die Fahne der Monarchisten gebreitet, der Pfarrer segnete ihn ein und die Kommunisten geleiteten ihn auf den Friedhof.“

Er zuckte die Achseln mit einer Bewegung, die nicht recht erkennen ließ, ob sie spöttisch gemeint war. „Du wirst feststellen, dass unser Dorf noch sehr unbeleckt vom Fremdenverkehr ist, obwohl sich auch bei uns schon ein paar der typischen Aussteiger anzusiedeln versuchen. Unsere nächsten Nachbarn sind zwei kaputte Künstlertypen, die nackt in ihrem Pool schwimmen – splitternackt! Glücklicherweise gibt es nur wenige von der Sorte. Hin und wieder verirrt sich ein Touristenbus zu uns, aber jedenfalls ist es noch nicht so weit, dass wir einen McDonalds auf dem Marktplatz oder ein neonbeleuchtetes Sushi-Lokal auf der Piazzetta hinnehmen müssten.“

„Das klingt so, als seid ihr Wewelmanns schon mehr Einheimische als Zugezogene?“

„Auf jeden Fall betrachten sie uns nicht mehr als Außenseiter – dazu hatte Vater viel zu viel mitzureden in den örtlichen Angelegenheiten. Sein Weingut ist das Beste von ganz Dormiani.“ Seine Stimme lebte auf, als sei er nach unumgänglicher langweiliger Konversation endlich auf ein Thema gekommen, über das zu sprechen ihn auch tatsächlich interessierte. In allen Einzelheiten erzählte er Juliane die Geschichte der Familie und ihrer Fattoria.

Guido Wewelmann, verheiratet mit einer Römerin aus vornehmer und schwerreicher Familie, war einer der vielen Nicht-Toskaner gewesen, die der Weinbau ins Land gelockt hatte, einer der Geschäftsleute, die hier ein Zwischending zwischen Aussteigertraum und Investitionsprojekt zu realisieren hofften. Dass die Toskana mit dem Weinbau so eng verbunden ist wie mit der Kunst, hatte Juliane gewusst, aber nun hörte sie die Namen der berühmten Rotweine, die aus der Sangiovese-Traube gekeltert werden: Chianti, Brunello di Montalcino, Vino Nobile di Montepulciano, Carmignano. Sie lächelte entschuldigend. „Ich trinke nur sehr, sehr selten – für Leistungssportler ist Alkohol Gift. Daher kenne ich mich mit Weinen überhaupt nicht aus. Es ist eine Wissenschaft, nicht wahr?“

Adam antwortete mit Begeisterung. „Mehr als eine Wissenschaft, Juliane. Eine Kunst. Eine Lebensaufgabe.“

Juliane, in der seine freudige Erregung nicht den geringsten Widerhall fand, lächelte dennoch; sie war froh, dass er über ein so amikales Thema wie guten Wein redete. Die unerfreulichen Themen würden noch früh genug zur Sprache kommen. „Du hast die Begeisterung deines Vaters für den Weinbau geerbt“, stellte sie fest. „Deine Schwestern auch?“

Er warf ihr einen pikierten Seitenblick zu, als haftete ihrer Bemerkung etwas Geschmackloses an. „Nein. Emilia ist zu einfältig dafür, und für Dorothea kommen landwirtschaftliche Interessen natürlich nicht infrage.“

„Wieso natürlich nicht?“

Adam sah sie befremdet an. „Aber das musst du doch wissen? Erinnerst du dich nicht mehr? Dorothea ist schwerstbehindert. Sie ist ein Pflegefall. Keine Rede davon, dass sie ein Landgut leiten könnte. Außerdem ist das jetzt bereits eine hypothetische Frage, nicht wahr? Du hast schließlich die Villa Verbena und Le Querce geerbt, nicht wir.“ Plötzlich warf er mit einer spastischen Bewegung, in der sich alle seine mühsam zurückgehaltene Wut ausdrückte, den Kopf zurück, so heftig, dass der Wagen Sekunden lang zu schlingern drohte. Augenblicklich packten Adams Hände das Lenkrad fester, der Krampf, der ihn durchschauert hatte, löste sich. „Entschuldige“, bemerkte er trocken.

Juliane schluckte noch an der Information, dass ihre Kusine Dorothea ein Pflegefall war. Keine Rede davon, dass sie ein Landgut leiten könnte, hatte Adam gesagt. Hieß das vielleicht, dass sie auch geistig behindert war? Sonderbare Bilder formten sich zu einem Film: Eine tief verschleierte Gestalt, die lautlos in ihrem elektrischen Rollstuhl von einem Zimmer ins andere glitt, geschlossene Jalousien, grünliches Sterbezimmer-Zwielicht, gnomenhafte Dienerschaft in schwarzen Kleidern und Kopftüchern.

Sie schüttelte die Spukbilder ab. Jetzt war es wichtig, Adam zu sagen, dass sie nicht gekommen war, um ihm sein geliebtes Le Querce wegzunehmen. Sie räusperte sich nervös. „Hör zu, ich möchte doch jetzt gleich darüber reden. Ich habe keine Ahnung, warum Onkel Guido ausgerechnet mir sein Haus und sein Landgut hinterlassen hat, ich –“

„Oh“, erwiderte Adam, immer noch in diesem spröden, trockenen Ton, der seine tobende innere Erregung durchschimmern ließ, „das kann ich dir schon sagen. Er wusste genau, wie sehr ich an Le Querce hänge und wie sehr meine Schwestern auf das Haus angewiesen sind, daher erpresste er uns bei jeder Gelegenheit damit, dass er sein Testament ändern und seinen Besitz anderen Leuten hinterlassen würde. Diesmal warst eben du die Auserwählte, aber es hätte genauso gut ein Heim für streunende Katzen in Napoli sein können – Hauptsache, er sah unsere hilflose Wut, unsere Tränen, unsere Angst und Frustration.“

Sein Gesicht war kalkbleich geworden, während er diese Sätze hervorstieß, und plötzlich lenkte er von der Überholspur weg auf den Pannenstreifen und hielt den Wagen an. „Entschuldige“, wiederholte er. „Ich muss ein paar Minuten Pause machen. Ich fühle mich nicht wohl.“

Juliane war tief betroffen. Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass ihre Verwandten das Testament übel aufnehmen würden, aber als sie Adams fahles Gesicht und seine brennenden Augen sah, erfüllten sie Mitleid und Entsetzen. Sie ergriff impulsiv seinen Arm. „Hör zu. Wir werden eine Regelung finden. Lass unsere Anwälte darüber sprechen. Ich fange mit einem Weingut ebenso wenig an wie mit einer Villa in der Toskana. Ihr könnt mich auszahlen oder beteiligen oder auf irgendeine andere Art entschädigen. Auf jeden Fall denke ich nicht daran, hier einzuziehen und das Gut zu übernehmen. Ich bin Sportstudentin und keine Winzerin.“

Adam atmete wie ein Ertrinkender, der sich im letzten Augenblick an Land gerettet hat. „Das ist dein Ernst?“

„Aber ja. Ich bin hierhergekommen, damit wir darüber reden können, wie wir das Problem am besten lösen. Wenn wir zu einer Einigung kommen, kontaktieren wir unsere Anwälte und lassen die alle Einzelheiten regeln.“

Er erholte sich langsam. „Das ist natürlich eine erfreuliche Überraschung“, murmelte er mit einer immer noch unsicheren Stimme. „Wir haben uns Sorgen gemacht … Es geht vor allem um Dorothea. Es wäre eine Katastrophe für sie, aus Dormiani wegzumüssen. Sie liebt jeden Krümel Erde hier. Ich möchte nicht, dass sie die letzten Jahre ihres Lebens in einem Pflegeheim in Florenz verdämmern muss. Hier ist sie so glücklich, wie ein Mensch in ihrem Zustand überhaupt sein kann. Und Emilia empfindet ähnlich. Sie hat Kontakte im Dorf geknüpft, die sie nicht missen möchte.“ Er lächelte verlegen. „Nein, keine Romanze, das würde nicht zu ihr passen, aber sie versteht sich sehr gut mit der Nichte des Pfarrers. Was mich betrifft, so hast du wahrscheinlich schon gemerkt, dass ich mich an jeden einzelnen Rebstock in Le Querce klammere.“

Sie erwiderte das Lächeln. „Ja, das war nicht zu verkennen. Geht es dir jetzt besser?“

„Beträchtlich besser.“ Er atmete so tief durch, dass er zu husten begann – ein Zeichen dafür, wie verkrampft seine Brust gewesen war. „Die Tage seit der Testamentseröffnung waren qualvoll für uns, wie du dir vorstellen kannst. Vater hatte dieses Spiel immer wieder mit uns gespielt – uns aufs Pflichtteil gesetzt, den Besitz jemand anderem vermacht und erst nach Wochen sein Testament wieder geändert und uns erneut als Erben eingesetzt. Wer konnte wissen, dass er so plötzlich sterben würde? Wir konnten es alle nicht fassen.“

„Was war es? Ein Schlaganfall?“

Adam beschäftigte sich unnötig ausgiebig damit den Wagen wieder zu starten. Obwohl er ein ausgezeichneter Fahrer war, stellte er sich so umständlich an wie ein blutiger Anfänger. „Ein Unfall“, erwiderte er schließlich in einem Ton, der deutlich besagte: Und das ist alles, was ich darüber sagen möchte.

Juliane ließ sich nicht einschüchtern. „Was für eine Art Unfall?“

„Einer von seinen Hunden fiel ihn an“, erwiderte er mürrisch. „Rabon, ein riesiger schwarzer Cane Corso. Es war sehr unvorsichtig von Vater, den Zwinger zu betreten; er wusste, wie scharf und unberechenbar der Hund war.“

Juliane fröstelte. Deshalb, dachte sie, hat er über den Tod seines Vaters nicht reden wollen. Ein schreckliches Ende. Sie erinnerte sich an Fotos zerfleischter Gesichter und Körper, die sie in Illustrierten und im Fernsehen gesehen hatte. Onkel Guidos enorme Korpulenz stand ihr plötzlich mit Übelkeit erregender Klarheit vor Augen, diese schlaffen Massen von Fleisch und Fett, in die das Tier seine Reißzähne geschlagen hatte. Hastig wechselte sie das Thema. „Wie weit fahren wir?“

„Von Prato sind es noch neun Kilometer bis Dormiani, und dann noch eineinhalb bis zum Haus.“ Sichtlich erleichtert über den Themenwechsel, fuhr er eilig fort: „Du musst dir den Weinberg ansehen, dann wirst du verstehen, warum ich mein Herz daran gehängt habe. Er ist einfach wundervoll. Unsere nächste Ernte …“

Juliane hörte kaum zu, als er zu seinem Lieblingsthema zurückkehrte.

Das Gespräch hatte die Erinnerung an ihren Vater wachgerufen, und das war keine angenehme Erinnerung. Dabei hätte sie nicht einmal sagen können, was der Grund für diese Abneigung war. Es war nicht so, dass sie ihm wegen bestimmter Verhaltensweisen Vorwürfe gemacht hätte. Hätte sie eine Liste seiner schlechten Eigenschaften aufschreiben müssen, so wäre ihr nichts wirklich Gravierendes eingefallen. Sie grollte ihm nicht. Sie hatte einfach seit frühester Jugend eine kalte Abneigung gegen ihn empfunden, einen tiefgreifenden Widerwillen dagegen, in seiner Nähe zu sein, mit ihm zu sprechen oder sich in irgendeiner Weise mit ihm zu befassen.

Als sie mit Gretchen einmal darüber gesprochen hatte, hatte die ihr gesagt: „Ich glaube, du hast einfach instinktiv mitbekommen, was deine Mutter fühlte. Zu dem Zeitpunkt hat es ihr wahrscheinlich schon leidgetan, dass sie ihn jemals geheiratet hat. Natürlich hat sie dir nichts darüber gesagt, aber es lag in der Luft.“

Juliane lächelte schief. „Nein, natürlich nicht.“ Ihre Mutter hielt es für eine ausgesprochen plebejische Angelegenheit, über seine Sorgen mit anderen zu sprechen. Meine Probleme gehen mich etwas an und niemanden sonst, hatte sie immer gesagt und im Stillen gelitten, geweint, geflucht und in ihrer Nachttischschublade voll Psychopharmaka Trost gesucht.

Ja, Gretchen, die sich gerne als Amateur-Psychiaterin betätigte, mochte durchaus recht gehabt haben.