Verbotene Träume
»Hast du übrigens das von Karin und Thomas gehört?« Ich lege mein Buch auf den Nachttisch und rolle mich zur Seite. Die Geschichte mit den beiden geht mir schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf.
»Nein, wieso? Was ist mit ihnen?« Heiko sieht mich kurz über den Rand seiner Zeitschrift an, wendet sich dann aber wieder dem Text zu.
»Sie haben sich getrennt. Thomas ist am Freitag ausgezogen.«
Heiko lässt die Zeitschrift sinken.
»Karin und Thomas? Echt jetzt? Dabei wirkten die beiden so glücklich.«
Ich zucke mit den Schultern.
»Er hat was mit seiner Kollegin angefangen. Fünfzehn Jahre jünger.«
Heiko schüttelt den Kopf. »Unfassbar! Das hätte ich wirklich nicht gedacht.« Er nimmt die Zeitschrift wieder hoch. Das Thema scheint für ihn damit beendet.
»Und was sagst du jetzt dazu?«, hake ich nach.
»Was soll ich dazu sagen?« Heiko zieht die Stirn kraus. »Hätte ich nicht mit gerechnet. Aber man steckt ja nicht drin.«
»Ja, aber … ich bin total schockiert. Du nicht?«
»Ändert doch nichts, wenn ich mich darüber aufrege, oder?«
Heikos nüchterner Pragmatismus bringt mich manchmal echt auf die Palme. »Ja, aber findest du das gut? Ich meine, nach all den Jahren? Nach allem, was Karin für die Familie getan hat? Auch beruflich hat sie doch all die Jahre zurückgesteckt. Und er geht los und sucht sich eine fünfzehn Jahre Jüngere. Findest du das etwa fair?«
»Nein. Aber es ändert doch nichts daran. Und außerdem wissen wir doch nicht genau, was da gelaufen ist.«
»Hm.« Mit Heiko zu sprechen ist manchmal wie mit Anlauf vor eine Betonwand zu rennen. Er ist immer so furchtbar rational. »Und was, wenn uns das auch passiert?«
Heiko grunzt amüsiert. »In meiner Abteilung gibt es nur zwei Frauen und die gehen mir schon während der Arbeitszeit genügend auf den Keks. Die muss ich nun wirklich nicht auch noch privat sehen.«
»Mensch, Heiko. Kannst du auch mal etwas erst nehmen, was ich sage?« Ich bin genervt. »Was ich meine ist, dass wir irgendwann feststellen, dass wir uns auseinandergelebt haben.«
Heiko seufzt schwer, legt die Zeitung auf den Nachttisch und zieht mich in seinen Arm. Mit der Nase reibt er über meine Wange.
»Ach, Struppi. Wir doch nicht! Wir sind doch ein Team. Mach dir doch nicht immer solche Gedanken.«
»Aber ich bin auch nicht mehr so knackig wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Und im Bett war bei uns auch schon mal mehr los. Erinnerst du dich noch damals im Botanischen Garten? Du hast mich einfach auf der Wiese vernascht. Es hätte jeden Moment jemand vorbeikommen können. Oder damals im Treppenhaus von der Uni-Bibliothek?«
Heiko küsst meinen Hals und sein Daumen streicht über meine Schulter.
»Das ist doch der natürliche Lauf der Dinge, Nicki. Nach über zwanzig Jahren fällt man eben nicht mehr bei jeder Gelegenheit übereinander her. Und klar … ganz taufrisch sind wir auch nicht mehr. Jedenfalls hatte ich auch schon mal mehr Haare auf dem Kopf.« Heiko grinst und zieht die Augenbrauen Richtung Stirn, über der die Geheimratsecken in den letzten Jahren deutlich größer geworden sind, auch wenn seine dunkelbraunen Locken noch dicht genug sind, um den sich ausbreitenden Kahlschlag zu überdecken. »Aber das ist doch vollkommen egal. Ich liebe dich noch ganz genauso – vielleicht sogar noch mehr. Wenn man jung ist und frisch verliebt, klar ist da der Sex noch aufregend und neu. Aber dafür haben wir doch heute ganz andere Dinge. Du kennst mich besser als jeder andere Mensch. Du weißt genau, was ich mag und was mich auf die Palme bringt. Ich brauche gar nicht mehr viel zu sagen. Du verstehst mich auch so meistens. Wir können uns fetzen und wir vertragen uns hinterher immer wieder. Und wir können zusammen lachen. Das ist doch die Hauptsache, oder nicht?«
Ich runzle die Stirn. Heiko hat ja recht. Es hat auch etwas für sich, all die Jahre gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen zu sein. Wir sind aufeinander eingespielt, ich kann mich auf Heiko verlassen. Aber doch ist da dieses nagende Gefühl, dass irgendetwas fehlt. Etwas, das früher mal da war.
»Aber fehlt dir das nicht manchmal?«, frage ich. »Dieses Spontane? Die Leidenschaft?«
Heiko schüttelt leicht den Kopf. »Nee. Bei dir weiß ich, was ich hab. Da muss ich mir keine Gedanken machen wegen meiner Plauze.« Er grinst und klopft auf sein kleines Wohlstandsbäuchlein.
»Träumst du denn nicht manchmal auch von einer Jüngeren – so ganz ohne Falten und Schwerkraft? Keine Ahnung, sowas wie Gal Gadot.«
»Wer?«
»Na, Wonder Woman!«
Heiko lacht. »Na ja, die ist ganz lecker anzusehen. Aber da brauchst du ja eine Flex, um die von ihrem Blechfummel zu befreien.«
Ich verdrehe die Augen. »Mann, Heiko!«
»Okay, ganz im Ernst. Was soll ich mit so einem Hüpfer? Da müsste ich mich doch ständig beweisen und sie betüddeln und teure Geschenke kaufen und so. Sonst würd so eine sich doch nicht mit einem wie mir zufriedengeben, wo das Knie sich langsam durch die Schädeldecke arbeitet und Gesicht und Bauch täglich wachsen. Nee, lass mal, Nicole. Ich will keine andere.« Er beugt sich zu mir und küsst meine Nasenspitze. »Wo kommt denn das plötzlich her, Nicki? Ist das jetzt so eine Art Midlife-Crisis? Wegen Bibi? Ist es das?«
»Nein … ja … vielleicht auch. Ich weiß nicht. Es ist ein komisches Gefühl, dass Bibi jetzt auch Abi hat und studieren geht. Bei Julius war es für mich leichter. Da hatte ich ja noch mein Küken. Und jetzt?«
Heiko schaut mich an und grinst. »Jetzt? Jetzt können wir endlich all die Dinge machen, von denen wir gesagt haben, dass wir sie machen werden, wenn die Kinder mal aus dem Haus sind.«
»Schon. Ja. Sicher, aber ich fühle mich alt. Und irgendwie … Ach, ich weiß nicht. Vermisst du nicht dieses Gefühl, dass dir noch alle Möglichkeiten offenstehen? Dass du noch mal etwas ganz anderes machen kannst? Noch einmal ganz neu anfangen?«
Heiko schiebt nachdenklich die Unterlippe nach vorne.
»Nö«, sagt er schließlich und aus seinen blauen Augen spricht tiefe Überzeugung. »Ich hab genug ausprobiert, um zu wissen, dass ich nichts verpasse. Was sollte denn besser sein als das, was wir haben, Nicki?«
»Ach, ich weiß nicht. Manchmal träume ich eben davon, noch einmal so jung zu sein und so sexy. Noch alle Möglichkeiten offen zu haben, zu reisen, Abenteuer zu erleben, mit einem völlig Fremden tanzen …«
»Du bist doch immer noch sexy.« Heiko legt seine große, warme Hand auf meinen Bauch.
»Lügner«, schnaube ich und küsse ihn für diese kleine, charmante Unwahrheit.
»Im Ernst, Nicki. Für mich bist du immer noch eine wunderschöne Frau. Jeder Mann wäre froh, dich täglich in seinem Bett liegen zu haben.«
Ich presse die Lippen aufeinander. »Und doch siehst du mich nicht mehr so an … und wir … na ja, wir schlafen kaum noch miteinander. Früher – da konntest du die Finger nicht von mir lassen. Ich konnte nicht an dir vorbeigehen, ohne dass du mir den Arsch getätschelt hast.«
»Ach, Nickilein. Du weißt doch selbst, wie es ist. Der Job, die Kinder, irgendwas ist immer und dann ist man müde und genervt. Also, an deinem Arsch liegt es jedenfalls nicht.« Er grinst und schiebt seinen Arm um meine Hüfte. »Den finde ich nämlich nach wie vor verdammt lecker.«
Er kneift spielerisch hinein und schiebt die Hand hinten in meinen Schlüpfer.
»Und wenn ich dir nicht mehr reiche«, Heiko knabbert an meinem Ohrläppchen und streichelt meinen Po, »dann schaffst du dir einen Geliebten an. So einen Toyboy oder vielleicht einen heißen Latin Lover.«
Er schubst mich rücklings in die Kissen und rollt sich über mich.
»Ach du!« Lachend schlage ich mit der flachen Hand auf seine nackte Brust. Eigentlich liebe ich meinen Mann für seinen Humor, doch heute geht mir sein Scherz gegen den Strich. Sollte es mich nicht freuen, dass Heiko keine ernste Gefahr sieht, dass uns je etwas auseinanderbringen könnte? Und doch hat sich dieses unbestimmte Gefühl in mir festgehakt. Dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, dass etwas fehlt und wir nur die Augen davor verschließen.
Heiko schält mich aus meinem Nachthemd und küsst mich zärtlich, während seine Hand meine Brüste streichelt.
»Von wegen Schwerkraft«, murmelt er und saugt an meinen Brustwarzen. »Da ist alles noch, wo es hingehört.«
Ich schließe die Augen und genieße die warmen, vertrauten Berührungen seiner Lippen und seiner kräftigen Hände. Doch ich kann nicht verhindern, dass meine Fantasie abschweift. Ich stelle mir vor wie es wäre, mit einem vollkommen Fremden zu schlafen. Nicht jede Berührung vorausahnen zu können. Zwei Körper, allein von Lust und Hunger gesteuert. Zwei gierige Körper, die einander entdecken. Ein Mann, von dem ich nicht einmal den Namen kenne – in einem Zugabteil.
Heiko zieht mein Höschen über die Hüften nach unten und ich stelle mir vor, wie fremde Hände mich packen, ungeduldig an meiner Kleidung zerren, während Lippen und Zungen einen wilden Tanz miteinander aufführen. Meine Hände wühlen in Heikos Haaren, wandern über seinen Rücken zu seinem Po, massieren ihn durch den Stoff seiner Boxershorts. Ich spüre seine Erregung an der weichen Innenseite meiner Schenkel. Eilig streift Heiko die Shorts herunter und befreit seine pochende Erektion. Meine Hand gleitet zwischen uns, schließt sich um ihn, fährt an seinem Schaft auf und ab, während wir uns tief und innig küssen und seine Finger in die feuchte Wärme zwischen meinen Schenkeln tauchen. Sie kennen mich in- und auswendig, brauchen nicht lange, um genau die richtigen Stellen bei mir zu treffen. Ich seufze auf und presse ihm mein Becken entgegen, während er mich mit geschickten Fingern dem Gipfel entgegentreibt.
Wieder ist da dieses Bild in meinem Kopf von einem dunkelhaarigen Fremden. Wir sprechen kein Wort, sehen uns nur lüstern an, ich schlage die Beine übereinander, zeige ihm, dass ich unter meinem Rock kein Höschen trage. Innerhalb eines Herzschlags ist er neben mir, seine Hände auf meiner erhitzten Haut. Seine Lippen an meinem Hals, auf der zarten Haut meiner Brüste, seine Hand, die zwischen meine Schenkel gleitet und mich erzittern lässt.
Mein Körper spannt sich an, jeder Nerv hochsensibel. Ich spüre die Berührung in jeder Faser meines Körpers, die feuchte Hitze zwischen meinen Beinen, in die seine Finger hineinstoßen, mich öffnen. Schließlich ist er über mir, seine feste, harte Männlichkeit stößt in mich hinein. Atemlos keucht er Worte in mein Ohr, Worte in einer fremden Sprache. Meine Beine schlingen sich wie von selbst um seine Hüften, ziehen ihn enger an meinen bebenden Körper. Ich kippe mein Becken, um meine Klitoris an seinem stoßenden Kolben zu reiben und stöhne laut auf, meine Hände graben sich in das feste Fleisch seiner Hinterbacken und ich presse mich an ihn, während eine Welle der Lust über mich hinwegspült und mich mitreißt und meine Muskeln sich mit der Gewalt des Höhepunkts zusammenpressen.
Heikos vertraute Stimme, sein tiefes, brummendes Stöhnen, das an einen satten, zufriedenen Bären erinnert, reißt mich aus der Fantasie und ich fühle mich ein wenig schuldig, als er ein letztes Mal tief in mein heißes, enges Inneres stößt und sich mit einem weiteren Aufstöhnen tief in mir entlädt.
Als Heikos verschwitzter Oberkörper auf mich sinkt, küsse ich zärtlich seine Schulter. Meine Beine halten immer noch seine Hüfte umschlungen und wir verharren ineinander verschlungen, tauschen sanfte, liebevolle Küsse. Ich fühle mich warm und aufgehoben. Heikos vertrauter Duft, sein Herzschlag, seine weichen Lippen, es ist alles so, wie es sein sollte und doch ist da dieses unbestimmte Gefühl, nicht ganz ausgefüllt zu sein. Ein Gefühl, das ich schwer in Worte fassen kann. Es ist, wie mit Appetit die Speisekarte zu lesen und dann doch aus Vernunft den großen Salatteller zu essen oder sich das Dessert zu verkneifen. Und später zu Hause an nichts mehr denken zu können als an Eiscreme mit Sahne.
Satt, aber nicht vollkommen befriedigt. Dabei kann ich mich doch wirklich nicht beschweren. Heiko ist wundervoll. Er liebt mich, macht mir Komplimente, findet mich auch nach all den Jahren noch sexy. Nie – wirklich nie! – hat er auch nur ein Sterbenswort über meine Figur verloren. Da kenne ich von Freundinnen und Kolleginnen ganz andere Storys. Männer, die ihren Frauen das Essen verbieten oder ihnen Fitness-Abos zum Geburtstag schenken. Heiko scheint es nie gestört zu haben, wenn ich mal etwas zugelegt habe. Im Gegenteil. Er liebt es, meine Diätanstrengungen zu sabotieren, indem er meine Lieblingsschokolade und Chips in den Einkaufswagen schummelt oder mich schick zum Essen einlädt. Ich glaube, Heiko wäre es ehrlich egal, wenn ich etwas üppiger wäre. Die »Mopsexplosion«, wie er es nannte, während meiner Schwangerschaften jedenfalls fand er sexy. Damals konnte ich ihn mir kaum vom Leib halten. Er liebt es, meinen Bauch anzufassen und wenn ich über meine Schwangerschaftsstreifen jammere, wischt er meine Sorgen mit einem typischen flapsigen Heiko-Spruch weg. »Streifenhörnchen sind niedliche Tiere!« oder »Tiger haben nun mal Streifen.« Oder auch gerne mal ein freches: »Alte Bausubstanz braucht Dehnungsfugen, sonst bröckelt es.«
Dafür und für so vieles mehr liebe ich ihn. Und doch sind wir vielleicht zu vertraut miteinander geworden. Seit einiger Zeit treibt mich immer wieder die Frage um, ob das wirklich alles war. Ob denn keine Überraschungen mehr kommen im Leben. So lange hat sich alles nur um die Kinder gedreht, aber mit jedem weiteren kleinen Schritt in die Selbstständigkeit rauben die beiden mir einen Teil meiner Identität, meines Lebensinhalts. Natürlich war mir klar, dass das irgendwann kommt. Selbstverständlich habe ich auch in Zeitschriften über das Empty-Nest-Syndrom gelesen. Aber irgendwie habe ich nie gedacht, dass mich das wirklich so hart treffen wird. Dieses vage Gefühl der Leere, des Verlusts, des Nicht-mehr-satt-werdens.
Vielleicht ist es auch die Angst vor der großen, bösen Fünf, die ich in nicht mehr ganz zwei Jahren vor mein Alter schreiben muss. Oder das Schreckgespenst Menopause, das mich bisher noch verschont. Mal abgesehen davon, dass ich seit der zweiten Schwangerschaft bei einer heftigen Erkältung mit viel Husten und Niesen vorsorglich lieber die Slipeinlagen für Blasenschwäche trage. Klar, dass man sich da vielleicht nicht mehr ganz so sexy fühlt. Wahrscheinlich hat Heiko recht und es ist einfach normal. Womöglich geht es irgendwann vorüber und ich füge mich in mein Schicksal, kann in Würde ergrauen und alles hängen lassen.
Heiko rollt sich von mir herunter und zieht mich an sich. Mein Po und mein Rücken schmiegen sich in die Kurve seines Körpers, sein Arm ist um meine Taille geschlungen und er küsst meine Schulter.
»Siehst du?«, nuschelt er in meine Haare. »Du machst mich immer noch scharf, Nicki. Von null auf hundert in drei Sekunden. Testosteronhochleistungsmotor – leider nicht mehr so ausdauernd wie früher, aber zuverlässig und schnurrt wie ein Kätzchen.« Er lacht und ich muss lächeln. Gleichzeitig regt sich in mir das schlechte Gewissen, weil ich beim Sex an einen anderen Mann gedacht habe. Ich versuche, es damit zu beschwichtigen, dass es immerhin kein bestimmter Mann war, sondern ein gesichtsloser Fremder. Mein Kopfkino tut schließlich niemandem weh und ich habe gelesen, dass über 70% der Männer beim Sex an andere Frauen denken. Wahrscheinlich ist das einfach normal, doch so konkret, so bildhaft wie heute – das ist mir bisher noch nie passiert.
Heikos Atemzüge in meinem Nacken werden tiefer und gehen in leises Schnarchen über. Ich schließe die Augen und kuschle mich ein, doch ich kann nicht in den Schlaf finden. Heikos warme Nähe wird mir plötzlich zu viel, die Haut auf meinem Rücken fühlt sich unangenehm klebrig an. Mein Blick fällt auf das Thermometer. Kein Wunder, es sind sechsundzwanzig Grad im Schlafzimmer.
Vorsichtig schiebe ich Heikos Arm beiseite und stehe auf, um etwas Luft hereinzulassen. Ich lasse den Rollladen hochfahren und öffne das Fenster. Draußen braut sich ein Wärmegewitter zusammen. Der auffrischende Wind weht die Gardinen gegen meinen nackten Körper und ich genieße das sachte Kitzeln und die Kühle der hereinströmenden Luft. Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich versucht, nach draußen zu laufen, mich nackt ins Gras zu legen und auf den Gewitterregen zu warten.
Doch dann fällt mir ein, dass Bianca und Benjamin nach ihrer Party hier übernachten wollen. Ich sehe auf die Uhr. Kurz nach elf. Bei den jungen Leuten geht die Party da ja erst so richtig los. Vor zwei Uhr ist normalerweise mit den beiden eigentlich nicht zu rechnen. Ob ich vielleicht …? Ich verwerfe den Gedanken. Die Peinlichkeit, wenn meine nunmehr erwachsene Tochter und ihr Freund mich dabei erwischen, wie ich mich nackt, lustvoll auf dem Rasen räkle wäre wohl kaum zu überleben. Ich beschließe, mir lieber noch eine kühle Dusche zu gönnen.
In meinen Bademantel gehüllt husche ich ins Badezimmer und drehe die Dusche auf. Das kühle Wasser tut gut auf meiner verschwitzten Haut und ich vergreife mich an einer von Bibis überteuerten Duschschaumsprühdosen, die allesamt nach irgendetwas Essbarem duften. Ein Sinnbild für die Dekadenz unserer Gesellschaft und etwas, das ich mir selbst verkneife, weil ich zu sparsam und zu umweltbewusst bin. Doch heute möchte ich einfach nach Erdbeeren und Zuckerwatte riechen. Um mein schlechtes Gewissen wegen der Umwelt zu beruhigen, drehe ich wenigstens das Wasser ab, während ich den Schaum in meine Hand sprühe und mit kreisenden Bewegungen auf meinem Körper verteile.
Meine Fantasie kehrt zurück zu dem Fremden. Die Szenerie ändert sich. Wir begegnen uns in einem Club, er lehnt an der Bar, ich bewege mich zum Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche, lasse mich von der Musik tragen und spüre seine Blicke auf mir, wie sie jede meiner Bewegungen hungrig verfolgen. Meine Augen suchen seine, erkennen das Feuer darin, den Instinkt des Jägers. Er kommt zu mir, zieht mich in seine Arme und wir tanzen zusammen. Unsere Körper pressen sich aneinander, stoßen sich wieder ab, locken, necken, provozieren. Sein Bein zwischen meinen Schenkeln, seine Hände gleiten über meinen Körper, wir beginnen, uns zu küssen.
Plötzlich sind wir nicht mehr auf der Tanzfläche. Wir sind allein und er presst mich voll Verlangen an die Wand, küsst mich, umfasst meinen Po mit seinen starken Händen und hebt mich mit Leichtigkeit hoch. Mein Rücken wird an die Wand gedrückt, als er in mich eindringt und mich mit festen, tiefen Stößen nimmt. Meine Finger suchen meine empfindliche Perle, streicheln und reizen sie, während ich mich auf die Bilder in meinem Kopf konzentriere, die wilde, ungezügelte Lust, mit der sich unsere Körper vereinigen, er sich wieder und wieder machtvoll in mein Innerstes pumpt. Ich drehe das Wasser auf, spreize die Beine und richte den Massagestrahl des Duschkopfs auf meine sehnsüchtig pochende Scham. Meine Finger zupfen, stupsen und reiben meine Klitoris, während ich mir ausmale, wie ein vollkommen Fremder mich wie ein wilder Stier nimmt, seine pralle Männlichkeit kraftvoll in mich stößt und mich ausfüllt. Meine Beine beginnen zu zittern und ich fühle einen heftigen Orgasmus anrollen. Meine Finger schlüpfen in mein heißes, feuchtes Inneres, finden die kleine Verhärtung und reizen sie mit ihrem Spiel. Ich zucke zusammen und meine Muskeln krampfen sich fest um meine Finger. Meine Zähne graben sich in meine Unterlippe, um mich davon abzuhalten, laut aufzustöhnen. Die Heftigkeit meines Höhepunkts überrascht mich selbst. Irgendetwas an dieser Fantasie scheint sich hartnäckig in mein Gehirn gegraben zu haben und mich nachhaltig zu beschäftigen.
Etwas verschämt spüle ich den restlichen Schaum von meinem Körper, trockne mich ab und schlüpfe zurück zu Heiko ins Bett.
Nestflüchter
Möbel shoppen für Bibis Studentenbude. Ein wenig fühle ich mich erinnert an ihre Einschulung, bei der ich tapfer mit den Tränen gekämpft habe, um ihr nicht den Tag zu versauen. Sie war so stolz mit ihrer Schultüte, die fast größer war als sie selbst. Das Schlimme ist: Das erscheint mir gar nicht so lange her. Es macht mich wehmütig, meine Kleine bei einem weiteren Meilenstein zu begleiten. Und dieses Mal führt er sie noch weiter von mir weg als jemals zuvor, schubst sie hinaus ins Leben – ihr eigenes Leben, über das ich künftig so gut wie gar keine Kontrolle mehr habe. Klar ist das auch schön, sie so erwachsen zu sehen und ich bin stolz auf meine Süße, aber manchmal sehne ich mich einfach nach den Zeiten, in denen ich sie noch auf meinem Unterarm in den Schlaf geschaukelt habe.
Sentimentaler Mütterquatsch. Ich versuche, die Gedanken zu verscheuchen und mich auf die Vorzüge und Nachteile verschiedener Schlafcouchmodelle zu konzentrieren.
»Was ist los, Mama?« Bianca runzelt die Stirn und schaut mich von der Seite an.
»Was soll denn los sein?« Ich versuche, eine neutrale Miene aufzusetzen.
»Weiß nicht. Du sagst gar nichts. Das ist doch gar nicht deine Art.« Bibi grinst.
Meine Tochter kommt so sehr nach mir, dass es mir manchmal unheimlich ist. Kein Wunder, dass sie mich immer voll durchschaut.
»Ist einfach ein komisches Gefühl, dass du bald auch ausziehst.«
»Ach, Mama! Ich bin doch nicht aus der Welt. Ich komme bestimmt jedes zweite Wochenende, lasse mich bekochen und bring dir meine Wäsche.«
Ich muss lachen. »Das kannst du aber mal ganz schnell vergessen, meine Liebe! So schlimm ist es mit der Sentimentalität auch noch nicht.«
»Scherz!« Bibi knufft mich in die Seite. »Aber ich ruf dich an und komme euch ganz oft besuchen. Ist ja nicht so weit. Außerdem kannst du dir endlich dein Fotostudio einrichten. Vielleicht machst du dich ja doch noch mal selbstständig. Wäre super. Deine Fotos sind spitze.«
»Aber du brauchst doch dein Zimmer noch, wenn du vorbeikommst.«
»Julius’ Zimmer ist doch auch noch da und wenn wir mal beide gleichzeitig da sind, schläft eben einer unten im Wohnzimmer auf der Couch. Da ist doch genug Platz.«
Ich schlucke. Wie locker sie das mit dem Abnabeln auf die Reihe kriegt, ganz ohne Nostalgie und Wehmut. Ich war tödlich beleidigt, als meine Mutter nach meiner Verlobung mit Heiko mein altes Zimmer zum Nähzimmer umgerüstet hat. Natürlich habe ich ihr das nicht gesagt, aber es hat mich trotzdem irgendwie getroffen. Vielleicht hat Bibi doch etwas von der rationalen Nüchternheit ihres Vaters mitbekommen.
Nach erfolgreicher Möbeljagd setze ich Bibi bei Benjamin ab. Ein bisschen schwer fällt es mir ja schon, dass sie von der kurzen Zeit, die sie noch zu Hause wohnt, die Hälfte bei Benjamin verbringt. Doch ich kann gut verstehen, dass die beiden noch so viel gemeinsame Zeit wie möglich verbringen möchten, bevor es sie an unterschiedliche Unis verschlägt. Für Bibi wünsche ich mir, dass ihre Beziehung die vorübergehende räumliche Trennung übersteht. Ich mag Benjamin. Ein netter Kerl mit passablen Manieren, von dem ich glaube, dass er meiner Tochter den nötigen Respekt entgegenbringt. Bei Benjamin bin ich mir relativ sicher, dass er ihr nicht so schnell das Herz brechen wird. Eher noch stellt Bibi fest, dass es an ihrem Studienort auch Mütter mit schönen Söhnen gibt.
»Ciao, Süße. Wir sehen uns dann morgen zum Mittagessen?«
»Jup. Danke fürs Shoppen und fürs Bringen, Mama.« Bianca drückt mir einen Kuss auf die Wange und steigt aus dem Wagen.
Zu Hause erwartet mich ein leeres, stilles Haus. Heiko hat schon verlauten lassen, dass es heute spät wird. Jetzt bricht dieses wehmütige Gefühl mit aller Macht über mich herein und ich fühle mich versucht, mir eine Flasche Wein aufzumachen. In solchen Augenblicken vermisse ich Christine. Meine beste Sandkastenfreundin, die immer für mich da ist und mich fast besser kennt als ich mich selbst. Doch leider hat Christine es nach ihrer Scheidung im vergangenen Jahr in den Kopf gekriegt, hat sich ihren langgehegten Traum erfüllt und ist nach Spanien ausgewandert. Sie hat in Valencia eine eigene Sprachschule mit Übersetzungsbüro eröffnet und genießt das süße Singleleben an der Costa del Azahar mit Sonne, Meer und wechselnden Männerbekanntschaften.
Ich sehe auf die Uhr. Später Nachmittag, ich könnte Glück haben. Also schnappe ich mir das Telefon und wähle Christines Nummer.
»Das ist aber schön, dass du anrufst. Ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht’s dir?«
»Um ehrlich zu sein, mir macht es gerade etwas zu schaffen, dass Bibi bald auszieht. Ich bin eben doch eine Gluckenmutter.«
»Ach, Quatsch. Das ist doch ganz normal. Das ist eben ein großer Einschnitt in eurem Leben. Aber sieh es positiv. Dann hast du endlich keine Ausrede mehr, mich nicht besuchen zu kommen.« Christine lacht. Sie bearbeitet mich schon seit Wochen, dass ich nach Valencia kommen soll. »Es wird dir gefallen hier. Vor allem jetzt im Sommer. Gute fünfhundert Meter vom Strand und zwanzig Minuten Fußweg bis zur Marina. Und das Haus wird langsam auch wohnlich. Bei der vorerst letzten Baustelle ist auch ein Ende abzusehen.«
»Ich komme dich ganz bestimmt besuchen. Aber ich wollte die Zeit mit Bibi noch ein wenig auskosten.«
»Verständlich. Obwohl jetzt das Wetter natürlich am besten ist. Aber sonst kommst du eben im September – oder wann geht es bei ihr los?«
»Das Semester fängt im Oktober an, aber sie will natürlich schon früher hin und sich einrichten. Schlüsselübergabe ist im August und wir haben gerade die ersten Möbel bestellt.«
»Bleib stark, Nicki! Wenn der Kühlschrank leer ist, kommt sie bestimmt zurück.«
»So etwas Ähnliches hat Bibi auch gesagt. Na ja, ich werde es wohl überleben. Aber es ist schon ein komisches Gefühl, plötzlich in einem leeren Haus zu sitzen.«
»Heiko ist doch auch noch da. Dann habt ihr beiden mal wieder etwas Zeit füreinander.«
»Ja, das stimmt. Wobei … ich weiß nicht, ich hab so ein blödes Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«, will Christine wissen.
»Eigentlich ist alles in Ordnung. Heiko ist toll und ich kann mich überhaupt nicht beschweren.«
»Eigentlich. Aber?«
»Kann ich gar nicht so genau sagen. Ich mache mir Gedanken, ob wir vielleicht dabei sind, uns auseinanderzuleben. Es ist eben nicht mehr wie früher. Sex ist selten geworden und … na ja, ich kann gar nicht mal behaupten, er wäre schlecht. Aber es ist einfach alles so vertraut, so eingespielt, nichts Neues oder Überraschendes mehr.«
»Hast du mit Heiko darüber gesprochen?«
»Ach, du kennst ihn doch. Er nimmt das alles nicht ganz ernst. Er meint, das ist einfach normal und gehört dazu. Er hat sogar scherzhaft vorgeschlagen, ich soll mir einen Liebhaber suchen.«
»Wäre doch vielleicht gar nicht verkehrt.«
»Chrissie!« Ich bin einigermaßen entsetzt. Das kann sie doch nicht ernst meinen. »Ich kann Heiko doch nicht einfach betrügen.«
»Das meine ich auch gar nicht. Aber vielleicht kannst du mal wieder ein bisschen flirten. Es kann doch nicht schaden, die Auslage mal ein bisschen zu sondieren. Vielleicht weißt du dann Heiko auch wieder mehr zu schätzen.«
»Du meinst, woanders Appetit holen und zu Hause essen.«
»Exacto!«
»Und wie soll ich das anstellen? Soll ich mich jetzt in irgendeine Kneipe setzen und jedes männliche Wesen anflirten, das mir vor die Flinte kommt?«
Chrissie lacht.
»Nein. Natürlich nicht. Erstens sollst du nicht wahllos herumbaggern – das machen nur Männer mit Glatze und Schmerbauch – sondern nur die attraktiven Jungs anflirten und zweitens gibt es dafür doch heute das Internet.«
»Ich kann mich doch nicht bei irgend so einer Partnerbörse anmelden. Ich habe doch einen Partner!«
»Wer spricht denn von einer Partnerbörse? Es gibt auch Plattformen für unverbindliche Treffs und Flirts. Du könntest dich doch da einfach mal umschauen.«
»Ich weiß nicht.« Christines Vorschlag erscheint mir doch ein wenig radikal. »Und wenn mich jemand treffen will?«
»Dann triffst du dich unverbindlich auf einen Kaffee. Oder du lehnst eben ab. Also, direkt nach der Trennung hat mir das unglaublich geholfen, mal wieder ein bisschen den eigenen Marktwert zu testen. Es hört sich albern an und man sollte da eigentlich drüberstehen, aber ich hab das Interesse echt genossen. Vielleicht wär das ja auch was für dich. Und übers Internet ist es diskret und anonym und du hast es selbst in der Hand, wie weit es gehen soll. In der Kneipe kann das auch schnell eskalieren. Manche Typen glauben schließlich, wenn du einen Drink von ihnen akzeptierst und sie ein bisschen freundlich anlächelst, bist du gleich verpflichtet, mit ihnen zu schlafen.«
»Da ist was Wahres dran. Ich werd’s mir überlegen.«