Leseprobe Vertraue ihr nicht

1. Kapitel

Morgan

Als die Polizei vor dem Haus vorfährt, hyperventiliere ich längst. Meine Mutter ist spurlos verschwunden. Wie kann sich eine Frau von einundachtzig Jahren, die gerade mal neunzig Pfund wiegt und die ohne fremde Hilfe nicht ihr Schlafzimmer, geschweige denn das Haus verlassen kann, einfach in Luft auflösen? Ich versuche, nicht durchzudrehen, wenn ich darüber nachdenke, wie sie gerade völlig verwirrt irgendwo durch die Nachbarschaft geistert.

„Na, endlich! Ich wollte sagen … danke, dass Sie so schnell gekommen sind“, stammele ich und strecke der drahtigen, blassen Polizistin die Hand entgegen, nachdem ich die Haustür aufgerissen habe. „Ich bin Morgan Klein, Pamelas Tochter. Ich bin diejenige, die sie als vermisst gemeldet hat.“

„Detective Kumar“, erwidert die Frau, deren Grübchen das zuversichtliche Lächeln unterstreichen.

Ich führe sie nach drinnen und bedeute ihr, am Küchentisch Platz zu nehmen.

„Wann haben Sie Ihre Mutter das letzte Mal gesehen?“, fragt sie zunächst.

„Gegen halb zwei. Ich habe sie gefüttert und ins Bett gelegt und … ach, entschuldigen Sie!“ Ich klatsche mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich habe Zwillinge, die vier Jahre alt sind. Ich wollte natürlich sagen, dass meine Mutter sich für ihren Mittagsschlaf hingelegt hatte. Ich bin dann auf einen Kaffee zu unserer Nachbarin Andrea gegangen, und als ich zurückkam, da … da war meine Mutter nicht mehr da.“

Es klingt erschreckend, wenn ich es laut ausspreche. So als würde sie nicht mehr unter uns weilen, ein von uns gegangenes Familienmitglied, dem man nur noch in alten Fotoalben begegnen kann. Vor meinem geistigen Auge zuckt ein Bild vorbei, das mich in schwarzer Trauerkleidung zeigt. Eisige Kälte umschließt mich. Ich hasse es, wie mein Verstand einfach die offensichtlichsten Erklärungen überspringt und sich gleich auf die allerschlimmsten Szenarien konzentriert. Es geht ihr gut, das weiß ich genau. Und es wird auch alles gut ausgehen, so wie es Will mir versichert hat, als ich mit ihm telefoniert habe. Ich muss sie nur wiederfinden.

Will, seit sieben Jahren mein Ehemann, ist mein Fels in der Brandung, wenn ich mal wieder anfange zu rotieren. Er besitzt die verblüffende Fähigkeit, mich so sehr zu beruhigen, dass ich wieder handlungsfähig werde. Er hatte sogar angeboten, seine Geschäftsreise abzubrechen und noch heute mit dem Abendflug heimzukehren. Ich habe ihm aber gesagt, dass er damit noch ein paar Stunden warten soll, weil es sein kann, dass Mom unversehrt auftaucht. Tatsache ist, dass ich selbst nicht mehr daran geglaubt hätte, wenn ich zu Will gesagt hätte, er solle sich auf den Heimweg machen.

Ich reibe mir über die Stirn, während mein Gehirn in tausend Richtungen gleichzeitig denkt. Niemand entführt alte Leute, richtig? Es sei denn, die Opfer sind reich genug, um ein Lösegeld fordern zu können. Aber alte Leute werden regelmäßig überfallen – die Menschen sind heutzutage so brutal und abgebrüht. Meine Gedanken setzen ihren Marsch ins Verderben fort und lassen mich über die Meldung grübeln, die ich gerade erst in den Abendnachrichten über einen mutmaßlichen Serienmörder an der Westküste gesehen habe. Bislang wurden die Leichen von drei Frauen gefunden, die alle entführt und auf eine gleichermaßen grausige Weise zu Tode geprügelt wurden. Es fühlt sich an, als würde alle Luft aus meinen Lungen gesaugt, als ich mir vorstelle, wie meine alte Mutter einem geisteskranken Kriminellen gegenübersteht, der eine Waffe in der Hand hält, mit der er ihr den Schädel einschlagen will. Sie ist nicht in der Lage, sich dagegen zur Wehr zu setzen – weder geistig noch körperlich.

„Sie hat Demenz, aber das wissen Sie ja, nicht wahr?“, sage ich zu Detective Kumar. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, als die Notrufzentrale meine Vermisstenmeldung aufnahm, aber wer weiß schon, ob die wirklich alle Informationen weiterleiten.

Kumar nickt nachdrücklich. „Ja, Ma'am.“

Ich bin von ihren ausdrucksstarken Augen fasziniert – schokoladenbraun mit einem Hauch von Ahornsirup. Sie macht einen mitfühlenden Eindruck, aber ist sie auch kompetent? Ich kann keine Sozialarbeiterin gebrauchen, sondern ich will einen von diesen Marines haben, die ihre Befehle bellen und dafür sorgen, dass Dinge in Gang kommen. Jemanden, der an jeder Ausfahrt Straßensperren errichten kann, falls das erforderlich sein sollte. Panik steigt in mir auf, und ich balle mit aller Macht die Fäuste, während ich versuche, die emotionale Achterbahnfahrt zu stoppen, bevor sie mit mir an Bord überhaupt losgehen kann. Ich zucke am ganzen Leib, als würde ich einen Moskitoschwarm verscheuchen wollen. Viel lieber würde ich jetzt etwas Konkretes tun – bei den Leuten zu Hause anklopfen, etwas in den sozialen Medien posten –, anstatt hier herumzusitzen und mich darauf verlassen zu müssen, dass irgendwelche Fremden meine Mom wiederfinden. Ich atme tief durch und versuche, meine Gedanken zu bremsen, die sich regelrecht überschlagen. Vertrau auf die Abläufe, Morgan. Die Polizei weiß schon, was sie tut.

Kumar zieht einen Notizblock aus der Tasche. „Können Sie mir beschreiben, was Ihre Mutter trug, als Sie sie zuletzt gesehen haben?“

Im Geiste gehe ich den langwierigen täglichen Prozess durch, der notwendig ist, bis sie schließlich angezogen ist. Es fängt damit an, dass ich ihr die Kleidung für den Tag hinlege, damit sie ihr Okay gibt. Es ist jeden Tag exakt das Gleiche. Ich habe alles in dreifacher Ausfertigung gekauft, damit sie sich nicht aufregt, wenn etwas in der Wäsche ist.

Ich zwinkere kurz und zwinge mich, mich ganz auf Kumars Frage zu konzentrieren. „Ähm … sie trägt ein rosafarbenes Twinset und dazu eine schwarze Hose. Meine Mutter beharrt darauf, immer ordentlich angezogen zu sein, auch wenn sie sich nicht daran erinnern kann, wie man sich anzieht.“ Ich nehme das Foto, das ich einige Minuten vor Kumars Eintreffen ausgedruckt habe. „Das ist ein ziemlich aktuelles Foto. Sie trägt praktisch immer diese Sachen.“

„Mailen Sie mir das bitte.“ Kumar legt den Ausdruck zwischen zwei Blätter ihres Notizblocks. „Ich werde eine Vermisstenmeldung an unsere Streifenpolizisten herausgeben.“

„Wie sieht der erste Schritt bei der Suche nach ihr aus?“, frage ich, während ich auf mein Smartphone tippe.

„Wir werden von Haus zu Haus gehen und die Nachbarschaft durchkämmen. Angesichts des Alters Ihrer Mutter und ihrer Schutzlosigkeit stufen wir sie als eine gefährdete vermisste Person ein.“

Ich starre auf die dunklen elfenhaften Locken, die Kumar in die Stirn hängen, und spreche innerlich nach: gefährdete … vermisste … Person. Ich habe es mir angewöhnt, Dinge in Gedanken zu wiederholen. Es hilft mir, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Wäre da nicht auch noch meine Haushälterin V.V., wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Eigentlich heißt sie Veronica Valdez, was sich so anhört, als wäre sie ein exotisches Supermodel. Aber mit ihrer Figur in Puddingform, ihren eins fünfundfünfzig und ihrem grau melierten drahtigen Bob ist sie so weit von einem Supermodel entfernt, wie es nur möglich ist.

Kumars Funkgerät kracht laut und holt mich aus meinen Gedanken. „Bin gleich wieder da“, sagt sie tonlos und verlässt das Zimmer.

Ich kaue nervös an meinem Fingernagel und sehe auf die Uhrzeit auf dem Display meines Telefons. Bald muss ich die Zwillinge von der Vorschule abholen. Meine Eingeweide verkrampfen sich prompt. Wie soll ich zwei lebhafte Vierjährige beschäftigen, wenn ich gleichzeitig versuchen will, eine vermisste Einundachtzigjährige wiederzufinden? Vielleicht hätte ich doch einlenken und Will sagen sollen, dass er mit der nächsten Maschine nach Hause kommen soll. Aber ich will ihm auch nicht den Eindruck vermitteln, dass ich mich am Rande eines weiteren Zusammenbruchs befinde.

„Gute Neuigkeiten“, verkündet Kumar mir, als sie wieder ins Zimmer kommt. „Eine Frau im angrenzenden Viertel hat soeben gemeldet, dass sie in ihrer Garage eine ältere Frau angetroffen hat, auf die Ihre Beschreibung Ihrer Mutter passt. Sie hat der Hauseigentümerin wohl gesagt, dass sie auf ihre Tochter wartet, damit die ihr die Tür aufschließt.“

Ich springe auf, aber Kumar bedeutet mir, dass ich sitzen bleiben kann. „Ich habe bereits einen Officer hingeschickt, damit er sie abholt. Die beiden werden jeden Augenblick hier sein.“

„Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.“ Ich lasse mich auf meinen Stuhl sinken wie ein Ballon, aus dem alle Luft entwichen ist, und streiche mit zittriger Hand über meine Stirn. „Ich komme mir vor, als wäre ich einen Marathon gelaufen.“ Das ist eine dumme Bemerkung, denn ich bin noch nie auch nur annähernd eine Strecke gelaufen, wie man sie beim Marathon zurücklegen muss. Aber vor Erleichterung rede ich einfach drauflos. Ich kneife die Augen zu und atme lange und zitternd aus. „Ehrlich gesagt hatte ich mich schon auf das Schlimmste gefasst gemacht, nachdem der West Coast-Killer in der letzten Woche erneut zugeschlagen hatte. Mom muss aus ihrem Mittagsschlaf hochgeschreckt und aus dem Haus gegangen sein. Ich wusste nicht, dass sie es bei der Arthritis in ihren Fingern schaffen würde, die Haustür zu öffnen. Ich komme mir wie eine unaufmerksame Tochter vor.“

Kumar steckt ihren Notizblock weg und sagt in sanfterem Tonfall: „Es ist schwierig, jemandem einen Schritt voraus zu sein, bei dem man nicht weiß, in welche Richtung ihn seine Gedanken lenken. Ich bin einfach nur froh, dass es Ihrer Mutter gut geht.“

***

„Du hast mir einen riesigen Schreck eingejagt, als du einfach so verschwunden bist“, schimpfe ich mit Mom, als ich sie später am Abend fürs Bett fertig mache. „Wohin wolltest du denn?“

Sie legt den Kopf schräg und sieht mich fragend an, dann wandert der Blick ihrer wässrigen Augen über meine Schulter hinweg zu jener Pseudo-Welt, in der sie lebt. „Warst du nicht mit mir irgendwo hingefahren?“

Ich seufze frustriert und ermahne mich, geduldig zu sein. Will kann mit ihr viel besser umgehen, wenn sie sich in dieser Verfassung befindet. „Nein, Mom, das habe ich nicht gemacht. Und du kannst nicht einfach ohne mich draufloswandern. Darüber haben wir uns schon mal unterhalten, weißt du noch?“

„Kann sein“, sagt sie, während sich ein leerer Ausdruck auf ihr faltiges Gesicht legt.

„Schon gut.“ Ich drücke ihren mageren Körper an mich. „Es ist ja nichts passiert. Ich bin nur froh, dass du unversehrt heimgekehrt bist.“

Nachdem ich ihr ins Bett geholfen habe, werfe ich ihre schwarze Hose in den Wäschekorb. Ein zerknülltes Stück Papier fällt aus der Tasche, ich greife danach, um es in den Mülleimer zu werfen. Mir stockt der Atem, als ich sehe, was darauf geschrieben steht.

Ich weiß, wo du wohnst.

2. Kapitel

Ich bin mit Sam und Ella im Park bei uns im Viertel und genieße die willkommene Verschnaufpause von dieser Monotonie, die damit einhergeht, dass ich die ganze Zeit über im Haus sein muss, um auf Mom aufzupassen. Früher oder später fühlt sich das für mich so an, als würden wie in einer schrumpfenden Gruft die Wände immer näher rücken. Andrea hat sich bereiterklärt, für ungefähr eine Stunde für mich einzuspringen, was wirklich nett von ihr ist. Eigentlich hat sie mit den Buchhaltungen genug zu tun, die sie von zu Hause aus erledigt. Anstatt immer wieder Freunde und Nachbarn zu bemühen, muss ich unbedingt eine dauerhafte Lösung finden, da sich Moms Demenz in letzter Zeit deutlich verschlechtert hat. Eine Pflegerin, die rund um die Uhr für sie da sein kann, wäre ideal. Ich könnte sie in der separaten Studiowohnung am anderen Ende unseres Gartens einquartieren, sodass wir weiterhin unsere Privatsphäre hätten, die für Will sehr wichtig ist.

Meine Gedanken schweifen ab zu der beunruhigenden Notiz, die ich in Moms Hosentasche gefunden habe. Sie kreist wie ein Trauergesang als Endlosschleife in meinem Kopf.

Ich weiß, wo du wohnst. Ich weiß, wo du wohnst. Ich weiß, wo du wohnst.

Wegen dieser Notiz habe ich mehrere schlaflose Nächte hinter mir, und von meinen verbliebenen Fingernägeln habe ich den größten Teil abgekaut. Ich wollte den Zettel Detective Kumar zeigen, aber Will hat mich davon überzeugt, dass es wahrscheinlich bloß etwas ist, was Mom aufgehoben und eingesteckt hat – was nicht mal so unwahrscheinlich ist. Sie liest ständig irgendwelche Dinge auf und stopft sie in ihre Taschen. Neben dem Zettel hatte ich auch die Verpackung eines Schokoriegels, mehrere Gummibänder, einen Kinderstrumpf und den Stiel eines Dauerlutschers zutage gefördert. Trotzdem hat die Notiz etwas Seltsames an sich – sogar etwas Unheilvolles. Seit diesem Fund schaue ich ständig hinter mich. Wenn ich zum Briefkasten gehe, habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wünschte, ich hätte den Zettel nicht in den Kamin geworfen. Meine von Natur aus ungestüme Art hat mich schon mehr bedauern lassen, als mir lieb ist.

„Alles in Ordnung? Du siehst so gedankenverloren aus“, höre ich eine flüchtig vertraute Stimme sagen.

Ich blicke auf und entdecke Dana Becker, die mich mit sorgenvoll in Falten gelegter, blasser Stirn anschaut. Wir sind im Park ein paar Mal im Vorbeigehen ins Gespräch gekommen. Sie ist neu hier in der Gegend und hilft ihrer Schwester mit deren Kindern Patrick und Esther, während sie nach etwas Dauerhaftem Ausschau hält. Besonders gut kenne ich sie eigentlich nicht, aber das hat mich bislang noch nie davon abgehalten, mit ihr über meine Sorgen und Nöte zu reden.

„Das ist wegen meiner Mom“, sage ich und seufze schwer. Mein Blick wandert zu den Zwillingen, die zufrieden auf der Kinderrutsche spielen. „Sie ist einundachtzig und hat Demenz. Vor ein paar Tagen hat sie einfach das Haus verlassen und sich dann verlaufen. Das war ein richtiges Drama in unserer Nachbarschaft. Am Ende musste ich die Polizei anrufen und sie als vermisst melden. Zum Glück wurde sie in der Pine Street von einer Frau entdeckt, wie sie bei ihr in der Garage auf einer Kühlbox saß. Mom dachte, sie wäre zu Hause. Sie wartete darauf, dass ich die Tür aufschließe und sie ins Haus lasse.“

Dana zieht die Mundwinkel nach unten und schiebt ihre übergroße Brille nach oben. „Oh, das tut mir sehr leid. Das muss ja richtig beängstigend gewesen sein – für euch beide.“

„Ja, ich war ziemlich mit den Nerven fertig. Sie hätte von einem Auto überfahren werden können, jemand hätte sie überfallen können, oder vielleicht wäre sie an Unterkühlung gestorben. Alles Mögliche hätte ihr zustoßen können. Und ich hatte kurz vorher auch noch ausgerechnet diese Meldung in den Nachrichten gesehen, dass dieser Serienmörder wieder zugeschlagen hat.“ Ich muss verlegen lachen, als mir bewusst wird, wie reißerisch ich den kleinen Ausflug meiner Mom schildere. „Ich bin noch nicht bereit, sie in ein Pflegheim zu bringen. Aber ich überlege, eine Pflegerin einzustellen, die bei uns wohnt und sich um sie kümmern kann. Wir haben mit V.V. eine fantastische Haushälterin, die an drei Vormittagen in der Woche zu uns kommt. Mit der Wäsche und den anderen Hausarbeiten geraten wir dadurch nie in Rückstand. Aber ich fühle mich überfordert damit, auf die Zwillinge und auf Mom gleichzeitig aufzupassen. V.V. ist für mich eine Ersatzmutter gewesen, und ich weiß, ohne sie hätte ich diese strapaziösen ersten Monate nach der Geburt der Zwillinge nicht überstanden. An den meisten Tagen bewege ich mich irgendwo zwischen einer Kernschmelze der Kategorie fünf und einem Zusammenbruch der Klasse zehn.“ Beinahe füge ich noch hinzu, dass das für mich keineswegs das erste Mal ist, doch diese wenig schmeichelhafte Bemerkung verkneife ich mir lieber.

Dana lächelt flüchtig. „Was ist mit deinem Mann? Hilft er mit?“

„Will ist durch seine Arbeit immer auf Reisen, darum ist er die ganze Woche nicht zu Hause. Er ist der Chief Investment Manager für ein landesweit tätiges Unternehmen.“

„Klingt eindeutig so, als könntest du Unterstützung gebrauchen“, sagt Dana und winkt den Kindern ihrer Schwester zu, die sich ausgelassen gegenseitig um das Klettergerüst jagen. „Hör mal, das ist nur so ein Gedanke“, fährt sie fort. „Aber ich wäre interessiert daran, mich auf die Stelle zu bewerben. Eigentlich braucht mich meine Schwester gar nicht. Sie tut mir nur einen Gefallen, indem sie mir ein paar Dollar dafür gibt, dass ich ihr bei den Kindern und hier und da im Haushalt helfe, bis ich eine Anstellung gefunden habe.“

Ich sehe Dana verwundert an. „Aber … ich dachte, du suchst nach einem Job in der Verwaltung.“

Sie zuckt mit den Schultern. „Ich hatte das zwar vor, aber ich habe dafür keinerlei Berufserfahrung. Um ehrlich zu sein habe ich immer nur als Kindermädchen gearbeitet. Den ganzen Tag im Büro zu sitzen passt sowieso nicht zu mir.“

„Es wäre eine Anstellung mit Unterkunft“, sage ich, was eigentlich nur ein laut gesprochener Gedanke sein sollte, während ich einen kritischen Blick auf Danas Erscheinungsbild werfe. Sie ist jung, was immer eine gefährliche Sache ist, wenn Ehemänner im Spiel sind. Aber mit ihren buschigen Augenbrauen, der klobigen Brille und dem streng nach hinten gekämmten, dunklen Haar ist das Risiko eines Techtelmechtels unbedeutend. Hoffnung regt sich mitten in dem Rumoren in meiner Magengegend, dass der Zufall sie mir ausgerechnet heute über den Weg hat laufen lassen. Das könnte tatsächlich funktionieren. Die Stimme der Vernunft, auf die ich nur selten höre, rät mir, kein spontanes Angebot zu machen, das ich noch bereuen könnte. Aber ich suche verzweifelt nach Hilfe, und ich sehe dieser Hilfe genau jetzt ins Gesicht.

Dana strahlt mich an. „Das wäre doch perfekt! Ich bin es leid, bei meiner Schwester auf der Couch zu schlafen.“

Ich nicke bedächtig und lasse mir die logistische Seite durch den Kopf gehen. Ich weiß, was mein Ehemann mit seinem gesunden Menschenverstand sagen wird, falls ich ihn erst noch nach seiner Meinung frage. Überstürz nichts, wende dich an eine Agentur. Überprüf die Referenzen. Ein kluger Ratschlag, aber so was kann Wochen dauern. Dana dagegen steht hier vor mir und ist verfügbar. Und als Bonus hat sie auch noch Erfahrungen im Umgang mit Kindern – genau das Gebiet, auf dem ich ebenfalls Unterstützung gebrauchen kann. „Kannst du mir ein paar Referenzen zeigen?“, platze ich heraus, ehe ich mir das Ganze noch einmal überlegen kann.

Ein breites Grinsen zeichnet sich auf Danas Gesicht ab. „Aber natürlich! Ich kann sie dir morgen vorbeibringen, wenn dir das passt. Du musst wohl irgendwo in der Nähe der Pine Street wohnen, richtig?“

Ich weiß, wo du wohnst. Ich muss unwillkürlich nach Luft schnappen und zögere einen halben Herzschlag lang, dann walze ich auch noch meine letzte Chance nieder, mein Angebot zurückzuziehen. „Ähm, ja. Ich wohne in 1207 Cagney Creek. Das ist ein einstöckiges weißes Haus mit einer betonierten Auffahrt.“

Mit etwas beschwingteren Schritten mache ich mich auf den Heimweg, an jeder Hand einen Zwilling, die beide gleichzeitig über ihre neuen Freunde Patrick und Esther reden. Ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Wenn Danas Referenzen in Ordnung sind – und warum sollten sie das nicht sein? –, dann besteht mein einziges Problem darin, Will davon zu überzeugen, jemanden in unser Studio einziehen zu lassen. Er war schon immer strikt dagegen, es an Fremde zu vermieten. Aber ich muss nur den Grad meiner Freundschaft mit Dana ein bisschen überzogen darstellen, dann dürfte diese Hürde auch zu überwinden sein.

„Sieht so aus, als hätte dir die frische Luft gutgetan“, stellt Andrea fest, als ich zu Hause ankomme. Es ist die pure Vorfreude, die mich so strahlen lässt. „Deine Mom hat mir kein bisschen Arbeit bereitet. Sie schläft jetzt in ihrem Schaukelstuhl.“

Ich danke ihr überschwänglich, während sie ihren Laptop in die Tasche packt. Ich fühle mich versucht, ihr von meiner Unterhaltung mit Dana zu berichten, aber sie wäre genauso wie Will dagegen, dass ich eine Frau einstelle, die ich im Park getroffen habe. Zahlenakrobaten sind doch alle gleich – verkrampft und paranoid. Bist du verrückt? Was ist, wenn sie eine obdachlose Pennerin ist? Oder der West Coast-Killer, der sich als Kindermädchen ausgibt? Zugegeben, das Ganze ist von meiner Seite eine etwas spontane Entscheidung, aber ich glaube fest daran, dass man Gelegenheiten dann nutzen sollte, wenn sie sich einem bieten.

Als Dana mir am nächsten Morgen ihre Referenzen vorbeibringt, vergeude ich keine Zeit, sondern rufe die Leute an, die sie mir aufgelistet hat. Die Begeisterung ist einhellig – zumindest von den zwei Frauen, die ich erreichen kann. Beide loben sie als freundlich, zuverlässig, ehrlich und engagiert – also genau die Punkte, die für mich zwingende Voraussetzung sind – verfügbar und lebendig. Es ist also äußerst unwahrscheinlich, dass sie im Park Leuten wie mir auflauert, um sich als Kindermädchen ihrer Schwester auszugeben, obwohl sie in Wahrheit schändliche Absichten verfolgt. Nach den beiden Telefonaten juckt es mir in den Fingern, sie anzurufen und ihr zu sagen, dass sie den Job hat.

Erst einmal muss ich Will davon überzeugen, dass es für meine geistige Gesundheit notwendig ist, eine Fremde bei uns einziehen zu lassen.

3. Kapitel

Eine tiefe Falte bildet sich auf Wills Stirn, als ich ihm am Freitag nach dem Abendessen meine Idee präsentiere. „Ich will nicht, dass eine Fremde bei uns lebt, Morgan. Das ist übergriffig.“

Ich schnaube frustriert, während ich Sam den Mund abwische und ihm vom Stuhl helfe. Will ist niedergeschlagen, seit er nach Hause gekommen ist. Er hat heute erfahren, dass einer seiner Freunde von der Highschool vor ein paar Monaten an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben ist. Warum ihm das so sehr zu schaffen macht, weiß ich nicht, schließlich war er ein Mitschüler, zu dem er später überhaupt keinen Kontakt mehr hatte. Ich versuche verständnisvoll zu sein, aber bei all den Dingen, die ich im Augenblick zu jonglieren versuche, reicht meine Geduld nicht mehr sehr weit. „Du bist doch die ganze Woche nicht da. Was macht es dann aus? Außerdem wird sie nicht bei uns leben, sondern im Studio sein, wenn sie Feierabend hat. Hier im Haus ist sie nur in der Woche, um mir bei Mom und den Kindern zu helfen.“

Will presst die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Das Studio ist nicht für längere Aufenthalte ausgelegt. Sie wird hier im Haus ständig ein und aus gehen, um die Küche und die Waschküche zu benutzen. Und das wird sie auch abends und an den Wochenenden so machen. Sie könnte auch gleich hier im Haus wohnen. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass du diese Frau so gut wie gar nicht kennst. Ich habe noch nie gehört, dass du auch nur ihren Namen erwähnt hast.“

Ehrlich gesagt habe ich da wirklich übertrieben und ein Bild von einer Freundschaft gezeichnet, die sich über etliche Monate anstelle weniger Wochen hinweg entwickelt hat. Zum Glück sind die Zwillinge noch zu klein, um meiner Schilderung zu widersprechen.

„Kann Dana bitte bei uns wohnen, Daddy?“, bettelt Ella und zieht an seinem Arm.

„Bitte, Daddy“, stimmt Sam mit ein. „Dann kann ich die ganze Zeit mit Patrick zusammen spielen.“ Er hüpft auf und ab, um jedes Wort zu unterstreichen. Will packt ihn und fängt an, ihn zu kitzeln. Lächelnd betrachte ich Ellas begeisterten Gesichtsausdruck, während sie darauf wartet, dass sie an der Reihe ist. Eine solche Ablenkung ist auch eine Methode, um ein Thema nicht zum Abschluss zu bringen, aber ich lasse mich nicht so überrumpeln. Ich muss diese Sache in die Wege leiten, bevor ich noch den Verstand verliere. Ich stelle die benutzten Teller so geräuschvoll zusammen, wie es nur geht, um Wills Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.

„Fakt ist, dass ich Hilfe brauche, und zwar jetzt. Ich kann Mom nicht mehr allein zu Hause lassen, und ich kann sie auch nicht überallhin mitnehmen. Sie könnte entführt oder vergewaltigt oder sogar getötet werden.“ Will wirft mir einen missbilligenden Blick zu, und ich rede leiser weiter: „Es wird eine Weile dauern, bis wir ein geeignetes Pflegeheim finden. Und selbst wenn wir eins finden, könnten wir trotzdem erst nur auf einer Warteliste landen. Falls du natürlich bereit bist, deinen Job hinzuschmeißen und dir eine Arbeit hier in der Nähe zu suchen, damit du die Kinder zur Vorschule und zum Training fahren kannst …“

„Schon gut! Stell sie ein. Auf Probe.“ Will lässt Sam auf die Couch fallen und schnappt sich die ausgelassen quiekende Ella. „Aber mach ihr deutlich, dass ich sie nicht im Haus haben will, wenn ich daheim bin.“

Als ich Dana am Samstagmorgen die Nachricht überbringe, wirft sie sich mir an den Hals und drückt mich überschwänglich an mich. „Oh, ich danke dir so sehr, Morgan! Das ist perfekt! Ich mag deine Kinder schon jetzt, und ich kann es nicht erwarten, deine Mutter kennenzulernen. Ich bin mir sicher, dass sie eine reizende Frau ist.“

„Ich kann aber nur den Mindestlohn zahlen“, sage ich und muss lachen, als ich mich aus ihrem überraschend kräftigen Griff befreie.

„Mit Kost und Logis dazu genügt mir das zum Leben“, versichert sie mir.

„Und vergiss nicht, es ist nur vorübergehend“, ergänze ich. „Ich werde nach einem Pflegeheim für Mom suchen.“

Dana nickt mitfühlend, strahlt aber immer noch vor Freude. „Natürlich, das verstehe ich.“

„Gut. Dann sprich bitte mit deiner Schwester, damit du weißt, wann du anfangen kannst. Wir vereinbaren eine Probezeit von sechzig Tagen, und danach sehen wir weiter.“

Ich biete ihr an, ihre Sachen zu uns zu bringen, wenn es ihr am besten passt. Mit Mühe kann ich meinen Schock überspielen, als sie bereits am späten Nachmittag vor der Tür steht. Ich hatte frühestens in der nächsten Woche mit ihr gerechnet.

Ich bringe sie zum Studio und schließe die Eingangstür auf. „Ich bin überrascht, dass deine Schwester dich so kurzfristig hat gehen lassen.“

Mit einem Schulterzucken geht sie nach drinnen. „Sie freut sich, dass ich jetzt einen richtigen Job habe. Wow! Das ist ja großartig hier. Ich liebe dieses Dekor. Alles echtes Holz, Grün, gestärkte, weiße Bettwäsche. Ich komme mir hier vor wie in einem Spa.“ Ihr Blick wandert zu mir, dann sagt sie grinsend: „Hier möchte ich nie wieder weggehen.“

Ein unbehagliches Kribbeln wandert an meiner Wirbelsäule entlang nach unten. Etwas an ihrem Tonfall gibt mir das Gefühl, dass sie das ernst meint. Ich verscheuche diesen Gedanken. Ich bin bloß übermüdet und paranoid. Es war eine völlig harmlose Bemerkung. Sie hat meinen Geschmack gelobt, weiter nichts.

„Es gibt keinen großen Schrank und keinen Lagerraum“, lasse ich sie wissen.

„Kein Problem. Viel habe ich ja nicht mitgebracht.“ Sie deutet auf ihren einzelnen Koffer. „Der größte Teil meiner Sachen befindet sich noch bei meiner Schwester. Es ergab keinen Sinn, alles mitzunehmen.“

Ich nicke zustimmend und bin erleichtert, dass sie verstanden hat, dass diese Anstellung nur vorübergehend ist. „Ich kann V.V. sagen, dass sie das Studio putzen soll, wenn sie sowieso im Haus ist. Aber du kannst das auch selbst machen, wenn es dir lieber ist. Du hast keine Waschmaschine und keinen Trockner und auch keine richtige Küche, nur eine Mikrowelle und einen winzigen Kühlschrank. Wenn du Wäsche waschen oder etwas kochen willst, musst du das bei uns im Haus machen. In der Woche isst du bei uns, womit es nur am Wochenende etwas unpraktischer wird, wenn du frei hast und mein Mann zu Hause ist.“

Will zuliebe betone ich diesen letzten Teil.

Sie zieht amüsiert eine Augenbraue hoch. „Keine Sorge. Ich werde darauf achten, dass du und Will ungestört bleiben. Glaub mir, Mahlzeiten aus der Mikrowelle sind für mich kein Neuland.“

Ich stimme in ihr Lachen ein und fühle mich in meiner Entscheidung bestärkt. Ich nehme mir vor, Danas fantastischen Lebenslauf um die Eigenschaften entgegenkommend und guter Sinn für Humor zu ergänzen. „Als Nächstes zeige ich dir Moms Zimmer, und danach erkläre ich dir unsere tägliche Routine. Außer mir hat sich noch niemand um sie gekümmert, daher kann es ein wenig dauern, bis sie sich an dich gewöhnt hat. Ich werde dich ihr später vorstellen, wenn ich Gelegenheit hatte, ihr die neuen Umstände zu erklären.“

Dana folgt mir ins Haupthaus, ich führe sie durch den Flur bis zum Gästezimmer, wo Mom schläft. „Üblicherweise bringe ich ihr morgens um sieben ihren Kaffee. Wenn du um acht rüberkommst, kannst du ihr beim Duschen und Anziehen helfen. Das gibt mir die Zeit, mich um die Kinder zu kümmern, damit ich sie zur Vorschule bringen kann.“

„Eine Leichtigkeit“, meint Dana. „Muss ich sonst noch etwas wissen?“

Ich verziehe den Mund, als ich Moms Kleiderschrank öffne. „Das Anziehen kann etwas knifflig sein. Ich frage immer, was sie tragen möchte, und sie wählt jeden Tag das Gleiche aus: dieses rosa Twinset und diese schwarze Hose.“

Dana lächelt verstehend. „Ich nehme an, dass sie deshalb diese Sachen in mehrfacher Ausfertigung hat.“ Sie streicht mit ihrer Hand über die anderen Kleidungsstücke. „Was für eine Schande, dass diese wunderschönen Kleider alle nicht mehr getragen werden!“

„Das war Moms Lieblingskleid.“ Ich ziehe das blaue Wickelkleid aus Seide ein Stück weit heraus und lege die untere Hälfte über meinen Arm. „Das hat sie auf der Party zu ihrem siebzigsten Geburtstag getragen.“

„Das ist wunderschön!“, sagt Dana in ehrfürchtigem Tonfall, als sie mit den Fingern über den Stoff streicht.

Ich lächle und denke zurück an bessere Zeiten. „Ich kann sie nicht mehr dazu bewegen, es noch einmal anzuziehen. Die Demenz hat sie verändert. Ihre Welt ist auf einen Mikrokosmos von dem zusammengeschrumpft, was sie mal gekannt hat.“

Dana sieht mich durch ihre dicke Brille mitfühlend an. „Es muss wehtun, wenn man nur zusehen kann, was diese Krankheit mit einem Menschen anstellt, den man liebt. Aber wenigstens hast du noch die Zwillinge, die dir den Tag verschönern.“ Sie atmet seufzend aus. „Ich liebe es, auf Kinder aufzupassen, aber es ist nicht leicht für mich, keine eigene Familie zu haben.“

Ich hänge das Kleid zurück in den Schrank und schließe die Tür. „Glaub mir, wenn du erst mal eigene Kinder hast, wirst du dir wünschen, du hättest mehr aus deiner Freizeit gemacht, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.“

***

Vier Wochen ist es nun her, seit Dana bei uns eingezogen ist, und ihre Referenzen wurden in jeder Hinsicht bestätigt. Mom scheint irrtümlich zu glauben, dass Dana ihre jüngere Schwester ist – was dazu geführt hat, dass sie die veränderte Situation leichter akzeptiert hat als zunächst angenommen. Sie tadelt sie für irgendwelche Dinge, die ihre Schwester sich in der Kindheit hat zuschulden kommen lassen. Dana und ich können anschließend darüber immer wieder ausgelassen lachen.

Es gab nur ein oder zwei Kleinigkeiten – eine davon ist V.V.s Reaktion, die mich irritiert, weil ich ihre Meinung wirklich respektiere. Sie verliert über niemanden auch nur ein schlechtes Wort, doch die vorwurfsvolle Art, wie sie abrupt verstummt, sobald Dana ins Zimmer kommt, lässt keinen Zweifel daran zu, dass sie sie nicht leiden kann. Ich habe beschlossen, das Ganze als territorialen Konflikt zu betrachten, der sich einfach lösen lässt, indem ich dafür sorge, dass Dana mit Mom oder den Kindern unterwegs ist, wenn V.V. zum Saubermachen ins Haus kommt.

Will ist immer noch verärgert darüber, dass Dana bei uns ist. Er behauptet, ich hätte ihn dazu gezwungen. Allerdings muss er auch zugeben, dass ich mich jetzt viel mehr auf die Kinder konzentrieren kann, da ich nicht mehr kurz davor bin durchzudrehen.

Was mich am meisten stört, ist die Tatsache, dass Sam – der vor Freude Luftsprünge gemacht hatte, als er von mir hörte, dass wir Dana einstellen – sie jetzt nicht mehr leiden kann. Er läuft nicht mehr zu ihr und fällt ihr auch nicht mehr um den Hals, wenn sie morgens zur Arbeit erscheint. Er gibt sich sogar große Mühe, ihr aus dem Weg zu gehen. Als ich wissen wollte, ob irgendwas nicht stimmt, hat er nur mit den Schultern gezuckt. Ich konnte ihm lediglich entlocken, dass Ella von Dana mehr Eiscreme bekommt als er.

Ich habe beschlossen, das Ganze als einen Anflug von kindlicher Launenhaftigkeit zu betrachten. Anders als Sam ist Ella von Dana völlig begeistert. Sie versucht, sich so wie Dana anzuziehen und so wie sie zu reden. Kaum ist sie aus der Vorschule zurück, rennt sie Dana hinterher wie ein junger Hund. Sie verbringen viel Zeit mit ihrer gemeinsamen Arbeit an Kunstprojekten. Erst vor ein paar Tagen hat Dana ihr einen Satz auswaschbarer Filzstifte in zweiundsiebzig Farben gekauft.

„Unsere Namen haben beide vier Buchstaben und enden beide auf a. Ist das nicht cool, Mommy?“, sagt Ella, als ich sie am Abend ins Bett bringe. „Dana hat gesagt, dass wir Zwillinge sind. So wie ich und Sam!“

Ich lächele bemüht, als ich ihr einen Gutenachtkuss gebe. „Nicht so ganz, aber es macht Spaß, so zu tun als ob.“

Nachdem ich das Nachtlicht eingeschaltet habe, ziehe ich die Tür ein Stück weit zu. Zwillinge? Was kommt als Nächstes? Letzte Woche hatte Ella angefangen, Dana Tante D zu nennen, was ich ihr gleich wieder untersagt habe. Dana gehört nicht zur Familie, und ich möchte nicht, dass Ella sie für Familie hält. Sie versteht nicht, dass Dana nur vorübergehend bei uns ist. Aber es wäre unsinnig, Ellas Wunschtraum jetzt schon platzen zu lassen. Vielleicht ist es in ein paar Wochen für Ella gar keine so großartige Sache mehr, dass Dana bei uns wohnt.

***

Als ich am folgenden Morgen mein Bett verlasse, durchdringt eine düstere Stille das ganze Haus. Ich kann nicht sagen, was nicht in Ordnung ist. Aber ich weiß, etwas stimmt nicht. Unbehagen macht sich in mir breit. Ich ziehe den Morgenmantel an und schnüre den Gürtel fest zu. Vielleicht habe ich ja schlecht geträumt und fühle mich deshalb so seltsam.

Auf dem Weg in die Küche sehe ich nach den Zwillingen, die beide noch fest schlafen. Die Wangen sind gerötet, ihre engelsgleichen Lippen einen Spaltbreit geöffnet, während sie gleichmäßig atmen. Ich lächle zufrieden und gehe weiter den Flur entlang, um Moms Morgenkaffee vorzubereiten.

Mit dem Becher in der Hand gehe ich zu Moms Zimmer, um sie aufzuwecken. Als ich die Tür aufdrücke, gleitet mir der Becher mit dem Aufdruck Beste Grandma der Welt aus den Fingern und zerspringt beim Aufprall auf den Hartholzboden. Das intensive Aroma des Kaffees vermischt sich mit dem übelkeitserregenden Geruch von Blut.

4. Kapitel

Meine Mutter liegt wie ein wirres Knäuel aus Armen und Beinen auf dem Fußboden neben dem Bett. Ich sinke neben ihr auf die Knie und lege meine Arme um ihren Kopf. „Mom!“, schreie ich wieder und wieder, als könnte der Klang meiner Stimme sie irgendwie zu mir zurückbringen. Aber dort, wo sie jetzt ist, kann ich sie nicht mehr erreichen. Sie fühlt sich in meinen Armen kalt an, und auf einer Seite ihres Kopfs klebt getrocknetes Blut ihre Haare zusammen. Meine Gedanken rasen in tausend Richtungen gleichzeitig. Das kann doch nicht wahr sein. Nicht hier in meinem eigenen Haus, wo es meine Aufgabe sein sollte, sie vor all den Gefahren in der Welt da draußen zu beschützen.

Aufgeregt wähle ich den Notruf. Ich zermartere mir das Hirn, als ich versuche zu verstehen, was wohl passiert sein muss. Sie muss mitten in der Nacht versucht haben, das Bett zu verlassen, und dabei gestürzt sein. Warum hat sie nicht wie üblich ihren Pieper benutzt, um mich zu sich zu rufen? Der befindet sich noch genau da, wo er immer auf ihrem Nachttisch liegt.

Ich knie noch immer auf dem Boden und wiege den Körper meiner Mutter sanft hin und her, als der Rettungswagen eintrifft. Jedes Schluchzen erschüttert meinen ganzen Leib. Die dann einsetzende Unruhe im Haus weckt die Kinder auf, die im Schlafanzug den Flur entlangtrotten. Sie haben noch kleine Augen, ihre Gesichter vom Schlaf noch rosig.

„Stimmt was nicht mit Nana?“, fragt Ella, nachdem sie mit einem lauten Schmatzer den Daumen aus dem Mund genommen hat.

Meine Lippen beben, während ich überlege, wie ich meinen Kindern den Grund dafür erklären soll, dass sie heute so unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden. Normalerweise bin ich um Worte nicht verlegen, aber auf das hier hat mich niemand vorbereiten können. Ein Moment, der zu früh und zu abrupt eingetreten ist. Nana schläft? Nana ist krank? Aber damit würde ich das Unvermeidbare nur vor mir herschieben. Ich könnte ihnen erzählen, dass sie im Schlaf gestorben ist. Aber ich kenne meine Kinder und weiß, sie wären in Sorge, dass es sie als Nächste treffen könnte. Das war auch Wills Meinung, als ich ihn anrief, um ihm die schlimme Nachricht mitzuteilen. Er nimmt die nächste Maschine nach Hause, und dann werden wir es den Kindern gemeinsam erklären.

Mein quälendes inneres Ringen muss mir allzu deutlich anzusehen sein, denn eine freundliche Sanitäterin kniet sich neben Ella hin. „Eure Nana singt jetzt mit den Engeln, Honey, so wie meine Nana auch.“

Der Rettungswagen ist mit Moms Leichnam gerade abgefahren, als Dana durch die Hintertür ins Haus gestürmt kommt. Sie trägt einen Jogginganzug, die Haare sind zerzaust, die Brille sitzt schief auf ihrer Nase. „Was ist los?“ Ihr Blick wandert von mir zu den Kindern, die am Küchentisch sitzen. „Ist alles in Ordnung? Ich kam gerade aus der Dusche, als ich irgendwelchen Lärm hörte. War das eine Sirene?“

„Nana singt jetzt mit den Engeln“, verkündet Sam, während er seinen blauen Plastikbecher mit beiden Händen umschlossen hält. Ein Halbmond aus Orangensaft klebt an seiner Oberlippe.

„Mit der Nana von der Polizistin“, ergänzt Ella und beugt sich vor, um mit Sam anzustoßen. „Du hast vergessen, das zu sagen.“

„Eine Polizistin?“, fragt Dana wieder verwundert.

„Sie meint die Rettungssanitäterin.“ Ich unterdrücke ein heftiges Schluchzen, während ich Dana an die Seite ziehe. „Mom ist aus dem Bett gefallen und hat sich dabei den Kopf angeschlagen.“

Dana hält sich erschrocken eine Hand vor den Mund. „Ist sie … geht es ihr gut?“

Ich schüttele den Kopf, dann wische ich mit dem Handrücken über meine Augen, damit mir die Tränen gar nicht erst über die Wangen laufen. „Sie fühlte sich schon kalt an, als ich sie entdeckte. Sie muss seit Stunden da gelegen haben. Ich komme mir vor wie die mieseste Tochter der Welt. Ich habe kein Geräusch gehört. Ich hatte keine Ahnung, dass sie gestürzt war.“

„Oh, Morgan, das tut mir so leid.“ Dana macht einen Schritt auf mich zu, um mich zu umarmen. Aber ich fürchte, dass ich in ihren Armen zusammenbrechen und nur dummes Zeug reden würde. Also drehe ich mich noch zeitig weg und nehme die Becher der Zwillinge an mich. „Ihr beide dürft eine Weile mit euren iPads spielen“, sage ich und zwinge mich dabei zu einem unnatürlich ausgelassenen Tonfall.

„Aber dann kommen wir zu spät zur Vorschule“, sagt Ella und wirft mir einen ernsten Blick zu, den sie eindeutig von ihrem Vater geerbt hat.

„Ihr geht heute nicht in die Vorschule“, erwidere ich. „Daddy kommt diese Woche früher nach Hause.“

„Yay! Daddy!“, johlt Sam und reißt die Arme hoch.

Ich bringe ein schwaches Lächeln zustande, als sie wie zwei kleine Tornados aus der Küche rasen. „Sie haben noch nicht verstanden, dass meine Mom tot ist.“

Dana setzt sich an den Tisch. „Die Demenz hat es für sie schwierig gemacht. In ihren Augen warst du mehr die Pflegerin als die Tochter ihrer Nana. Jedenfalls bis zu dem Moment, als ihr mich eingestellt habt.“

„Da ist was Wahres dran.“ Ich greife nach dem Geschirrtuch und wische gedankenverloren über den Tresen. Schließlich drehe ich mich zu Dana um. „Es tut mir leid, was das jetzt für dich bedeutet, Dana. Ich hatte gehofft, dass es mir mit deiner Hilfe möglich sein würde, Mom noch ein halbes oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr hier bei uns wohnen zu lassen. Es tut mir leid, dass es so ein jähes Ende nimmt.“ Ich ziehe ein Kleenex aus der Box und schnäuze meine Nase, während ich auf ihre Reaktion warte.

Blankes Entsetzen erfasst ihre Gesichtszüge, als meine Worte zu ihr durchdringen. Erdrückende Stille legt sich über uns.

„Morgan, ich wüsste nicht, wo ich hinsollte“, sagt sie schließlich mit leiser, jämmerlicher Stimme.

„Was soll das heißen? Was ist mit deiner Schwester?“

„Die sind letzte Woche nach Florida umgezogen, weil ihr Mann da eine Stelle angenommen hat. Ich habe ihr ja nur für ein paar Wochen bei den Kindern ausgeholfen, während sie die Umzugskartons gepackt hat. Meine Sachen sind im Augenblick alle eingelagert.“

Ich fahre mir vor Verlegenheit mit beiden Händen durch die Haare. Ich hatte gehofft, Dana würde anbieten, gleich wieder zu ihrer Schwester zurückzuziehen. Wir brauchen das Studio für die Verwandten, die zur Beerdigung herkommen. „Vielleicht kannst du ja zu ihr nach Florida ziehen.“

„Das kann ich mir nicht leisten.“ Ein Anflug von Panik lässt Danas Stimme höher klingen. „Kann ich nicht wenigstens bis zum Ende der Probezeit bleiben? Ich war davon ausgegangen, dass ich wenigstens so lange hierbleiben würde.“

Ich reibe mir über die Stirn und versuche, meine Verärgerung darüber zu überspielen, wie sehr sie in diesem Moment auf sich selbst konzentriert ist und sich nicht um den Verlust kümmert, den ich erlitten habe. Ich kann mich jetzt nicht auch noch mit ihren Problemen befassen, dafür ist mein Schmerz einfach zu schlimm. „Es tut mir leid, ganz ehrlich. Aber wir brauchen dich jetzt nicht mehr. So etwas war nicht absehbar, aber ich kann es nicht ändern.“

Dana bricht prompt in Tränen aus. „Lass mich bitte noch bleiben“, jammert sie. „Ich könnte dir doch bei den Kindern helfen. Ella himmelt mich an, und Sams Herz werde ich auch noch gewinnen, wenn du mir die Chance gibst. Es wird eine Weile dauern, bis ich eine neue Unterkunft gefunden habe. Es ist nirgendwo etwas frei. Wenn du mich vor die Tür setzt, werde ich in meinem Auto schlafen müssen.“

Ich bekomme den Mund nicht mehr zu. Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Hat sie nichts und niemanden, an den sie sich wenden kann? Keine Freundin, bei der sie unterkommen kann? Hat sie keinen Plan B? Hat sie keinerlei Ersparnisse?

Sie sieht mich mit flehendem Blick an, Tränen schimmern in ihren geröteten Augen.

Ich beiße die Zähne zusammen, die Worte kleben an meiner Zunge fest. Ich kann sie nicht auffordern, von heute auf morgen auszuziehen, wenn sie nirgendwo hinkann. Ich wollte unbedingt, dass sie bei uns einzieht, und ich bin einfach nicht so herzlos, dass ich sie gleich wieder vor die Tür setze, nachdem sie mir so schnell zur Verfügung gestanden hatte. Auch wenn es Will überhaupt nicht gefallen wird, dass sie noch einen Monat bei uns wohnt, wird mir mein Gewissen wenigstens erlauben, nachts ruhig zu schlafen.

„Also gut“, sage ich schließlich und atme angestrengt ein. „Du kannst bleiben, bis die sechzig Tage um sind. Du kannst mir mit den Kindern helfen und vielleicht an den Tagen, an denen V.V. nicht hier ist, bei diesem und jenem im Haushalt helfen.“

Ihre betrübte Miene ist mit Überlichtgeschwindigkeit weggewischt, und als sie mir dankbar die Hand drückt, kommt es mir vor, als würde sie mir mit ihrer Kraft alle Knochen zerschmettern. „Danke, Morgan. Du wirst es nicht bereuen. Ich mache mich nur schnell fertig, dann bin ich in ein paar Minuten wieder hier, um dir zu helfen.“ Sie springt auf und eilt durch die Hintertür nach draußen.

Ein unbehaglicher Schauer läuft mir über den Rücken. Habe ich mir das nur eingebildet, oder war das tatsächlich ein selbstgefälliges Funkeln in ihren Augen, als sie an mir vorbeistürmte?

Hier möchte ich nie wieder weggehen.