Leseprobe Weihnachtszauber in den Alpen

Prolog

September

„Nie im Leben fahre ich an Weihnachten mit dieser gesamten Familie – einschließlich zweier Dreijähriger und all ihrem Krimskrams – an irgendeinen eiskalten Ort in den italienischen Alpen.

Nie im Leben.

Nie im Leben, Luigi.

Denk nicht mal dran.

Das ist mein absolut letztes Wort zu dem Thema.

NEIN!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I

26. Dezember

Flughafen Manchester

„Um Himmels willen, Mama, wir sehen aus wie etwas aus Meine Familie und andere Tiere.“ Die 20-jährige Libby, Medizinstudentin im zweiten Jahr an der Oxford University und zurück im Kreis der Familie nach dem Ende des Herbstsemesters, rollte angesichts des Schauspiels, das der Versuch des Westmoreland-Gefolges, endlich in die Weihnachtsferien aufzubrechen, bot, theatralisch mit den Augen und steckte ihre Nase wieder zurück in ihr Lehrbuch.

„Also“, sagte Kit mit einem durch ein Schinken-Käse-Sandwich überaus ehrgeizig gefüllten Mund, „erzähl mal, wie dein toter Körper aussieht, Libby. Hast du einen gutaussehenden bekommen?“ Es war 6:00 Uhr morgens und der einzige Grund, warum er nicht tief und fest in seinem normalen postadoleszenten Zustand auf dem Stuhl neben mir schlief, war, dass er sich selbst als „dem Hungertod nahe“ bezeichnete und, um wie ein benzinfressendes Formel-Eins-Auto aufgetankt zu werden, wach sein musste. Es bestand kein Zweifel daran, dass, war sein endloser Hunger erst einmal für eine Stunde oder länger gestillt, er wieder in den ohnmachtsähnlichen Schlaf eines typisch 18-Jährigen verfallen und es an mir hängen bleiben würde, ihn durch die Sicherheits- und Passkontrolle und schließlich ins Flugzeug zu kriegen.

„Ach, Herrgott noch mal, Kit …“ Libby verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen und signalisierte ihrem Bruder so, sich wieder seinem Sandwich zu widmen und sie in Ruhe zu lassen.

„Ich halte das für eine hervorragende Frage“, sagte ich ruhig. Ich war ebenso wie Kit an der ganzen Sache mit der Zuteilung von einer Leiche pro Medizinstudent interessiert. Hatten sie nur diesen einen Körper, um daran zu arbeiten? Fühlten sich Studenten mit ihrer Leiche verbunden?

Ich war gerade dabei, Libby genauer auszufragen, als sie, ohne zu Kit oder zu mir zu schauen, knapp sagte: „Ich mag tote Körper eigentlich ganz gerne, da sie, anders als lebende Menschen, nicht sprechen.“

Kit rollte mit den Augen in meine Richtung und wandte sich seinem Sandwich zu. Ich sagte nichts weiter. Seit sie zwei Wochen vor Weihnachten nach Hause gekommen war, war Libby gereizt, was mich stark an ihre Zeit als anstrengende Teenagerin noch vor ein paar Jahren erinnerte. Ich hatte gedacht, sie wäre da mittlerweile rausgewachsen. Ich seufzte und sah zu Sebastian Henderson, Libbys besonders gutaussehendem Freund. Er sprach mit meiner besten Freundin, Grace, während er einen kichernden Jonty – seinen und Grace’ Sohn – in die Luft warf. Ich seufzte. Diese Dreiecksgeschichte zwischen Sebastian, Grace und Libby wurde nicht einfacher und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob die Tatsache, dass sie Grace und Seb so häufig mit Jonty sah, Libby so stresste.

„Hör auf, so zu seufzen, Mama“, sagte Kit. „Wir sind im Urlaub.“

„Nein, das sind wir noch nicht.“ Ich schaute auf die lange Passagierschlange, die geduldig auf das Öffnen des Jet‑2‑Schalters wartete.

„OK, ich heitere dich mit einem Entenwitz auf.“ Kit steckte den letzten Bissen seines Sandwiches in den Mund, kaute und lehnte sich zu mir. „Also, diese Ente kommt in eine Bar, geht zum Barkeeper und sagt: ‚Hast du Trauben?‘. Der Barkeeper sagt ‚Nein‘ und die Ente geht wieder. Am nächsten Tag kommt dieselbe Ente in die Bar, geht zum Barkeeper und sagt: ‚Hast du Trauben?‘. Der Barkeeper sagt wieder ‚Nein‘ und die Ente geht wieder. Am nächsten Tag kommt die Ente erneut in die Bar und geht zum Barkeeper und sagt: ‚Hast du Trauben?‘. Der Barkeeper sagt: ‚Ich sag’s wie’s ist, Ente, du bist jetzt drei Tage hintereinander hier reingekommen und hast mich nach Trauben gefragt, und ich habe immer wieder nein gesagt. Wenn du auch nur einmal wieder hierherkommst und mich das noch mal fragst, dann nagele ich deinen Scheißschnabel an die Bar!‘. Die Ente geht wieder. Ein paar Wochen vergehen und von der Ente ist nichts zu sehen. Eines Tages kommt die Ente schließlich wieder und geht zum Barkeeper und sagt: ‚Hast du Nägel?‘. Der Barkeeper sagt: ‚Nein‘. Die Ente sagt: ‚Hast du Trauben …?‘.“

Kit fing an zu lachen und ich lachte mit. Gemeinsam prusteten wir so sehr, dass wir nicht mehr aufhören konnten. „Na, das ist aber einer deiner Besseren, Kit“, sagte ich und sah zu Grace, die sich über den Anblick, wie wir gemeinsam wie ein paar 10-Jährige kicherten, amüsierte.

„Mach schon, erzähl die Pointe.“ Grace sah so schön wie eh und je aus, sogar um 6:00 Uhr morgens. Ihr kastanienbraunes Haar lag in einem langen, glänzenden Zopf über ihrer Schulter und ihre braunen Augen waren besonders genau mit verwischtem Kajal umrandet, um ihre beneidenswerte Größe zu unterstreichen.

„Das war’s schon“, lachte ich. „Einer von Kits albernen Witzen.“

„Geh mal und besorg deiner Mama und mir einen Kaffee, ja, Kit?“ Grace kramte ihre Geldbörse hervor. „Und was auch immer du willst. Libby?“ Grace wandte sich an meine Tochter, die ihr Grey’s Anatomy, oder was auch immer sie sich zuvor gewidmet hatte, zu Gunsten einer Marie Claire zur Seite gelegt hatte. „Libs? Irgendwas für dich?“

Libby schaute in unsere Richtung, schüttelte den Kopf und las weiter in ihrem Magazin.

„Geht es ihr gut?“, fragte Grace besorgt. „Es ist untypisch für Libby, einen Latte auszuschlagen …?“

„Ich glaube, sie relaxt nur. Muss anstrengend sein, wenn man die klösterlichen Säle von Oxford gewohnt ist, sich auf einmal wie früher en famille wiederzufinden. Wir sind ja schließlich ein ziemlich lauter Haufen, oder?“ Ich schaute zu meinem Ehemann, Nick, der sich zu Seb und Jonty mit unseren eigenen dreijährigen Zwillingen gesellt hatte, um eine Art merkwürdiges Kopfversteckspiel im Pulli des anderen zu spielen.

„Kamele“, lachte Grace und gab Kit ihre Kreditkarte.

„Kamele?“

„Hast du das nie als Kind gespielt? Du steckst deinen Kopf unter jemandes Pulli und tust so, als wärst du ein Kamel in der Wüste.“ Grace lächelte nachsichtig ihn Richtung ihres einzigen – und sehr geliebten – Sohn, Jonty, bevor sie sich auf Kits jetzt leeren Platz setzte. „Verdammte Scheiße, diese Stühle sind echt hart. Meinst du, die machen das mit Absicht? Damit man nicht einschläft und den Flug verpasst?“

Ich lachte und schaute zu Lilian, meiner südirischen Nanny‑Granny, die mit ihrem Kopf sanft schlafend auf ihrer handgestrickten scharlachroten Jacke lag. „Anscheinend nicht.“

„Ich bin erstaunt, dass Lilian zugestimmt hat, mitzukommen.“ Grace lächelte. „Ich meine, es ist nicht wirklich ein Urlaub für sie, wenn sie auf all diese Kinder aufpassen muss, während wir Ski fahren, oder?“

„Oh, Lilian hat sich vorgenommen, auch Ski zu fahren. Sie wollte es anscheinend schon immer lernen.“

„Wirklich?“ Grace schaute zweifelnd. „Sie muss fast 70 sein. Was ist, wenn sie sich etwas bricht?“

„Das ist schon ein bisschen respektlos vor dem Alter, Grace. Auf jeden Fall, so vermute ich, wird sie ein paar Skistunden nehmen und dann aufgeben. Sie hat ihr Strickzeug und ihr Wortsuchrätsel dabei …“

Grace schien nicht zuzuhören. Sie beobachtete Jonty mit Seb, ein Ausdruck purer Sehnsucht auf ihrem wunderschönen Gesicht.

„Oh, ich hoffe, dieser Blick gilt Jonty und nicht seinem Vater“, sagte ich und stupste sie in die Rippen.

„Aber natürlich“, sagte sie wenig überzeugend. Sie seufzte und drehte sich zu mir, während sie den teuer aussehenden Kaschmirschal langsam von ihrem Hals wickelte. Weitere sechs und sie würde den Tanz der sieben Schleier aufführen. „Weißt du, Hat, ich wünsche mir ein weiteres Baby …“

„Du? Noch ein Baby? Nachdem, was du letztes Mal durchgemacht hast?“ Ich war wirklich schockiert und sah sie mit Erstaunen an. Veräppelte sie mich?

„Ich weiß, ich weiß.“ Grace war peinlich berührt. „Nach dieser wirklich schrecklichen Depression …“ Sie zuckte zusammen. „Ich möchte das niemals wieder durchmachen …“

Die postnatale Depression, die Grace nach der Geburt von Jonty, nur einen Monat nach der von Fin und Thea, durchgemacht hatte, war schrecklich gewesen. In den vergangenen drei Jahren hatte sie keinen Anschein gemacht, dass sie darüber nachdachte, ein weiteres Baby zu wollen.

Grace hörte auf zu reden und lächelte Kit an, als er die Einkäufe, die er aus dem lächerlich teuren Flughafen-Café mitgebracht hatte, verteilte, bevor er sich in sein iPhone einstöpselte und in einen riesengroßen Chocolate‑Chip‑Muffin biss. Sie wickelte ihre lederbehandschuhten Hände um ihren Kaffee und lehnte sich noch ein Stück in ihrem Sitz zurück, Jonty immer direkt im Blick. „Weißt du, ich kann nicht über damals reden“, sagte sie schließlich leise. „Es ist so, als ob das jemand anderem vor sehr, sehr langer Zeit passiert ist …“

„Du warst auf jeden Fall nicht du selbst, damals.“ Ich lächelte und tätschelte ihren Arm. „Ich hasse es, dich daran zu erinnern, Grace, aber wir sind bereits in unseren Vierzigern. Tatsächlich“, fügte ich finster hinzu, „sind wir näher an 50 dran.“

„Ach, Herrgott, Hat. Wir sind beide erst 42. Viele Frauen haben Kinder mit 42 …“

„Ja, aber meistens mit einem Mann, der das Nötigste, ähm, du weißt schon, das Nötigste leisten kann …“

„Sperma?“

„Shh!“ Ich kicherte, als die Frau im Sitz neben mir sich zu Grace umdrehte. „Sprich leise. Noch mal, ich hasse es, dich daran zu erinnern, Grace, aber der Hauptgrund, warum du und Dan euch damals getrennt habt, war, weil er, du weißt schon, ähm …“

„Sperma-gehandicappt war?“

„Shh!“

Grace schaute zu Jonty, der einen Kicheranfall hatte, als er versuchte, seinen Kopf aus dem marineblauen Kaschmirpulli von Seb – seinem biologischen Vater – zu ziehen. Ihr Gesicht hatte denselben Ausdruck, den ich noch von vor 30 Jahren kannte, als sie wieder kurz davor war, eine weitere Schulvorschrift zu brechen.

„Grace, denk nicht mal dran. Ich glaub es nicht …“ Mir blieb tatsächlich die Sprache weg und ich inhalierte einen viel zu heißen und viel zu großen Schluck des bitteren Kaffees. Ich verzog das Gesicht.

„Ach, komm schon, Hat. Ich zieh dich auf. Das weißt du. Würde ich mich zwischen meine so wunderschöne Patentochter und meinen Ex-Liebhaber drängen?“

„Ich glaube nicht für eine Sekunde, dass du eine Chance hättest“, konterte ich etwas angefressen.

Grace seufzte. „Es tut mir leid, Hat. Ich provoziere gerne, ich weiß. Es ist nur, ich liebe Jonty so sehr und er ist jetzt schon kein Baby mehr. Und bevor ich es weiß, wird er ein furchtbarer Teenager sein und wird nichts mit mir zu tun haben wollen.“

„Grace, du bist bescheuert, Jonty ist drei. Und halte deine 42-jährigen Pfoten von Seb fern. Er gehört zu Libby.“

„Ich habe gefrotzelt, Hat.“ Grace zeigte sich für einen Moment reuevoll. „Und wenn du dich dadurch besser fühlst, es besteht keine Chance, dass ich noch einmal dieses ganze postnatale Zeugs mitmache. Niemals!“ Sie schüttelte sich.

„Nein, ich weiß, ich war schon mal an diesem Punkt, aber ich habe mich wirklich ernsthaft noch einmal mit den Möglichkeiten einer Adoption auseinandergesetzt.“

„Wirklich? Und was sagt Dan dazu? Hast du das mit ihm besprochen? Er war bisher ja nicht besonders angetan davon, wenn ich mich richtig erinnere?“ Als Grace und Dan verzweifelt versucht hatten, ein eigenes Kind zu bekommen und Grace die Möglichkeiten einer Adoption ins Spiel gebracht hatte, wollte Dan davon nichts wissen.

„Und falls du dich richtig erinnerst“, sagte Grace ironisch, „steckte Dan damals mitten in einer Affäre mit der schönen Camilla. Seine Gedanken – und sein Bett – waren mit deiner Nichte beschäftigt und die Adoption eines fremden Kindes stand nicht ganz oben auf seiner Agenda, auch wenn es bei mir so war.“ Sie zögerte und blickte zu den Männern, ihre Augen zuerst auf ihrem Ehemann und dann auf ihrem ehemaligen, viel jüngeren Liebhaber verweilend. „Wohlgemerkt sieht Seb jetzt heißer als je zuvor aus …“ Sie grinste diabolisch und stupste mich zusätzlich in die Rippen.

Ich stupste mit dem Ellenbogen zurück und lachte. Grace wusste schon immer, seit unserem ersten Tag in der Grundschule, wie sie mich ärgern konnte. „Dan …“ Ich lächelte süß zu Grace’ Ehemann, als er vom Duty-free-Shop, wo er die Kameras begutachtet hatte, zu uns herüberkam. „Halte deine Frau unter Kontrolle – sie begutachtet schon den heiß … ähm, die heiße Schokolade und wir haben Manchester noch nicht mal verlassen …“

Im nächsten Moment wurde ich umgehend aus meinem Gedankengang geworfen, aber nicht von Grace’ belustigt hochgezogenen Augenbrauen, sondern beim Anblick von Amanda Henderson – Sebs Mutter und Jontys liebevolle Oma –, die sich hoheitsvoll ihren Weg zu uns durch eine immer größer werdende Menschenmenge bahnte und es kaum erwarten konnte, den feuchtkalten nördlichen Winter für sieben Tage hinter sich zu lassen.

„Was zur Hölle machst du hier?“, fragte ich, sobald Amanda in Hörweite war. „Ich ging davon aus, du und David wären bereits dort? Ich dachte, ihr fliegt mit den Carringtons in ihrem Flugzeug?“

„Jet, Harriet. Ihr Privatjet“, antwortete Amanda, während sie gleichzeitig einen stark tätowierten Einheimischen aus Manchester anblitzte, der die Frechheit besaß, über ihr riesiges Louis-Vuitton-Handgepäck zu stolpern, welches sie direkt rechts neben sich gestellt hatte. „Ärgerlicherweise ist es zu Motorproblemen gekommen und es musste in … in … ach, wo auch immer Privatjets hingebracht werden, wenn sie repariert werden müssen.“ Amanda schaute mürrisch drein und ich hatte stark den Eindruck, dass sie, wäre sie alleine, mit ihren Isabel-Marant-Stiefeln auf den Boden stampfen würde.

„Also müssen du und David auf ganz primitive Art mit uns reisen, oder?“

Grace grinste. Grace war ganz klar auf einem provokativen Höhenflug und dies, gepaart mit der Tatsache, dass Sebastian die Anwesenheit seiner Mutter noch nicht bemerkt hatte, sorgte nicht dafür, dass sich Amandas Laune besserte.

„Wo ist David?“, fragte ich, während ich im Gemenge nach David Henderson aka „Der Richard Branson des Nordens“ suchte.

„Der streitet mit irgendeinem Handlanger darüber, wie viel Gepäck wir mit an Bord nehmen dürfen“, sagte Amanda abweisend. „Es ist lächerlich, dass nur so eine mickrige Menge zugelassen wird.“

„Willkommen in der echten Welt, Amanda. Habt ihr es geschafft, Plätze auf unserem Flug zu bekommen? Es würde mich ja wundern, wenn das geklappt hätte; schau dir all die Leute an, die darauf warten, ins Flugzeug zu steigen.“

„Ich hoffe, dass David für uns Plätze in der 1. Klasse bekommen hat …“

Amanda rümpfte die Nase und sah sich mit leicht gespitzter Lippe die Ansammlung von kaffee- und alkoholinhalierenden Menschen an, die von ein paar Jet‑2-Angestellten, ähnlich wie Lassie die Schafe in Schach hielt, zum zugewiesenen Gate getrieben wurden. „Diese Frauen trinken nicht wirklich zu dieser frühen Stunde am Morgen …?“

„1. Klasse?“, prustete Grace. „Es gibt nicht so was wie eine 1. Klasse bei Jet 2, Amanda. Hier gilt ‚jeder für sich selbst‘, und du kannst nur hoffen, überhaupt einen Platz zu bekommen …“ Sie wurde durch das plötzliche Eintreffen von David Henderson unterbrochen.

„Entschuldige, Amanda.“ David, der normalerweise recht gelassen war, war offensichtlich genauso gestresst wie seine Frau. „Ich habe es geschafft, ein Ticket für den Flug von Seb und den anderen zu bekommen. Du nimmst ihn und ich muss hier wohl einfach warten und fliege euch nach, sobald ein Platz frei wird.“
Seb, der inzwischen rundum von Amanda eingewiesen wurde, was es mit dem plötzlichen Auftauchen seiner Eltern auf sich hatte, schaute fragend und rief, „Wo sind denn die Carringtons jetzt? Wie fliegen sie rüber?“

„Haben sich irgendeinem ihrer Freunde angeschlossen und sind dort mitgeflogen“, fauchte Amanda. „Wir sollten ihre Gäste sein, aber sobald es ein Problem gibt, gilt ‚Start frei!‘ mit den Scott-Gardeners und scheiß auf alle anderen und wie diese ihre Reise fortsetzen.“

Seb sah, wie Grace und ich vor uns hinstarrten, und versuchte nicht zu lachen.

„Haben sie euch nicht auch einen Platz angeboten?“

„Nur ein Flugzeug für vier, Schatz. Ein einfaches Teil im Vergleich zum Jet der Carringtons. David, ich will wirklich nicht ohne dich nach Italien fliegen.“ Sie drehte sich zu den letzten Passagieren unseres Fluges, die Mäntel und Handgepäck einsammelten. „Kann nicht eines dieser Kinder auf dem Schoß seiner Mutter sitzen, was denkst du …?“

David gab Amanda einen Kuss auf die Wange und gab ihr ein Ticket. „Geh jetzt. Ich gehe davon aus, dass ich entweder später heute oder morgen früh bei dir sein werde. Es gibt nichts, was wir daran jetzt ändern können, Amanda. Geh mit Seb und Jonty und hab Spaß.“

„Na, das ist aber ein Widerspruch in sich selbst“, raunzte Amanda, zog sich schnell ihre Samthandschuhe an und ging, die Billigfliegenden vor sich hertreibend, absichtlich mit Abstand hinter Nick, Dan und meinem Nachwuchs in Richtung unseres Gates.

2

„Wohin geht Mrs. Henderson?“ Ich war eingedöst, als Lilian, die neben mir mit Fin auf ihrem Schoß saß – Amanda hatte recht gehabt: David hätte den Platz meines Sohnes doch haben können –, mich von der Seite anstupste. Sie zeigte auf das Anschnallzeichen, das während der letzten 30 Minuten ununterbrochen geleuchtet hatte, obwohl wir bereits in einer ruhigen See von Blau badeten und voraussichtlich schon ein gutes Stück unseres Weges zu den italienischen Alpen zurückgelegt hatten.

„Keine Ahnung.“ Ich hatte einen durchaus angenehmen kleinen Traum, indem ich eine schwarze Piste hinunterdüste und die Performance meines Lebens hinlegte, während ich von attraktiven und definitiv gut durchtrainierten Italienern angefeuert wurde. Ganz schön eingebildet, wo ich doch noch nie auf einer Skipiste gewesen war – nicht mal auf der künstlichen in Castleford, zu der Nick die älteren Kinder zur Vorbereitung auf diesen Urlaub mitgenommen hatte. Ich hatte einen Rückzieher gemacht und erfreute mich an dem leeren Haus, das ich für mich alleine hatte. Ich legte die Füße hoch und hatte Kate Atkinson in der einen Hand und das erste Stück Christmas Cake mit der obligatorischen Scheibe Wensleydale-Käse in der anderen. Wie schwer konnte es schon sein, einen Berg runterzurutschen?

Mir wurde klar, dass mir die Spucke runtergelaufen war – immer ein unattraktiver Teil eines Nickerchens in der Luft – und ich wischte mir schnell den Mund ab.

„Na, sie haben gerade per Durchsage auf Englisch nach einem GP, also einem Arzt, gefragt, der sich beim Bordpersonal melden soll, und Mrs. H. ist aus ihrem Sitz gesprungen und sofort nach vorne gegangen“, sagte Lilian mit ihrem lieblichen südirischen Einschlag. Sie sah überrascht aus. „Mrs. Henderson ist doch keine qualifizierte Ärztin, oder?“

„Oh, so wie ich Amanda kenne, hat sie sich ein Jahr lang an einer Abendschule zur Chirurgin ausbilden lassen. Der Rest von uns würde ‚Französisch für Fortgeschrittene‘ oder Yoga oder ‚Mach deinen eigenen Teppich aus benutzten Teebeuteln‘ belegen, aber Amanda, na ja, Amanda hätte gelernt, wie man eine Do-it-Yourself-Blinddarm-OP durchführt oder eine Gallenblase entfernt …“

Lilian sah für eine Sekunde verwundert drein und grinste dann. „Gehst mir weg damit. Ihr Leutchen glaubt auch, ihr könnt mir alles verkaufen. Vielleicht suchens nach jemandem, der künstliche Befruchtung durchführen kann?“

Ich kicherte, aber bevor ich Lilian eines Besseren belehren konnte, ging eine leicht gerötete Amanda den Gang zurück, vorbei an den angeschnallten Passagieren, die die Köpfe den Gang hinunterstreckten, um herauszufinden, was denn überhaupt los war, und setzte sich in den Sitz gegenüber.

„Und?“ Ich lehnte mich zu Amanda, die sich gerade wieder anschnallte. „Was ist los?“

Amanda zuckte etwas zu locker mit den Schultern. „Eine besonders dicke Frau, die in diesen lächerlichen Sitzen steckengeblieben ist. Sie hatte eine totale Panikattacke und die Kaffeeschubsen brauchten jemanden, der hilft …“ Sie verstummte und holte eine Ausgabe des The Spectator und eine Flasche Luxuswasser aus ihrer Tasche.

„Und, hast du geholfen? Kennst du dich mit solchen Sachen aus?“

Als ehemalige Schulsprecherin gelang es Amanda Henderson immer wieder, mit ihren Fähigkeiten zu überraschen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass, wenn sie über den Lautsprecher bekanntgeben sollten, dass der Pilot einen Herzinfarkt hatte, Amanda nach vorne gehen und das Flugzeug selbst fliegen würde, ohne einen Tropfen Schweiß auf ihrem makellos zurechtgemachten Gesicht.

„Na klar, ich habe vorgeschlagen, dass jemand eine braune Papiertüte für die hysterische Frau zum Reinatmen finden soll, aber dann erschien ein pensionierter Arzt von irgendwoher und ich überließ den Rest ihm.“

„Ich dachte, Mrs. H. wäre eine Friedensrichterin und keine Ärztin?“ Lilian flüsterte in mein Ohr und auf einmal machte alles Sinn.

„Oh Gott“, flüsterte ich zurück, kichernd. „Ich wette, Amanda dachte, dass die Durchsage auf Englisch nach einem JP, also einem Friedensrichter, und nicht nach einem GP, einem Arzt, gefragt hatte. Kein Wunder, dass sie so schnell aufgesprungen ist. Sie liebt es, Richterin zu sein, und dass sie Leute ins Gefängnis schicken und Durchsuchungsbefehle, die Polizisten zum Türeneintreten befugten, unterschreiben kann. Vielleicht dachte sie, es ginge um einen Ladendiebstahl nach dem Duty-free oder das Flugpersonal würde den Piloten für zu schnelles Fliegen oder so anzeigen wollen.“

„Ich bin etwas verwirrt, wer uns eigentlich alle eingeladen hat“, sagte Lilian kopfschüttelnd. „Kommen wir alle in einem Chalet unter? Es muss ein ziemlich großes sein, damit wir alle dort einen Platz zum Schlafen finden.“

„Ich glaube, das ist so. Das Chalet gehört Signor Rossi, da aber er und seine Familie Weihnachten in Australien verbringen, hat er es David und Nick für die Woche angeboten. Amanda wollte natürlich bei Seb und Jonty während der Weihnachtstage und Neujahrszeit sein, also waren Grace und Dan auch eingeladen. Grace, Amanda und ich setzten uns zusammen, um auszumachen, wo wir alle schlafen, und ich denke, wir haben es hinbekommen, zu aller Zufriedenheit aufzudröseln, wer wo unterkommen würde.

„Was ist mit diesen Carrington-Leuten dann? Die mit dem Privatjet?“ Lilian schaute fragend. „Wie in aller Welt kann sich jemand einen Privatjet leisten? Und wer fährt so was?“

„Fliegt, Lilian. Ich denke nicht, dass man so was fährt!“ Ich lächelte ihr überraschtes Gesicht an. „Na ja, soweit ich weiß, sind die Carringtons alte Bekannte von David. Ich glaube, er war mit Mr. Carrington auf der Schule. Auf jeden Fall haben sie ein Chalet ziemlich nahe unserer Unterkunft, also meldete sich David bei ihnen mit dem Vorschlag, sich zu treffen, während wir da oben sind, und sie boten im Gegenzug an, sie per Jet einfliegen zu lassen. Welcher, wie es scheint, jetzt jedoch repariert werden muss.“

Lilian streichelte Fins Haare abwesend. „Na, das war ja praktisch. Und der Flug ist am gleichen Tag wie unserer?“

„Nicht wirklich. Ich glaube, die Carringtons waren bereits mit ihren Kindern über Weihnachten in Italien. Laut David ist Mr. Carrington wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug – er hat den Jet erst seit einem Monat oder so – und machte das Angebot, zurück nach Manchester zu fliegen, um David und Amanda abzuholen. Ich wette, sie wünschen sich jetzt, dass sie sich nie die Mühe gemacht hätten.“
„Meine Güte, wie die andere Hälfte lebt“. Lilian lächelte.

Ich schaute, soweit es mir möglich war nach, dass mein Nachwuchs schlief, schloss meine Augen für den Rest des Flugs zum Marco-Polo-Flughafen in Venedig und genoss die Ruhe, solange sie anhielt.

Die Zwillinge waren direkt schlecht gelaunt, als sie geweckt wurden. Ihr ständiges Jammern nach Saft, danach getragen oder zu Bett gebracht zu werden, bei ihrem Papi zu sein, bei Lilian zu sein, nur bei mir zu sein etc. war ermüdend. India, meine 10-Jährige, war immer noch in die Abenteuer von Dolly Rieder in Möwenfels vertieft und war, die Nase in ihr Buch gesteckt, glücklich damit, einfach dorthin geführt zu werden, wohin auch immer wir als Nächstes hinmussten, während Kit, der mir ziemlich komatös vorkam, den gesamten Weg von der Gepäckausgabe bis zum Privatbus, der für unseren Transfer ins Chalet im Skiresort extra bestellt worden war, hinter uns gähnte.

„Was machen wir in Venedig?“ Kit schien verwirrt. „Ich dachte, wir würden Ski fahren? Es gibt keinen Schnee in Venedig, oder?“

Libby, die weder am Flughafen noch im Flugzeug neben ihrem Freund Sebastian saß und ihn auch sonst nicht viel zu beachten schien, jetzt da wir in Italien waren, sammelte Thea mit der einen Hand und ihr Gepäck mit der anderen ein, bevor sie genervt über ihre Schulter zu Kit sagte: „Du bist so ein verdammter Idiot, Kit. Wir fahren nicht in Venedig Ski; wir haben noch einen zweistündigen Transfer mit dem Bus vor uns, bevor wir in Cortina sind.“

Kit nickte weise. „Cortina? Richtig. OK. Hatte Opa nicht ein Cortina-Auto? Ist der Skiort, in den wir fahren, nach dem Auto benannt?“

„Herrgott noch mal. Muss ich mir wirklich eine Woche lang so banales Geschwafel anhören?“ Libby schaute mürrisch drein und hob Thea auf ihre Hüfte, sodass ihre kleine Schwester laut protestierte.

„Gott, ist die schlecht drauf“, sagte Kit neben mir. „Was ist mir ihr los? Hat sie Stress mit ihrem Liebhaber?“

„Keine Ahnung“, sagte ich. „Komm jetzt. Ich will nur ankommen. Schau, Papa hat den Bus gefunden: Cortina Reisen. Das sind wir.“

Italienische Skiresorts sind meist entlang der Gebirgsregionen Italiens, die an Frankreich angrenzen, gelegen. Wir waren von einem Signor Rossi eingeladen worden, dem daran gelegen war, sich bei David Henderson und meinem Ehemann Nick einzuschleimen, in der Hoffnung, weitere Deals mit ihrem Unternehmen Luomo abzuschließen. Nick war Matteo Rossi bereits mehrmals während seiner Reisen nach Mailand – wo die Firma großartige Luxusdesignerkleidung für Männer produzierte und nach Russland, Brasilien und Indien wie auch Großbritannien exportierte – begegnet und hatte immer äußerst gut von ihm gesprochen. Ich hatte gegoogelt und ein bisschen zum Gebiet recherchiert und war begeistert, zu erfahren, dass Cortina d’Ampezzo eines der teuersten und schicksten Resorts im Skigebiet der Dolomiten war. Ich schätzte, wenn ich es in meinem Alter noch mit dem Skifahren probieren sollte, dann doch immerhin an einem traumhaften Ort.

Amanda schien von unserer Gruppe abgekommen zu sein und lief nun entschlossen allein in eine andere Richtung.

„Wo geht Amanda hin?“, fragte ich Nick, als er, Dan und Seb dem Fahrer halfen, das Gepäck, die Skiausrüstungen und widerspenstige Dreijährige in den Bus zu laden.

„Sie hatte anscheinend nicht mit diesem Teil der Reise gerechnet“, schnaufte Nick, während er mit Libbys Koffer kämpfte. „Was zum Teufel hat meine Tochter da reingepackt …?“

„Eine Leiche?“, murmelte Kit und half seinem Vater. „Es ist wahrscheinlich ihre Hausaufgabe für Physiologie.“

„Lehrbücher, nehme ich an. Du weißt, wie sie ist. Wie kommt Amanda also hin?“

„Ich glaube, da musst du dir keine Gedanken machen. Sie wird sicher lange vor uns am Chalet sein …“ Nick nickte in Amandas Richtung, die, ohne die zusätzliche Last von Kindern und Gepäck, gelassen einem adretten, uniformierten Bediensteten folgte, der ihre Taschen trug. „Helikopter – Privattransport“, fuhr Nick fort. „David hat bereits im Voraus angerufen und das für sie geregelt. So hat sie immerhin schon den Kessel an, wenn wir endlich da sind …“

„Du würdest mich in keines dieser Dinger bekommen“, verzog ich das Gesicht. „Da hätte ich Todesangst!“

Eine Stunde später, nachdem wir die Autobahn und die Stadt Belluno hinter uns gelassen hatten, verwandelte sich die Umgebung schnell: Wir befanden uns nur eine Stunde von Venedig entfernt und dennoch hatte sich die Landschaft von einer Küstenlagune in Straßen mit Kurven wie gebogene Abflussrohre verwandelt und ich betete absolut nach einem Helikopter. Jede Art von Transport: Boot, Flugzeug, Schneemobil oder Esel wäre mir lieber. Alles außer diesem Kleinbus, dessen Aufgabe es war, uns mit voller Hingabe durch die Haarnadelkurven zu bringen. Ich wusste nicht, was schlimmer war: Die Kurven nach oben, die unseren Fahrer dazu brachten, langsamer zu fahren, damit er um sie herum käme, was bedeutete, dass die Regeln von Zeit und Raum für eine Sekunde aufgehoben wurden, oder das Rasen den Berg hinunter mit rücksichtloser Geschwindigkeit. Gab es hier denn keine Geschwindigkeitskontrolle?

„Mami, machen wir Unfall, Knall, pieseln wir den ganzen Weg nach unten?“ Ein freudiger Fin bestand darauf, sich konstant zu wiederholen, während Kit, der neben mir saß, sein Gesicht in meiner Skijacke vergraben hatte und sich weigerte, sich das alles anzuschauen. Sogar Nick sah inzwischen etwas Grün aus, während India, mitten in einem Mitternachtsfestessen in Möwenfels, und Libby, jetzt festschlafend, unbeeindruckt zu unserem Ziel reisten.

„Das Beste kommt noch“, schrie der Fahrer Antonio über seine Schulter und sah nicht auf die Straße, als ein großer, leuchtend orangener Reisebus den Berg hinunter direkt auf uns zuraste. „Hier geht’s nach Arabba, und eine Schleife –“ Oh Gott, bitte nicht noch mehr Schleifen „– um die bellisimo Sella Ronda herum. Dort sieht man die vier Gebirgspässe: Campolongo, Pordoi, Sella und Gardena.”

Ich schloss meine Augen angesichts der riesigen Schneeflocken, die vom vollen, senffarbigen Himmel fielen, und betete.

3

„Oh, ihr habt es endlich geschafft. Wie lange ihr gebraucht habt!“ Amanda hatte bereits ihr Reiseoutfit ausgezogen und trug jetzt eine Spyder-Pandora-Skijacke in Grau – „eigentlich heißt die Farbe ‚Tiefe‘ soweit ich weiß, Harriet“. Sie kam runter, um uns dort zu begrüßen, wo der Minibus uns so nah wie möglich am Chalet abgesetzt hatte, und griff direkt nach Jonty in Sebs Armen, während Grace sich mit den Koffern rumschlug.

„Ach, sorg dich nicht um euer Gepäck, Grace“, rief Amanda über ihre Schulter. „Ihr seid im Urlaub, um Himmels willen. Es gibt hier einen äußerst hilfreichen jungen Mann, der sich um all das kümmert.“

Typisch für Amanda betonte sie mindestens ein Wort pro Satz, bevor sie eine dünne, gebieterische Hand in Richtung des großen, athletischen Mannes wedelte, der am Eingang des Chalets stand und beobachtete, wie wir ermüdet und zerzaust aus dem Minibus aus der Hölle stiegen. Dunkelhaarig und in hellpinken Jeans, Skischuhen und einem marineblauen Pullover gekleidet, strahlte er kontinentalen Flair und Glamour aus, während wir alle – außer Seb, der jedem in Sachen Style und gutem Aussehen das Wasser reichen konnte – durchaus blass, müde und zerquetscht aussahen. „Das ist Luca“, rief Amanda, während sie Jontys Gesicht und Haare zärtlich streichelte. „Er gehört hier zum Rundumpaket.“

„Zickiges Biest“, murmelte Grace. „Er gehört hier zum Rundumpaket? Sie redet über ihn wie ein kostenloses Goodie, das in einer Packung Persil steckt.“

Luca bereitete sich seinen Weg durch die Schneedecke, die den Platz vor dem Chalet bedeckte, und schüttelte uns die Hände, bevor er mehrere unserer Koffer und Taschen in die Hände nahm.

„Bitte. Machen das, was Amanda sagt, und überlassen alles mir. Ihr Ferien, startet hier, und hartes Arbeit ist diese Woche nicht erlaubt.“

„Verdammt noch mal“, flüsterte ich Grace zu. „Dabei bin ich nur für etwas Hartes hergekommen. Dafür gab es in letzter Zeit nicht viel Zeit, da Nick so oft weg war …“

„Würde mich nicht über etwas Hartes von ihm beklagen. Gott, er ist so gutaussehend“, flüsterte Grace zurück.

„Benimm dich! Du bist zum Skifahren hier. Gott, sieh dir nur diesen Ort an. Ich hätte niemals gedacht, dass er so groß und beindruckend ist. Und du? Wirklich?“

„Na ja, ich nehme an, wenn David Beziehungen zum Besitzer hält, muss es ja etwas Besonderes sein. Kann mir auch Amanda kaum woanders vorstellen. Und schau dir nur diesen Ausblick an …“

Wir drehten uns beide um, während alle anderen an uns vorbeitrapsten, um das Innere des Chalets zu erkunden und die besten Zimmer zu ergattern. Obwohl nur einen kurzen Spaziergang von  Cortina d’Ampezzo, als Gastgeberstadt der Olympischen Winterspiele 1956 bekannt geworden, gelegen, wurde das Chalet gebaut, um den beeindruckend schönen Ausblick auf die Dolomiten voll auszuschöpfen. Die Haupträume waren auf die makellosen Schneedecken ausgerichtet, die von berühmten Bergspitzen überragt wurden: Antelao, Pelmo, Spalti del Toro und Marmarole. Wir schienen den dunklen Himmel und das Schneegestöber hinter uns auf der Bergstraße gelassen zu haben, und anstelle dessen reflektierte eine schillernde Sonne unzählige Diamanten auf der endlosen weißen Decke, was uns beide gleichermaßen dazu zwang, unsere geblendeten Augen zu schützen.

„Komm jetzt“, lachte Grace und rieb ihre behandschuhten Hände zusammen. „Hör auf zu glotzen. Ich bin wie eingefroren und ich möchte sichergehen, dass uns Dan ein gutes Zimmer mit Blick über die Alpen gesichert hat. Wir wollen ja nicht irgendwo in einem kleinen Wandschrank unterkommen, während Seb und Libby was Hartes im besten Zimmer des ganzen Hauses machen.“

Und damit zog sie von dannen.

Es gab kein einziges Zimmer im ganzen Chalet Luogo Celeste, mit dem man nicht zufrieden sein konnte. Die Zwillinge – jetzt ziemlich wach und äußerst aufgeregt – und Jonty liefen wild durch die Gegend, flitzten von Zimmer zu Zimmer, ihre Augen so groß wie Untertassen, als sie den Spa‑Bereich mit der Kombination Sauna – Dampf, Finnisch und Infrarot laut Nick, der so große Augen wie die Kinder machte –, Pool mit Wasserfall und einladend um den Beckenrand gestellte Liegestühle entdeckten. Es gab einen Raum mit Leinwand und einer großen DVD-Sammlung, bequemen Sofas und, laut Kit, von dem ich dachte, er wäre eigentlich schon aus der Phase herausgewachsen, einer hammergeilen PlayStation in der neuesten Modellversion. Wenn das so weiterginge, würde ich die Kinder nie nach draußen an die frische Luft bekommen.

„Mama, komm und schau dir das an.“ India, die endlich ihre Nase aus dem Buch genommen hatte, nahm meine Hand und führte mich zu zwei Glasaufzügen, die alle vier Etagen des Chalets anfuhren. „Schau mal, es ist wie in Charlie und der große gläserne Fahrstuhl.“ Sie zog mich in einen von ihnen, drückte einen Knopf und schon schossen wir auf die 3. Etage hoch, die praktisch ein riesiges Wohnzimmer mit einem Holzofen, der an einem Ende einen himmlischen Geruch von Pinien ausstieß, war.

„Lass uns ein Rennen daraus machen.“ Ich lachte, als Grace aus dem rechten Fahrstuhl stieg und sich zu uns ins Wohnzimmer gesellte, während Daniel und Nick, ihre Gesichter mit Erstaunen an die Glasfenster gedrückt, auf die nächste Etage fuhren.

Grace sagte trocken. „Das wäre mal eine Abwechslung zu Scrabble.“

Ich kicherte und, zum ersten Mal, seit der Vorschlag dieses Urlaubs im Herbst zum Streit geführt hatte, begann ich mich zu entspannen und freute mich, dass wir hier waren. Ich wollte gerade sagen, dass ich für eine Tasse Kaffee töten könnte, als der linke Glasfahrstuhl aufging, ein bisschen wie an einem Bahnhof, und Luca, gefolgt von einem älteren Herrn, herauskam, beide je ein Tablett voller Köstlichkeiten auf der Hand. Sie stellten sie auf dem großen Tisch an den Fensterbänken ab, von wo man den Ausblick genießen konnte.

„Kommen Sie.“ Luca lächelte und wies uns zum Tisch. „Diese ist meine Padre …“

„Padre?” Ich flüstere, als Grace Laute der Verzückung von sich gab und direkt zu Croissants und Cappuccino griff. „Ist das nicht ein Vikar? Na ja, nicht ein Vikar natürlich; das wäre in der Kirche von England so, und ich bin mir sicher, die sind alle Katholiken …“

„Sein Vater“, sagte Grace genervt, den Mund voll mit Crostata.

„Padre ist italienisch für Vater. Nenn ihn nur nicht Il Papa oder du sprichst den Papst an.“

„Ach, wie wunderbar.“ Amanda klatschte in die Hände, als sie in das Wohnzimmer schwebte, zögernd gefolgt vom Rest unserer Gruppe. „Cornetto per colazione.“

Oh Gott, ich hatte vergessen, dass Amanda fließend Italienisch sprach – der Hauptgrund, warum sie Nick so oft nach Mailand während der Anfangsphase von Luomo begleitete. „Wie bitte?“

Cornetto zum Frühstück, Harriet.“ Amanda zog ihre perfekt gezupften Augenbrauen hoch und lächelte mich herablassend an und dann etwas nachsichtiger zu Jonty, bevor sie ihn und die Zwillinge zum Tisch brachte.

„Eiscreme zum Frühstück, Amanda? Oh, ich denke eher nicht. Nicht für meine beiden. Eines dieser kleinen Croissant-Teile vielleicht?“

Amanda war genervt. „Diese kleinen Croissant-Teile sind Cornetti, Harriet.“

Nick grinste mich an und gab mir einen Teller, den er mit kalten Schnittchen, frischen Früchten und Strudel di mele, eine Art Brioche, gefüllt mit Creme und Äpfeln, beladen hatte.

„Wow, Mama, das ist fantastisch.“ Kit war bereits auf halbem Weg, die Leere in seinem Magen zu füllen, die nach seinem viel zu frühen Schinken-Käse-Sandwich am Morgen wieder da war. „Essen wir so was zu jeder Mahlzeit? Oder–“, er hatte kurz etwas Panik in den Augen und war dabei, seinen Teller neu zu beladen, „–ist das eher so was wie ein Willkommensessen?“

Ich lachte. „Ich glaube, wenn David etwas damit zu tun hat, dann ist das erst ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt.“

„Das ist dann ziemlich gut.“ Kit sah erleichtert aus.

„Wo ist Libby?“ Nick wandte sich an Seb, der Jonty noch mehr Cornetti gab.

„Sie sagt, sie hat Kopfschmerzen. Ich habe ihr geraten, sich eine Stunde hinzulegen; ich bringe ihr gleich einen Kaffee.“

„Wir möchten doch keine Zeit verschwenden, jetzt, da wir hier sind“, sagte Nick, während er sich den Mund mit einer wunderschön gestärkten Serviette abwischte und ans Fenster ging. „Los jetzt alle, wir müssen uns fertigmachen, Skiklamotten an und rauf auf die Pisten!“

„Sollten wir nicht erst auspacken?“, sagte ich zweifelnd. „Ich denke, wir möchten nicht einfach unsere Sachen abladen und loslegen.“

„Nein, definitiv nicht“, sagte Nick. „Das können wir später erledigen. Es wird ewig dauern, bis wir alle mit Schuhen und Skiern ausgestattet zum Aufbruch bereit sind. Wenn wir uns beeilen, können wir die Kinder raus in den Schnee kriegen, bevor es dunkel wird.“

Luca überließ das Aufräumen des Brunches Fabio, seinem Vater, und gesellte sich zu uns. „Sie wissen, ich hier bin, um Ihnen bei Skifahren zu helfen. Wohin auch Sie wollen, ich fahre Sie in eine der Auto. Es gibt weitere Auto, die wir gebucht haben wie Sie gewünscht. Es gibt keine Problem, von hier zu jede andere Ort zu kommen.“ Nick sah so aus, als wäre er gestorben und in den Himmel aufgestiegen. Cortina, so schien es, war seine Auster und er konnte es kaum erwarten, sie auszuschlürfen.

Nick, Seb und David Henderson hatten auf jeden Fall ihre Hausaufgaben gemacht, was diesen Trip anging, und obwohl es gut eine Stunde gedauert hatte, die Kinder in ihre Skikleidung zu kriegen sowie Mützen, Brillen und alle weiteren Sachen, die sie zum Skifahren brauchen, zusammenzufinden, hatten wir am frühen Nachmittag das Chalet verlassen und wurden im Konvoi runter in die Nähe der Skischule gefahren.

„Die Skischule von Cortina, sie ist die erste Skischule Italiens jemals“, sagte Luca stolz über seine Schulter zu mir, als wir einparkten. „Mein Großgroßpadre hat helfen, sie wieder zu öffnen in 1933, und jetzt gibt es Lehrer, die spezialisiert mit Bambinos und Menschen mit Behinderung zu arbeiten.“

„Das bin wohl ich, befürchte ich, Luca“, sagte ich, während mein Herz beim Anblick der Pisten in die Hose rutschte.

„Sie haben eine Behinderung, Mrs. Westmoreland?“ Luca sah besorgt aus.

„Nur, dass ich nicht Ski fahren kann. Ich mag keine Höhen und ich hasse es, zu frieren. Und eigentlich bin ich ein riesiger körperlicher Feigling …“

„Mama geht nicht mal über ein Feld mit Kühen“, flötete India.

„Nicht nur Kühe“, sagte Kit. „Sie geht nicht mal über ein Feld mit Schafen. Ich meine, Schafe? Was denkt sie, was ein Schaaf ihr tun kann?“

„Eines dieser Schafe könnte ein Bock sein …“

„Keine Sorge, Mrs. Westmoreland, letzte Mal, als ich geguckt hab auf Piste, gab es keine Schafe oder Bock.“

„Bitte nennen Sie mich Harriet, Luca.“

Der Plan für den Nachmittag war, dass, wenn erst mal alle in Skikleidung waren, Lilian – die sehr fesch in einem kirschroten und türkisenen Skianzug aussah – mich begleiten sollte, um India, die Zwillinge und Jonty in die Skischule zu bringen, während die anderen, die alle erfahrene Skifahrer waren, direkt zur Piste gehen würden. Kit und Libby, die beide auf ein paar Skifreizeiten in La Plagne in Frankreich mit der Schule waren, sagten, sie wären mehr als bereit, mit den älteren Erwachsenen mitzuhalten, und, in Libbys Worten, sie hätten keinerlei Absicht, einem Haufen Anfängern die lächerlichen kleinen Hügel hinunterzufolgen.

Libby, deren Kopfschmerzen anscheinend verschwunden waren, schien wieder mehr wie ihr altes Selbst zu sein und war dabei, Schneebälle auf Seb zu werfen. In ihren Colour‑Blocking‑Emeggi-Skihosen, der Skijacke, die Seb ihr zu Weihnachten gekauft hatte, und mit ihren blonden Haaren, die unter einer riesigen Fellmütze herausschauten, konnte sie nicht schöner aussehen. Seb rannte zu ihr hin, warf sie in den Schnee, bevor er sich zu ihr runterbeugte und sie leidenschaftlich küsste.

„Ekelhaft!“, murmelte India, als Amanda die Augenbrauen hochzog. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Augenbrauen für die nächsten Olympischen Spiele fit sein würden, wenn Seb, Amandas einziger wertvoller Sohn, vorhatte, meine Tochter bei jeder Gelegenheit so abzuknutschen.

„Der Lift, sie ist schnell, es gibt also nicht viel Problema mit langen Schlangen.“ Luca lächelte zu Amanda hinüber, die ihm ihr umwerfendstes Lächeln zurückwarf. Ich wusste, wie Amanda Henderson funktionierte: Sie brauchte David hier, um sie im Zaum zu halten. „Ich vorschlage, dass ich Sie diesen Nachmittag in die Tofana-Gegend bring und Sie können die Forcella- und Rossa-Pisten probieren.“

Als sich meine Leutchen daran machten, Luca zu folgen, drehte sich Nick zu mir um.

„Geht es dir gut, Hat? Mit den Kindern und Lilian?“

„Sie wird klarkommen, Nick“, hörte ich Amanda herablassend sagen. „Komm schon, zeig uns, wie du die Pisten runterfährst – wenn du so gut bist, wie du sagst.“

Grace drehte sich zu mir um und zwinkerte, bevor sie die Augen in Richtung Amanda verdrehte, als sie mit Nick auf der einen und Luca auf der anderen Seite wegging. Anscheinend war Grimassen in Richtung unserer alten Schulsprecherin Amanda schneiden immer noch eine Sportart, die ich und Grace aus unserer Grundschulzeit fortsetzten und weswegen wir besonders gut darin waren …